Finera - Dawn of the Dark von Kalliope ================================================================================ Kapitel 33: Eine Nacht auf der Farm ----------------------------------- 20. November - Summer - Nur wenige Minuten nach dem Erreichen der Mähikel-Farm setzte ein eisiger Platzregen ein, der an den Weltuntergang erinnerte. „Verdammt!“ Bryce starrte mit großen Augen durch das Fenster des Hofladens nach draußen. „Man sieht keine fünf Meter weit, so stark ist der Regen. Wie konnte der nur so plötzlich aufziehen?“ Die Ladenbesitzerin lächelte ihn von der Theke aus an. „Das ist um diese Jahreszeit häufig, wobei ich sagen muss, dass es dieses Jahr besonders schlimm ist. Das Wetter spielt schon seit dem Sommer vollkommen verrückt. Möchtet ihr etwas kaufen?“ „Eigentlich sind wir nur auf der Durchreise und hätten gerne zwei Zimmer für die Nacht“, sagte Summer und schaute sich genauer in dem kleinen Hofladen um. Es gab frische Mähikel-Milch, diverse Käseprodukte und Wolle aus geschorenem Mähikel-Fell zu kaufen. Weiter hinten entdeckte sie kunstvolle Decken, die mit bunten Fäden durchzogen waren. Die Frau nickte und holte einen Zettel unter der Theke hervor, auf dem Summer eine Tabelle mit Zimmerbelegungen erkennen konnte. „Nur für diese Nacht?“ „Ja. Wir wollen morgen früh gleich weiter nach Tempera City.“ „Das macht dann 5000 Pokédollar pro Person. Das vegetarische Frühstück ist im Preis inbegriffen.“ Beide bezahlten, doch als die Frau in ein Hinterzimmer ging, um die Schlüssel für die Zimmer zu holen, konnte Bryce sich einen Kommentar nicht verkneifen. „Dafür, dass wir gerade Nebensaison haben und ohnehin kaum Trainer auf der Route unterwegs sind, ist das ganz schön teuer.“ „Vielleicht liegt es auch an den frischen Milchprodukten. Von irgendwas muss diese Farm schließlich leben.“ Summer zuckte mit den Schultern. Sie warf einen letzten Blick in ihr Portemonnaie. Viel hatte sie nicht mehr dabei. Auch wenn sie den Vorschlag ihrer Mutter, dass Rain und sie fortan wie normale Trainer unterwegs jobben sollten, gut fand, vermisste sie die Freiheit einer beinahe limitlosen Kreditkarte, wie sie ihre Tante Trixi stets propagierte. Als die Frau mit den beiden Schlüsseln zurückkehrte, schloss sie die Tür vom Hofladen ab. „Ich glaube nicht, dass heute noch jemand kommen wird – und falls doch, haben wir immer noch die Notfallklingel am Stall. Na dann ihr beiden, kommt einfach mit.“ Sie führte Summer und Bryce durch das Hinterzimmer, das sich gleichzeitig als Warenlager herausstellte, von dem aus es zu einer Kühlkammer ging. Eine weitere Tür führte in einen langen, mit Parkett ausgelegten Flur, von dem weitere Türen in Büroräume abzweigten. Am Ende des Flurs befand sich ein großer, gemütlicher Aufenthaltsraum, in dessen Ecke das Feuer in einem Kamin prasselte. Alles war sehr rustikal gestaltet und Bilder der Mähikel und der Farm hingen an allen vier Wänden. Drei weitere Jugendliche saßen um einen runden Tisch in der Mitte des Raumes, der wohl gleichzeitig auch als Speisesaal diente. Summer zählte die Stühle am Tisch – es waren sechzehn – und schloss dadurch auf die Maximalbelegung der Gästezimmer. Auf den zweiten Blick entdeckte sie einen Fernseher gegenüber des Kamins, die Tür zur angrenzenden Küche und – hinter großen Topfpflanzen versteckt – die Treppe ins Obergeschoss. „Das hier ist unser Aufenthaltsraum“, erklärte die Frau und nickte den drei anderen am Tisch freundlich zu. „Er steht jedem Gast zur freien Verfügung. Das Frühstücksbüffet gibt es morgens zwischen sieben und neun, Mittagessen zwischen zwölf und eins und Abendessen zwischen sieben und acht. Ihr könnt jeden Tag zwischen zwei Gerichten wählen, das wird üblicherweise morgens beim Frühstück in Form einer Bestellliste gemacht.“ „Ich dachte, nur das Frühstück ist inklusive?“ „Nur für den Fall, dass ihr länger bleibt und Vollpension haben möchtet. Das kostet dann allerdings 1000 Pokédollar mehr. Wahlweise könnt ihr tagsüber zwei Stunden in den Ställen mitarbeiten, auch dafür gehen morgens Listen rum.“ „Klingt fair“, meinte Summer. „Oben befinden sich unsere Gästezimmer“, fuhr die Frau fort. Während sie sprach, fielen ihr immer wieder graue Strähnen ins Gesicht, die sie dann in einer automatischen Bewegung wieder nach hinten strich. „Die Küche ist die Verbindung zum Haupthaus, für den Fall, dass einmal etwas sein sollte. Dort kochen wir für euch und stellen einen Raum weiter unseren hauseigenen Mähikel-Käse her. Das war es auch schon. Hier sind eure Schlüssel.“ Mit einem Kopfnicken verabschiedete sie sich und verschwand in der Küche, um mit den Vorbereitungen für das Abendessen zu beginnen. Summer verspürte wieder ihr Magenknurren, stellte den Rucksack auf dem Boden ab und kramte ihren restlichen Tagesproviant hervor. „Meinst du, wir können heute Abend wieder kostenlos mitessen?“ „Da wäre ich mir nicht so sicher.“ „Ach, was soll’s.“ Summer seufzte. „Ich buche uns für heute das Abendessen dazu, von dem einen Sandwich werde ich heute nicht mehr satt.“ Gesagt, getan, und ein weiterer Schein aus ihrem Portemonnaie wechselte den Besitzer. Anschließend brachten beide ihr Gepäck auf die Zimmer und kehrten in den Aufenthaltsraum zurück, um sich die Zeit bis zum Abendessen zu vertreiben. In der Ecke vor dem Kamin saß ein Mädchen in ihrem Alter und blätterte in einer Fachzeitschrift für Pokémon-Zucht. Sie würdigte sowohl Bryce als auch Summer keines Blickes und war vollkommen in ihre Lektüre vertieft. Die beiden anderen saßen noch am Esstisch und waren in den letzten Zügen eines Kartenspiels, das schlussendlich von einem der beiden Jungen zusammengepackt wurde. Er nickte Summer im Vorbeigehen zu und verschwand anschließend gähnend nach oben. Zurück blieb der dritte Trainer, dessen bernsteinfarbene Locken wirr in alle Richtungen abstanden. Durch seine dunkle Brille musterte er sowohl Bryce als auch Summer sehr aufmerksam und wenige Sekunden später veränderten sich seine Gesichtszüge zu einem widerwilligen Erkennen. „Na sieh mal einer an. An dich erinnere ich mich.“ Summer kam ein wenig elegantes „Hä?“ über die Lippen, doch sie wurde das unterschwellige Gefühl nicht los, dass der Junge Recht hatte. Auch ihr kam er bekannt vor, doch sie konnte ihn nicht einordnen. Er lächelte sie spöttisch an. „Ich habe ein ausgezeichnetes Gedächtnis, was inkompetente Trainer mit seltenen Pokémon angeht.“ Der Groschen fiel. Lockenkopf. Augen wie Kirschholz. Arroganter Blick. „Oh weia, du bist das Arschloch von Route 5, das erst große Töne gespuckt und dann den Schwanz eingezogen hat, als ich einen Pokémonkampf verlangt habe. Schon klar, ich weiß auch wieder, wer du bist.“ Die Szene von damals lag schon über einen Monat zurück, tauchte aber in alter Frische vor ihrem inneren Auge auf. Bryce warf dem Jungen einen misstrauischen Blick zu. „Ihr kennt euch?“ „Ja“, antwortete Summer. „Nein“, sagte der Lockenkopf. „Ich pflege keinen engeren Kontakt mit schlechten Trainern.“ Summer spürte, wie ihr die Zornesröte Stück für Stück ins Gesicht trieb. „Was ist eigentlich dein Problem, hm? Damals hast du mich auch schon grundlos angefahren und jetzt fängst du wieder damit an.“ Aus den Augenwinkeln nahm wie wahr, wie das Mädchen am Kamin ihre Zeitschrift sinken ließ und dem Gespräch lauschte. „Mein Glumanda ist schwierig zu trainieren, das ist alles. Ich habe bereits drei Orden, also kann ich wohl nicht so schlecht sein, wie du behauptest.“ „Feuerpokémon können gefährlich sein, genau wie alle Pokémon, wenn man sie nicht richtig trainiert und unter Kontrolle hat. Glaub mir, wenn ich dir sage, dass ich jahrelange Erfahrung im Umgang mit Pokémon habe und sie auf den ersten Blick einschätzen kann. Dein Glumanda ist stark und ich weiß nicht, was genau es an sich hat, aber da ist etwas in seiner Ausstrahlung, dem du Noob nicht gewachsen bist.“ „Da ist es schon wieder, dieses scheiß Noob. Was soll das überhaupt?“ Er zuckte lässig mit den Schultern und lehnte sich nach hinten. „Ich spiele gerne Videospiele, na und? Abgesehen davon scheine ich mit meiner Einschätzung bezüglich deiner Fähigkeiten als Trainerin nicht alleine zu sein, wenn ich den betretenen Blick deines Begleiters richtig interpretiere.“ Diese Aussage nahm Summer jeglichen Wind aus den Segeln. Entgeistert sah sie Bryce an und erkannte, dass der Fremde die Wahrheit sagte. Und schlimmer noch, sie selbst wusste tief in ihrem Inneren zu gut, dass Glutexo bisher keinen einzigen ihrer Befehle befolgt hatte. „Und wenn schon.“ Kraftlos ließ sie sich auf einem der Stühle nieder, Bryce tat es ihr gleich. „Wieso mischst du dich überhaupt ein?“ Die Arroganz in seinem Blick ließ nach und wich einer Mischung aus Wut, Enttäuschung und etwas anderem, das Summer nicht deuten konnte. „Trainer und Pokémon sind ein Team. Sie kämpfen gemeinsam und sind im Kampf bestenfalls wie eine Einheit. Ich habe es einmal erlebt, wie jemand, den ich für durchaus fähig gehalten habe, die Kontrolle über sich und sein Pokémon verloren hat. Es war bereits auf etwa Level 40. Du kannst dir womöglich nicht vorstellen, was das für Konsequenzen hatte. Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass sie mir so etwas antun würde. Wie sehr musste sie mich hassen. Ich …“ Den Bruchteil einer Sekunde brach seine Stimme. „Ich habe das nie gewollt, aber ich habe Mitschuld an dem, was passiert ist. Die Details sind nicht relevant für dich, doch lass mich dir eins sagen: Mein Sichlor, mein Starter, mein Freund, ist tot. Es ist in diesem Kampf gestorben und wenn du dein Glumanda nicht richtig trainieren und kontrollieren kannst, wird es vielleicht eines Tages genauso enden wie mit Sichlor und Fiaro.“ Jegliche Farbe war aus Summers Gesicht gewichen. Dieses arrogante Arschloch hatte sein Sichlor in einem Trainerkampf verloren? Wie war das möglich? „Aber … Aber es gibt Regeln, an die sich jeder Trainer hält. Pokémon töten aneinander nicht, sie verfallen nicht in den instinktgesteuerten Überlebensmodus, wie es in freier Wildbahn passieren kann.“ „Das habe ich auch gedacht, aber offensichtlich ist es möglich, sobald Trainer und Pokémon gemeinsam eine Grenze überschreiten.“ Er schluckte, dann stand er auf. „Wie dem auch sei. Pass besser auf dich und deine Pokémon auf oder such dir einen Trainer, der Glumanda gewachsen ist.“ „Glutexo“, verbesserte Summer ihn automatisch. „Es hat sich entwickelt.“ „Umso wichtiger ist das, was ich dir gesagt habe.“ Er schnaubte und sie glaubte ihn so etwas wie „solche Pokémon gehören nicht in die Hände von scheiß Anfängern“ murmeln zu hören. Kopfschüttelnd stand er auf und ging zur Treppe hinüber. Sowohl Bryce als auch Summer sahen ihm hinterher und als er schon fast verschwunden war, rief sie ihm hinterher: „Wie heißt du eigentlich? Ich will dich nicht immer Arschloch nennen müssen.“ Der Anflug eines Grinsens umspielte seine Lippen. „Rocco Black. Aber du Arsch reicht vollkommen aus; da wärst du nicht die erste, die mich so nennt, nur weil ich Recht habe.“ Summer verdrehte die Augen, grinste aber ebenfalls. „Und darauf einen Kaffee“, schloss Bryce das Gespräch, stand auf und ging zu einem Beistelltisch, um den Inhalt der dortigen Kaffeekanne zu leeren. Hosted by Animexx e.V. 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