Engelstanz der Dunkelheit von abgemeldet ("If people had wings...they'd be monsters") ================================================================================ Kapitel 3: Doppelte Dunkelheit ------------------------------ Engelstanz der Dunkelheit _________________________ D o p p e l t e . D u n k e l h e i t Es war kurz vor drei, als er am vereinbarten Punkt eintraf. Die Sonne stand wie eine kleine, runde Münze aus halb geschmolzenem Metall am Himmel und wirkte durch das Zusammenspiel von Hitze und der seltsamen Kornsentenz der Luft fast schon flüssig. Cay verengte die Augen zu schmalen Schlitzen, hielt die Hand über die Augen und legte seinen Kopf in den Nacken. Es war weder heiß, noch schwül – sondern einfach nur seltsam. Er ging langsam auf den Innenhof, näherte sich widerwillig einer Handvoll Dämonen, die in einer Traube zusammenstanden und hitzig über die Aufgaben diskutierten, die in der Prüfung von ihnen abverlangt werden konnten. „Ich habe noch Probleme mit den unterschiedlichen Beschwörungsformeln“, klagte ein Mädchen, „Es gibt mehr als hundert verschiedene... Wer soll die sich alle merken?!“ „Hm, wer weiß, aber ich habe gehört, dass es nur einen Dämon gibt, der sie alle beherrschen soll“, entgegnete ein Junge leise murmelnd, „Und es soll niemand anderes als Myras sein! Kein Wunder also, dass er das dämonische Heer anführt!“ „Wie recht du hast!“ »Myras, Myras, Myras!«, wie sehr er diesen Namen gerade verabscheute. Ja, er war der Herrscher der Unterwelt, führte das dämonische Heer an und hatte selbst im heiligen Krieg mitgekämpft. Na und? Was bedeutete das schon?! Cay blickte fast im Minutentakt auf die Uhr, heftete seinen Blick auf das große Tor auf der anderen Seite des Hofes und wurde langsam nervös, wenn nicht sogar angespannt. Mochi ließ sich Zeit. Wie die meisten impulsiven Menschen war er bis zur Krankhaftigkeit ungeduldig und das ohnmächtige Gefühl, das sich langsam in seiner Brust ausbreitete, verschlimmerte die Lage nur noch und machte ihn beinahe rasend. „Meister, Meister!“, trällerte Mochi fröhlich, sauste über den Platz, schnellte kurz in die Höhe und stoppte haarscharf vor Cay, „Die Prüfung geht los!“ „Was du nicht sagst“, zischte Cay aggressiv. „Was ist los, Chef?!“, wollte Mochi wissen, dem die schlechte Laune seines Meisters nicht entgangen war. Cay zuckte mit den Schultern. „Ich bin nicht länger dein Meister“, antwortete Cay schließlich, „Myras hält mich für inkompetent und hat Toxica die Leitung übertragen.“ „Dieses widerliche, eingebildete Arschloch“, ereiferte sich Mochi, „Der ist doch noch schlimmer als Ren!“ „Du kannst also von Glück reden, dass ich die Prüfung heute mit dir machen kann. Diese Großzügigkeit hast du allein Myras zu verdanken, vergiss nicht, dich anschließend bei unserem Big Boss zu bedanken. Er hatte heute einen echt guten Tag“, er trat fest ins Kiesbett, schleuderte eine Handvoll Steine in die Luft, die anschließend rasselnd niederfielen. „Pass auf wo du hintrittst“, keifte ein Mädchen sauer, das von den kleinen, scharfkantigen Steinen getroffen worden war und sich nun den Staub von den Anziehsachen klopfte. Er wollte gerade etwas erwidern, wollte seine angestaute Wut an dem Mädchen auslassen, als er plötzlich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrzunehmen glaubte. Ein schattenhaftes Wischen, ein grauer Fleck, irgendwo rechts von ihm, mehr war nicht es nicht und doch wirbelte er instinktiv herum. „Was, zum Teufel...“, fluchte Cay, sprach aber nicht weiter, als er erkannte, wer diese Störung bewirkt hatte. Neben ihm war eine Frau mit lange, schwarzen Haaren erschienen – sie musste Mitte, wenn nicht sogar Ende dreißig sein, so vermutete Cay. Die Frau musterte ihn mit einer Mischung aus Tadel und Vorwurf – dann lächelte sie. „Ich hätte mir ja schon denken können, wer für diese Unruhe hier verantwortlich ist“, sagte sie und lief auf die Gruppe zu. „Ich habe ja nicht gewusst...“, versuchte er sich zu entschuldigen, brach aber dann seinen Satz ab. Die Frau lächelte breiter. Cay war sich sicher, dass dieses Lächeln beruhigend wirken sollte, doch in diesem Augenblick kam es ihm sehr viel mehr wie eine böse Grimasse vor, ein höhnisches Grinsen, das ihn belustigt anstierte, fast so, als wisse sie, was gerade in seinem Kopf vorginge. »Verdammt«, dachte er, »Wo zur Hölle, war sie plötzlich hergekommen« „Wenn ich mich kurz vorstellen dürfte“, begann sie ruhig, jedoch sehr langsam, als ob sie sich vorher gut überlegte, was sie sagte, „Für alle, die mich noch nicht kennen, ich heiße Felia Snow und werde heute die Prüfung abhalten. Wenn Sie mir bitte folgen würden.“ Cay nickte instinktiv und folgte, genau wie die Übrigen auch, Snow über den Innenhof. Er kam sich jedoch zunehmend hilfloser vor, das Gefühl der Machtlosigkeit schnürte ihm den Brustkorb zu, verwandelte seine Gedanken zur Panik hin. »Ob man dies wohl Prüfungsangst nennt?!«, fragte er sich. Ihm war es schon immer schwergefallen seine Empfindungen klar zu benennen und seine Innenwelt für andere verständlich zu beschreiben. Ein Grund, weshalb er bei anderen stark aneckte. Dann liefen sie zum Anwesen zurück, drangen durch die schwarzen Tore und erklommen die Treppe zum dritten Stock. Sie wandelten durch die langen, düsteren Korridore, keiner sagte ein Wort, die Anspannung war unerträglich, wurde beinahe greifbar wie ein undurchdringbares, dennoch unsichtbares Tuch, das sie im Inneren einschloss. Es erstickte jede Zuversicht, löschte den Glauben an die eigene Stärke aus und ließ das beklemmende Gefühl der Resignation zurück. Snow stoppte. „Ich werde Sie entsprechend Ihres Rangs aufrufen. Sie treten einzeln ein. Sollten Sie jedoch betrügen, oder auch nur den Versuch dorthin zeigen, werden Sie sofort von der Prüfung ausgeschlossen und fallen automatisch durch. Noch Fragen?!“, fragte Snow und schloss die Tür auf, über der die Lettern »Praktische Abschlussprüfung« angebracht worden waren. Die Zeit kroch. Eine Ewigkeit, so schien es, waren die Teilnehmer im Prüfungsraum – Er versuchte an der Tür zu lauschen, etwas aufzuschnappen, dass ihm vielleicht bei seiner Vorbereitung behilflich sein könnte, wurde jedoch von zwei Dämonen zurückgehalten. „Bitte zurücktreten, bis Sie aufgerufen werden!“ „Schon gut, schon gut“, murmelte Cay und beobachtete Mochi aus dem Augenwinkel. Der Kürbisgeist schwebte einige Zentimeter über dem Boden, taumelte langsam an die gegenüberliegende Wand und sackte in sich zusammen. „Du brauchst keine Angst zu haben“, kam es plötzlich von Cay. Er ging auf Mochi zu, ging in die Hocke und setzte sich neben den Kürbis, „Wir werden es allen zeigen und die Prüfung mit Bravour bestehen! Ich bin nicht umsonst, Cay, der Erzdämon des Zorns. Mit mir an deiner Seite kann dir nichts passieren!“ „Und was ist, wenn wir doch durchfallen“, jammerte Mochi, „Ich will nicht mit Toxica im nächsten Jahr antreten.... Ich will nicht... Ich will es einfach nicht...“ Erst jetzt begriff Cay wie sehr ihn seine Versetzung zu schaffen machte. „Aber...“ „NEIN... ES GIBT KEIN ABER...“, Mochi schrie beinahe, als er diese Worte sprach, versuchte aber angestrengt seine Lautstärke zu kontrollieren. Es gelang ihm nicht, „ICH WERDE NICHT MIT TOXICA ZUSAMMENARBEITEN... Ich werde es nicht... Wenn du nicht mehr mein Meister bist, will ich lieber gar keinen mehr haben...“ Eine Pause trat ein – Cay wusste nicht, was er sagen sollte, doch dann ergänzte Mochi leise wimmernd. „Es tut mir leid, was ich auf dem Friedhof gesagt habe... Du bist der beste Meister, den ich je hatte“, die Tränen hatten ihn übermannt, er hatte sich nicht dagegen wehren können. „Nicht weinen, nicht weinen“, flüsterte Cay und klopfte mit der Hand auf den Rücken des Kürbisses, „Wenn du weinst, dann muss ich gleich auch noch weinen!“ „Du lügst!“, lachte Mochi leise. „Ich weiß – Aber das tun Dämonen halt manchmal. Das weißt du doch“, säuselte Cay und streichelte zaghaft über den Kopf des Kürbisgeistes, „Und jetzt hoch mit dir, wir sind mit Sicherheit gleich dran und dann will ich keine Tränen mehr sehen.“ „Jawohl, Chef!“, keckerte Mochi, schwirrte schlagartig in die Luft und wirbelte herum. Auch wenn Cay heute sein Amt verlieren würde und er unter der Anweisung von Toxica arbeiten musste – So würde Cay auf ewig sein Freund bleiben, das wusste er. „Cay, Erzdämonen des Zorns und der Niedertracht! Bitte treten Sie in den Prüfungsraum“, fast schon mechanisch erklang die Stimme Snows. Sie hatte ihren Kopf durch den schmalen Türspalt geschoben und winkte ihn und Mochi herbei, „Trödeln Sie nicht, wir haben keine Zeit zu verlieren.“ Cay nickte Mochi zu: „Dann wollen wir mal!“ Sie betraten den riesigen Raum. Das Haus war alt, vielleicht sogar uralt, er schätzte es auf gut zwei oder dreihundert Jahre, aber das genaue Alter ließ sich heute natürlich nicht mehr feststellen. Der Zahn der Zeit hatte unerbittlich an dem Gebäude genagt und auch diesen Raum nicht verschont. Der Putz war an manchen Stellen gerissen, oder ganz von der Wand gefallen, sodass große, klaffende Löcher entstanden waren, unter denen die schwarzen Steine der Grundmauer sichtbar wurden. Der Boden knarrte protestierend, als sie über die Türschwelle traten und Schritt für Schritt auf Snow zuliefen, die mitten im Raum stand und auf sie wartete. Die einzige Lichtquelle bildete ein alter, vergoldeter Kronleuchter, der das Zimmer spärlich erhellte. „Sind Sie bereit?“, fragte Snow, grinste breit und überreichte Cay einen Bogen, „Bereit oder nicht, die Prüfung beginnt.“ Der erste Enttäuschung, über seine Aberkennung zum Gruppenleiter, war – zumindest bei ihm – einem trotzigen, aber enthusiastischen Jetzt-erst-Recht Gefühl gewichen. „Ich erkläre Ihnen kurz die Aufgabenstellung. Sollten Sie Fragen zum Verständnis haben, können Sie natürlich alles noch einmal nachlesen. Dafür ist der Prüfungsbogen ja da“, erklärte Snow, dann wandte sie ihr Wort an den rothaarigen Dämon, „Cay, Sie werden Mochi bei der Aufgabe lediglich Hilfestellung leisten, die Beschwörung an sich ist von ihrem Partner zu leisten.“ „Verstanden!“, kam es Cay und Mochi wie aus einem Munde. „Der Geist eines Verstorbenen soll aus der vierten Sphäre in die Dritte beschworen werden. Die Kontrolle des Totengeistes ist vollkommen zu übernehmen, der freie Wille wird für die Dauer der Beschwörung komplett ausgeschaltet und geht auf den Dämon über. Eine Kontroll-Probe ist abzulegen!“, sagte Snow und blickte dann abwechselnd von Cay zu Mochi, „Ich denke es sollte sich von selbst erklären, welche Art von Geisterbeschwörung gemeint ist!“ „Selbstverständlich!“, antwortete Cay sofort, „Es heißt, dass jede Seele nach dem Tod in die vierte Sphäre steigt, sich aber auf dem Weg dorthin zahlreichen Hindernissen stellen muss, ehe sie Ruhe finden kann. Scheitert eine Seele an diesen Aufgaben, treibt sie ruhelos umher und muss in einer Art Zwischenwelt verweilen. Es wird überliefert, dass der Totenrichter einen Raben losschickt, der diese herumirrenden Seelen packt und mit Gewalt ins Totenreich mitnimmt. Die Seelenwaage entscheidet dann über das Schicksal des Toten. Hat sich der Verstorbene zu Lebzeiten mit dem unerschütterlichen Glauben an Gott für das Paradies qualifiziert, steigt seine Seele in die sogenannte fünfte Sphäre – Das Paradies. Alle anderen Seelen bleiben in der Totenhalle und warten darauf eines Tages wiedergeboren zu werden. Da wir, Dämonen, uns Gott widersetzen, landen unsere Seelen nach dem Tod natürlich sofort in der Totenhalle und solch eine Seele gilt es zu beschwören - Richtig so?!“ Snow konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, nickte zustimmend und fügte anschließend hinzu, „Dann zeigen Sie mal was Sie während des Trainings gelernt haben!“ Cay murmelte leise, aber unverständlich eine Beschwörungsformel und ließ aus dem Nichts heraus ein dickes, in Leder gebundenes Buch erscheinen, das langsam in seine Hände hinab glitt. Er legte seine Handinnenfläche auf den alten Einband des Buches und ließ einen Bannkreis entstehen, der sich durch den gesamten Raum erstreckte. Die Wände schoben sich tosend zurück, verdoppelten die Fläche der Prüfungshalle – Dann zog sich eine Mauer aus gleißendem, aber dämonisch, rotem Licht hoch, fuhr mit geraden Linien über den hölzernen Boden und bildete die Form eines Pentagramms. Der Lichtstrom fraß sich spürbar durch den Raum, quoll an, wurde fast überdimensional und schien seine gebündelte Kraft explosionsartig entladen zu wollen. »Wie immer muss er übertreiben«, dachte Snow, versuchte aber eine bissige Bemerkung herunterzuschlucken. „Mochi, jetzt bist du dran. Das ist dein Auftritt!“, säuselte Cay vergnügt, trat einige Schritte zurück, blieb aber dennoch im Bannkreis stehen und fixierte den Kürbisgeist, der unsicher in die Mitte schwebte. „Denk daran, was ich dir auf dem Flur gesagt habe – Dämonen zeigen keine Schwäche!“, raunte Cay. „Ja... JAWOHL!“, ereiferte sich Mochi. Seine Stimme hatte plötzlich an Kraft gewonnen, wurde selbstbewusster und energischer. Er war mit seinem ganzen Herzen bei der Sache – Das Leuchten seiner Augen verriet die Veränderung. „So gefällst du mir gleich schon besser“, er nickte Mochi zu. »Aus den durstigen Träumen entstiegen, schwindelnd sich die Seele im Nichts verirrt. Folgt der roten Sonne, die sich verliert in der Nebelnacht und mit zitternder Hand malt das verzehrte Seelenbild. Die tiefste Bitternis die Seele aus dem Schlafe weckt, sie an die Erinnerungen knebelt - sie flattern schreckhaft auf. Sie regt die gespenstigen Glieder, fährt auf und erwacht. Der schwarze Kokon liegt da – vermodert, leichenhaft.« Die Worte waren fast schon wie von selbst aus Mochi gesprudelt, zeigten einen Lichtblitz später seine unheimliche Wirkung und beschworen eine geisterhafte Gestalt aus der tiefsten Grube der Hölle hervor. Der Boden tat sich auf, schlug ein gähnendes Loch in die Finsternis, zwei Arme ragten nach oben, packten nach der Kante, krallten sich fest und zogen sich langsam empor. Ein düsterer Rhythmus entstand, wurde zum Herzschlag des Wesens, das aus seinem Totenschlaf erwacht war und nun das pulsierende Blut durch seine müden Gliedmaßen rauschen spürte. „Du hast es geschafft, Mochi!“, die Augen Cays hatten sich vor Aufregung geweitet, er grinste über das ganze Gesicht. Nicht einmal, wenn er sich zu beherrschen versucht hätte, wäre es ihm gelungen, das morbid, bizarre Gefühl von absurder Schönheit zu verbergen, dass er gerade empfand. Sein Blick war starr auf die leblosen Hände gerichtet, die sich in düsteren Intervallen vor und zurück bewegten, sich aber dann mit einer Gewalt hochstemmten, die ihn kurz erschaudern ließ. Das Haupt der Totengestalt wurde erkennbar, lange, blonde Haare fielen über die blasse Haut des Geistes und Cay erkannte, dass es ein Mädchen war, das aus dem Totenreich in die dritte Sphäre beschworen worden war. Sie hob ihren Kopf, blaue Augen – tief wie der Ozean und gleichsam so stürmisch und todbringend – blickten auf Cay und Mochi empor. Dann – eine schreckliche Sekunde später, bäumte sie sich auf, kletterte aus dem Loch und stand ihnen in ihrer vollen Größe gegenüber. Cays Augen huschten über die langen, golden Haare, fuhren über das weiße Kleid, das sie trug, und hefteten sich anschließend an die gleißend, hellen Flügel, die mit schwarzem, klebrigen Blut besudelt waren. Moment mal... Flügel?! Er erschrak! „D...D...Das kann doch nicht...“, stotterte er, wich einige Schritte zurück, fixierte dabei aber die engelsgleiche Gestalt, die regungslos im Zentrum des Bannkreises stand und auf seine Befehle wartete. „ABBRECHEN! SOFORT ABBRECHEN!“, schrie Snow panisch und versuchte die magische Mauer zu durchbrechen – Vergebens! Sein Körper war wie gelähmt, seine Beine versagten, hörten nicht mehr auf seine Befehle, gleichsam welche Anstrengungen sein Geist zu bewirken versuchte die Konfusion zu brechen – Er versagte. „CAY, LÖS SOFORT DEN BANNKREIS AUF! BEI DER BESCHWÖRUNG IST ETWAS SCHIEF GELAUFEN!“, brüllte Snow, als der Angesprochene sich immer noch nicht rühren wollte. „Ich... Ich...“, schnappte Cay ohnmächtig. Der Engel hatte seine Kontrolle längst gebrochen, sie hatte den Augenblick seiner Verwirrtheit ausgenutzt, war seiner Gewalt entkommen und lief jetzt taumelnd auf ihn zu. In ihren Augen las er einen Durst, einen uralten, ungestillten Durst, der ihre Seele am Leben erhalten hatte – Über viele Jahre hinweg. Cay lächelte mit einer Überlegenheit, die er nicht einmal im Ansatz fühle, ging auf den Engel zu, zog seine Zwillingsdolche hervor und streckte die Klinge – auf das blonde Mädchen gerichtet – aus. „Ich wusste nicht, dass Engel in der Totenhalle verweilen“, sagte Cay in einem finsteren Ton, „Doch wirst du keine Zeit haben, mir dies genauer zu erklären, denn vorher schicke ich dich in dein modriges Höllenloch zurück, aus dem du gekrochen bist. Aber du wirst als einziger Engel sagen können, wie es sich anfühlt, gleich zwei Mal gestorben zu sein!“ Nichts. Nichts als eine mörderische Stille. Es verging eine Weile, ehe er bemerkte, dass die Stille gewichen war und etwas vollkommen anderes seinen Platz eingenommen hatte. Sie hatte den Mund geöffnet, versuchte zu sprechen, aber es kamen keine Worte heraus, sondern ließ lediglich ein entsetzliches, gurgelndes Geräusch hören – Ein Blubbern, ein Würgen, ein feuchter, schauriger Ton als ersticke sie an ihrem eigenen Blut, das sich in ihrer Kehle bewegte. Plötzlich schrie sie. Es war ein langer, schriller Laut, ein fast schon schmerzhaftes Kreischen – Laute einer fremden Sprache, gemischt mit dem rhythmischen Gurgeln in ihrem Hals. Zweierlei geschah, dass ihn mit einer Brutalität aus der Fassung brachte, sodass er beinahe rücklings über seine eigenen Füße gestolpert und zu Boden gestürzt wäre. Mochi hatte mit einem Mal den Bannkreis aufgehoben, die rote Mauer brach in sich zusammen, stürzte tosend in die Tiefe und verschwand im Boden. Der Engel war frei. Vollkommen frei und er würde sich auch nicht wieder einsperren lassen. „Was hast du getan?!“, kreischte Cay aufgebracht, „Du hast einen unverzeihlichen Fehler begangen, der uns alle in Gefahr bringen könnte.“ Er leckte sich über die Lippen, „Man soll Gefieder solange in einem Hühnerstall einpferchen, bis es geschlachtet wird!“ „Und du denkst wirklich, dass du der Situation allein gewachsen bist?!“, ertönte plötzlich die durchdringende Stimme Toxicas aus dem Hintergrund. »Warum ausgerechnet er...«, er verfluchte sich innerlich. Weshalb musste gerade er jedes Mal mit Toxica bestraft werden und überhaupt – Wer hatte diesen Bastard eigentlich informiert?! Er verzog seine Mundwinkel zu einer gehässigen Fratze: „Natürlich werde ich es alleine schaffen – Ich kann auf einen Taugenichts, wie dich, verzichten, der mir nur dumm im Weg rumsteht und das auch noch Hilfe nennt.“ Toxica grinste. Es dauerte nicht lange, bis sich der Rhythmus im Inneren des Raumes änderte, die schweren, schlurfenden Geräusche hatten ihre Richtung gewechselt, steuerten nun auf Mochi zu, der angsterfüllt zurückwich. „Ich bin dein Gegner!“, fauchte Cay, eilte mit schnellen, hastigen Bewegungen auf das Mädchen zu, das einen Sekundenbruchteil später eine lodernde Flamme in ihrer Hand beschworen hatte und nun diese Gewalt auf ihn schleuderte. Er wich aus. Er hatte es gewusst, ja er hatte es von dem Zeitpunkt an gewusst, als das Mädchen diesen grässlichen, abscheulichen, tief aus der Kehle stammenden Laut von sich gegeben hatte – Diese Erkenntnis sickerte langsam in seinen Verstand und ließ keinen Zweifel mehr zu. Sein Zorn erlosch mit einem Mal. Dann rannte er so schnell ihn seine Beine trugen, stürmte mit großen Schritten auf Mochi zu, warf sich auf den Kürbisgeist und schleuderte diesen brutal zu Boden. „Du darfst nicht angreifen!“, japste er ohnmächtig, „Dieses Mädchen...“ Doch es war zu spät! Schwarze Fäden surrten schlagartig durch den Raum, zogen sich um den schmalen Körper des Engels und ketteten diesen zur vollkommen Bewegungsunfähigkeit fest. Toxica hatte sich nicht gerührt, er stand immer noch am anderen Ende der Halle, führte jedoch das dunkle, feste Band, das sich zwischen ihnen spannte – Schwarze, zuckende Nervenstränge. Das Mädchen wollte aufschreien, stieß aber lediglich ein letztes, tonloses Seufzen hervor, ehe sie in sich zusammensackte. „Toxica, du Idiot! Ich hab doch gesagt, dass ich das allein regeln kann. Halt dich aus meinen Angelegenheiten raus!“, keifte Cay, richtete sich langsam wieder auf und zog Mochi hoch, der wie benommen unter ihm gelegen hatte. „Wenn ich geglaubt hätte, dass du dazu in der Lage wärst, hätte ich mit Sicherheit auch nicht eingegriffen, oder?!“, kam es hämisch grinsend von Toxica, „Aber ich kann dein sinnloses Herumgehoppel nicht lange ertragen – Mir wird davon schlecht, du Trottel!“ „DUUU!“, raunte Cay wütend. „Wenn du wirklich vorgehabt hättest sie zu erledigen, dann hättest du es bereits getan, als sich dir die Möglichkeit zum ersten Mal bot – Aber wie immer bist du zu weich!“, fuhr Toxica ungerührt fort und taxierte den Jungen mit einem abfälligen Blick, „Es ist eine Schande, dass du dich überhaupt »Erzdämon des dritten Himmels« nennen darfst. Versager, wie du, sollten für immer verbannt werden!“ „Ja, wenn du hier das Sagen hättest, würde der dritte Himmel nur aus gefühlskalten Zombies bestehen, die ohne Sinn und Verstand Seelen sammeln würden und am Ende nicht mal wüssten wofür eigentlich. Denn um ein Ziel haben zu können, muss man mit Leib und Seele dabei sein und hinter seiner Sache stehen, du Marionette!“, brüllte Cay, schüttelte knapp den Kopf und lief auf den Engel zu, der mit geschlossen Augen, erschöpft auf dem Boden saß. Die schwarzen Ketten fraßen die Energie des Mädchens, sie strömte auf Toxica ein, machte ihn stärker und stärker und für einen kurzen Moment glaubte er, sogar ein gieriges Schmatzen hören zu können. „Hör auf, du Scheusal!“, keuchte Cay atemlos, durchtrennte – ohne das er recht wusste, was seine Hände taten – die Verbindung. Sein Verstand hatte sich ausgeschaltet, er gehorchte nur noch seinem Herzen und den emotional gesteuerten Handlungen, die es nun anstrebte. Das Seil löste sich sofort auf, zersplitterte in tausend winzige Einzelteile und wurde wieder zu einer unsichtbaren Lebenskraft, die sich mit dem Luftstrom mischte. Auch Mochi flog herbei und musterte Cay, der sich langsam zu dem Mädchen herunter beugte und ihr zuflüsterte: „Kannst du dich bewegen?!“ Langsam – unbeschreiblich langsam, fast schon penibel überlegend, was sie tun sollte – öffnet sie die Augen und blickte in seine Rot-glühenden. „Du musst mir helfen! Ich stehe auf deiner Seite“, sagte das Mädchen mühsam. Es fiel ihr schwer zu sprechen und doch hatte sie diese Worte hervorgebracht. Sie versuchte sich trotzig ihrem kraftlosen Körper zu widersetzen, diese kindliche Auflehnung gegen das Unausweichliche bildete ihren letzten Halt und wurde zu einer fast übernatürlichen, wenn nicht sogar überlebenswichtigen Kraft. Wichtiger als alles andere. Mit einer heftigen Bewegung trat Toxica an ihm vorbei, dicht gefolgt von Snow – Beide rissen den Engel grob hoch und führten ihn ab. Obwohl er sich zu beherrschen versuchte, waren seine Gedanken in seinem Gesicht lesbar gewesen, denn er konnte an der Art wie Mochi ihn anschaute, erkennen, dass er sich sorgte und er wünschte sich in diesem Augenblick nichts mehr, als dass er seine Befürchtungen aussprach. „Die Prüfung ist für heute beendet! Macht das ihr hier weg kommt!“, brüllte Snow und versuchte die aufgebrachte Masse, die sich in die Prüfungshalle zu drängen versuchte, zurückzutreiben. Die Nachricht, dass ein Himmelsbote Gottes aus dem Totenreich heraufbeschworen worden war, hatte schnell die Runde gemacht. Die Schaulustigen strömten herbei, wurden wie eine Mottenschar, die magisch von dem verheißungsvollen, aber tödlichen Licht der Straßenlaterne angezogen wurden, angelockt und klebten nun mit einer Sturheit an der schweren Tür, die es Snow fast unmöglich machte, sich unbeschadet durch die Traube aus Schülern zu kämpfen. „Wir sind durchgefallen, oder?!“, murmelte Mochi verwirrt und blickte dem Mädchen nach, das sich aus dem festen Griff Toxicas zu winden probierte, jedoch bei jedem Versuch kläglich scheiterte. Der Dämon hatte sie fast vollständig ihrer ursprünglichen Kraft beraubt. „Sieht so aus...“, mehr brachte Cay nicht hervor. Wie in Trance ging er immer wieder die Handlungsabläufe durch, spielte in Gedanken jede Einzelheit der Beschwörung durch, murmelte leise die Formel vor sich hin und verzog dann das Gesicht. „Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, was falsch gelaufen sein soll!“, sagte er schließlich und setze sich neben Mochi auf den kalten Holzboden, „Es war doch alles perfekt... Verflucht!“ „Nicht verzagen, Chef! Noch wissen wir ja gar nicht, ob wir wirklich durchgefallen sind“, versuchte Mochi seinen Meister zu beruhigen, erzielte aber mit seinen Worten nicht die gewünschte Wirkung, denn statt dass Cay sich beruhigte, wurde er von einer fast schon krankhaften, überschäumenden Wut gepackt. „ICH HATTE NICHT VORGEHABT NOCH EIN JAHR HIER UNTEN ZU VERSAUERN!“, fauchte Cay benommen, sprang auf und lief unruhig auf und ab, „NICHT NOCH EIN JAHR... nicht noch ein verlorenes Jahr...“ Seine Worte wurden immer leiser und leiser, bis seine Stimme endgültig versagte und in einem erstickten Schluchzen endete. „Das ist ungerecht... Das ist so verdammt ungerecht!“, er schlug mit den Fäusten auf den Boden. Noch nie hatte Mochi seinen Meister so gesehen. Vielleicht – und das hielt es für sehr wahrscheinlich – hatte er Cay einfach nie als empfindsames Wesen gesehen, das durchaus fähig war, Gefühle zu erleben und diese auch zu äußern. Möglicherweise lag es einfach an seiner taffen Art, mit der er stets selbstsicher, wenn nicht sogar fast schon aggressiv auftrat. Wenn man eines schnell im dritten Himmel lernte, dann war es jene bittere Wahrheit, dass die Träume eines Menschen schnell ihren unschuldigen Zauber verloren und je verzweifelter man sich an seine Sehnsüchte zu klammern versuchte, umso gnadenloser wurden sie einem entrissen. „Träume nicht, wenn du dich mitten im Inferno befindest – Es könnte dich eines Tages deinen Kopf kosten!“, diese Worte hatte ihm Myras nach einem verlorenen Kampf gnadenlos entgegen geschleudert – Und er hatte Recht behalten. Wie er mit allem Recht behalten hatte, was die Unterwelt betraf. Und dann – so plötzlich, wie es gekommen war – war es vorbei, langsam richtete er sich wieder auf, mied jedoch den Blickkontakt zu Mochi und ging an diesem tonlos vorbei. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er das Gefühl durch eine riesige, unsichtbare Glasscheibe zu stürzen... Er hatte verloren. Er hatte sich unbewusst der Konfrontation gestellt, war seinen Ängsten mutig gegenübergetreten und er hatte verloren, auf eine schmerzhafte, leidvolle Art hatte er versagt. „Cay! Mochi!“, ertönte plötzlich die Stimme Rens hinter ihnen, er hastete atemlos in die Prüfungshalle hinein und hielt ihnen das alte, in Leder gebundene Buch unter die Nase, das sie bei der Beschwörung verwendet hatten, „War euch eigentlich bewusst, unter welchem Einfluss euer Bannkreis stand?!“ Für einen kurzen Augenblick starrte Cay den weißhaarigen Dämon einfach nur durchdringend an, sagte aber kein Wort. Auch Mochi schwieg. „Verdammt Cay, wenn Myras das erfährt, wird er dich verdammen!“, fauchte Ren und presste seinem Partner das Buch gegen die Brust, „Versteck das Buch! Ich habe es ausgetauscht. Die Fälschung liegt jetzt in Myras Büro!“ „Warum tust du das?!“, hauchte Cay leise und steckte das Buch in seine Tasche. „Das nennt man Freundschaft, du Idiot!“, grinste Ren verlegen. „Dann hast du jetzt was gut bei mir“, entgegnete Cay mühsam, „Soll ja niemand behaupten, dass ein Erzdämon, der bis jetzt noch jeden seiner Feinde in die Flucht geschlagen hat, in der Schuld seines Partners steht!“ „Ich glaube er hat das Prinzip von einer normalen Freundschaft immer noch nicht verstanden“, sagte Mochi stirnrunzelnd und verdrehte provokant die Augen, „Aber manche brauchen halt länger, kann man nichts machen!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)