Engelstanz der Dunkelheit von abgemeldet ("If people had wings...they'd be monsters") ================================================================================ Kapitel 4: Die Maske des Zorns ------------------------------ Engelstanz der Dunkelheit _________________________ D i e . M a s k e . d e s . Z o r n s Warum kam das Böse immer in der Nacht? In allen Geschichten, Filmen oder Büchern war das unbeschreiblich Böse immer nach Einbruch der Dunkelheit über seine Opfer hergefallen und eigentlich hatte er nie einen Gedanken daran verschwendet – Warum sollte er auch? – Aber seit er im dritten Himmel lebte, hatte sich seine Sichtweise verändert. Das musste er sich zugestehen. Er verbrachte die Nächte oft damit über die trivialen Fragen des Lebens nachzudenken, nahm sie regelrecht auseinander, nur um die diffusen Puzzlestücke unsortiert vor sich liegen zu sehen. Die Puzzelteile seines Lebens! Es war ihm nie gelungen sie in eine übersichtliche und verständliche Ordnung zu bringen – Er verstand sich selbst zu wenig, als dass es eine logische Anordnung für ihn gegeben hätte. Er war nie auf die Idee gekommen, dass etwas in sein geregeltes und behütetes Leben einbrechen könnte, dieser Gedanke schien einfach absurd zu sein. Die Schauergeschichten waren immer anderen passiert, Leuten, die er nicht kannte, Menschen, mit denen ihn nichts verband, die einfach nicht sein Schicksal teilten und nun hatte er die Seite gewechselt, betrachtete das Leben aus einem anderen, viel schmerzhafteren, qualvolleren Blickwinkel. Ja, die Faszination solcher Gruselgeschichten war, dass man sich ängstigen, den Schreck seines Lebens erleiden konnte, aber anschließend einfach den Fernseher ausschaltete und unbeschadet nach hause ging. Nicht hier. Er war mitten in der Horrorgeschichte und konnte aus ihr nicht mehr ausbrechen, er war längst zu einem Teil von ihr geworden. Cay fand keinen Schlaf. Er lag lang unruhig in seinem Bett, wälzte sich von einer Seite auf die andere, blickte immer wieder frustriert auf die Uhr, nur um genervt feststellen zu müssen, dass die Sonne in gut einer Stunde aufgehen würde. Ein paar Mal war er kurz eingeschlafen, doch der trommelnde Regen, der schwer auf sein Dachfenster schlug, hatte ihn bereits nach wenigen Minuten schweißgebadet aufschrecken lassen. Er hatte geträumt. Zwar nur kurz, aber dafür mit einer unbarmherzigen Intensität. Sein Herz hämmerte hart gegen seine Brust, die dumpfe Erinnerung an den Alptraum flackerte vor seinem geistigen Augen auf, dann spürte er den widerlichen Geschmack von Erbrochenem und Blut in seinem Mund. Es war schlimmer als er zuzugeben bereit war. Es blickte auf die Uhr. Es war bereits kurz nach vier – Aber er wollte sich nicht wieder hinlegen, die müden Augen schließen und erneut in einen Nachtmahr versinken, der ihn mit offenen Armen einlud. Widerwillig setzte er sich auf, schwang die Beine aus dem Bett, lief zum Fenster und öffnete es mit einem Schwung. Die kalte Nachtluft strömte ungehindert in den Raum, durchflutete ihn mit frischer Luft, die er mit tiefen Atemzügen in seine Lungen sog. Irgendwo auf der anderen Seite des Waldes schlug ein Blitz ein, durchtrennte die tiefe Dunkelheit der Nacht für einen Sekundenbruchteil und fuhr dann mit donnernder Hand über ihn hinweg. Früher hatte er Angst vor der Unberechenbarkeit des Gewitters gehabt, war hilfesuchend in das Bett seiner Eltern gekrochen und hatte abgewartet bis sich das Unwetter verzogen hatte. Damals war er noch ein Kind gewesen – Er erinnerte sich noch deutlich an seine eigene Machtlosigkeit. Ja, eben jener Machtlosigkeit war es auch zu verdanken, dass sein Leben diesen abstrusen und leidvollen Weg eingeschlagen hatte – Wäre er damals doch nur stärker gewesen und hätte die verborgenen Kräfte in sich mobilisiert, die in jedem Lebewesen schlummerten, wenn es nur an die Grenze seiner eigenen Existenz getrieben wurde. Pazifismus, Ethik und Moral hin oder her – wahrscheinlich musste man in jedem Menschen nur tief genug graben, um das Tier in ihm zu finden, die Bestie, die über zehntausend Jahre der Zivilisation überlebt hatte und erbarmungslos zu kämpfen bereit war. Vielleicht wäre dann alles anders gekommen... Vielleicht hätte er ihn retten können – Ja, vielleicht... Diese Erkenntnis kam im Nachhinein und mit jahrelanger Verspätung, aber dafür mit einer plötzlichen und unzweifelhaften Sicherheit. Er biss sich schmerzhaft auf die Unterlippe, spürte, wie das Blut in einem feinen Rinnsal aus der Wunde hervorquoll, dann schmeckte er sein Blut, fuhr gedankenverloren mit der Zunge über die offene Stelle seiner Haut und leckte die rote Flüssigkeit herunter. Er erinnerte sich noch genau, wie alles begonnen hatte, erdachte sich in die Wohnstube seines Elternhauses zurück und fand sich in Gedanken vor seiner Mutter stehend wieder, die ihn freundlich, aber auch besorgt anlächelte. „Warum bin ich anders?!“, hatte er sie trotzig gefragt, die Arme vor der Brust verschränkt und stur zur Seite geblickt, als wolle er die unübersehbare Wahrheit nicht verstehen, sie leugnen und sich so lange wie eben möglich gegen sie währen. „Du bist nicht anders, Cay“, log seine Mutter verzweifelt und versuchte die Wange ihres Sohnes zu tätscheln, doch er hatte ihre Hand weggeschlagen und war zur Tür gehastet. Er blieb in ihrem Umriss stehen, schüttelte den Kopf und dann lachte er schrill, fast schon geisteskrank auf. „Ich bin ein Monstrum, ein krankes Monstrum!“, brüllte er und schlug mit der Hand gegen den Türrahmen, „WARUM SAGST DU MIR NICHT DIE WAHRHEIT? SAG MIR GEFÄLLIGST, WAS MIT MIR NICHT STIMMT – WARUM MICH DIE ANDEREN SO ANSEHEN... oder... kannst du es selbst nicht ertragen?!“ „Nein... Cay!“, seine Mutter war ihm nachgelaufen, umklammerte die Hand des Jungen fest und zog ihn zu sich herum. Er konnte in ihre wunderschönen, braunen Augen blicken, die sich so sehr von den Seinigen unterschieden. „Ich sehe euch nicht einmal ähnlich – Papa und dir“, protestierend versuchte er sich aus dem Griff seiner Mutter zu winden, gab seinen Widerstand jedoch im nächsten Augenblick wieder auf, als sie das Wort erhob. „Cay, du bist mein Sohn! Dein Vater und ich lieben dich wirklich sehr, bitte sage nie wieder, dass etwas mit dir nicht stimmen würde... Es macht mich traurig so etwas aus deinem Munde zu hören!“ „Aber... Mutter...“, wieder schlug sein Einwand fehl, wurde mit einem sachten, aber bestimmenden Kopfschütteln seiner Mutter entkräftet und dann war es vorbei. Jede Aussicht auf eine Erklärung war vertan. Seine Mutter hatte den Raum verlassen, war in die Küche gegangen – so wie sie es bislang jedes Mal getan hatte, wenn das Thema aufgekommen war – und begann damit das Frühstück vorzubereiten. »Sie hat es wieder getan«, er verfluchte sich innerlich, stampfte wütend die Treppe zu seinem Zimmer empor und schloss die Tür hinter sich ab. Er hatte genug gehört, wollte allein sein und endlich seine Ruhe haben und hoffte inständig etwas herunterzukommen. Cay hatte die Anlage bis zu der Schmerzgrenze seines Trommelfels aufgedreht, die Musik schlug über den leeren Korridor des Wohnhauses und breitete sich auf die umliegenden Etagen aus. Aber das war ihm egal. Er betrachte sein Gesicht in einem großen, ovalen Spiegel, der neben seinem Kleiderschrank angebracht worden war, und schnitt sich selbst eine hämische Grimasse. Seine Augen waren dunkel vor Zorn, blitzen purpur-rot auf und für die unerträgliche Dauer von ein, zwei Sekunden, schienen sie förmlich zu brennen. In Flammen zu stehen – lichterloh und gleißend zu flackern. Dann – als er blinzelte, war der Zauber verflogen. Seine Augen hatten wieder ihre normale Farbe angenommen, strahlten nichts mehr Bedrohliches, wenn nicht sogar etwas unsagbar Böses und Zerstörerisches aus. Er schluckte hart. Er hatte es sein ganzes Leben gewusst, die abwertenden Blicke der anderen gespürt, die ihm klar zu verstehen gaben, dass er anders war, nicht dazugehörte – Ja, ein Außenseiter war, eine unerwünschte Lebensform, die gemieden und ausgeschlossen werden musste. Es war längst zu einer Art Ritus geworden. Seine Mitschüler provozierten ihn, wollten ihn in Rage versetzen, erleben, wenn er die Kontrolle über sich und seine Handlungen verlor und zu einer aggressiven, offensiv reagierenden Bestie wurde, die alles zu vernichten bereit war. Es bereitete ihnen sadistische Freude sich an seinem Leid, seinem Schmerz und der Grausamkeit an sich zu laben – Sie genossen es ihren Mitschüler zu quälen. „Hast du seine Augen gesehen?! Er ist ein Monster!“, seine Augen hatten geflackert, waren in das Rot der untergehenden Sonne getaucht – Diese Veränderung hatten sie jedes Mal dann gezeigt, wenn er in die Enge getrieben und von einer übermenschlichen Wut gepackt wurde, die nur noch ein Ziel kannte. Er wollte sie packen, in eine Art Blutrausch verfallen, sich der Brutalität seines Herzens hingeben und sie für all das bestrafen, was sie ihm angetan hatten. Er schlug erbarmungslos zu, konnte seine Grenzen nicht mehr einschätzen und ließ erst dann von seinem Opfer ab, wenn es keuchend am Boden lag und sich nicht mehr rührte. Oft hatte er nach der Schule im Direktorat auf seine Mutter warten müssen, die von der Schulleitung angerufen und darüber in Kenntnis gesetzt worden war, dass ihr Sohn wieder gegen die Schulordnung verstoßen und seine Mitschüler zusammengeschlagen hatte. Und wieder hatte er versprechen müssen sich zu ändern, über sein Fehlverhalten nachzudenken und Besserung zu geloben. Er hatte seinen Einwand still runtergeschluckt, genickt und heuchlerisch seine Einsicht beteuert – genau das wollten sie doch alle hören. Es war erschreckend einfach. Jeder Versuch sich zu zügeln, die Sprüche der anderen zu ignorieren, ihnen einfach aus dem Weg zu gehen und die Demütigungen herunterzuschlucken, waren immer im Desaster geendet. Je mehr er sein hitziges Temperament zu unterdrücken, ja dem innerlichen, frevelhaften Mordrang zu widerstehen versuchte, umso schlimmer schien das Verlangen zu werden, wuchs auf eine Unerträglichkeit heran, wurde zu einer krankhaften Manie und überschwemmte seine klaren Gedanken. Sie lag wie ein massives Eisengitter auf seiner Seele und trennte die Verbindung zwischen seinem Verstand und seinen Trieben. Und dann war er ihm begegnet. Er hatte seine Gedanken durcheinandergebracht, war jäh und unerwartet in sein Leben getreten und hatte seine Prinzipien ein Stück weit ins Wanken gebracht, auch wenn er sich anfangs noch dagegen zu wehren versucht hatte. „Cay, du musst zur Schule!“, sein Vater hatte gegen die verschlossene Zimmertür getrommelt, schrie beinahe, als er seinen Sohn ansprach, „Und mach den Scheiß leiser, ich will nicht wieder eine Beschwerde wegen Lärmbelästigung im Briefkasten haben!“ „Jaja!“, murmelte Cay widerwillig, stellte die Anlage aus und nahm seine Schultasche. Er lief an seiner Mutter vorbei, würdigte sie aber keines Blickes. Das Gespräch lag ihm noch schwer im Magen. An der Art wie seine Mutter nachts, wenn er schlief, mit seinem Vater sprach – so vertraut, so innig, ohne die Spur von unliebsamen Geheimnissen – wusste er, dass er ihr eine Farce vorsetze, ein ausgiebig einstudiertes und mit aus Heimlichkeiten und Täuschungen gewobenes Lügenkonstrukt. „Bis heute Abend!“, sagte er monoton, hastete aus der Haustür und trat in die grelle Morgensonne, sie war ein orangenfarbener Strich am Himmel – mehr nicht. Er lief die lange Straße hinab, rannte beinahe, denn er hatte getrödelt, war seinen sinnlosen Gedanken nachgehangen und nun lief er Gefahr den Bus zu verpassen, wenn er sich nicht beeilte. »Verdammt«, dachte er wütend, sprintete die letzten Meter und bemerkte eine schnelle Bewegung aus dem Augenwinkel. Der Bus war an ihm vorbei gefahren, hielt einige Meter vor ihm an der Haltestelle und öffnete beide Flügeltüren. Eilig strömten die Schüler in den, ohne hin schon überfüllten, Bus und drängte sich zu einer Traube zusammen, die es ihnen beinahe unmöglich machte, sich irgendwo festzuhalten. „Hey Cay, ich bin hier drüben!“, sofort hob er seinen Kopf und spähte in die Richtung, aus der die vertraute Stimme drang. Ein Junge mit blonden Haaren winkte ihm aus dem hinteren Teil des Busses zu, seine Augen hatten ihn magisch in den Bann geschlagen. Nur wenige Menschen – so wusste Cay – besaßen zwei unterschiedliche Augenfarben, es war eine Störung der Pigmentierung der Regenbogenhäute des Auges, und obwohl er wusste, dass es eine Krankheit war, erinnerte ihn der Junge an eine Katze. Das linke Auge besaß ein tiefes Blau und das Rechte ein feuriges Braun. Seit er diese außergewöhnliche Farbgebung das erste Mal bemerkt hatte, war er wie besessen von dem absurden Gedanken, ebenfalls eine Farbe besitzen zu wollen. Nero schien geradezu zu leuchten, ein Farbenspiel aus den Tönen Gold und Rot umgaben ihn – Es war unsichtbar, nicht mit dem bloßen Auge erkennbar und doch konnte er es spüren, jede winzige Nuance der Farbveränderung wahrnehmen. Er konnte sich noch gut daran erinnern, dass er früher oft versucht hatte, sich in seiner Nähe aufzuhalten, in der verzweifelten Hoffnung, dass etwas von dem Glanz ebenfalls auf ihn übergehen möge. Was eine kindische und naive Vorstellung – er musste über sich selbst lachen. Der Bus hielt mit einem helftigen Ruck, schleuderte ihn abrupt aus seinen Gedanken, er verlor den Halt und segelte schmerzhaft auf den Kunststoffboden des Fahrzeugs. Die Blicke der anderen Schüler waren auf ihn geheftet, starrten zu ihm herab und dann brach ein ohrenbetäubendes Gelächter los. „Schau dir den Loser an!“, lachte ein Junge, schloss seine Freundin in seine Arme und verließ den Bus. Er sprang mit einem Satz auf, eilte dem Jungen hinterher – Aus der Anspannung wurde Aggression, dann explodierende Gewalt. „Lass den Unsinn!“, brüllte Nero. Er war Cay sofort hinterher gerannt, packte den Rothaarigen am Oberarm und zog ihn mit aller Gewalt von dem Jungen weg. Er presste Cay gegen den grobmaschigen Drahtzaun, der die Schule einzäunte, drückte sich gegen ihn und zischte ihm zu, „Bist du verrückt?! Die schmeißen dich, wenn du so weitermachst, von der Schule!“ Die plötzliche, unerwartete Wucht, mit der er gegen den Zaun gedrückt wurde, trieb ihm die Luft aus den Lungen, er japste erstickt auf. „Geh von mir runter, verflucht!“, er stieß den blondhaarigen Jungen mit grober Gewalt von sich weg, „Die gesamte Schule kann sich zum Teufel scheren – Und wenn die mich morgen rausschmeißen, dann soll es mir recht sein!“ „So denkst du also?!“, sagte Nero schroff, trat einige Schritte zurück und drehte sich von Cay weg. Wieder hatte Nero ihn total miss verstanden, er seufzte genervt auf, versuchte aber nicht seine Worte zu erklären, sie in ein rechtes Licht zu rücken und so womöglich die Situation zu retten. Er verstand sich selbst nicht. „Kein Widerspruch?! Nichts?!“, fragte Nero bockig. Cay zuckte mit den Schultern, als ginge ihm das ganze Gespräch auf die Nerven. Oder hatte er einfach Angst, dass es zu intensiv wurde? „Es ist nicht so, wie du denkst!“, erwiderte er endlich, berührte Nero am Kinn und drehte das Gesicht des Jungen zu sich. Sie blickten einander tief in die Augen. „Du weißt, was ich für dich empfinde. Warum muss ich das jedes Mal erklären?!“ flüstert er Nero zu und für einen kurzen - für einen unsagbar kurzen - Augenblick schien es, als ob sich ihre Lippen gleich berühren würden. Die Zeit blieb stehen. Es war kein subjektives Gefühl, das ihm sein Verstand vorgaukelte. Das Universum hatte die Zahnräder angehalten, brachte die gewaltige Maschine im Inneren zum Stehen, sie stockte für einen zeitlosen Augenblick, er konnte die Änderung auf sich überfließen spüren – Dann lief sie weiter. Der Motor war wieder in Bewegung. Nero presste sich zitternd an Cay, er umklammerte den Rothaarigen fest, sein wirres, blondes Haar fiel ihm ins Gesicht – Die Atmosphäre hatte sich verändert, schwoll zu einem Windsturm an und fegte mit gespenstischer Hand über die Straßen hinweg. „Lass uns besser rein gehen!“, sagte Cay, ergriff die Hand Neros und fuhr herum, „Der Unterricht beginnt gleich, außerdem sieht es so aus, als ob ein Unwetter aufziehen würde.“ Er verstummte. Seine Augen wurden groß, als er die Gestalt neben Nero erblickte. Sie war aus dem Nichts erschienen, groß gewachsen und bewaffnet. Der Mann hielt eine goldene Schnur in seinen Händen, an dessen Ende eine lange, dolchförmige Spitze blitzte. Die Panik wurde fast übermenschlich, er wollte um Hilfe schreien, jemanden auf sich aufmerksam machen, doch als er sich umschaute, bemerkte er, dass die Zeit wirklich eingefroren war. Es war keine Einbildung gewesen. Die Menschen waren in ihrer Bewegung erstarrt, Autos standen mitten auf der befahrenen Hauptstraße Straße still, nicht einmal die Alltagsgeräusche besaßen die Macht die entstandene Bewegungslosigkeit zu durchdringen. Sie waren durch eine dunkle Drehtür gefallen, befanden sich nun in einer völlig neuen, unheimlichen Welt, die nur den Anschein machte, die Ihrige zu sein. Dafür reagierte er jetzt umso schneller: Er schlug blitzschnell zu, drehte sich herum, packte die Hand des Mannes mit einer hastigen Bewegung und drehte sie brutal nach hinten. Die Waffe fiel aus seiner schlaffen Hand, schepperte auf den Asphalt, schlitterte noch einige Meter weiter und blieb dann regungslos am Straßenrand liegen. Mit einer Bewegung, die er nicht für möglich gehalten hatte, ging der Mann nach unten, wand sich aus seinem Griff, trat fest gegen sein Bein und brachte ihn damit aus dem Gleichgewicht. Er fiel zu Boden. Der Mann war sofort über ihn gebeugt und presste ihn gewaltsam auf den Boden. Jede Faser seines Körpers war bis zum Zerreißen gespannt, das abrupte Abbremsen seiner Muskeln forderte höchste Anstrengung von ihm ab – aber er würde seinen Griff nicht lockern, soviel wusste Cay. „Was wollen Sie von mir?!“, japste Cay erstickt, zappelte dabei wie ein Käfer, der auf dem Rücken lag, und verzweifelt probierte, wieder auf die Beine zu kommen. Er versuchte sich instinktiv zu wehren, doch seine Bewegungen waren zu schwach, nicht zielgerecht genug und der Mann hatte sein Gewicht auf seine Beine verlagert, kniete nun fast mit einem Bein auf seinem Rücken. Er hatte keine Chance. „Hören Sie auf!“, schrie er, „Was um alles in der Welt wollen Sie von mir?!“ „Ich werde es dir erklären, wenn du versprichst, ruhig zu bleiben!“, entgegnete der Mann und wartete Cays Antwort geduldig ab. Er antwortete nicht gleich. Für zwei, drei Sekunden, verharrte er regungslos auf dem Boden. Seine Augen loderten vor Zorn. Dann nickte er. Es war eine abgehackte, kaum sichtbare Bewegung, die aber seine gesamte Kraft in Anspruch nahm. „Ist gut!“, sagte der Mann, „Ich hoffe für uns beide, dass ich diese Entscheidung nicht bereuen werde!“ Der Mann lockerte seinen Griff, richtete sich auf, blieb aber bereit jeden Augenblick erneut anzugreifen und Cay zu packen, sollte er eine falsche Bewegung machen. „Was sollte das?!“, fragte Cay wütend und beobachtete den Mann, der nun zwischen ihm und Nero stand – ihn sichtbar von dem Blondhaarigen abschirmte und Cay begriff sofort, dass es etwas mit seinem Freund zu tun hatte, „Wer sind Sie?!“ „Mein Name ist Raziel und ich wurde ausgesandt, um nach dir zu suchen!“, begann der Mann langsam, wohl überlegend, was er antworten sollte, damit er nicht Gefahr lief zu viel zu verraten. „Wieso nach mir?!“, er trat automatisch einige Schritte zurück, er fühlte sich einen Moment entsetzlich hilflos, beschloss dann aber die Fassung zu bewahren, die in den hinteren Teil seines Bewusstseins gekrochen war und durch die Angst ersetzt wurde, die stärker und stärker wurde. „Du bist ein Sünder, ein Flüchtling deines eigenen Schicksals und als solch einer bist du auch zu bestrafen!“, begann der Mann, hob seine Waffe auf und schritt auf Cay zu. Sein Verstand protestierte, er konnte den Worten des Fremden nicht länger folgen, sie nicht verstehen – Es ging zu schnell – unbegreiflich schnell. „Du bist in die Menschenwelt geflohen, hast dich als einer von ihnen getarnt, der Bann, den deine Eltern über dich legten, hat dich lange versteckt gehalten, kleiner Dämon!“, sagte Raziel scharf, ließ die Waffe durch seine Hand wirbeln und richtete die Dolchspitze auf Cay, „Aber jetzt ist das Versteckspiel vorbei!“ Es ging zu schnell, als dass Cay wirklich begriff, was er sah, geschweige denn, dass er es glaubte. Der Mann hatte eine unglaubliche Bewegung getan, streckte seine Hände zu beiden Seiten seines Körpers aus, dann umhüllte ihn ein gleißend, helles Licht, das brennend in seinen Augen stach und erlosch schlagartig wieder. Weiße, aus reinem Licht gesponnene Flügel waren aus seinen Schulterblättern gewachsen und ragten nun über seinen gesamten Rücken. „Gestehst du dir ein, dass du dich unerlaubterweise in der Menschenwelt aufhältst?“, fragte Raziel, „Wenn du dich geständig zeigst, wird das jüngste Gericht vielleicht Gnade zeigen und deine Seele vor dem Untergang im ewigen Fegefeuer verschonen und sie lediglich dem Totenrichter vorwerfen. Er hatte schon immer Spaß daran, die Seelen von kleinen Gaunern, wie dir, zu quälen.“ „Sehr witzig!“, raunte Cay, „Ich weiß nicht einmal, wovon Sie da überhaupt sprechen, wie soll ich mich dann geständig zeigen?!“ „Du hast der zweiten Hierarchie der Engel sehr viel Arbeit bereitet, weißt du das?! Ich bin ein Erzengel Gottes, führe die himmlischen Mächte an und im Namen Gottes werde ich dich zurück in die Unterwelt schicken“, sagte Raziel süßlich. Er ging auf Cay zu, die Waffe im Anschlag, dann fügte er leise säuselnd hinzu, „Aber ich werde dir gerne dabei helfen, dich zu erinnern!“ Mit zwei schnellen Bewegungen war er bei Cay – ohne dass der Rothaarige ihn überhaupt kommen gesehen hatte – dann schlug er ihn mit der rohen Faust zu und drückte ihn neben Nero gegen den Drahtzaun. Cay schrie auf. „NEIN! NICHT!“, kreischte Nero fast ohnmächtig vor Angst, versuchte den Mann von Cay abzubringen, aber es gelang ihm nicht, er war einfach zu schwach. „Es ist an der Zeit dein wahres Ich auferstehen zu lassen und das Siegel endgültig zu brechen!“, sagte der Engel, fuhr mit der Hand über den Rücken des Jungen und beschwor eine entsetzliche Macht hervor, die unter seine Haut kroch, sich mit seinen Knochen, seinem Geweben und jeder Zelle seines Körpers verschmolz und dann explodierte. „Und jetzt schrei!“ Gegen seinen Willen gehorchte er, ein langer markerschütternder Schrei entkam seiner Kehle – Das Grauen hatte viele Facetten, verstand er, setze seinen Terror geschickt ein und malträtierte dabei mit Vorliebe seinen Verstand. Schwarze Schwingen brachen mit einem knochenzerberstenden Geräusch aus seinem Rücken hervor, seine Augen veränderten sich, konnten die Glut des Zornes nicht länger in sich verschließen und flammten schlagartig rot auf. Seine Zähne wandelten sich, verloren ihre ursprüngliche Form und wurden zu spitzen, scharfkantigen Reißzähnen – Zu einem Mordinstrument einer furchterregenden Bestie der Unterwelt. Sein Gesicht hatte sich nicht groß verändert, aber vielleicht war sein Anblick der Schlimmste. Viele Märchenbücher erzählten von solch abscheulichen Schreckgestalten, die vor Gott geflüchtet waren und sich tief in der Hölle verstecken mussten – Nur um eines Tages jäh und unerwartet angreifen zu können und das Land wie eine Plage zu befallen. Diese Kreaturen waren die Versinnbildlichung des Bösen und er war einer von ihnen geworden. „Cay, Erzdämon des Zornes und der Niedertracht“, begann Raziel erneut, als er der Junge seine Erscheinung vollkommen verändert hatte und sich nun hilfesuchend nach Nero umschaute, der starr vor Schreck in sich zusammengesunken war und schluchzend die Hände vor sein Gesicht hielt, „Nachdem du deine eigentliche Gestalt wiedererlangt hast, werde ich nun mit der Vollstreckung beginnen – Es wird mir eine Freude sein... Eine wahre Freude.“ Der Mann spannte das goldene Band zwischen seinen Händen, visierte Cay an, richtete die Waffe aber weder auf sein Herz, noch auf seinen Kopf. Er wollte ihn nicht töten, oder schwer verletzten, sondern ihm nur ein möglichst großes Maß an Schmerz zufügen. Einen Lichtblitz später war er bei ihm. „Denken Sie wirklich, dass ich es Ihnen so einfach machen werde?!“, fauchte Cay, wich zur Seite und entkam der Klinge des Engels mit einer drehenden Bewegung, „Ich werde kämpfen... Und die wenigen Menschen schützen, die ich liebe... Oder hat Gott die unerschütterliche Liebe, die es einem möglich macht selbst Berge zu versetzen, nicht gelehrt?! Denn es braucht den Glauben an die Liebe um den Alltag zu ertragen und kämpfen zu können. Es braucht eine Motivation, eine Hoffnung, wenn Sie so wollen und Hass kann nie die Liebe besiegen! Deswegen werden Sie auch heute verlieren!“ Raziel war sein Seitenblick zu Nero nicht entgangen. Ein böses, heimtückisches Grinsen schlich sich auf sein Gesicht. „Du hängst an diesem Jungen, Dämon?!“, fragte Raziel, „Dann werde ich dir den Glauben an die Liebe und an die Herzensgüte auch noch nehmen. Ich werde dich zu einem wahren Dämon machen, dessen Herz für immer erkalten wird und sich dem Rachedurst seiner zerrissenen Seele hingeben wird! Du wirst nicht mehr anders können, als dich deinen Trieben hinzugeben... Nie wieder wird es anders sein. Ich werde dein Schöpfer sein.“ Raziel hatte seine Aufmerksamkeit auf Nero verlagert, riss den Jungen brutal zu sich hoch, doch statt ihn anzugreifen, wie Cay es eigentlich erwartet hätte, ließ der Engel seine Waffe mit einer präzisen Bewegung an die Kehle des Blondhaarigen fahren und zwang ihn gegen seinen Willen auf Cay zuzugehen. „Willst du ihm nicht die Wahrheit sagen, bevor du stirbst?!“, raunte der Mann gierig. Cay taxierte seinen Gegner, suchte nach der schwächsten Stelle, die er bei seinem nächsten Angriff für sich nutzen konnte, doch solange er Nero als Schild benutze, war es ihm unmöglich den Mann zu attackieren. Die Waffe vor seiner Brust flößte ihm durchaus Respekt ein. Sie vermochte ihn vielleicht nicht sofort zu töten, aber dennoch schwer zu verletzen und Raziel war sich dieser Tatsache durchaus bewusst. Immer weiter drang er Nero in seine Richtung, presste die Klinge gewaltsam gegen seinen Hals, die Spitze grub sich in seine weiße Haut – rotes, fast tief-schwarzes Blut trat aus der Wunde hervor und besudelte seine Jacke. „AUFHÖREN! SIE SOLLEN AUFHÖREN!“, flehte Cay. Er drängte seinen Zorn mit aller Gewalt zurück. „Nero, wenn du zu feige bist, um zu deinen eigenen, abscheulichen Taten zu stehen, so bin ich gewillt dir diese schwere Last abzunehmen und deinem Freund alles zu beichten!“, ein vergnügtes, aber zugleich unsagbar böses und sadistisches Lachen hallte durch die entstandene Stille. Schwoll an, fraß sich schmerzhaft in seine Gehörgänge und verhalte anschließend wieder. „Die Auflehnung gegen Gott wird mit dem Höllensturz bestraft!“, begann Raziel süßlich und fixierte Cay bei jedem Wort, das er sagte, genau, „Und dein kleiner Freund hier – Er hat sich der abscheulichsten aller Sünden hingegeben!“ Eine unerträgliche Pause trat ein. Für einen kurzen, in der Wirklichkeit nicht begreiflichen Augenblick, wollte er auf Raziel zu stürmen und ihn zum Schweigen bringen – Er wollte nicht hören, was er zu sagen hatte, denn sollte Nero ihm etwas verheimlicht haben, dann wollte er die Wahrheit lediglich von seinem Freund erfahren und von niemand anderem sonst. „Halt dein Maul!“, brüllte Cay bösartig. Doch Raziel überhörte ihn gekonnt und fuhr unbarmherzig fort. „Einst sandte Gott die Grigoris aus und befahl ihnen den Erzengeln bei der Erschaffung des Garten Edens zu helfen. Die Grigori stiegen auf die Erde hinab, taten ihre Pflicht, doch gaben sie sich dabei der fleischlichen Sünde hin. Sie verliebten sich in die Menschentöchter, verrieten himmlische Geheimnisse und gründeten sogar heimlich Familien. Und so entstanden die Nephilim. Gott war erzürnt und verstieß die Grigoris, er nahm ihnen die Unsterblichkeit und stürzte sie in die Hölle.“ Von einer Sekunde auf die andere hatte sich die Kulisse verändert, die Erde – mit allem, was sich auf ihr befand – hatte sich aufgetan, war ins Nichts gestürzt, befand sich plötzlich inmitten eines Infernos, das die Welt mit jedem gespenstischen Atemzug, die der Planet tat, zu versengen drohte. Fast hätte er geschrien, als er die Veränderung bemerkt hatte: Unsichtbare Flammenfinger hatten den Himmel blutig-rot angezündet, stiegen wie flackernde Feuersäulen empor und dann zersprang das Firmament. Sterne fielen aus dem brennenden Himmel, wurden zu einem Meteoritenschauer und verloschen irgendwo über ihnen. Er zuckte zusammen. Lovelocks Gaia-Hypothese schien plötzlich einen Sinn zu ergeben, die wirren Puzzlestücke fügten sich zusammen, ergaben plötzlich ein völlig neues, aber verständliches Bild. Wenn der Planet selbst ein einzig großer Organismus war und sich seinen Lebensraum selbst schaffte, indem er sich dem Zusammenspiel der Sphären und den Grundelementen bediente, dann musste der Planet jetzt Höllenqualen erleiden. Der Engel hatte ihn bei seinem Angriff schwer verwundet, hatte die Barriere zwischen den Welten durchschlagen und war gewaltsam über ihn hergefallen. Und dies war sein stummer Schmerzensschrei, die gewaltige Kreatur protestierte, wand sich vor Schmerzen und versuchte die unbekannte Gewalt zu vertreiben, die ihn angegriffen hatte. Cay hatte eine wichtige Lektion gelernt. Engel waren weder barmherzig, noch gnädig oder aber gutherzig – Sie waren die scheußlichsten von Gottes Händen erschaffenen Kreaturen. Sie waren krank von Eigenliebe und der falschen Selbstgerechtigkeit, mit der sie es sich erlaubten über die widersinnigen Sünden der Menschheit zu richten und das selbsternannte Urteil zu vollstrecken. „Mich interessieren Ihre Märchen nicht!“, brüllte Cay atemlos, seine Worte hatten spürbar an Härte verloren und doch sprach er weiter, „Ihre Heiligengeschichten können Sie mit Ihren Freunden im Himmel bequatschen, aber verschonen Sie mich mit dem Scheiß!“ Raziel schüttelte belustigt den Kopf und sagte anschließend, fast schon an seinen gesunden Menschenverstand appellierend: „Wenn es doch nur Märchen wären, lieber Junge! Denkst du dann würde ich jetzt vor dir stehen?!“ „Wenn Sie wirklich ein Engel sind, dann stellen Sie sich mir – In Ihren Augen bin ich doch nur ein kleiner, unbedeutender Dämon – Welche Gefahr sollte ich für Sie schon darstellen, dass Sie sich hinter meinem Freund verstecken müssen!?“, dies war seine einzige Chance Raziel von Nero abzubringen. Er musste den Kampf entscheiden. Jetzt. Das Uhrwerk hinter Raziels Stirn schien zu arbeiten, rotierte, lief auf Hochtouren und ließ in Cay einen jähen Hoffnungsschimmer aufkeimen, dass der Engel einen Fehler machen und seine Defensive aufgeben würde. Er betete innerlich. Es war so absurd. „Du bettelst ja förmlich darum in die Hölle geworfen zu werden – Eine wirklich nette Abwechslung, muss ich zugeben!“, zischelte Raziel süßlich, „Deine Vorgänger haben sich widerspenstiger und uneinsichtiger gezeigt!“ Ein Lächeln folgte, dann eine Reihe spitzer Zähne. „Es bleibt mir unbegreiflich, was dich an einem Jungen festhalten lässt, der dich die ganze Zeit über belogen hat!“, begann der Engel erneut, gewillt ihm den letzten, verlieben Rest seines Kampfwillens endgültig zu rauben, „Nero liebt dich nicht. Er ist ein Nephilim, der Sohn eines Engels und einer Menschenfrau – Ihn sollte es eigentlich gar nicht geben, verstehst du?! Seine Augen, seine widerwärtigen Augen können sein Geheimnis nicht verbergen. Sieh sie dir an?!“ Er packte Nero brutal am Kinn, hebelte seinen Kopf zur Seite und zwang ihn dazu Cay anzublicken. „Du hast ihm in die Augen geblickt und hast ihm alles abgenommen, ist es nicht so?!“, fauchte Raziel, „Du hast dich in seinen Augen verloren, hast sie als Zeichen der Verbundenheit verstanden, das euch zum Außenseiter machte, und hast dich in ihn verliebt. Du Narr! Du törichter Narr! Du hast noch nicht einmal gemerkt, dass er dich belog und in die Fänge der himmlischen Armee trieb – Er hat dich ohne mit der Wimper zu zucken verraten. Nennst du das Liebe?!“ „Cay, das stimmt nicht!“, wimmerte Nero, versuchte abermals dem Engel zu entkommen, doch der Mann hatte seinen Griff verhärtet, einen unsichtbaren Bann auf seinen Körper gelegt, der über seine Gliedmaßen fuhr, sie versteinerte und bewegungsunfähig machte. „War der Verlust deiner Flügel noch nicht schmerzhaft genug, soll ich dir auch noch die Zunge herausschneiden?!“, kreischte Raziel. Die Gesichtszüge des Engels hatten ihre Form verloren, die Haut wurde schlaff und für einen schrecklichen Augenblick glaubte er fingerdicke Würmer unter seiner Haut zu sehen – Sie bewegten sich die Wangenknochen hinauf, zuckten unter seinem Augenlid und dann waren sie verschwunden. Sie hatten sich hinter die Augenhöhlen des Mannes gegraben, fraßen sich in sein Gehirn und verletzten den Teil seines Nervenzentrums, der für die Vernunft verantwortlich war. Jedenfalls schien es so. Mit einer rabiaten Handbewegung schleuderte er Nero über den Asphalt, verdrehte seinen Kopf absurd zur Seite, verharrte für einen Sekundenbruchteil in dieser paradoxen Haltung und dann lief er, mehr taumelnd als gehend, auf Cay zu. In seinen Augen zuckte der Wahnsinn. Ein abscheulicher, gedankenzerfressender Wahnsinn. „Endlich – Du stellst dich mir, du feige Ratte!“, brüllte Cay und stürmte auf Raziel zu. Er war bewaffnet – hatte eine Axt aus dem Nichts beschworen, seine Gedanken hatten sich materialisiert und ein Kampfwerkzeug heraufbeschworen. „Es war ein Fehler meine dämonischen Kräfte zu erwecken!“, schrie er, der Zorn explodierte, „Ich werde dir deine Flügel abhacken, sie in tausend Teile brechen und dir jede Feder einzeln ausreißen!“ Genau in diesem Augenblick geschah es. Ein grauer Schatten huschte an ihm vorbei, breitete sich über der Straße aus, lenkte ihn nur kurz ab, stahl seine Aufmerksamkeit – Er hatte die Deckung verloren und sie gegen seine Neugierde eingebüßt. Mit der Wucht eines Hammerschlages schlug der Engel zu, donnerte den Stiel seiner Waffe auf den Schädel des Dämons und brachte ihn zum Taumeln, er schrie ohnmächtig auf – Seine Qualen erreichten den Höhepunkt. Der Schmerz explodierte hinter seiner Stirn, zuckte mit der Intensität einer Atombombe vor seinem geistigen Auge und dann wurde alles schwarz. Plötzlich spürte er den freien Fall, danach den Aufprall. Er war mit dem Hinterkopf auf dem Asphalt aufgeschlagen. Er hatte das Bewusstsein verloren – Nicht vollkommen, aber so gut wie. Sehr lange – in der Wirklichkeit vielleicht nur einige Minuten – irrte er körperlos durch die Dunkelheit, erlebte das volle Ausmaß an Qual und Pein, das in dieser neuen Dimension herrschte. Er war nicht mehr ganz wach, aber auch nicht bewusstlos, er befand sich in einer Zwischenwelt, in der sich der menschliche Teil seines Geistes aufzulösen drohte. Aber vielleicht war es auch das Beste? Warum sollte er sich nicht einfach fallen lassen, durch die Drehtür stürzen und sich im Tode wiederfinden?! Dieser Weg schien doch um ein so vieles verlockender sein, als es die Wirklichkeit war. Aber das Schicksal hatte anderes mit ihm vor – er sollte sterben, ja – aber nicht heute, nicht unter diesen Umständen. Aus weiter Ferne konnte er einen grässlichen Schrei hören, der scharfe Gestank von Blut drang in seine Nase, er spürte, wie die Übelkeit ihn lähmte. „Den Tod, wie ihn die naiven Menschen kennen, gibt es nicht!“, sagte die Stimme eines Mannes bedrohlich, die weder die des Engels, noch die von Nero war. Wenn es einen leibhaftigen Teufel gab und er seine Stimme erheben würde, dann musste er sich so anhören, dessen war sich Cay sicher. Er bekam eine Gänsehaut. Cay öffnete die Augen und blickte zu Mochi rüber, der in sein Zimmer geflogen war und nun neben ihm stand und ebenfalls aus dem Fenster blickte. Wie lange sein Diener schon in seinem Zimmer war, konnte er nicht sagen, er hatte seine Anwesenheit nicht gespürt – aber dies spielte im Grunde auch keine große Rolle. „Du hast das alles geplant, oder?!“, fragte der Kürbisgeist neugierig, „Du hast geglaubt, wenn du denn Bannkreis unter der heiligen Schrift Gottes schließen würdest, dass du ihn vielleicht aus der Totenhalle retten könntest.“ „Wie immer hast du mich durchschaut!“, antwortete Cay belustigt und wand seinen Blick von der kargen Landschaft ab, „Aber wie es aussieht habe ich lediglich einen gefallenen Engel aus der Hölle gezogen – Welch Ironie, findest du nicht?!“ „Wer sagte dir überhaupt, dass Nero in der Totenhalle war?! Er könnte genauso gut überall sein!“ „Das weiß ich jetzt auch“, zischte Cay finster, „Wenn ich eines aber nun mit absoluter Sicherheit sagen kann, dann, dass Neros Seele nicht in die Hölle gestürzt wurde!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)