consider me von GeezKatsu (Puzzleshipping) ================================================================================ Prolog: der Start ----------------- Mühselig stellte ich den Karton auf den Verandastufen ab und stöhnte, als das Gewicht von meinen Armen verschwand. Meine Arme fühlten sich wie ausgeleiert an, aber diese Befreiung war einfach nur herrlich. Schnell stellte ich mein Fuß auf die Stufe darunter und schützte so den Karton vor dem umkippen, indem ich mein Bein dagegen lehnte. Schmerzvoll streckte ich mein Kreuz durch, griff nach meinem Stofftuch, was ich immer in meiner Gesäßtasche hatte und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Nebenbei brannte mir die Sonne auch noch erbarmungslos auf den Pelz. So eine Tortour würde keiner auf Dauer überleben. Vor zwei Tagen hatte ich mich in den Flieger von Japan nach Chicago in der USA gesetzt und von dort mit dem Umzugslaster weiter durch Kanada zum Hudson Bay getuckert. Mal abgesehen davon, das es ein riesiger Umweg war, blieb mir nichts anderes übrig. Die Umzugsfirma hatte Mist gebaut und meine Möbel und Kartons in den falschen Bundesstaat gefahren. Doch als sie mir angeboten hatten es nun als Entschädigung bis zur neuen Stadt zu fahren und wahrhaftig googlen mussten, wo Hudson Bay lag, musste ich wohl oder übel meinen Flug umbuchen und mein Hab und Gut selbst hinfahren. Nachher wäre es noch in Nebraska gelandet. Nun stand ich vor meinem neuen Eigenheim in Churchill. Es war ein hübsches kleines, altes Häuschen genau nach meinem Geschmack. Die Veranda musste ich zwar abschleifen und neu lackieren und einige Fenster austauschen, da sie zersprungen waren, aber ansonsten entsprach es genau meiner Vorstellung, Nach Kleinstadtverhältnissen definitiv renovierungsbedürftig, fast ein halbes Jahrhundert alt aber der Garten war einfach nur spektakulär. Er grenzte an den Hudson, den man problemlos mit der Gartentür erreichen konnte. >Heute Abend werde ich garantiert einen Sonnenbrand haben< Mürrisch blickte ich die Feuerkugel mit den Händen abgeschirmten Augen an. Ich liebte die Sonne und die damit verbundenen Temperaturen, aber diese Hitze war unerträglich. Ich war einfach noch durch Japan verweichlicht und muss mich an das neue Klima gewöhnen. Ein Ätzen entwich meinen Lippen, als ich mich bückte und den Karton hochhob. Was war da eigentlich drin? Mein halbes Bücherregal?! Schnell lief ich durch die Haustier, über den Flur und ignorierte gekonnt das Knarren der Dielen. Im Wohnzimmer angekommen, stellte ich ihn in die Ecke zu den anderen, die die Beschriftung „Medizinische Grundlagen“ trugen. Es war ja schon Horror gewesen alle Werke einzupacken, aber ein Blick auf den riesigen Stapel genügte, um mich fertig zu machen. Vielleicht hätte ich in Japan mehr aussortieren sollen, aber es fiel mir schwer, mich von noch mehr zu trennen. Ich hatte schon nur das Nötigste in den Karton gelegt, aber es erschien mir richtig, die Medizinbücher mit zunehmen. Mein Studium hatte ich erst vor einem Jahr beendet, hatte als Praktikant bei verschiedenen Ärzten Erfahrung gesammelt und fühlte mich lange noch nicht vorbereitet genug. Nachschlagewerke könnten ja nicht schaden... höchstens meinen Rücken. Ich warf ein Blick durch das verdreckte Fenster und fühlte mich schlichtweg überfordert, als ich sah wie voll der Laster noch war. Die meisten Kartons und Kleinigkeiten, wie Lampen, waren schon ins Haus gebracht, aber spätestens an den Möbeln würde ich scheitern. Ein Umzug alleine ist eine Qual, die man niemanden wünschte. Eigentlich sollten mir die Umzugsfirma unter die Arme greifen und langsam bereute ich es, denen keine weitere Chance gegeben zu haben. Klasse durchdacht, Yugi, schalte ich mich. Verdammte Selbstüberschätzung. Dabei hätte ich es mir denken können, das ohne Hilfe nichts geht. Nicht mal einen Nachbarn könnte ich hier fragen, ich kannte doch niemanden in Churchill. Um mein Kreuz zu entlasten stützte ich es mit einer Hand und ging wieder hinaus zur Einfahrt, wo das Grauen wartete. Vielleicht hätte ich doch mehr Sport machen sollen, dann könnte ich wenigstens die Sessel noch hinein tragen. „Hey, brauchst du Hilfe?“ Ich drehte mich zur Straße, doch ich sah niemanden. Mit der Vermutung mich verhört zu haben, tat ich es als Wunschdenken ab und wollte wieder in den Anhänger klettern, als ich wieder die Stimme hörte. „Nicht gerade nett, jemanden zu übersehen.“ Verwirrt blickte ich wieder zur Straße, sah aber wieder nur die spielenden Kindern in den Nachbargärten und vereinzelte Autos, die im Schritttempo vorbei fuhren. Hä? Ich bekam den Verdacht, das die Sonne mir ganz und gar nicht gut tat. Doch dann entdeckte ich einen jungen Mann auf einen Fahrrad, der auf der anderen Seite des Anhängers stand. „Ach Gott, dich hatte ich gar nicht gesehen.“ Mit einem Grinsen winkte er ab und strich sich sein blondes Haar aus der Stirn. „Kein Problem. Ich hatte erst überlegt noch weiter zu zuschauen, wie du versucht die Couch ins Haus zu tragen.“ „Hätte ich meinen roten Umhang dabei, wäre es was geworden.“, seufzte ich und lies mein Kreuz los. „Wo sind deine Helfer?“ „Gefeuert.“ Er lachte laut auf, stieg vom Rad ab und lehnte es an meinem Briefkasten, was vorn an der Straße stand. Dann kam er mit einem freundlichen Lächeln auf mich zu und hielt mir seine Hand hin. „Ich bin Joey. Du bist das Frischfleisch?“ Während ich sie schüttelte, runzelte ich die Stirn. „Yugi und kein Frischfleisch. Ich bin Vegetarier.“ „Bäh, da verpasst du was.“ Er ging um den Laster herum und lugte hinein. „Na holla. Da hast du dir aber was für eine ein-Mann-Show vorgenommen.“ Seufzend trat ich neben Joey und nickte zustimmend. Er drehte sich zu mir und sah mich Prüfend von unten bis oben an. Mit meinem Blick gab ich ihm zu verstehen, jetzt keine Bemerkung vom Zaun zu lassen. Ich wusste auch so, das mein Körper eher schmächtig wirkt und meine Größe haute niemanden vom Hocker. Der Blonde überragte mich auch locker mit einem Kopf. „Frischfleisch?“, fragte ich, doch Joey lächelte nur weiterhin in die Luke hinein. „So nennt man bei uns jemanden, der von Außerhalb hier her zieht.“ Verwirrt kratzte ich mir am Kopf. „Wohnst du hier in der Nähe?“ Er nickte und murmelte etwas von „ein paar Straßen weiter“, eher er in den Anhänger kletterte und deren Inhalt inspizierte. Sofort erinnerte ich mich an Tea´s Worte am Telefon. Ich hatte sie auf einem Rastplatz an der Grenze von der USA angerufen, um ihr zu berichten, in welchen Start ich beim Umzug geschlittert war. Sie hatte aus ihren Liebesschnulzen das in den Städten, wo die Einwohneranzahl sehr gering war, sich ein Neuling schnell herum spricht. Gerade wenn es nur Bürger wie hier in Churchill waren, die selbst hier schon mit den eigenen Eltern gelebt hatten. Lachend versicherte ich ihr, das so etwas nur aus den Büchern entspringen konnte. „Wart´s nur ab, Yugi. Erinnere dich an meine Worte!“, sagte sie und wie ich mich erinnerte. Sie klang wie eine überschminkte Schrulle in Zigeunerkleidung und mit einer Kristallkugel vor der Nase. Joey wohnte Straßen weiter, nicht mal in der Gleichen und dennoch wusste er, das in diesem Haus einer einzog. Dann wollte ich gar nicht wissen, wer noch darüber informiert war. Aber was sollte man von einem kleinen Städtchen schon erwarten, wo die Highlights die Baseballsaison und die Rabatte im Kiosk waren. „Cool, du hast eine Spielkonsole!“ Durch Joey´s Aufruf aus den Gedanken gerissen, schaute ich ihn mit großen Augen an. „So etwas haben wir hier in der Kleinstadt nicht.“ Er begutachtete ehrfürchtig die Verpackung und legte es wieder vorsichtig in den Karton, der offen hinter der Couch stand, als könnte er sie kaputt machen, wenn er sie nur zu schnell wieder absetzte. „Als Dank, das ich dir hier helfe, lädst du mich mal zum Spielabend ein.“ Er grinste mich an und winkte mich zu sich heran. „Sicher.“ Joey griff an das eine Ende und ich nahm das Andere. Schon bei der kleinsten Bewegung merkte ich meinen Rücken wieder protestieren. Eine Stunde später waren alle Sachen ins Haus getragen und wir ließen uns erschöpft auf die Couch nieder, die nun mein Wohnzimmer zierte. „Alter, wenn du nochmal umziehst, ruf mich nicht an.“ Mit einem Lächeln auf dem Gesicht reichte ich ihm eine Flasche Wasser. „Vielen Dank für deine Hilfe. Alleine wäre ich nicht mal ansatzweise so weit gekommen.“ „Alleine würdest du jetzt unter deinen Möbeln vergraben liegen und um Hilfe schreien.“ Wir prosteten uns zu und nahmen einen kräftigen Schluck. „Spätestens bei der Waschmaschine.“, bestätigte ich. „Kein normaler Mensch hat das Bad auch in oberen Stockwerk. Ein Wunder, das uns die Stufen ausgehalten haben.“, sagte Joey und rieb sich seinen Ellenbogen, den er vorhin am Geländer angestoßen hatte. Er stellte die Flasche zu seinen Füßen ab und sah mich fragend an. „Wieso bist du ausgerechnet in die langweiligste Kleinstadt gezogen?“ Mit so einer Frage hatte ich schon gerechnet und streckte mich. „Ich hatte die Nase von Japan voll. Sie war mir zu laut und zu hektisch. Jeder hatte sich dort benommen, als ginge es um Leben und Tod, wenn er die U-Bahn nicht bekommen würde. Ich habe mich bewusst hier beworben und als ich den Anruf bekam, das man mich nehmen will, hat es nicht lange gedauert alles zusammen zu packen.“ Joey nickte und schien zu verstehen, was ich damit meinte. „Wenn du heute erst angekommen bist, kennst du doch noch niemanden?“ „Nein, du hast das Privileg, meine erste Bekanntschaft in Churchill zu sein.“ Grinsend zeigte er mir seine Zähne. „Ich wollte eigentlich zu nebenan. Da wohnt ein Freund von mir. Er veranstaltet ´ne kleine Grillparty im Garten und wenn du möchtest, kannst du mich gern begleiten, So lernst du die Elite der Stadt kennen.“ Ich wusste dieses Angebot zu schätzen, aber lehnte kopfschüttelnd ab. „Das ist wirklich nett von dir, aber morgen beginnt mein erster Arbeitstag. Ich will wenigstens mein Bett aufgebaut haben, bevor ich mich in das Kleinstadtgetümmel stürze.“ „Dann helfe ich dir und dann kommst du mit!“ Von der Euphorie gepackt, sprang er auf und wollte schon mich von der Couch zerren, als ein Klingeln ertönte. „Oh, warte..“ Er zog ein kleines Handy aus seiner Hosentasche und als er auf das Display sah, wurde er bleich. „Verdammt.“ Mit kleinlauter Stimme meldete er sich und schien schon zu wissen, wer ihn anrief. „Jaaaaa, ich weiß... nein, ich habe es nicht vergessen... ich bin gerade bei deinem Nachbarn und habe ihn ein wenig mit den Möbeln geholfen...“ Joey fing an zu lachen. „Ja, das Haus wurde scheinbar endlich verkauft... wenn wir fertig sind, kommen wir... gut, bis gleich.“ Er legte auf und steckte es zurück in die Hosentasche. „So, jetzt bist du auch angemeldet. Komm, wir beeilen uns lieber, sonst reißt er mir den Kopf ab.“ Ohne wirklich auf meine Antwort zu warten, ging er schon die Treppe hinauf in mein Schlafzimmer. Dort standen schon alle Kisten mit Klamotten, Bretter von dem Kleiderschrank, ein kleines Nachttischchen und noch mehr Bretter für mein Bett. Ob er wusste, wie man es aufbaute, bezweifelte ich leicht. Eine weitere Stunde später saß er immer noch mitten im Bretter-Wirrwarr, mit einem Akuschrauber in der einen Hand und mit der Anderen kratzte er sich die Wange. Ein paar Holzteile hatte er schon mit Schrauben verbunden, aber es sah bisher eher wie eine Kommode aus, statt wie ein Bett. Ein kleines bisschen Schadenfroh war ich schon, denn bei mir würde es auch nicht anders aussehen. Plötzlich klopfte es und ich wirbelte herum. Im Türrahmen stand ein junger Mann in meinem und Joey´s Alter. Er hatte sich an den Rahmen angelehnt und die Arme vor der Brust verschränkt. „Dieses >bis gleich< dauert aber schon ziemlich lange.“ Ohne es zu wollen, konnte ich den nur anstarren. Ich wusste, es war unhöflich, aber er sah eher wie in Playboy aus, statt wie ein Kleinstädter. Ich versuchte meinen Blick abzuwenden, aber als seine Augen von Joey zu mir schweiften, konnte ich nicht anders, als den Blick zu erwidern. Seine Augen waren von einer ungewöhnlichen rubinroter Farbe und ich fragte mich, ob er Kontaktlinsen trug. Von seinen Augen immer noch gefesselt, hob ich eine Hand und piepste „Hi.“ Sofort räusperte ich mich und wiederholte die Begrüßung mit festerer Stimme. Gott, wie peinlich war das denn! Es war ja nicht so, das dieser Kerl mich umhauen würde, aber irgendetwas an seinen Augen hatte mich nicht los gelassen. „Sorry, das ich einfach so hinein platze, aber die Haustür stand offen und ich wusste, das der da“, er zeigte auf den Blonden, der immer noch auf den Boden saß und schuldbewusst an den Akuschrauber spielte, „hier ist.“ Dann wandte er sich an ihn direkt. „Ich dachte, ihr wolltet wenn ihr fertig seit gleich rüber kommen?“ Ich räusperte mich wieder und erlangte so seine Aufmerksamkeit. „Wir sind auch noch gar nicht fertig. Tut mir Leid, das ist meine Schuld. Ich brauchte echt Hilfe und er kam mir gelegen, um-“ Der junge Mann winkte ab. „Wenn ich gesehen hätte, das hier jemand einzieht, hätte ich auch meine Hilfe angeboten.“ Er zwinkerte mir zu und es klang wie eine Entschuldigung. „Aber wie es aussieht, scheint Joey an seine Grenzen gekommen zu sein. Was soll das werden? Ein Schrank?“ „Ein Bett.“, antwortete ich und trat zur Seite, als er in das Zimmer ging. Ohne zu fragen schnappte er sich die Schrauben, den Akuschrauber und begann selbst, die Teile zusammen zu schrauben. Binnen weniger Minuten stand doch tatsächlich der Rahmen von meinem Bett. Zum Schluss setzte er noch das Lattenrost ein, legte die Matratze drüber, die angelehnt an der Wand stand und nickte, als sein Werk vollendet war. „So, können wir nun jetzt endlich? Ich hab Hunger und war kurz davor das Grillfleisch roh zu essen.“ Ungläubig starrten Joey und ich auf das Bett und anschließend wieder zu ihm. „Ich verbessere mich. Bei deinem nächsten Umzug rufst du nicht mich an, sondern Yami!“ to be continued Die Stadt Churchill gibt es wirklich und liegt wie in der FF beschrieben an dem Hudson Bay in Kanada. Mit 1000 Einwohnern zählt sie zu einer verträumten Kleinstadt, die abgelegener nicht sein kann. Den Cliff wollte ich eigentlich erst später setzten, aber für ein Prolog wäre es einfach zu lang geworden >.< Kapitel 1: Voreingenommen ------------------------- Hier das erste Kapitel. Ist nun doch etwas länger geworden, als geplant, aber bisher habe ich noch niemanden meckern gehört, weil er zu viel zu lesen hatte :D Ein großer Knuddel geht an meinem Beta . Sie hat ihre sowieso schon bemessene Freizeit für für die Korrektur geopfert. Kapitel 1: Voreingenommen Es fiel mir schwer, regungslos auf der Hollywoodschaukel auf der Veranda zu sitzen und dabei immer wieder im Hinterkopf zu haben, dass ich eigentlich gar keine Zeit hatte, um zu faulenzen. Es fühlte sich einfach falsch an. Immer wieder suchte ich nach einer Ausrede, ohne ein Wort aufzustehen und in mein Haus zu gehen. Aber jedes Mal, wenn ich in das lachende Gesicht von meinem Nachbar sah, waren diese Gedanken einfach verpufft und glaubte, dass einige Minuten länger auch nichts mehr ausmachen würden. Das war doch verrückt! Dann fielen mir wieder diese dreckigen Rahmen und Fenster auf, die ich über der Hecke sehen konnte... tja und so begann das Spielchen wieder von vorn. Joey schob sein Gesicht in meinen Blickfeld und wedelte leicht mit der Hand vor meinen Augen. „Ey Alter, was los? Ständig starrst du nervös zu deinem Haus rüber. Hast du Angst, jemand bricht ein, oder was?“ Sofort stieg mir die Bierfahne in die Nase und musste sie unweigerlich rümpfen. Ich durfte mir über niemanden ein Urteil erlauben. Ich kannte niemanden und ich war neu, also sei kein Spießer Yugi, sondern relax doch mal! Doch selbst das mentale Zureden half nichts. Ich fühlte mich einfach total unwohl zwischen all diesen Menschen, deren Gesichter mir fremd waren. Wäre ich jetzt in Japan, würde ich mich wahrscheinlich in einem meiner Bücher vergraben, aber hier in Churchill musste ich erst einmal ein Buch hervor kramen, ehe ich die Gelegenheit dazu bekam. Aber genau da lag ja das Problem. Ich kam einfach nicht dazu. Wahrscheinlich sollte ich froh sein, gleich am ersten Tag einen kleinen Anschluss gefunden zu haben. Mit dem Zeigefinger der Hand, in der ich auch mein Bier fest hielt, zeigte ich zu meinem Haus und bemerkte am Rand auch noch die Schweinerei, die mein seit zwei Stunden volles Bier auf meiner Hose verursacht hatte. „Jedes Mal, wenn ich die Fassade sehe, will ich am liebsten aufspringen, mir die Farbe aus dem Keller greifen und sofort los legen.“ Joey grinste mich an und setzte sich neben mich. Die Schaukel wippte durch die Bewegung langsam wieder vor und zurück. „Kann es sein, dass du es nicht magst, wenn es noch unerledigte Sachen gibt?“ Könnte hinhauen, also zuckte ich kurz mit den Schultern und trank ein Schluck von dem lauwarmen Gebräu. „Bääh, das ist ja widerlich!“ Sofort stellte ich die Flasche neben mir auf das Geländer der Veranda ab. „Kopf hoch. Wenn du dir die anderen Häuser und Gebäude in dieser Stadt ansiehst, wirst du bemerken, dass dagegen deins noch ein wahres Schmuckstück ist. Hier, nimm meins.“ Er drückte mir seine Flasche in die Hand, stand auf und ging die Stufen wieder runter, die er vor wenigen Minuten hinaufgekommen war. Mein Blick folgte ihm und beobachtete ihn, wie er das schale Bier in die Hecke schüttete, die Flasche in einen Kasten stellte, der unter einem Tisch versteckt war und rüber zu Yami ging. Er stand noch immer am Grill und war dabei die hungrige Meute mit Würstchen zu versorgen. Gott, in dieser gelben Gummischürze sah er einfach nur lächerlich aus, doch das schien ihn nicht im Geringsten zu stören. Ganz im Gegenteil. Als wir hier im Hintergarten angekommen waren, hatte er sich ohne zu zögern die Schürze umgebunden. Jedoch schien ihn jeder nicht anders zu kennen, denn es kam kein doofer Spruch von der Seite, aus welchem Secondhandshop er es hatte. Genau das war der Moment, wo mir richtig bewusst wurde, dass ich diese kleine Stadt und deren Bewohner nicht mit Japan vergleichen konnte. Joey beugte sich zu Yami rüber und fragte ihn leise etwas, woraufhin Yami ihn erstaunt ansah, sich umdrehte, mich mit einem Blick musterte, den ich nicht deuten konnte und sich wieder an Joey wandte. Was war das denn? Alarmiert setzte ich mich aufrechter hin und bereute es, nicht Lippen lesen zu können. Doch relativ schnell wurde ich wieder abgelenkt, als sich Mai neben mich setzte und ihre blonden langen Haare von der Schulter nach hinten warf. Als ich hier im Garten ankam, waren schon einige Leute dabei, den Grill aufzubauen. Darunter war auch Mai. In Japan hätte sich jeder Kerl die Finger nach ihr geleckt. Sie sah sehr gut aus, hatte unschuldige Wimpernschläge drauf und eine üppige Oberweite. Doch hier machte sie keiner niveaulos an, sondern behandelten sie, als wäre sie selbst ein Mann in Jeans. Da bekam das Wort Gleichheit doch eine ganz neue Bedeutung. Mai beugte sich weiter zu mir und grinste mich von der Seite an. „Na Kleiner, wie war dein erster Tag hier?“ Ich wusste nicht so recht, ob ich jetzt pampig wegen Kleiner reagieren oder einfach auf die Frage antworten sollte. Ich entschied mich für ersteres und tat so, als hätte ich sie nicht gehört. Mein Blick blieb weiter auf den Garten geheftet und drehte gelangweilt die Flasche in meinen Händen. „Dein Name war doch Yugi, oder?“ Ich nickte und schaute sie dieses Mal an. „Richtig, weder >Kleiner<, >du da< oder >ey<. Einfach nur Yugi.“ Langsam kam in mir den Verdacht hoch, das mich einige hier auf der Party für einen Snob hielten. Verübeln konnte ich es niemanden. Ich tat ja auch nichts dafür, um ihnen das Gegenteil zu beweisen und höchstwahrscheinlich schlug ich jeden mit meiner Gereiztheit in die Flucht. Aber mein schlechtes Gewissen nagte so sehr an mir, dass ich mich auf kaum etwas konzentrieren konnte. Nicht einmal meine Klamotten hatte ich aus den Koffern geholt. Jetzt knitterten sie wahrscheinlich fröhlich vor sich hin. „Also, Yugi“, dieses Mal sprach sie meinen Namen betont langsam aus, blickte mich aber weiterhin freundlich an. „Wie war dein erster Tag?“ Ich lehnte mich weiter nach hinten und seufzte leise. „Anders als erwartet und geplant, aber doch recht... interessant.“ Mai lachte und lehnte sich nun auch an die Lehne an. „Kann ich mir vorstellen. Wenn ich in eine Großstadt ziehen würde, käme mir auch alles erst einmal befremdlich vor.“ Sie stieß mich am Arm an. „Wenn was sein sollte, kannst du dich gern an uns wenden. Wir beißen nicht.“ Ein Zwinkern folgte, dann stand sie wieder auf und gesellte sich zu Joey und Yami, die noch immer leise tuschelten. Was beredeten die da die ganze Zeit? Das Gefühl ließ mich einfach nicht los, dass es um mich ging. Und Mai, die sich eben auch kurz zu mir umdrehte, bevor sie etwas sagte, trug auch nicht wirklich dazu bei mich was anderes glauben zu lassen. Vielleicht sollte ich doch einfach aufstehen, mich höflich aber bestimmt verabschieden und das endlich im Haus tun, was gemacht werden sollte. Gerade als ich den Entschluss in die Tat umsetzten wollte, tauchte Joey wieder vor mir auf und reichte mir einen Teller. Fragend nahm ich ihn an und entdeckte Salatblätter darauf. „Ich dachte mir, du hättest vielleicht Hunger?“ Sah ich aus wie ein Kaninchen? „Und warum ausgerechnet Grünzeug?“ „Sagtest du nicht vorhin, du bist Vegetarier?“ In dem Moment gesellte sich Yami zu uns, weiterhin mit dieser grellgelben Schürze um die Hüfte. „Sag ich doch, du hast dich verhört. Er kann kein Veganer sein. Soll ich dir Fleisch holen?“ Hä? „Aber ich bin Vegetarier.“, sagte ich zu Yami, woraufhin dieser mich mit einem Blick ansah, als würde ich nur nach der neusten Mode gehen. „Scheint wohl gerade in den Großstädten in zu sein.“ Joey grinste aber nur noch breiter. „Dann habe ich es ja richtig in Erinnerung.“ Er schien darauf zu warten, das ich endlich ein Blatt auf die Gabel piekste und es mir in den Mund schob. „Aber Kartoffelsalat wäre mir lieber gewesen.“ „Hab ich doch gesagt!“ schaltete sich Joey ein. Verschämt stellte ich den Teller auf meinen Knien ab. Ich wollte nicht undankbar erscheinen. Wenn ich Hunger gehabt hätte, hätte ich mir auch selbst was holen können. Doch genau das schien Yami zu denken, denn sein Blick ruhte weiterhin auf meinem Gesicht, was mich noch nervöser machte. Ich traute mich kaum, ihn zu erwidern. Seine Augen waren völlig ausdruckslos, dennoch gefiel mir nicht, was er gerade dachte. „Ich glaube, du verwechselst gerade Veganer mit Vegetarier.“ sagte Yami und ließ mich endlich aus den Zangenblick. „Ist das nicht das Gleiche?“ Ein wenig musste ich doch über Joey´s Naivität lachen, also klärte ich ihn auf. „Vegetarier essen kein Fleisch und Fisch. Veganer verzichten aber noch zusätzlich auf tierische Produkte wie Milch, Eier, Joghurt.“ Joey sah mich mit einem Blick an, als ob ich geisteskrank wäre. „Du trinkst nicht mal Milch??“ Er schien genauso wenig bei den Unterschieden durch zu sehen, wie ich bei dem Gespräch. Wenn ich im Nachhinein an diesen Abend zurück dachte, fand ich ihn doch ganz witzig. Es hatte fast eine halbe Stunde gedauert, bis der Blonde raffte, wo die Unterschiede waren und als Entschädigung kam er mit Fisch an... Mai hatte sich im Laufe des Abends immer deutlicher an Yami ran gemacht. Kam wie durch Zufall immer näher, schmiegte sich an seine Schulter, wenn er wieder vor dem Grill war und er selbst schien nichts dagegen gehabt zu haben. Er erwiderte nichts, blockte aber auch nicht ab. Dort lernte ich auch Honda kennen. Ein junger Mann, der in der Autowerkstatt neben der Tankstelle am Ende der Stadt arbeitete. Er war ziemlich ruhig und ein angenehmer Gegenpol zu Joey, der ohne Punkt und Komma redete. Wenn dieser aber wieder sich Nachschub beim Essen holte, genoss ich die Stille. Es dauerte einige Zeit, bis ich wirklich aufgetaut war und sogar meinen Umzug vergessen hatte. Irgendwann war Yami für eine halbe Stunde verschwunden und tauchte später mit einer Sachertorte wieder auf. Es dauerte nicht lange und es blieben nur noch wenige Krümel auf der Tortenplatte zurück. Ich konnte das letzte Stück ergattern und musste neidvoll zugeben, dass die verdammt lecker gewesen war. Aber so stolz wie Yami auf die Überreste blickte, kam in mir der Verdacht auf, dass er sie selber gebacken hatte. In einem unbeobachteten Moment fragte ich Honda danach, der die ganze Zeit still wie ein Stein neben mir gesessen hatte. „Sein Hobby war schon immer das Backen. Kochen kann der nicht, aber mit der Kuchenspritze kann er umgehen.“ Fast schon ungläubig versuchte ich wieder die gelbe Schürze auszublenden und mir Yami in der Küche vorzustellen, wie der den Schneebesen schwang und Eiweiß steif schlug. Es gelang mir irgendwie nicht. Am nächsten Morgen war ich so erschöpft, dass es mir schwer fiel, das Bett wieder zu verlassen. Bis zur Morgendämmerung hatte ich meine Kisten ausgepackt und die Möbel an die Stellen gerückt, wo ich sie hin haben wollte. Mein schlechtes Gewissen ließ mich erst dann schlafen, als ich wenigstens den Großteil eingeräumt hatte. Doch dann machte der Regen mir einen Strich durch die Rechnung. Die ganze Zeit hörte ich ein leises Plätschern und als ich mich endlich dazu aufrappeln konnte, das Bett zu verlassen und die Geräuschquelle zu finden, konnte ich meinen Augen nicht trauen. Mein verdammtes Dach hatte ein Leck und es tropfte unaufhörlich auf meinen schönen neuen Teppich im oberen Flur. Also musste ich das nach der Arbeit als erstes in Angriff nehmen, ehe mich ein erneuter Regen überraschte. Die Umzugsfirma hatte ihr Wort gehalten und jemanden geschickt, der mit meinem Wagen nach Churchill fuhr, es auf der Einfahrt parkte und den Laster wieder mit nahm. Als ich jedoch einstieg, fiel mir sofort der Benzinstand ins Auge. Seufzend ergab ich mich meinem Schicksal und fuhr in die entgegen gesetzte Richtung, die ich eigentlich nehmen müsste. Ich war gezwungen einen Umweg zu fahren und Honda bei der Tankstelle einen Besuch abzustatten. Nur wenige Minuten später fuhr ich auf das Tankstellengelände und stieg aus meinen orangenen Mini. Als ich Honda vor der Werkstatttür entdeckte, winkte ich ihm freundlich zu, während ich meinen Tankdeckel öffnete. Es verwunderte mich schon etwas, ihn um diese Zeit zu sehen. Ich hatte erwartet, dass jeder noch im Bett liegen würde und seinen Rausch ausschlief. Gerade als ich bezahlt hatte und wieder in mein Auto steigen wollte, kam Honda zu mir gelaufen und machte eine Geste, dass ich warten sollte. Als er vor mir stand sah ich nicht einmal Augenringe. Oh Gott, war wirklich nur ich aus der Übung? Dabei war ich der Erste, der gegangen war. „Hey Yugi. Als du gestern weg warst haben wir die Aufgaben fürs nächste Grillen verteilt. Hat dir Yami schon den Zettel in den Briefkasten geworfen?“ Nächstes Grillen? Noch eins? Völlig verdattert starrte ich ihn an. Meine Überraschung galt nicht der Tatsache, dass sie noch ein Grillen veranstalteten. Bei diesem schönen Wetter war es nicht verwunderlich. Sondern eher, dass sie wie von selbstverständlich davon ausgingen, dass ich kommen würde - nein Moment, das war falsch ausgedrückt - das sie mich erneut einluden. Dabei war ich mir sicher, mich gestern nicht gerade von meiner besten Seite gezeigt zu haben. Honda konnte meinen Blick verblüffend gut deuten. „Wir wissen, dass es gestern nicht dein Tag war. Joey hatte uns später aufgeklärt, was alles schief gelaufen war.“ Ich wusste gar nicht, was ich erwidern sollte. Doch es schien ihn nichts auszumachen, denn er verschwand genauso schnell, wie er gekommen war. Und rief noch >bis Sonntag< über die Schulter hinweg. Auf den Weg zur Praxis fiel mir auf, warum jeder in dieser Stadt nur Schritttempo fuhr. Überall lagen Spielgeräte und Fahrräder rum und niemanden schien es zu stören. Vereinzelt radelten Kinder mit Schulranzen auf den Rücken neben mir her und schlenkerten aber so stark, dass ich einen Sicherheitsabstand von zehn Metern einhielt um kein Risiko einzugehen. Die Praxis beherbergte nur einen Allgemeinmediziner, der schon etwas in die Jahre gekommen war. Ich hatte schon durch das Internet einige Einblicke bekommen, aber dennoch war ich aufgeregt. Wenn mir die Stelle nicht gefiel und ich mich nicht damit abfinden kann, wäre der gesamte Umzug völlig für die Katz. Aber mir blieb nichts anderes übrig, ich musste von dieser Insel runter. Mit gemischten Gefühlen parkte ich den Wagen vorsichtig auf einen der 5 Mitarbeiterparkplätze. Jedoch stieg ich nicht sofort aus, sondern begutachtete das Gebäude. Es war in einem sehr guten Zustand. Keine Farbe oder kein Lack der von den Wänden oder dem Geländer wie bei mir abbröckelte. Ich nutzte die Zeit, die ich noch hatte um mich kurz zu sammeln. Der erste Eindruck war wichtig. Also richtete ich den Innenspiegel zu mir und versuchte den widerspenstigen Pony zu bändigen, was mir eher schlecht als recht gelang. Dieser Nachbar Yami hatte dieselbe Frisur wie ich und ich wusste nicht, wie bei ihm die Haare so perfekt sitzen konnten. Meine Haare dagegen sahen aus wie ein geplatztes Sofakissen. Mit den Gedanken daran, ihn das nächste Mal darauf anzusprechen, zog ich den Zündschlüssel und stieg aus dem Wagen, schloss ihn ab und betrat das Gebäude. Der erste Tag war nicht so schlimm gewesen, wie ich erwartet hatte. Ich wurde da mit freundlicher Distanz begrüßt, was aber nicht weiter verwunderlich war. Die kleine Praxis bestand aus der >Empfangsdame< Saske, zwei Schwestern, Serenity und zu meiner Überraschung Mai, die mir auch sofort verschmitzt zuzwinkerte und der Allgemeinmediziner Muraki Kabayashi. Ich bekam mein eigenes Behandlungszimmer, welches direkt neben Kabayashis lag. Während ich meinen Schreibtisch einräumte, musste ich die Lage erst einmal verdauen. Bis zu diesem Zeitpunkt lief alles so, wie ich es erhofft hatte. Ich kam gut mit jedem aus, der Doc war hilfsbereit und sogar Mai erledigte gewissenhaft ihre Arbeit, wenn sie mal nicht gerade mit Patienten flirtete. In der Mittagspause klopfe Serenity an die Tür. „Wir wollen ins Diner´s. Kommst du mit?“ Zuerst war ich überrascht, dass die gesamte Praxis für die Pause schloss, aber erneut musste ich mir ins Gedächtnis rufen, dass es sich um eine Kleinstadt handelte. Das Diner´s war ein kleiner gemütlicher Imbiss, was mich eher an die Burgerläden aus dem Film Grease erinnerte. Mai, Serenity und ich setzten uns an einen 4er-Tisch. „Hast du dir die Liste schon angesehen?“ fragte mich Mai zwischen zwei Bissen von ihren Pommes. Liste? So etwas hatte Honda doch am Morgen erwähnt. „Du meinst die, die mir Yami in den Briefkasten schmeißen sollte? Ich habe noch gar nicht da hinein geschaut.“ „In die Liste?“ „In den Briefkasten.“ Serenity rührte mit ihrem Strohhalm in ihrem Wasser und versuchte, die Zitronenkerne, die sich von der Frucht gelöst hatten und nun einzeln im Wasser schwammen, mit den Halm an den Rand zu schieben. Es stellte sich schwieriger raus als gedacht, denn mit einem Mal erschienen kleine Falten auf ihrer Stirn und ihre braunen Augen blitzten verärgert zum Glas. Sie versuchte es mit zu viel Kraft die Kerne den Rand hoch zu schieben, wodurch der Strohhalm ohne die >Fracht an Bord< den Weg hinaus antritt und Yugi feucht fröhlich im Gesicht begrüßte. „Wahrscheinlich hatte er es sowieso vergessen.“, sagte sie, als sie den Strohhalm erneut ins Wasser tauchte. Doch Mai schüttelte den Kopf, so dass ihre Locken ihr ins Gesicht flogen. „Ich hatte ihn noch daran erinnert, als ich gegangen bin. Er reagierte etwas genervt.“ Ich griff nach einer Serviette, die am Rand des Tisches in einem Behälter für Kunden bereit stand und wischte mir über die Wange. Doch kaum war ich wieder trocken, trafen mich erneut Spritzer. Ich reichte ihr den Löffel von meinem Tee. „Versuchs damit.“ Es wunderte mich nicht, dass Yami gereizt war. Als ich das Grundstück verließ, war es schon ziemlich spät und der Garten sah aus als hätte eine Horde von Gorillas da eine wilde Party gefeiert. Wahrscheinlich war er in den Gedanken bereits beim Aufräumen gewesen. Derjenige, dessen Garten als nächstes herhalten musste, tat mir jetzt schon leid. „Ach, da fällt mir ein, ich hab diese Harumi heute Morgen wieder gesehen. Bei dem Internet-Café.“ Mai wandte sich an Serenity. „Ehrlich? Ich hatte gehofft, dass sie die Stadt endlich verlassen hätte.“ Sie schüttelte den Kopf und legte den Löffel beiseite, auf dem endlich die Zitronenkerne ruhten. „Wer ist diese Harumi?“ Eigentlich ging es mich ja nichts an, aber meine Neugierde wurde von Serenity´s Tonfall geweckt. Sie klang nicht gerade begeistert. „Das ist ´ne kleine Stalkerin von Yami.“, klärte Mai mich auf. „Er hatte ihr vor einiger Zeit den Laufpass gegeben und das schien sie nicht wirklich verkraftet zu haben.“ „Kein Wunder“, sagte Serenity. „Ihr Stolz war verletzt. Zu diesem Zeitpunkt hätte sie doch jeden Kerl bekommen, den sie wollte.“ Das überraschte mich dann schon ein wenig. „Ist sie denn hässlich?“ Ich versuchte es neutral klingen zu lassen, als ob es mich nicht wirklich interessieren würde, denn ich konnte es mir nicht vorstellen, dass der Playboy sich so eine Chance entgehen ließ. „Im Gegenteil, sie ist wirklich hübsch. Aber Gott scheint mehr auf ihr Aussehen geachtet zu haben, statt auf die inneren Werte.“ „Die ist dumm wie Stulle!“ „MAI!“ „Na ist doch wahr! Ständig lief sie dem armen Kerl hinterher. Er ist fast wahnsinnig geworden bei dieser Aufdringlichkeit und jetzt terrorisiert sie ihn, wo sie nur kann.“ Bei >armer Kerl< musste ich ein wenig hüsteln. Wahrscheinlich hatte er Harumi angegraben, sie machte sich Hoffnungen und dann ließ er sie fallen wie eine heiße Kartoffel. „Ich weiß, was du denkst Yugi und du liegst falsch.“ „Ach?“ Ich blickte Mai an. Was dachte ich denn? „Yami ist nicht so ein Aufreißer. Im Grunde ist er-“ Doch weiter kam sie nicht, denn plötzlich sprang Serenity auf. „Schnell, wir müssen los, die Pause ist zu Ende.“ Die Patienten in dieser Stadt unterschieden sich nicht wirklich zu den Japanern. Sie waren einem neuen Arzt gegenüber misstrauisch. Wenn man noch dazu aus einer anderen Stadt kam, ließen sie keinen an sich ran. Und wehe das Wort Großstadt fiel, dann dachten sie sofort, man hatte die Pest oder andere schlimme böse Großstadtkrankheiten mitgebracht. Sie verlangten dann sofort Doc Kabayashi, was mich innerlich zur Weißglut brachte. Schlimmer jedoch waren Mütter jeglicher Art. Egal ob jung oder alt, wenn eine neue Krankheit im Fernsehen gezeigt wurde, hatten plötzlich alle Kinder genau diese Symptome. Sogar pubertierende Pickel wurden als Ausschlag angesehen und das Wartezimmer quoll vor gesunden Kindern über. Am Anfang hatte ich mich noch gewundert, warum in der Ecke der Krankenakten so ein komisches Zeichen gekritzelt war, bis es mir Mai erklärte, während sie die Papierdecke auf der Liege auswechselte. „Wenn du dieses Zeichen in einer der Akten siehst, weißt du schon vorher, dass es einer der nervtötenden, überfürsorglichen Mütter sein wird, die ihr Kind zu uns bringt.“ Und es bewahrheitete sich. Ich seufzte leise, als ich wieder auf die Taste für Serenity drückte. Sie würde dann am Empfang ein kleines Piepen hören und wusste somit, dass sie den nächsten Patienten aufrufen und zu mir führen konnte. Es kam eine Frau Mitte dreißig hinein, vor sich schob sie einen Kinderwagen und ein kleiner Junge strahlte mich an. Laut der Akte war er knapp ein Jahr alt. Nur eine Minute später saß sie mir gegenüber, den kleinen Jungen auf dem Schoß und musterte mich herablassend. Die Tatsache, dass ich vorläufig >nur< Assistenzarzt sein werde und außerdem noch ziemlich jung war und keinen Doktortitel vorweisen konnte, weckte wohl bei vielen Müttern den Verdacht, ich sei nur eine überbezahlte Krankenschwester. Aber das war in Japan nicht anders gewesen. „Wo ist Doktor Kabayashi?“ „Im Nebenzimmer.“ Was für eine unhöfliche Person. Wenn das die Begrüßung war, wollte ich erst gar nicht wissen, wie sie sich verabschieden würde. „Und wann kommt er?“ Ich hörte eine leichte Ungeduld aus ihrer Tonlage, doch ich blieb ruhig und lächelte sie freundlich an. „Doktor Kabayashi hat heute nur vorher vereinbarte Termine. Für spontane Fälle bin ich zuständig. „Sind sie sicher, dass Doktor Kabayashi keinen Termin mehr frei hat? Sie könnten mich doch einfach irgendwo dazwischen schieben.“ Das Wort Doktor betonte sie besonders. Aber ich ließ mich nicht davon beirren, versicherte ihr nach der Untersuchung, dass ihr Sohn völlig gesund sei. „Ich bin davon überzeugt, dass Herr Kabayashi würde diese Diagnose zustimmen.“ „Aber er hustet noch!“ Wie zur akustischen Unterstützung hustete der Kleine leise. „Bei Kleinkindern dauert die Regenerierung der Lungen länger als bei Erwachsenen. Es kann sich bis zu 6 Wochen hinziehen, das ist völlig normal.“ Ich versuchte wirklich die Geduld aufzubringen, die für so eine Frau nötig war, aber in meinem Kopf spukte noch das Gespräch über Yami herum. Was genau wollte Mai noch sagen, bevor sie von Serenity unterbrochen war? Ich hatte eine falsche Meinung über ihn? Das konnte ich nicht wirklich glauben. Allein schon seine Kleidung sagte viel über einen Charakter aus und seine Lederhose, die er beim Grillen trug schrie schon förmlich nach Playboy. Doch die hysterische Mutter riss mich aus den Gedanken. „Sie wollen ihm also kein Antibiotikum verschreiben?“ Ich rieb mir mit dem Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel. „Nein – er braucht keins. Seine Nebenhöhlen sind frei, seine Bronchien weisen keine Nebengeräusche auf und die Ohren haben keine Entzündung. Sogar die Temperatur ist normal. Ihr Sohn hat außer diesem leichten Husten keine Auffälligkeiten.“ Noch dazu sieht er kerngesund aus, wollte ich noch hinterher schieben, aber das würde dann doch zu weit gehen. Der Junge zappelte auf dem Schoss seiner Mutter rum und versuchte sich zu befreien – ohne Erfolg. Ihrem schraubstockartigen Griff würde er so schnell nicht entkommen. Frühstens wenn er achtzehn geworden war. Sie drückte ihn erbarmungslos an sich. „Wenn Doktor Kabayashi keine Zeit hat, dann sollte ich vielleicht doch noch einmal wieder kommen, wenn es sein Terminplan zulässt. Ich bin fest davon überzeugt, dass er ein Antibiotikum braucht. Im Kindergarten geht irgendein Erreger um sich und fast alle Kinder nehmen gerade Medikamente.“ Ich tat so, als würde ich etwas in die Krankenakte hinein schreiben, so etwas beruhigte die Eltern, wenn sie das Gefühl bekamen, man nahm sie ernst. Schön und gut, aber wie soll man etwas ernst nehmen, was auf einer Massenhysterie beruhte? Dieses Fernsehen sollte in einer Kleinstadt abgeschafft werden. Wenn es so die ganzen Tage weiter ging, hatte ich spätestens Ende dieser Woche graue Haare. „Wenn er Fieber bekommen sollte, können sie gern noch einmal vorbei kommen. Dann schauen wir uns den Kleinen noch einmal an.“ „Ich will aber nicht noch einmal wieder kommen, ich will hier und heute einen Arzt sehen!“ Ich blickte ihr in die Augen und sie starrte stur zurück. Seufzend sah ich ein, dass es wohl keinen Sinn machen würde, mit ihr zu diskutieren. „Okay, ich schau mal, ob Doktor Kabayashi mal eine Minute Zeit hat.“ sagte ich diplomatisch und trat aus dem Behandlungsraum. Kaum war die Tür hinter mir geschlossen, musste ich erst einmal tief durchatmen. Ich störte ihn nur ungern, aber mir blieb keine andere Wahl. Also klopfte ich leise an seiner Tür, und bei dem >Herein< steckte ich vorsichtig meinen Kopf zwischen Tür und Angel. Nur wenige Minuten später verließ die Frau mit ihrem Sohn die Praxis und schien höchst zufrieden. Sie hatte was sie wollte. Eine Aussage von einem Arzt und ein Rezept in ihrer Tasche. Jedoch nicht für Antibiotika, wie sie glaubte, sondern nur für einen Hustensaft für Kinder. Einige Stunden später stieg ich erschöpft in meinen Wagen und legte meine Tasche auf den Beifahrersitz. In der Zeitspanne zwischen Mittagessen und Praxisschluss wurde ich vier Mal vollgekotzt. Das war absoluter Praxisrekord, behaupteten zumindest die beiden Arzthelferinnen, die sich nicht einmal die Mühe machten, das spöttische Grinsen zu verbergen. Ihre Mitleidsbekundungen klangen damit auch nicht gerade glaubwürdiger. Ich wunderte mich sowieso, dass ich fast nur Kleinkinder hatte. Dabei hatte ich den Verdacht, dass mir Mai nur alte Leute zuschieben würde, weil man bei denen es als Altersschwäche abstempeln konnte, wenn etwas schief ging. Zumindest hatte sie es als Scherz heute Morgen gesagt. Ich löste die Bremsen und versuchte, die aufkommenden Kopfschmerzen zu ignorieren. Der Tag war echt die Hölle gewesen. Irgendwie hatte ich es mir einfacher vorgestellt. Konnte ja keiner ahnen, dass hier die Mütter sogar noch schlimmer waren als in Japan. Langsam bog ich in das kleine Einkaufsviertel ein und warf jedem Geschäft einen Blick zu. Ich brauchte dringend Werkzeug und neue Dachziegel. Sogar eine Glaserei hatten sie hier, wo ich auch sofort anhielt und neue Fensterscheiben bestellte. Der ganze Wagen war mit Werkzeug, Farbe, Lack, Dünger, neuen Haushaltsgeräten und Samen vollgestopft. Sogar Blumenkübel hatte ich auf die Rückbank gestellt. Eine Gießkanne konnte ich im Gartencenter noch abstauben, sowie kleine niedliche Gartenfiguren. Zwar brauche ich noch mehr, aber mein Auto platzte schon fast aus allen Nähten, also trat ich den Heimweg an. Es war angenehm, durch die Stadt zu fahren und einem die Sonne warm ins Auto schien. Es war so ungewöhnlich still, was mir schon im Garten von Yami aufgefallen war. Kein Großstadtlärm oder brüllende Kinder. Hier hatte jeder sein eigenes Tempo und wie man sehen konnte, gefiel es ihnen. Ich bog in die Straße ein, wo mein neues Haus lag und seltsamer Weise winkten mir viele Leute zu. Ich genoss eine gute Kinderstube, also winkte ich freundlich zurück, hatte aber keinen Schimmer, wer die alle waren. Langsam fuhr ich meine Auffahrt hinauf und lief die paar Meter zur Straße wieder zurück, um meinen Briefkasten auszuleeren. Kaum hatte ich die Klappe geöffnet, purzelten mir auch schon Zeitungen und Unmengen an Flyer entgegen. Okay, es gab wohl Dinge, die würden sich nie ändern, egal wo man war. Auf dem Weg zur Haustür sah ich sie alle einzeln durch. Sagten Tristan und Mai nicht irgendwas von einer Liste? Hatte ich sie etwa übersehen? Erneut sah ich die Werbung durch, schüttelte sogar die Prospekte durch, falls es zwischen die Seiten gerutscht war, aber kein Zeichen von einer Liste. Mit den Gedanken daran, nachher mal bei ihm zu klingeln betrat ich das Haus. Einige Stunden später saß ich oben auf dem Dach und versuchte verzweifelt, die Ziegel auf dem Dach zu befestigen, aber irgendwie gelang es mir nicht. Ich war noch nie handwerklich begabt gewesen, aber es kann doch nicht so schwer sein, ein paar Nägel da hinein zu hämmern! Na wenigstens hatte ich es schon abdichten können. Vorhin hatte ich auch bei Yami geklingelt, aber es machte mir niemand auf, obwohl das Licht in der Küche brannte. Seufzend wischte ich mir mit meinem Handrücken den Schweiß von der Stirn und streckte meinen Rücken durch. Immerhin gab es von hier oben eine schöne Aussicht über die anderen Dächer der Stadt. Ich konnte sogar die Arztpraxis sehen. „Yugi?“ Ich wusste nicht, ob meine Antwort jetzt einfach nur als >ja< ausfallen sollte oder als Lachen. Das G in meinem Namen wurde wie ein J ausgesprochen und klang wie Yuji. Als ob derjenige die Zähne nicht auseinander bekommen würde. Neugierig robbte ich zur Spitze des Daches und Blickte hinunter. Dort stand mein Nachbar, nicht mehr ganz aufrecht, sogar leicht wankend und sah zu mir hinauf. Ich hatte ihm einen Zettel durch den Schlitz der Tür durch geschoben, er sollte sich bei mir melden, wenn er wieder da war, aber vielleicht sollte ich das nächste Mal >nüchtern< als P.S. setzen. „Hast du getrunken?“ Er schüttelte nur heftig den Kopf, aber grinste mich dann an. „Was wolltest du denn? Hab den Zettel entdeckt.“ Ein Schmunzeln konnte ich mir dann doch nicht verkneifen. Irgendwie klang es doch wirklich niedlich, wie dieser Playboy alle Silben vernuschelte, aber dennoch versuchte, Herr der Lage zu bleiben. „Warte, ich komme runter.“ „Ne, ich rauf.“ und schon war er im Haus verschwunden. Ich ahnte Übles, als ich sah, wie ungeschickt er durch das Dachfenster auf das Dach kletterte. Einen betrunkenen Mann in dieser Höhe, das konnte doch gar nicht gut ausgehen. „Was machst´n hier oben?“ Ich zeigte auf die Stelle, wo einige Ziegel fehlten. „Ich versuche, mein Dach zu reparieren, aber ich glaube, es bleibt bei dem Versuch.“ „Lass mich mal!“ Selbstsicher nahm er mir den Hammer aus der Hand und überhörte mein heftiges Protestieren. Aber meine Gegenwehr blieb mir im Halse stecken, als ich sah, dass er sogar betrunken eine gute Figur als Handwerker machte. Das konnte ja wohl nicht wahr sein. Dieser Kerl verkörperte mit einigen Ausnahmen das, was ich schon immer sein wollte. Sogar die Frisur sah an ihm besser aus! „Benutzt du Haarspray?“ „Wie?“ Verwirrt sah er mich an, hörte aber nicht auf, mit dem Hammer zu hämmern und traf bei jedem Schlag zielsicher den Nagelkopf, obwohl der Daumen gefährlich nahe war. „Haarspray?“ Ich nickte und deutete auf seine Frisur. Sein Blick wanderte über meine Haare und lachte leise, schüttelte kurz den Kopf. „Warum wolltest du mich sprechen?“ Er nahm sich einen neuen Ziegel, legte sie neben die Alten, fixierte ihn mit dem Nagel und hämmerte weiter. Natürlich entging mir der Themenwechsel nicht, aber so war mir das auch recht. So konnte ich der peinlichen Frage entfliehen, wie ich darauf kam. „Honda hatte etwas von einer Liste erwähnt, die du in meinen Briefkasten werfen wolltest.“ „Die habe ich schon bei dir eingeworfen.“ Ohne aufzublicken, nahm er einen neuen Ziegel. Man, war er schnell. Wenn er in dem Tempo weiter machte, war er fertig, noch ehe die Sonne vollständig unter gegangen war. „Kann ja gar nicht sein, ich habe ihn vorhin ausgeleert. Da war sie nicht mit bei.“ Ich hockte mich hin und als ich gerade auf gleicher Höhe mit ihm war, drehte er seinen Kopf zu mir um und schaute mir in die Augen. „Ich sagte nicht wann. Jetzt liegt sie drin.“ Und da war wieder dieses Zwinkern, was ich gestern schon mehrmals sehen durfte und ich konnte nicht erklären warum, aber es gefiel mir. Ich wusste nicht mehr, was ich erwidern sollte. Lag aber auch vielleicht daran, dass ich nichts Falsches sagen wollte. Also setzte ich mich ganz hin und beobachtete, wie die Sonne langsam hinter dem Hudson Bay verschwand. Normalerweise hätte mir diese Szene gefallen. Obwohl es noch nicht Nacht war, konnte man schon die Sterne am Firmament sehen. Einer glühte heller als der andere und obwohl leichter Dunst vom Wasser des Sees aufstieg, konnte man deutlich die Milchstraße erkennen und im Süden leuchtete hell die Venus. Die Wellen rauschten und brachen sich im regelmäßigen Rhythmus und am Horizont schimmerten verschwommen die Lampen der Fischerboote. Aber hier war nichts normal. Ganz und gar nicht. Ich saß auf einem Haus, was mir erst seit wenigen Tagen offiziell gehörte, ich erst seit gestern bewohnte und mein Nachbar aka Playboy aka Yami hockte hier neben mir und hämmerte durch den Abend. Aber der Typ war sowieso sehr seltsam. Er hatte mich freundlich willkommen geheißen, also konnte man ihm keine Unhöflichkeit anprangern, aber er hatte etwas an seinem Charakter, was ich nicht ganz verstand. Noch dazu sein Aussehen. Heute trug er eine Lederhose, ein weißes Hemd und der mit Nieten besetzte Gürtel blitzte frech als Kontrast hervor. Sogar die Gürtelschnalle hatte einen kleinen Totenkopf. Die dreifarbige Frisur ließ ihn rebellisch aussehen und wahrscheinlich war er das auch mal gewesen, oder war es gar noch. Und wieder waren mir die außergewöhnlichen Augen aufgefallen, als ich von der Dachspitze auf ihn hinab sah. Sogar von der Entfernung konnte man deutlich das Glitzern in ihnen erkennen und obwohl er mehr als hacke-dicht war... Ich bemerkte gar nicht, dass es schon länger wieder still war. Yami hatte aufgehört, war scheinbar mit den Ziegeln fertig und hatte sich neben mich gesetzt. Erschrocken drehte ich mich zu ihm, als er plötzlich die Stille mit einem Hicksen unterbrach. Er schaute auf den Hudson Bay hinaus und beobachtete den Dunst, der leise in unsere Richtung schwabbte. „Mir ist noch nie aufgefallen, dass man von hier aus einen viel besseren Ausblick auf den See hat.“ Ich fing an zu lachen und antwortete: „Du lebst schon so lange hier und hast die wahre Schönheit noch nie bemerkt?“ „Ja...“, seufzte er leise. „Ja, das kann man so ausdrücken. Aber bei dir ist es doch genauso.“ Verwundert sah ich in sein Seitenprofil. „Wie meinst du das?“ „Japan ist eine sehr schöne Insel. So viele verschiedene Kulturen und selbst in den Großstädten muss es doch etwas wunderbares sein, die Lichter von oben zu beobachten.“ Er schwankte leicht vor und zurück, ohne es selbst zu bemerken. Für einen kurzen Moment hatte ich vergessen, dass er nicht ganz bei Sinnen war. Wenn ich so zugedröhnt wäre, könnte ich nicht mal gerade sitzen, geschweige denn den Hammer schwingen. „Ich hatte nie behauptet, das Japan nicht schön ist, aber ich konnte die Insel und deren Trubel nicht mehr leiden.“ Ich wendete meinen Blick von ihm ab und sah wieder zum Wasser. „Warum hast du dich betrunken?“ „A~ach, das war gar nicht beabsichtigt. Mir tat mein Hals weh und hatte mir etwas Whisky eingeschenkt. Es sollte meinen Hals desinfizieren. Beim Gurgeln verliert es sein Aroma und zum Ausspucken ist das Zeug zu schade, also habe ich es einfach getrunken. Nach dem ersten Brennen war es gar nicht mehr so schlimm.“ Yami fing an zu lachen und kratzte sich an der Wange. „Aber vielleicht hätte ich ein Mädchen einladen sollen, dann wäre ich nicht der Einzige, der betrunken ist.“ Gigolo! Fast hätte ich ihn für normal gehalten, aber selbst in so einer Situation dachte er nur ans Aufreißen. Ich wusste nicht, warum sich so plötzlich die Wut in meinem Bauch sammelte, aber ich wurde richtig sauer. Mit einem Mal klingelte es leise aus Yami´s Hosentasche. "Bei Yami, der besoffen am Lallen ist." Ich ignorierte das gefauchte >Hey!< neben mir. „Äh.. Yugi, bist du das? Wieso hast du Yamis Telefon?“ „Weil der nicht mal in der Lage war, das Teil aufzuklappen.“ „Ach so... du sag mal, ist der ansprechbar?“ „Du kannst ihn was fragen, erwarte aber keine logische Antwort.“ Ich reichte ihm das Handy. Yami brauchte zwei Anläufe, es mir aus der Hand zu nehmen und murmelte etwas wie „doppelt“, ehe er das zweite Mal daneben griff und er es sich endlich ans Ohr halten konnte. „Hai?“ Verstehen konnte ich natürlich nichts, aber nach Yami´s Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war ich nicht der Einzige. „Hä? Wer hat ein Brett vorn Kopf?“ Versteckt biss ich mir auf die Zunge, um mir das Grinsen zu verkneifen, das sich beinahe auf meine Lippen schleichen wollte. „Ey Alter, ich versteh dich nicht. Bist du besoffen?... nein, mir geht’s prächtig... nein, Yugi auch... was soll das heißen, da bist du froh?! Ja!... JA! MOMENT!“ Leicht angesäuert gab er mir das Telefon zurück. „Lautsprecher.“ Mit schnellen Fingern suchte ich im Menü, fand es und das Piepen kündigte die Funktion an. „Joey? Du bist nun auf Lautsprecher.“, sagte ich und war gespannt, was er wollte. „Erklär du dem Hirni neben dir mal, das er ganz dringend ins Internet-Café fahren soll. Am schwarzen Brett hängen wieder die kleinen Lästereien. Ich kann erst in einigen Stunden los von der Arbeit, In der Zeit hat es aber schon die halbe Stadt gelesen.“ „In seinem Zustand würde der nicht einmal den Weg zu sich ins Bett finden.“ „Maul!“, giftete Yami und zog eine Schnute, die wohl eher beleidigt als kindisch aussehen sollte. „Ich kann das!“ Er nickte eifrig mit dem Kopf, was aber doch ein wenig zu heftig war und stieß mit seinem Kinn auf sein eigenes Schlüsselbein. „Autsch.“ Wehleidig rieb er sich die Unterseite vom Kinn. „Ich mach es doch lieber. Was genau soll ich da abnehmen?“ Nicht mal 30 Minuten später stand ich vor dem Internetcafé und schloss die Autotür hinter mir. Bevor ich den Laden betrat, warf ich noch einen Blick in den Wagen. Yami war in den wenigen Minuten der Fahrt auf der Beifahrerseite eingenickt und lehnte mit dem Kopf an der Seitenscheibe. Dieser Typ war wirklich seltsam. Er hatte so viele Seiten an sich, das es mir schwieriger machte, ihn wirklich zu durchschauen. Und gerade jetzt sah er so friedlich aus, dass man es nicht glauben konnte, dass in ihm so ein Macho steckte. Ich drehte mich um und betrat den Laden. Direkt neben der Eingangstür sah ich das von Joey beschriebene schwarze Brett an der Wand. Zwischen Anzeigen, was gesucht oder verkauft wurde, hing ein Blatt Papier, welches mit rotem Kugelschreiber beschrieben war. Wenn jemand eine Signalfarbe verwendete, musste der Hass ja wirklich groß sein. Es war zwar nicht nett öffentlich zu lästern, aber ein wenig war ich doch schadenfroh, dass der Playboy wenigstens von einer die Meinung gegeigt bekam. Aber meine Meinung änderte sich schlagartig, als ich den Inhalt las. Was war denn das?! Wütend nahm ich das Blatt vom Brett, stürmte aus dem Laden wieder hinaus und riss die Beifahrertür auf. Da Yami noch immer an dieser gelehnt geschlafen hatte, fiel er vor meinen Füßen auf den Asphalt. Hart schlug er mit der Seite und dem Kopf auf. „Auuuutsch“, jammerte Yami, als er seinen Kopf rieb. Er sah sich um und nach seinem Blick zu urteilen, wusste er im ersten Moment nicht, was los war und wo er sich befand. Dann entdeckte er mich, sah zu mir hinauf und seine Augen weiteten sich überrascht. „Yugi?“ „Kannst du mir das hier mal erklären?“ Ich warf ihm den Wisch auf den Boden. „Das ist ja wohl die Oberhärte. Es ist ja deine Sache, mit wem du was machst, denn schließlich bist du ein erwachsener Mann und solltest wissen, was du tust. Aber irgendwann geht es doch zu weit!“ Vor Rage hatte ich ihn sogar gegen sein Schienbein beim Beschimpfen getreten. Er zischte leise auf und nahm sich das Blatt. „In einer Kleinstadt herum zu prahlen, wo eh jeder weiß was für ein Frauenaufreißer du bist, macht die Sache umso schlimmer!“ Yami´s Augen flogen über die Sätze und ich sah zwar, dass sich seine Augenbrauen erst überrascht hoben und sich dann verärgert zusammen zogen, aber durch meine Wut registrierte ich es eher unbewusst. Meine Hände waren zu Fäusten geballt und am liebsten hätte ich ihm eine kräftige Kopfnuss verpasst. Oder nein, noch besser. Ihn an die Anhängerkupplung gebunden und wie im guten alten wilden Westen hinter sich her geschliffen. „Wie kannst du es wagen, mich so in den Dreck zu ziehen?! Ich bin gestern erst hier angekommen, du kennst mich nicht einmal, verdammt. Und schon behauptest du, ich bin schwul und würdest mich innerhalb der nächsten Woche ins Bett bekommen? Wie selbstverliebt muss man sein?!“ „Moment, Yugi.“ Er rappelte sich auf, indem er sich an der Autotür hoch zog, was aber erst beim zweiten Anlauf gelang. Seine motorischen Fähigkeiten waren durch den Alkohol lange nicht mehr dazu fähig. „Es stimmt nicht, was hier steht.“ Er wedelte damit kurz durch die Luft, doch glauben tat ich ihm nicht. Mein erster Eindruck war ja schon so gewesen, hätte ich mal besser darauf gehört. Ich bereute es nun, zu diesem Grillabend gegangen zu sein. Das passte alles ja wunderbar zusammen. Neues Frischfleisch ließ sich schon in den ersten Tagen vom Playboy der Stadt flachlegen. Ob es den Tatsachen entsprach, interessierte doch eh niemanden. Gerüchte waren hier doch fast wie Nachrichten auf N24! „Also das du mit Mai wegen dem Kick auf offener Straße gevögelt hast, kann ich ja noch irgendwo wegstecken. Du bist ja nur mein Nachbar. Aber das du sogar in meinem Haus mit Joey schon Orgien veranstaltet hattest, schlägt ja wohl dem Fass den Boden aus!“ „Aber es gehört dir doch erst seit wenigen Tagen.“ „Erst abstreiten und jetzt zugeben. Entscheide dich!“ „Nein, so war das nicht gemeint, Ich habe da keine Orgien veranstaltet.“ Das Wort Orgien schien er aus dem Mund zu spucken, als würde es einen schlechten Geschmack hinterlassen. „Aber wenn da was passiert wäre, hättest du kein Recht, dich darüber aufzuregen.“ Er hielt sich weiterhin an der Tür fest und zerriss vor meinen Augen das Blatt. „Diesen Bullshit brauchst du nicht zu glauben. Ja, wir kennen uns nicht“, er warf mir die Schnipsel vor die Füße „Aber glaubst du ernsthaft, ich hätte all das getan, was da stand? Jede Frau nachsabbern, sogar vor Männern keinen Halt machen und hinterher ihre Namen in der Stadt veröffentlichen? Wo sind denn bitte diese Namen? Wieso hat die noch keiner von Churchill gelesen? Wenn ich wirklich so ein Gigolo wäre, warum meiden mich dann nicht die Leute, wenn ich draußen bin?“ Bei jeder Frage kam er ein Stück näher, funkelte mich ebenso wütend an, wie ich es auf ihn war und stupste mit seinem Zeigefinger auf meine Brust. „Was mich aber am meisten aufregt, ist, dass die Schlampe sogar vor meinen Freunden keinen Halt macht. Mir ist es egal, ob du mir glaubst, mir ist es aber nicht egal, dass sie versucht auch deren Ruf zu schädigen, nur weil sie hinter mir standen!“ Ich schnaufte abfällig. „Als ob sich jemand so etwas ausdenken würde. So niveaulos kann niemand sein.“ „Ach Yugi.“ Er seufzte und schüttelte leicht den Kopf. „Du bist wirklich naiv.“ Yami strich sich durch die Haare. „Ich kann dir nur versichern, dass ich nichts dergleichen vorhatte.“ Wieder schnaufte ich. Ich kaufte ihm kein Wort ab, wieso fragte ich mich in den Moment nicht. Ich fühlte mich nur hintergangen und verarscht. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, schlug ich die Autotür zu, ging um den Wagen, stieg ein und fuhr los. Als ich einen Blick in den Rückspiegel warf, meldete sich kurzzeitig mein schlechtes Gewissen. Er war noch völlig betrunken und ich ließ ihn hier allein. Aber in meinem Auto wollte ich ihn nicht haben und mir war es egal, wie er nach Hause kam. Zwei Stunden später, es war bereits schon kurz vor dreiundzwanzig Uhr, war Yami immer noch nicht angekommen. Kein Licht brannte, dabei saß ich, seitdem ich wutentbrannt die Einfahrt hoch gesaust war, wieder auf dem Dach. Der Ausblick auf die Fischerboote, die sanft durch die Wellen hin und her schaukelten, beruhigte mich etwas. Ich hatte die Liste aus dem Briefkasten geholt, aber das war jetzt nun auch nicht mehr wichtig. Der nächste Grillabend sollte bei mir stattfinden und es gleich als Einweihungsfeier nutzen. Es war im Grunde eine wirklich süße Idee gewesen. Sie hatten mich aufgenommen ohne mich zu kennen und hatten mich sofort in ihre Gemeinschaft aufgenommen. Doch jetzt nagte in mir der Zweifel, ob es wirklich so freundlich und selbstlos gemeint war. Was ist, wenn es mit zu dem perfiden Plan von Yami gehörte? Mich erst um den Finger wickeln, dann gefügig mit Alkohol oder Drogen machen und am nächsten Tag würde ich wohl nackt auf dem Gras im Garten aufwachen. Ich hörte es leise aus meinem Haus klingeln. Es war mein Handy, das ich in meiner Hosentasche gelassen hatte, als ich meine Jeans gegen eine Jogginghose austauschte. Erst war ich der Versuchung nahe, nicht darauf zu reagieren und einfach weiter hier zu sitzen und im Selbstmitleid zu versinken. Aber als es aufhörte zu klingeln und es nach einer kurzen Pause wieder anfing, stieg ich doch durch die Dachluke wieder nach unten. Es schien wohl wichtig zu sein. „Bei Muto.“ „Yugi! Du musst mir alles haarklein berichten, wie dein erster Tag war.“ Oha, Tea. Ich hatte wirklich keine Lust mit ihr zu reden, also versuchte ich sie abzuwimmeln. „Sei mir nicht böse, aber lass uns morgen darüber reden. Ich bin einfach zu fertig um jetzt noch Smalltalk zu führen.“ Ihre nächsten Worte klangen enttäuscht, aber es musste sein. Die Nerven hatte ich nun wirklich nicht. „Das ist schade, aber okay. Aber morgen kommst du mir nicht davon. Denk dran, dass ich auch in zwei Wochen vorbeikomme und meinen Urlaub bei dir verbringe.“ „Jaja. Bis morgen.“ Ohne noch auf eine Antwort zu warten, legte ich auf und kletterte wieder auf das Dach. Warum ich das Handy mitgenommen hatte, wusste ich nicht, als ich mich das nach einigen Minuten fragte, weil es erneut klingelte. „Bei Muto.“ Das nächste Mal schalte ich das Ding einfach aus. „Yugi? Hier ist Joey.“ Na toll. Mit ihm wollte ich sogar noch weniger reden, als mit Tea. „Ich hatte Yami schon angerufen, aber er ist nicht ran gegangen. Habt ihr es vom Brett entfernt?“ Ich war unschlüssig, ob ich ihm davon erzählen sollte, aber wenn er mit dem Trottel unter einer Decke steckte, konnte er ruhig erfahren, dass ich es schon wusste. Er lachte, als ich ihm die Sache mit Mai erzählte, kicherte, als die Sache mit meinem Haus kam, aber war Mucksmäuschen still, als ich ihm berichtete, wie schön Yami mit mir prahlte. Er gab kein Ton von sich und gerade als ich einfach auflegen wollte, weil ich mich bestätigt fühlte, meldete er sich zu Wort. „Du glaubst doch nicht diesen Scheiß, oder?“ Seine Stimme war nun völlig ernst, was mich etwas stutzen ließ. Keine Ausreden oder ich hätte etwas falsch verstanden? Gerade als ich etwas erwidern wollte, sprach er weiter. „Vor etwa einem Jahr kam Harumi von einem Nachbarstädten hierher und hatte sich sofort in ihn verliebt. Yami war in meinem Kiosk und wartete auf mich, als sie den Laden betrat. Man erkannte, dass sie sofort hin und weg war. Die nächsten Wochen verbrachte sie damit, seine Aufmerksamkeit zu bekommen. Stolperte vor seinen Augen in der Hoffnung, er würde sie auffangen, ging zufällig zur selben Zeit einkaufen. Eines Tages tauchte sie plötzlich bei ihm auf, als wir Serenity´s Geburtstag bei ihm feierten.“ Gelangweilt kratzte ich etwas Moos vom Ziegel. Ich konnte mir schon denken, was jetzt kam. Yami sah seine Gelegenheit auf eine schnelle Nummer und nutzte ihre Gefühle aus. Doch stattdessen hörte ich folgendes: „Yami weigerte sich erst, sie auf sein Grundstück zu lassen. Er war völlig panisch und erzählte uns, dass sie ihn schon seit ihrer ersten Begegnung stalkte. Sie ließ ihm keine Ruhe und verfolgte ihn sogar. Wir dachten, er übertrieb einfach nur, weil er nicht wusste, wie er mit so etwas umgehen sollte. Darum baten wir sie gegen seinen Willen rein. Nicht mal fünf Minuten später bereuten wir es schon. Harumi schmiss sich ihm förmlich an den Hals. Säuselte etwas von wahrer Liebe auf den ersten Blick, Bestimmung und dergleichen. Yami ist ein wirklich freundlicher Mensch. Er wird selten ausfallend oder unhöflich. Aber bei ihr fruchteten normale Absagen einfach nicht. Als es so weit ging, dass sie mit ihrem Verhalten die Party störte, baten wir sie, zu gehen. Es entstand ein riesiges Theater und wir mussten Harumi schon fast gewaltsam vor die Tür werfen. Selbst Wochen danach ließ sie einfach nicht locker. Jeder versuchte, ihr ihre Besessenheit auszureden, aber in ihren Augen gönnten wir Harumi ihre Liebe nicht. Eines Tages hatte Yami so die Nase voll, dass er sie öffentlich bloßstellte, als sie in einer Eisdiele vor seinen Augen anfing, an dem Eislöffel unanständig herum zu lutschen. Seit diesem Tag denkt sie sich regelmäßig neue Lügen aus, um uns und Yami fertig zu machen.“ Meine Wut war verraucht und machte Schuldgefühlen Platz. Wenn das wirklich wahr war, hatte ich Yami wirklich schlecht behandelt. Statt hinter ihm zu stehen, wie es seine Freunde taten. Obwohl auch ihre Namen in den Dreck gezogen wurden, machten sie ihm keine Vorwürfe. Und ich? Ich war wegen einem dummen Gerücht so aus dem Häuschen gewesen. Hatte nur im Kopf, wie schlecht die Gemeinde über mich denken könnte. „Gott, war ich ein Idiot.“ „Na Einsicht ist der erste Schritt in die richtige Richtung.“ Da war ein belustigter Unterton in seiner Stimme, was mir klar machte, das er nicht böse auf mich war. „Nein, du versteht das nicht. Ich habe Yami vor dem Internetcafé stehen gelassen. Ich war so stinksauer, dass es mir egal war, wie er nach Hause kam.“ Joey lachte auf. „Mach dir doch keinen Kopf, er ist schon ein großer Junge und findet den Weg.“ „Ähm..“, räusperte ich. „Ich glaube nicht. Er war betrunken und konnte kaum alleine stehen.“ Doch das schien Joey nicht im Geringsten zu beeindrucken. „Wir sind schon oft betrunken durch die Stadt getaumelt.“ Im Augenwinkel bemerkte ich ein Aufglimmen und als ich mich umdrehte, sah ich das Glimmen auf Yami´s Dach. Beim genaueren hinsehen, erkannte ich eine Gestalt, die dort lag. „Er ist auf dem Dach!“ „Wer?“ Schnell wurde aufgelegt und ignorierte seine verwirrte Frage. Mit inzwischen geübten Handgriffen hatte ich mich durch die Luke geschwungen und hastete durch mein Haus, über meinen Garten und schlüpfte durch die Hecke, die unsere Häuser voneinander trennten. Die Terrassentür stand ein Stück offen und gelangte so in sein Haus. Wieder fiel mir auf, wie ungewöhnlich sauber es hier war. Jedes Zimmer war geschmackvoll eingerichtet und nichts lag herum. Ich ging die Treppen hinauf ins Obergeschoß und brauchte erst einmal mehrere Anläufe, um das richtige Zimmer zu finden, wo man von ihm aus auf das Dach gelangen konnte. Vorsichtig kletterte ich auf den Dachvorsprung und robbte über die durch die hohe Luftfeuchtigkeit feuchten Ziegel. Yami lag auf dem Rücken und schaute hoch zu den Sternen. Das Glimmen war seine Zigarette gewesen, die er in routinierten Bewegungen rauchte. Er machte einen nüchternen Eindruck und auch seine Augen waren nicht mehr so glasig. Langsam ließ ich mich neben ihm nieder und folgte seinem Blick. Ich traute mich gar nicht, etwas zu sagen. Mein ganzes Verhalten war mir unglaublich peinlich und schämte mich selbst dafür. Unruhig fummelte ich an meinen Fingern herum und suchte einen Anfang. Mit einer Entschuldigung sollte sie beginnen, denn so ungerecht wie ich ihn behandelt hatte, war es das Mindeste. Doch ich wusste nicht wie. Toller erster Tag, Yugi, schalt ich mich im Gedanken. Gerade mal sechsundzwanzig Stunden hier und schon alles versaut. Ich atmete lautlos aus. „Das Dach scheint es dir ja angetan zu haben.“ Er zuckte nur leicht mit den Schultern, ohne mich anzusehen. „Wie ich schon sagte, vorher hatte ich nicht gewusst, was mir entging.“ Und wieder war es still. Er nahm einen weiteren Zug von der Zigarette und ich knetete weiter meine Finger. Gott, war das schwer. Ich versuchte einen neuen Anlauf. „Die Sterne funkeln hier viel heller als in Japan. Es ist wirklich atemberaubend. Generell sieht man hier mehr.“ Ich schlug mir auf die Stirn. Was Besseres hätte mir wohl nicht einfallen können, was? Er pustete den Rauch aus, der durch den Wind mir ins Gesicht schlug. Doch beschweren tat ich mich nicht. Ich hatte noch viel mehr verdient. „Yami, es... es tut mir leid.“ Meine Stimme überschlug sich und ich sah von den Sternen weg, zu Yami hin. „Ich habe mit Joey gesprochen und er hatte mir die Sache mit Harumi erzählt. Aber wenn du es mir gleich erklärt hättest, wäre es nicht so-“ Er unterbrach mich, indem er seine freie Hand hob. Sofort könnte ich mich wieder schlagen. Super Entschuldigung. Statt ihm Bedauern auszudrücken, machte ich ihm auch noch Vorwürfe! „Du hattest mich nicht einmal ausreden lassen.“ Seine Stimme war leise, ruhig und tief. Mir kam der Gedanke, dass es kein Wunder war, dass diese Verrückte so auf ihn stand. Sein Aussehen war mehr als passabel. Selbst jetzt im Dunkeln sah er unglaublich gut aus. Sein Hemd schmiegte sich wie eine zweite Haut an seinen Oberkörper, war sogar ein Stück nach oben gerutscht, sodass man ein kleinen Teil von seinem Becken erkennen konnte und die Hose saß perfekt. Die langen Beine waren über Kreuz geschlagen und seine braune Haut bildete einen Kontrast zum weißen Hemd. Die zerzausten Haare ergänzten das ganze Bild und mit den auffälligen Augen sah er etwas wild und verwegen aus. Eine kleine Welle von Neid schwappte über mich hinweg. Ich hingegen war eher klein und schmächtig. Bei ihm zeichneten sich seine Bauchmuskeln ab, wenn ich an mir hinunter schauen würde, würde man höchstens ein wenig Speck sehen. Kein Wunder, dass mein erster Eindruck nicht zu seinem Gunsten ausfiel. Ich war wirklich ein schlechter Mensch. Zitternd versuchte ich einen dritten Anlauf. „Verzeih mir.“ Mehr sagte ich nicht. Langsam senkte ich meinen Kopf und blickte nur auf meine unruhigen Finger. Ich erwartete schon fast, dass er anfing zu lachen, mich wieder naiv nennen-, und mich anschließend vom Dach schmeißen würde. Yami seufzte tief und drückte die Zigarette neben sich aus. „Ich kann es dir nicht verübeln. Jeder Mensch hat ein Schubladendenken, auch ich. Als wir uns gestern unterhielten, hielt ich dich für schüchtern und naiv. Jetzt bist du noch dazu Voreingenommen.“ Autsch, das hatte gesessen. Er stand auf und hielt mir seine Hand hin. „Lass uns einfach von vorn beginnen. Mein Name ist Atemu Sennen. Willkommen in der Nachbarschaft.“ Seine Augen sahen mich so intensiv an, dass ich den Blick abwenden musste, um aufstehen zu können. „Yugi Muto, sehr erfreut.“ Ich legte meine Hand in seine und versuchte mir nicht anmerken zu lassen, dass wieder ein kleiner Stich durch meine Brust ging. Jetzt auch noch der passende Name zu seinem Auftreten. War denn an diesem Mann alles perfekt? Plötzlich rutschten meine Füße über die nassen Ziegel. Yami fing meinen Sturz ab, kam dadurch aber selbst ins Schlingern, stürzte und schlidderte Richtung Regenrinne. Das letzte was ich von ihm sah, war sein überraschter Gesichtsausdruck, eher er vom Dach fiel. to be continued So, Yami tot, FF zu Ende :D Haha, ne Spaß. Schaut euch mal das neue Cover an. Es hat gezeichnet und ich freu mich tierisch drüber ♥ In der Kapitelübersicht befinden sich neue News und die Charakterbeschreibung hat sich angepasst ツ Kapitel 2: Neuanfang -------------------- Kapitel 2: Neuanfang Er stand auf und hielt mir seine Hand hin. „Lass uns einfach von vorn beginnen. Mein Name ist Atem Sennen. Willkommen in der Nachbarschaft.“ Seine Augen sahen mich so intensiv an, dass ich den Blick abwenden musste, um aufstehen zu können. „Yugi Muto, sehr erfreut.“ Ich legte meine Hand in seine und versuchte mir nicht anmerken zu lassen, dass wieder ein kleiner Stich durch meine Brust ging. Jetzt auch noch der passende Name zu seinem Auftreten. War denn an diesem Mann alles perfekt? Plötzlich rutschten meine Füße über die nassen Ziegel. Yami fing meinen Sturz ab, kam dadurch aber selbst ins Schlingern, stürzte und schlitterte Richtung Regenrinne. Das letzte was ich von ihm sah, war sein überraschter Gesichtsausdruck, eher er vom Dach fiel. Sofort ließ ich mich auf meinen Hintern fallen und rutschte zum Dachvorsprung, fand halt mit meinen Füßen an der Regenrinne und blickte vorsichtig nach unten. Yami lag auf dem Rücken und blickte überrascht mit großen Augen zu mir hinauf. Dieser Kerl hatte wohl einen fleißigen Schutzengel, denn er war zielsicher auf dem Komposthaufen gelandet. Wäre er nur Zentimeter weiter gefallen oder anders aufgekommen, wäre er genau auf die Holzabgrenzung vom Haufen gekracht. „Ist alles mit dir in Ordnung?“ Besorgt beugte ich mich weiter nach vorn, um ihn besser sehen zu können. Yami stöhnte als Antwort und fasste sich an seinen Hinterkopf. Ich sah, wie er zerbrochene Eierschalen aus seinen Haaren fischte und sie zur Seite warf. „Ja, mir ist nichts passiert. Gut, das ich sogar den Müll trenne.“ Mühsam rappelte er sich auf, schnippte sich etwas Kaffeesatz von der Schulter und schwang sich vom Komposthaufen hinunter. Erleichtert atmete ich auf und konnte nur meinen Kopf schütteln. Unfassbar, wie viel Glück er hatte. Doch meine Freude hielt nicht lange. Nur wenige Sekunden später knackte es an meinen Füßen verdächtig. Die Regenrinne gab nach. Dadurch verlor ich meinen Halt, meine Finger bekamen den noch nassen Ziegeln nicht richtig zu fassen und die Schwerkraft tat den Rest. Alles ging so schnell, dass ich nur überrascht quietschen konnte, ehe ich unsanft auf Yami landete und ein dumpfes „Uff“ an meinem Ohr drang. Sofort protestierte mein Ellenbogen, den ich mir beim Sturz auf geschrammt hatte. Langsam öffnete ich meine Augen, die ich während des Falls zugekniffen hatte und blickte direkt in Yamis Gesicht. Doch er sah nicht gerade glücklich aus. „Jetzt habe ich mir aber wehgetan!“, maulte er und versuchte seinen Arm unter seinem Rücken hervor zu holen, doch sofort zuckte er zusammen und bewegte ihn nicht mehr. Erschrocken sprang ich auf und half ihm vorsichtig auf. „Es tut mir wirklich leid, tut es sehr weh?“ Dämliche Frage, natürlich musste es höllisch wehtun, denn so wie er die Zähne zusammen biss, würde jeder Zahnarzt meckern. Ich griff unter seinen anderen Arm und half ihm auf die Beine. „Halb so wild. Es gibt nichts, was der Kühlakku und eine Packung Eiscreme nicht wieder kurieren könnte.“ Ich sah ihm besorgt nach, als er schwankend die Veranda ansteuerte und dabei sogar einen Blumentopf übersah, den er gekonnt mit seinen Beinen von den Stufen kickte. „Das war gewollt“, hörte ich es nur noch nuscheln, ehe er durch die Schiebetür schritt und aus meinem Blickfeld verschwand. Noch etwas verwirrt stand ich an derselben Stelle, wo ich vor wenigen Sekunden noch gelandet war. Irgendwie glaubte ich nicht so recht, dass dies die Wirklichkeit war. Die letzten Tage kamen mir so surreal vor. Ich musste mich mit einer Hand an der Kompostabgrenzung abstützen und atmete erst einmal tief durch. ]i]Ganz ruhig, Yugi, redete ich mir mental zu und versuchte, meinen beschleunigten Atem wieder unter Kontrolle zu bekommen. Was genau mich aufwühlte, versuchte ich zu verdrängen, doch sein Geruch war noch immer in meiner Nase. Fast schon verzweifelt schnaubte ich kurz, um sie wieder frei zu bekommen, doch es half nichts. Er hatte sich so hartnäckig festgesetzt, wie die Erinnerung an seinen Oberkörper unter meinen Händen... verdammt! Ich wusste einfach nicht, was mit mir los war. Und was zum Geier ich hier eigentlich tat. Statt weiter mein Haus bewohnbar zu machen, schäkerte ich auf dem Dach mit meinem Nachbarn herum und jetzt bekam ich nicht einmal einen klaren Gedanken zu fassen. Etwas angesäuert wischte ich mit meinen Handrücken über die Nase und folgte Yami ins Haus. Innen kam mir sofort der Alkoholgeruch entgegen und entdeckte die angefangene Whiskyflasche auf den Wohnzimmertisch. Nach der Leere der Flasche zu urteilen, schienen es aber starke Halsschmerzen gewesen zu sein. Neugierig trat ich näher, als ich daneben einige aufgeklappte Bücher und Zettel bemerkte. Sofort versuchte meine innere Stimme mich daran zu hindern, doch es war kein Schnüffeln, was ich machte, denn die Sachen lagen offen herum. Doch als mein Gewissen mich auch noch anbrüllte, es sei sein Haus und da erwartete man keine neugierigen Blicke, ignorierte ich es gekonnt. Ungläubig kräuselte ich meine Nase. Was war das denn? Es waren nur lauter leere weiße Blätter und in den Büchern waren nur unzählige schwarze Punkte abgebildet und darunter stand immer ein Wort. Es erinnerte mich ein wenig an die Grundschule, denn ich las Wörter wie >ich ging, er geht, sie gehen<. Ich schlug ein Buch zu, um das Einband zu lesen: >Blindenschrift Stufe 3< Na, das war ja interessant. Noch neugieriger geworden, ließ ich mich auf die Couch fallen, um mir die Bücher vor mir auf den Tisch noch näher anzusehen. Doch dadurch hatte sich mein Blickwinkel geändert und ich erkannte minimale kleine Schatten auf den weißen Blättern. Langsam begriff ich, dass sie gar nicht leer waren. Vorsichtig strich ich mit meiner Fingerkuppe über die zarten Erhebungen auf dem Blatt und staunte nicht schlecht. Ebenfalls Blindenschrift. Seltsame Hobbys hatte Yami. Kopfschüttelnd erhob ich mich wieder und schlürfte in die Küche, wo ich Yami angezogen erwartete. Doch ich traf ihn halb nackt an. Sofort stieß ich mit meinen Schienbein gegen einen Stuhl. „Warum hast du dich ausgezogen?!“ Keuchend rieb ich die Stelle unterhalb von meinem Knie und versuchte, nicht allzu auffällig rot zu werden. Doch Yami sah mich unschuldig an. „Es ist doch nur mein T-Shirt.“ Ja, nur ein T-Shirt, aber es war ein Kleidungsstück zu viel! Im Augenwinkel verfolgte ich die harmonischen Bewegungen seiner Rückenmuskeln, als er den Kühlakku mit einen Geschirrhandtuch umwickelte und es sich mit einer geschickten Bewegung auf die Schulter legte. Er seufzte zufrieden, als er die Kälte spürte. Peinlich berührt sah ich zur Seite. Dieser Mann schien echt kein Schamgefühl zu kennen. Nervös nestelte ich an dem Knopf meines Hemdes und räusperte mich, um diesen lästigen Kloß los zu werden, der in meinen Hals steckte, seit ich die Küche betreten hatte. Gott, ich benahm mich ja wie ein kleines Schulmädchen! Ich war erwachsen und ich habe auch einen Rücken, verdammt nochmal, ich weiß, wie die aussehen! Ich atmete noch einmal tief durch, setzte mich auf den Stuhl, der eben noch mein Bein so freudig begrüßt hatte und fragte fast wie beiläufig: „Du interessierst dich für Blindenschrift?“ Zuerst dachte ich, dass er mich nicht gehört hatte, denn er zeigte keine Regung, geschweige denn antwortete er mir. Stattdessen kreiste er langsam seine Schulter und hielt mit der anderen Hand den Akku fest. Gerade als ich wieder ansetzten wollte, wandte Yami den Blick zu mir. „Es ist nur ein kleines Hobby von mir. Ich finde es faszinierend, wie Leute die nichts sehen können, sich dennoch in der Welt zurecht finden können.“ Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Natürlich hätte ich wahnsinnige Lust, weiter zu fragen, aber irgendwie war die Stimmung drückend geworden und in seinen Gesichtszügen lag eine Angespanntheit, die mich etwas verunsicherte. Hatte ich etwas Falsches gesagt? War es ein Thema, worüber er nicht gern redete? Ich ließ ihn keine Sekunde aus den Augen, auch nicht, als er mir nur den Rücken zudrehte und sich an der Küchentheke abstützte. Oha, es war scheinbar wirklich ein wunder Punkt gewesen. Aww, Yugi, du Ochse – dein Taktgefühl hast du wohl auf dem Kompost gelassen! „Es tut mir leid, wenn ich-“ Doch Yami unterbrach mich mit einer Handbewegung. Das schien er gerne zu machen, denn es war heute bereits schon das dritte Mal. „Was sollte dir denn leidtun? Die Bücher lagen nun mal offen herum. Da kann ich wohl schlecht erwarten, dass Gäste nicht die Nase hinein stecken.“ Autsch, das hatte gesessen. „Ich wollte gar nicht so neugierig -“, wollte ich mich rechtfertigen - und wieder die wegwerfende Handbewegung. „Es ist nur eine Erweiterung auf der Uni der Sprachen und erschien mir pragmatisch, etwas zu wählen, was leicht ist – und ich werde es bestimmt mal gebrauchen können.“ Nun drehte er sich wieder zu mir um und sein Gesicht war wieder völlig normal und ruhig. „Ich bin dir nicht böse, dass du eine ausgeprägte Neugier hast. Frag ruhig.“ Verwirrt runzelte ich die Stirn. Seit wann war denn Blindenschrift einfach? Doch ich beließ es dabei und fragte stattdessen: „Du studierst?“ Yami fing an zu lachen. „Wieso klingst du so überrascht? Hier gibt es keine Universität in diesem kleinen Städtchen, daher mache ich ein Onlinestudium.“ Er zwinkerte mir zu und schien wieder der Alte zu sein, so wie ich ihn kennen gelernt hatte. Nachtragend war er wohl nicht. Freundlich lächelte ich zurück und ließ endlich meine Knöpfe los, die meine Finger beschäftigt hatten. „Ich wusste gar nicht, dass man die Blindenschrift studieren kann.“ „Kann man auch nicht. Es ist nur eine Art Bonus bei dem Fach >Sprachen der Sinne<.“ Er sah wohl meinen überraschten Gesichtsausdruck und fing wieder an zu lachen. „Klingt dämlich, aber es beinhaltet Gebärdensprache, Blindenschrift und Lippenlesen.“ „Klingt nach Arbeit“, murmelte ich und versuchte, ihn nicht weiter anzustarren. Von wegen pragmatisch. Es klang für mich mehr, als nur etwas zu wählen, um seinen Plan voll zu bekommen. Seufzend lehnte ich mich an die Rückenlehne des Stuhls und warf einen Blick auf das Küchenfenster. Es war schon geöffnet, aber es war so Windstill, dass einfach keine Zirkulation entstand. Die heiße Luft stand förmlich in diesem Haus. Yami schien meine Gedanken erraten zu haben, kam einige Stritte näher. Es ging alles so schnell, dass ich nicht mit gerechnet hatte. Er drückte mir das Kühlakku ins Gesicht und lachte schallend. Vor Schreck über die plötzliche Kälte rutschte ich mit dem Stuhl nach hinten, dabei verfingen sich die Stuhlbeine an der Teppichkante und kippte nach hinten um. So schnell konnte ich gar nicht reagieren und lag schon auf den Boden, blinzelte zu Yami hoch, der erst erschrocken zu mir hinab blickte, aber dann ein Grinsen auf seinen Lippen entstand. „Ich wusste ja schon immer, dass ich umwerfend bin, aber dass ich auch die gleiche Wirkung auf Männer habe ist mir neu.“ „Ha Ha, du Witzbold.“, lachte ich trocken und ergriff seine Hand, die er mir angeboten hatte. „Das war kein Scherz, sondern völliger ernst“, sagte er feixend, während er mich auf die Beine zog. Mürrisch schmiss ich den Akku auf den Tisch. Ich wusste gar nicht so genau, warum ich so gereizt reagierte, aber lag wahrscheinlich daran, dass ich mich ertappt fühlte. Bestimmt hatte Yami mein Gaffen gesehen und daher diese spitze Bemerkung. Dadurch, dass er sich hinter mir bückte, um den Stuhl aufzuheben, sah ich nicht seinen skeptischen Blick, der auf meinen Hinterkopf ruhte. „Gehst du eigentlich auch zum Erntefest?“ „Wie?“ Fragend ließ ich mich erneut auf dem verfluchten Stuhl nieder. „Was für ein Erntefest?“ Yami nahm den Akku vom Tisch, wickelte ihn aus dem Geschirrtuch und legte es wieder ins Gefrierfach unter seinem Kühlschrank. „Ach ja, die Posten wurden ja schon vor deiner Ankunft vergeben. Kein Wunder, dass du davon noch nichts gehört hattest.“ Ich legte meinen Kopf schief und sah ihn fragend an. „Hast du die Felder vor der Stadt gesehen, kurz hinter der Waldgrenze?“ Vage erinnerte ich mich daran. Als ich mit dem Umzugswagen hergefahren bin, war ich an großen Ackerfelder vorbei gekommen. Die einzige Straße zur Stadt führte direkt daran vorbei. Langsam nickte ich, als die Bilder aus der Erinnerung vor meinen Augen auftauchten. Er legte das Geschirrtuch langsam zusammen, als er begann zu erzählen. „Dadurch, dass die Stadt etwas von der Außenwelt abgeschnitten ist, versuchen wir uns mit einigen Sachen selbst zu versorgen. Auf den Feldern waren Weizen und Gerste angebaut gewesen. Etwas weiter hinten stehen auch einige Obstbäume. Dadurch sparen sich die Händler die Importkosten und können die Waren günstiger anbieten, als wenn wir sie aus anderen Gebieten bestellen würden. Das Obst hat aber nur eine begrenzte Haltbarkeitsdauer und immer, wenn die Ernte so üppig ausgefallen ist, veranstalten wir nach der Ernte ein Fest.“ Langsam begann ich zu verstehen. „So eine Art Basar, um nichts verkommen zu lassen?“ „Richtig. Die Menge reicht nicht aus, um sie zu exportieren, daher werden sie unter den Bewohnern verteilt. Sie bereiten daraus Speisen wie Kuchen oder Pasteten zu, die es dann auf dem Erntefest gibt. Die ganze Stadt versammelt sich da und feiert so gesehen die üppige Ernte. Es ist eine alte Tradition hier.“ Yami hielt inne und sah mir in die Augen. „Es wäre für dich eine gute Gelegenheit die Bewohner besser kennen zu lernen.“ „Und was macht man mit den Einnahmen? Werden damit die Straßen erneuert oder Spielplätze gebaut?“ Ohne den Blick von mir zu lösen, legte er das Tuch neben sich auf die Arbeitsfläche. „Welche Einnahmen? Damit verdient niemand etwas.“ Verwirrt kratzte ich mir meine Wange. „Du meinst, die Speisen werden da nicht verkauft?“ Er schüttelte seinen Kopf und lächelte mich an. „Nein Yugi. Es kostet kein Geld. Das einzige, was man da mitbringen sollte, ist gute Laune und vielleicht auch eine Kleinigkeit, um was beizusteuern. Die Getränke werden von der Brauerei am Ende der Stadt gesponsert. Die nutzen natürlich gleich die Gelegenheit, um neue Sorten unter die Leute zu bringen.“ Das klang ja schon fast wie eine Verkaufsstrategie. Jeder, der ein Geschäft besaß, konnte damit ein wenig Werbung veranstalten. Aber ich war schon ein wenig überrascht. In Japan würde man so etwas nie veranstalten können. Jeder würde versuchen, damit Geld zu scheffeln. Aber hier scheint es keine große Rolle zu spielen. Eher das Leben in der Gemeinschaft. Ich würde es niemals zugeben, aber die Stadt gefiel mir immer besser. „Das werde ich mit dann nicht entgehen lassen.“, sagte ich und freute mich schon ein wenig darauf. Ich war noch nie auf einem Erntefest, das von den Farmern organisiert wurde und es hörte sich lustig an. „Vor dem Rathaus in der Innenstadt hängt eine Liste aus. Da brauchst du nur einzutragen, was du mitbringst und wie viele Personen aus der Familie kommen.“ „Nun ja, nur meine Wenigkeit“, grinste ich und spürte endlich einen kühlen Luftzug vom Fenster in die Küche wehen. Sofort drehte ich mein Gesicht in die Richtung. Himmlisch… „Spätestens morgen Abend solltest du dich eingetragen haben, denn in vier Tagen ist es schon.“ Verstehend nickte ich, ohne aber auch nur einen Zentimeter meinen Kopf aus dem Zug zu nehmen. „Bei euch nennt man es doch Volksfest, oder?“ Überrascht von der Frage, drehte ich mich nun doch in seine Richtung. „In Japan wird es aber anders ausgelegt. Alles kostet da Geld und meistens sind es auch noch Wucherpreise, da jeder dort etwas verdienen will. Es erinnert einen eher immer mehr an Jahrmärkte.“ Nach meiner Erklärung war es erst still. Ich dachte mir nichts dabei, da ich nur den Wind genoss, aber nach einigen Minuten fiel es mir aber doch auf. Wieso sagte Yami nichts mehr? Ich suchte seinen Blick, doch er hatte ihn auf den Fliesenboden unter seinen Füßen gesenkt und schien völlig in seinen Gedanken versunken zu sein. Nach einer halben Ewigkeit hob er schließlich wieder seinen Kopf und nagelte mich förmlich mit seinem Blick fest. Wenn ich nicht gesessen hätte, wären mir in diesen Moment die Knie schwach geworden. Immer wieder vergaß ich, wie durchdringend er mit diesen außergewöhnlichen Augen schauen konnte. „Wieso bist du wirklich von Japan hierher gezogen?“ Diese Frage traf mich so unvorbereitet, dass ich einige Sekunden brauchte, um ein Lächeln aufzusetzen. „Aber das hatte ich dir doch schon erzählt. Ich wollte nicht mehr-„ „Jaja, nicht mehr in der Großstadt leben. Diesen Teil kenne ich schon.“, unterbrach er mich. Sein Blick war so völlig ernst, dass ich mich fragte, wieder etwas Falsches getan zu haben. „Ich meine den wahren Grund, Yugi.“ Zuerst wusste ich nicht was er meinte, doch nach einigen Sekunden dämmerte es mir. Den wahren Grund. Seufzend strich ich mir eine blonde Strähnen aus den Augen, die sich aber sofort wieder trotzig in mein Sichtfeld schwang. „Nachdem ich mein Studium beendet hatte, war ich zuerst Praktikant in einigen Arztpraxen der Stadt.“ Yami nickte mir zu und signalisierte mir so, dass er mir aufmerksam zuhörte. „Mein damaliger Dozent, Herr Kabayashi, sprach mich an, dass er einen Bekannten hätte, der dringend jemanden in seiner Praxis bräuchte zur Festeinstellung. Die Gelegenheit kam wie gerufen. Also hatte ich mich beworben und als nur wenige Tage später der Anruf kam, ob ich noch Interesse hätte, nahm ich sofort an." Yami schabte mit dem Fuß auf den weißen Kacheln auf den Boden und räusperte sich. „Irgendwie habe ich das Gefühl, das da über die Hälfte fehlt.“ Ertappt lächelte ich ihn an. „Also… ich weiß nicht genau, wie ich es erzählen soll, ohne dass du einen falschen Eindruck von mir bekommst.“ Zumindest noch falscher, als es jetzt schon wäre, schoss ich im Gedanken hinterher. Doch er ging zum Tisch und setzte sich mir gegenüber. „Einfach von vorn.“ Er blickte mich wieder so durchdringend an, aber gleichzeitig waren seine Augen so sanft, als wollten sie mir still Mut zusprechen. Ich holte tief Luft. „Ich verstand mich mit meinen Dozenten schon immer besser, als mit meinen gleichaltrigen Studenten. Ich weiß auch nicht warum, aber es lag wohl an der Tatsache, dass ich nicht viel für die ganzen Partys übrig hatte, oder diese Sorglosigkeit, mit denen sie die Prüfungen ansteuerten. Es kam mir aber auch zugute. Denn wie gesagt, Herr Kabayashi erzählte mir von der Stelle hier in Churchill.“ Yamis Augenbrauen zogen sich nach oben. „Warte mal, der Kabayashi? Unser Arzt Kabayashi?“ Ich nickte ihm zu. „Sie sind verwandt. Doktor Kabayashi ist der ältere Bruder von meinem Dozenten. Er erzählte mir, dass er schon in seinen jungen Jahren hierher gezogen sei und er ihn ab und zu besucht.“ Er lachte leise in sich hinein. „Mann, wie klein die Welt doch ist.“ Das leise Lachen klang dunkel und raunte mir noch Sekunden danach in den Ohren. Fast hatte ich vergessen, wie anziehend Yami auf die Frauenwelt wirken musste. Nur vor wenigen Stunden hatte ich ihn massiv als chronischen Abschlepper bezeichnet und nun saß ich bei ihm in der Küche und war dabei, dass zu erzählen, was nicht einmal Tea wusste. Das nannte man dann wohl Ironie. „Und warum ausgerechnet Churchill?“ „Um genau zu sein… es war mir eigentlich egal, wo genau die Stelle war, solange sie sich außerhalb von Japan befand. Du hattest Recht, abgesehen davon, das ich wirklich die Großstadt nicht mehr ausstehen konnte, trug mein Großvater den größten Teil dazu bei.“ Verwirrt versuchte mein Gegenüber meinen Blick aufzufangen, doch ich wich ihm geschickt aus, indem ich ihn vorgaukelte, dass der Salzsteuer in der Mitte des Tisches interessanter war. „Dein Großvater?“ Wieder nickte ich und holte erneut tief Luft. Es fiel mir schwer darüber zu reden, doch es würde mir gut tun mir wenigstens einen Teil von der Seele zu reden. „Sagen wir mal… er hatte andere Vorstellungen von meiner Zukunft, als ich. Also versteh mich nicht falsch! Er ist ein guter Mann, großherzig, offen und trägt sein Herz auf dem rechten Fleck. Aber irgendwie eckten wir immer wieder aneinander an. Es ging so weit, dass ich seine Gesellschaft sogar mied, ihm aus dem Weg ging und letztendlich wie ein Feigling das Weite suchte.“ Dann beging ich den Fehler, doch nach oben – und somit direkt in Yamis Augen zu sehen. Sie sahen mich so wissend an, dass ich mich seltsamer Weise verstanden fühlte. „Es klingt so, als würdest du es bereuen.“ „Ja, ich bereue es. Aber nicht hierher gezogen zu sein, sondern es getan zu haben, ohne ihm ein Wort zu sagen.“ Eine Stunde später stand ich in meiner eigenen Küche vor dem Kühlschrank und holte eine Flasche Orangensaft aus dem Fach. Meine Bewegungen waren langsam und monoton, denn mir ging das Gespräch mit Yami nicht mehr aus dem Kopf. Er hatte nicht weiter nachgefragt und bewies damit Taktgefühl. Denn um ehrlich zu sein, mehr wollte ich nicht preisgeben. Doch sein Verhalten bei der Verabschiedung beschäftigte mich. Sein Ausdruck in den Augen war anders als sonst – als würde er mich mit anderen Augen sehen als vorher. Nur war die Frage: positiv oder negativ? “Es erfordert viel Charakterstärke, seinen Fehler zu zugeben.“ Diesen Satz sagte er, als ich gerade durch die Haustür ging und als ich mich umdrehte, sah ich wieder diesen Blick. Ich wusste nicht, was ich darauf hin erwidern sollte, also nickte ich nur stumm, als ich den Heimweg antrat – durch die Hecke auf mein Grundstück. Langsam ließ ich den Saft in ein Glas fließen. Die Eiswürfel darin klirrten leise als sie in Bewegung gerieten, ich nach dem Glas griff und den Saft an meine Lippen setzte. Seufzend drehte ich mich um, lehnte mich mit meinen Hintern an die Arbeitsfläche der Einbauküche und… sah direkt durch mein Fenster, in sein Fenster auf Yami, der im Wohnzimmer saß und über den Couchtisch gebeugt war. Während ich den Saft trank vermutete ich, dass es die Schriften über die Blindenschrift sein werden, die ich vorhin gefunden hatte. Und spontan fiel mir wieder diese unangenehme Situation ein, wo er mir deutlich klar machte, das er schnüffeln nicht duldete. Gott, war mir das peinlich! Was musste ich auch so neugierig sein?! Ich wollte gar nicht wissen, was er nun von mir dachte. Irgendwie hatte ich bei ihm das Talent von einem Fettnäpfchen ins nächste zu treten - und wenn ich ein neues sah... hey, nehmen wir doch Anlauf! Egal, was ich tat oder mich benahm, fühlte ich mich unkultivierter, als es Yami war… war das überhaupt normal? Yami schien völlig in den Büchern versunken zu sein und da fiel es mir plötzlich auf. Er hatte eine Brille auf der Nase. Langsam rutschte ich von der Platte wieder runter und trat näher ans Fenster ran; erkannte, dass es ein feingliedriges Model war. Sie war so unauffällig, das ich es beinahe übersehen hätte und musste mir im Stillen eingestehen, dass sie ihm wirklich gut stand. Na toll. Fast schon brummend wandte ich mich wieder ab, um mich selbst zu bemitleiden. Wieder eine Sache gefunden, wo er mich bei weitem übertraf. Selbst wenn ich die gleiche Lesebrille aufsetzen würde, könnte ich ihm nicht das Wasser reichen. Seine Nase war schmal und schön geschwungen. Meine sah aus wie ein Troll-Knubbel. Tea nannte sie zwar immer Stupsnase, aber der >Träger< war schon immer anderer Meinung gewesen. Angesäuert tappelte ich die Treppen hinauf, in die erste Etage, und steuerte direkt mein Schlafzimmer an. Dort stellte ich mein Glas auf den Nachttisch und war froh, diese durchgeschwitzten Klamotten endlich loswerden zu können. Schnell pfefferte ich sie durch die geöffnete Tür ins gegenüberliegende Bad und ging zum Kleiderschrank. Nach nur wenigen Sekunden fand ich meine Boxershort, die ich nun anziehen wollte. Ich griff nach ihr und schloss die Schiebetür, nur um dann in mein Spiegelbild sehen zu können. Klasse. Reichten meine Gedanken nicht schon aus, um mich fertig machen zu können? Na scheinbar nicht, denn nun musste ich meinen Körper in voller Pracht sehen. Leicht zupfte ich an meiner Boxershorts. Na ja, nicht ganzer Pracht. Mein Blick fiel auf meine Brust, glitt über meinen Bauch. Ich wäre froh, wenn man da ein wenig Muskeln sehen könnte, aber mein Körperbau erinnerte mich eher an ein Kind. Ich kniff in meinen Bauch und wabbelte ein wenig damit rum. Babyspeck eindeutig vorhanden. Frustriert seufzte ich auf und wagte nicht einmal, meine Beine genauer anzusehen. Schließlich drehte ich mich zur Seite und besah meinen Hintern. Klein, sehr klein. Ein anderes Wort fiel mir bei dieser Aussicht einfach nicht ein. Aber wenigstens war er fest und zur Bestätigung klatschte ich leicht mit meiner flachen Hand auf eine Pobacke. Plötzlich hörte ich ein leises Husten, was schnell lauter wurde. Erschrocken drehte ich mich zum Fenster und sah Yami, wie dieser nach Luft röchelnd an seinem Fenster stand und sich eine Hand auf den Mund presste. Mir schoss die Röte ins Gesicht, doch als er auch noch anfing zu würgen, wurde ich sauer. Ich wusste ja selbst, dass ich nicht gerade wie ein Model war, aber deswegen brauchte er nicht gleich alles vollkotzen. Doch die Wut verrauchte, als ein kleiner, rosa Klumpen in seine Hand fiel. Ein Kaugummi? Also hatte er mich gar nicht gesehen? Yami hustete noch einmal kurz, sah auf seinen Kaugummi und sein Blick war strafend. Ich konnte mich nicht bewegen, aus Angst, dass er mich bemerken würde. Dann sah ich eine leichte Röte auf seinen Wangen und Panik kroch in mir hoch. Doch es konnte auch von dem Husten stammen, also beruhige dich, Yugi, sprach ich mir mental zu. Ruhig Blut. wenn er dich nicht ansieht, ist alles in Butter! Yami griff nach etwas, was unterhalb vom Fenster war, was ich nicht sehen konnte, und wandte sich zum Gehen um. Gerade wollte ich erleichtert ausatmen, als ich erschrocken zusammen zuckte. Da! Kurz bevor sein Kopf verschwunden war, schmulte er aus seinem Augenwinkel zu mir hinüber. Oh. Mein. Gott! Er hatte mich doch beobachtet! Seit diesem pikanten Vorfall waren schon drei Tage vergangen. In diesem Zeitraum hatte ich weder Yami gesehen, noch von ihm gehört. Fairerweise musste ich dazu sagen, dass ich ihm auch gekonnt aus dem Weg gegangen bin. Bevor ich das Haus verließ, galt mein erster Blick zuerst seinem Garten, ob er irgendwo rumstreunte. Wenn die Luft rein war, rannte ich fast zu meinem Wagen, um mich mit einem kinoreifen Hechtsprung auf den Fahrersitz zu schmeißen und das Gaspedal durchzutreten. Einmal kam ich fast zu spät zur Arbeit und hätte ihn beinahe in der Eile übersehen, konnte mich aber schnell hinter einer Hecke ducken. Dummerweise war ich nicht schnell genug, denn durch das Blätterwerk sah ich, wie Yami genau in meine Richtung sah, skeptisch eine Augenbraue hoch zog und kopfschüttelnd zu seinem Briefkasten ging. Ich kam mir so unglaublich dämlich vor. Ich veranstaltete so einen Riesentheater, obwohl ich mir nicht sicher sein konnte, ob er mich wirklich vor ein paar Tagen beobachtet hatte. Also stand ich auf, tat so, als hätte ich nur meinen Schnürsenkel zugebunden und ging hoch erhobenen Hauptes zu meinem Auto. Mein Gang sollte stolz und sicher wirken, aber es sah eher so aus, als hätte ich Wackelpudding statt Muskelmasse in den Beinen, nickte in seine Richtung als >harmlose Begrüßung< und sauste wie von einer Tarantel gestochen zur Arbeit. Joey hingegen begegnete ich mindestens einmal am Tag in meiner Mittagspause. Sein Zeitschriftenladen war nur wenige Minuten Fußweg von der Praxis entfernt und besorgte mir da die aktuelle Zeitung und ein wenig Nervennahrung. Am ersten Tag nach dieser… Misere rechnete ich schon damit, dass der Blondschopf mich angrinste, mir seinen Hintern entgegen strecken würde und mit der flachen Hand einmal drauf haute. Stattdessen lächelte er freundlich und wir betrieben ein wenig Small Talk, wie jeden Tag. Wie läuft es in der Praxis? Gut. Läuft das Geschäft gut? Ja. Und schon war ich wieder aus dem Laden. Doch am dritten Tag kam noch eine weitere Frage hinzu. „Hast du daran gedacht, dich einzuschreiben?“, fragte er mich, während er mein Wechselgeld aus der Kasse holte. Zuerst wusste ich nicht, was er meinte und mein perplexer Gesichtsausdruck schien ihm als Antwort zu reichen. „Ach nö, sag nicht, du hast es vergessen! Mensch, wir hatten schon fest mit dir gerechnet.“ Vorwurfsvoll reichte er mir das Geld, doch dann fiel bei mir der Groschen wortwörtlich zu Boden. Ich bückte mich, um das fallen gelassene Geld wieder aufzuheben. „Nein, ich hatte mich eingeschrieben. Ich muss mir nur noch überlegen, was ich mitbringen soll.“ Joey lachte mich mit diesem typischen Wheeler-Lachen an und kratzte sich am Hinterkopf. „Da sich meine Kochkünste auf Wasser kochen beschränken, werde ich nur fertigen Nudelsalat kaufen.“ „Ey, stürz dich nur nicht in Unkosten. Du könntest ja noch lernen, wie man einen Ofen anmacht.“ Ich zwinkerte ihm zu und war gerade dabei, den Laden zu verlassen, als der Blonde mich rief. „Könntest du Yami das Paket vorbei bringen, wenn du Zuhause bist? Ich würde es ja selbst machen, aber bei mir steht heute Inventur an.“ Zuerst zögerte ich. Ich verspürte keine große Lust, ihm in der nächsten Zeit unter die Augen zu treten – höchstens mit einer Tüte über dem Kopf und ein Loch im Boden in der Nähe, um im Notfall mich da hinein stürzen zu können. Doch dann seufzte ich theatralisch und griff nach dem Päckchen, das er mir entgegen hielt. Ich sollte mich schon Mal in der Lokalzeitung nach einer neuen Wohnung umsehen. Einige Stunden später stand ich vor seiner Haustür und versuchte meine Wut zu verarbeiten, ehe ich mich bemerkbar machte. Ich könnte das Paket auch einfach vor die Tür stellen und hinterher behaupten, ich hätte geklingelt. Oder ich schmiss es ihm aus sicherer Entfernung – nämlich von meinem Garten aus – auf seine Terrasse und suchte fix das weite. Aber auch diese Gedanken wurden verworfen. Als ich aber auch noch auf die Idee kam, es mit einem Seil von dem Schornstein in sein Kamin à la James Bond abzuseilen, klingelte ich schnell, ehe ich es noch in die Tat umsetzen würde. Diese Begegnung zehrte selbst auf Arbeit an meinen Nerven. Mai beobachtete mich die ganze Zeit mit Adleraugen und immer, wenn sie in Flüsternähe war, zitterte ihre Unterlippe vor Anstrengung, mich nicht mit Fragen zu löchern. Als endlich der Feierabend kurz bevor stand und wir gemeinsam noch schnell die Bausteine für die Kinder im Wartezimmer einsammelten, schien es Mai nicht mehr auszuhalten. „Hast du wirklich einen großen Spiegel an deinem Kleiderschrank?“ „MAI!“ Sie schien den empörten Ausruf von Serenity gekonnt zu ignorieren und blickte mich mit großen Kulleraugen an. Sollte wohl unschuldig aussehen… „Hat dir Yami das erzählt, ja?“, fragte ich und drehte mein Gesicht zu den Arztzeitschriften und tat so, als würde ich sie sortieren. „Nein, Joey. Aber er sagte mir, ich solle es nicht weiter sagen.“ Empört drehte ich mich um. „Du hast es aber eben getan.“ Sofort schoss mit noch mehr die Röte ins Gesicht, wenn ich auch nur daran dachte, wie das alles ausgesehen haben musste. „Wieso? Du warst doch der Beteiligte?“ „Und was ist mit ihr?“, schoss ich zurück und zeigte auf Serenity, die aus sicherer Entfernung unser Gespräch verfolgte. „Sie ist doch Joeys Schwester, die zählt nicht. Serenity weiß immer alles zuerst, wenn der Schwatzkopf was erfährt:“ Seine... seine Schwester?! Verwirrt blickte ich wieder zu ihr. Keine Ähnlichkeit zu sehen, also konnte man mir aus meine Unwissenheit keinen Strick drehen. Doch sie lächelte mich so selbstverständlich lieb an, dass ich mich schon fast schämte, es nicht bemerkt zu haben. Leise fluchte ich vor mich hin und schmiss die Arztzeitschriften wieder in den Behälter – unsortierter als vorher. „Ja, ich habe einen Spiegel.“, flüsterte ich schließlich geschlagen und fügte mich meinen Schicksal. Nun schaltete sich auch Serenity ein, die vorsichtig näher trat. „Ich habe es auch schon oft gemacht. Immer wenn ich ein Stück Kuchen zu viel esse und ich-“ „Du zählst nicht. So eine Bohnenstange braucht keine Paranoia zu schieben.“, unterbrach Mai sie und wandte sich wieder zu mir. „Es ist völlig natürlich, dass-“ „Mein Gott, natürlich für eine Frau, Mai, und ich bin ein Kerl! “ Doch sie überhörte meinen Ausbruch und setzte dort fort, wo ich sie unterbrochen hatte. „-man sich im Spiegel betrachtet. Yami hat es auch schon öfter getan. Gerade wenn er sich neue Klamotten gekauft hat.“ „Aha, hat er sich dabei auch mit der flachen Hand auf den Hintern geschlagen?“, fragte ich bissig, doch sie blickte mir verdattert in die Augen. „Du hast dir dabei auf den Arsch gehauen?“ Ich klingelte erneut und schon keimte die kleine Hoffnung auf, er sei nicht da. Natürlich würde ich ihm gern den Kopf abreißen, aber diese Konfrontation könnte ich auch getrost um einige Tage verschieben. Noch hatte ich mir noch nicht genug Mut eingeredet. Doch da alles nie so klappte, wie ich es gern hätte, hörte ich von drinnen ein Stolpern, dann als ob Holz auf Holz reiben würde und zum Schluss ein dumpfes Fluchen. Wenige Sekunden später wurde die Tür aufgerissen und ein angepisster Yami fauchte „was ist?“ mir entgegen. Sofort ging ich in Abwehrstellung, indem ich einige Schritte zurück trat und die Hände vor dem Oberkörper erhob. „Was ist dir denn über die Leber gelaufen?“ Yami blinzelte einige Male, rieb sich die Augen und schaute mich wieder an. Sah ich etwa aus wie eine Fatamorgana? „Ach Yugi, entschuldige bitte. Ich wollte dich nicht so anblaffen, aber den ganzen Tag über haben es sich Kinder zur Lebensaufgabe gemacht, mir Klingelstreiche zu spielen.“ Er sah nach rechts und links. „Du hast nicht zufällig welche gesehen?“ Noch völlig überrumpelt schüttelte ich den Kopf. „Die Kids machen mich echt fertig! Gestern habe ich Handabdrücke an meiner Glastür bei der Terrasse entdeckt. Spannen tun die auch noch.“ Dann entdeckte er das Paket, was ich unter meinen Arm geklemmt hatte. „Ist das für mich?“ Ich nickte und reichte es ihm. „Joey hatte es mir gegeben.“ „Ah! Endlich, das werden die nächsten Bände sein. Komm doch rein.“ Ohne auf meine Antwort zu warten, drehte er sich um und verschwand im Wohnzimmer. Nun stand ich unschlüssig da. Sollte ich mit rein gehen und mich der Gefahr aussetzen, dass das Thema mit dem Spiegel nochmal aufkam, oder sollte ich die Flucht antreten? Die Entscheidung wurde mir abgenommen, als ich Yami rufen hörte „Wo bleibst du?“ Geschlagen senkte ich meinen Kopf und betrat das Haus… … und wäre beinahe wieder rückwärts hinaus gestolpert, als ich das Chaos erblickte. Zwei Stühle waren umgeworfen, die Kommode stand nicht mehr an der Wand, sondern leicht schräg im Raum, als wäre jemand gegen gerannt, ohne sie wieder richtig hin zu stellen. Somit hatte ich den Grund für sein Fluchen gefunden. Und es war fürchterlich dunkel hier drin. Doch Yami schien es nicht im Geringsten zu stören, denn er saß schon auf der Couch und war dabei, die Paketschnur von meinem Mitbringsel zu lösen. „Darf ich?“, fragte ich vorsichtig und deutete zum Fenster. Yami schaute hoch und nickte kurz angebunden, aber seine Aufmerksamkeit galt schnell wieder dem Knoten. Hastig ging ich zum Fenster, riss die schweren Vorhänge beiseite und schon musste ich die Augen leicht zukneifen, um nicht zu sehr von der Nachmittagssonne geblendet zu werden. Verwundert blickte ich wieder zurück zu Yami, dem es nichts auszumachen schien. Doch er war immer noch mit dem Knoten beschäftigt. „Nimm doch eine Schere.“ Er lachte leise auf. „Die habe ich irgendwo verlegt.“ „Aber die liegt doch vor dir auf dem Tisch.“ „Hm?“ Nun schaute er auch zum Tisch, kniff die Augen enger und erst nach einigen Sekunden fand er sie. Ein verlegenes Grinsen schlich sich auf sein Gesicht. „Ich Blindfisch habe es wohl gestern Abend mit dem Lernen übertrieben. Ich sehe kaum was vor Müdigkeit.“ Nachdem die Schnur abgeschnitten und das Paket geöffnet war, holte er zwei Bücher aus dem Karton. Vom weitem konnte ich die Aufschrift nicht lesen, aber es schien wieder etwas für sein Studium zu sein. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich Yami, wie er die Bücher zu einem Stapel häufte und sie in einer Ecke des Tisches legte. Sollte ich ihn von mir aus ansprechen? Es war mir so unsagbar peinlich und unangenehm, aber irgendwann musste es ja geklärt werden. Ich konnte mich nicht jeden Tag dem Stress ausliefern, von Hecke zu Hecke zu schleichen, um meinem Nachbarn nicht über den Weg zu laufen. „Du, Yami?“ Wieder hob er seinen Kopf und blickte mir in die Augen. Eine leichte Belustigung lag darin, doch er sagte nichts. „Ich habe mich heute mit Mai über meinen Auftritt unterhalten.“ „Deinen Auftritt?“ Nun lag seine völlige Aufmerksamkeit auf mir. „Du weißt schon“, gluckste ich rum und fing aus Gewohnheit wieder an, mit meinen Hemdknöpfen zu spielen. „Das vor drei Tagen.“ Aber Yami schien es nicht zu wissen, denn er legte seinen Kopf schief. „Vor dem Spiegel?“, versuchte ich es erneut, doch der ahnungslose Blick aus seinen rubinroten Augen blieb. Mann, der wusste doch genau, was ich meinte. Ich war mir verdammt sicher, dass er mich nur veräppelte. Als ich auch noch anfing, mit meinem Fuß zu schaben, fragte er schließlich: „Was genau meinst du?“ Da wurde es mir zu bunt. Knurrend drehte ich mich zur Seite und tat das, was kein normaler Mann vor einem anderen Mann tun würde: ich schlug mir selbst auf den Hintern. Mit knallrotem Kopf drehte ich mich wieder zu ihm. Er blinzelte ein paar Mal, sagte aber nichts weiter. „Wieso hast du es gleich weiter getratscht? Es war nicht so, wie es aussah!“ „Was sollte es denn sein?“ Seine Stimme war vollkommen monoton. Er hatte mich vor wenigen Tagen noch naiv genannt, doch heute stellte er mich bei weitem in den Schatten. Ich suchte verzweifelt nach Worten um mich zu rechtfertigen, doch umso länger ich ihm in die Augen blickte, umso leerer wurde auch mein Kopf. Schließlich formten seine Lippen ein Lächeln. Also wusste er es doch! „Joey hat es seiner Schwester und Mai erzählt. Weißt du, wie peinlich das ist?“ Yamis Lächeln wurde breiter. „Was ist denn so schlimm daran, wenn man sich im Spiegel begutachtet?“ „Sie wussten nichts von dem Klatscher und ich dachte, dass du genau den pikanten Teil nicht ausgelassen hast. Doch bei der Erklärung stellte sich raus, dass sie davon nichts wussten! Wie konntest du nur?“ „Warte mal“, sagte er, stand auf, ging um den Tisch herum und stellte sich direkt vor mich. „Du machst mich dafür verantwortlich, was du ihnen erzählt hast?“ Zuerst konnte ich nichts darauf erwidern. Bei ihm klang alles so logisch und irgendwie kam ich mir da ein wenig dumm vor. Aber das Schlimmste war immer noch, dass er Recht hatte. Ich konnte ihn schlecht für meinen eigenen Fehler verantwortlich machen. Er fing meinen schuldbewussten Blick auf und normaler Weise wendete ich mein Gesicht sofort ab, um jeglichen Augenkontakt zu vermeiden. Doch mein schlechtes Gewissen über all die Dinge, die ich ihn bereits schon angetan hatte, ließ es nicht zu, also hielt ich seinem Blick stand. Überrascht weiteten sich seine Augen kaum merklich, aber auch er sah nicht weg. Es war das erste Mal seit unserer ersten Begegnung in meinem Haus, dass ich ihm erlaubte in mein Innerstes zu sehen. Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf. Wie zickig ich ihm gegenüber immer war überwog alles andere. Ich wusste nicht, ob mein Schuldeingeständnis deutlich in ihnen zu sehen, oder ob es einfach nur Zufall war, aber sein Blick wurde weicher, seine Gesichtszüge nicht mehr so verbissen. Als ich ihn so ansah bemerkte ich, dass es so viele Seiten an Yami gab, die ich nicht mal ansatzweise kannte. Sein Ausdruck wechselte von neutral zu freundlich, was das kleine Lächeln noch unterstützte. Ich hatte diesen Mann vor mir so viel Unrecht getan. Voller Reue erwiderte ich leicht das Lächeln und irgendwie hatte ich das Gefühl, das er mich verstand. Es wurde Zeit diesen Teil zu begraben und völlig neu anzufangen. Yami zu zeigen, dass er mit mir keinen stressigen Nachbar hatte, sondern jemanden, der ihn gern ein Freund sein wollte. Mein schüchternes Lächeln wurde ehrlicher und strahlte ihn förmlich an. Ich konnte es nicht steuern, doch fühlte ich mich mit einem Mal von der Last der letzten Tage befreit und war mir sicher, ihn von nun an zur Seite stehen zu können. Seine Augen leuchteten mich so intensiv an und wurde durch die Sonne, die auf sein Gesicht fiel, noch mehr verstärkt. Es war kein Wunder, dass Harumi so von ihm besessen war. Er war eindeutig ein sehr attraktiver Mann und wenn man nicht so dickköpfig war wie ich, würde man seine Sanftmut und Charakterstärke bewundern. Vielleicht sollte ich es ihm sagen. „Ich finde es klasse, wie du mit der Situation umgehst“, kam es nuschelnd über meine Lippen, sah ihm dabei weiter in die Augen. Selbst wenn ich es wollte, könnte ich sie nicht loslassen. Das Feuer in ihnen hielt mich weiter gefangen, ohne mich zu verbrennen. „Welche Situation?“, fragte er, ohne seine Mimik zu verändern, blinzelte nicht einmal. Meine Antwort bestand nur aus einem Namen. „Harumi.“ Doch er schien noch auf eine weitere Erklärung zu warten, denn er blieb still. Ich schluckte meine Nervosität hinunter. „Keine Ahnung, wie ich an deiner Stelle reagieren würde, aber ich bewundere deine Gelassenheit. Du denkst mehr an den Ruf deiner Freunde, als an deinen eigenen und das erlebt man nicht oft.“ Verlegen zog ich meine Unterlippe zwischen meine Zähnen und biss leicht hinein. Yami senkte seinen Blick auf meinen Mund und beobachtete, wie ich mit den Zähnen über meine Unterlippe schabte „Das wollte ich dir nur mal sagen.“ Gerade als ich meine Augen senken wollte, bemerkte ich im Augenwinkel, wie etwas meine Wange streifte und eine verirrte Haarsträhne hinter meinen Ohr strich. „Sollte sie es noch einmal wagen, dich in die Sache mit hinein zu ziehen, werde ich nicht mehr so gelassen sein können.“ Bis tief in die Nacht hallten mir seine Worte noch in den Ohren nach. Am folgenden Tag würde selbst jemand von außerhalb wie ich es war, eine Veränderung bemerken. Es war kaum jemand auf der Straße, viele Geschäfte hatten erst gar nicht geöffnet und selbst die Arztpraxis hatte nur bis zum Mittag Sprechstunde. Jeder steckte in seinen eigenen Vorbereitungen für das Erntefest. Wenn Joey nicht für mich am Morgen schon auf dem Platz gewesen wäre, wo es am Abend stattfinden sollte, hätte ich es ganz vergessen. Doch als ich gerade in meinen Wagen steigen wollte, noch völlig in Gedanken versunken, stand er plötzlich neben mir und hielt mir einen Korb unter die Nase. „Ich konnte leider nur noch Kartoffeln und ein paar zermatschte Tomaten ergattern.“ Zuerst wusste ich nicht was er meinte, doch schlagartig fiel es mir wieder ein. „Oh Gott, das Fest! Oh Joey, ich stecke bei dir jetzt aber tief in der Kreide. Ohne dich hätte ich nicht mehr daran gedacht.“ Er winkte ab und öffnete meinen Kofferraum, um den Korb darin zu verstauen. Er grinste mich über seine Schulter an, als er die Klappe wieder schloss. „Dank nicht mir, sondern deinem Nachbarn. Wenn Yami mich heute Morgen nicht zu sich beordert hätte, hättest du nicht mehr daran gedacht.“ Etwas perplex starrte ich ihn an. „Yami?“ „Er hilft doch bei den Vorbereitungen und hatte die Liste gecheckt, wer was abgeholt hatte. Der arme Kerl muss Stunden daran gesessen haben, bei den hunderten von Namen, die so ein Trottel nicht mal alphabetisch sortiert hatte. Jedenfalls musste ich ihm versprechen, dich nach der Arbeit abzufangen damit du noch genügend Zeit hast, etwas daraus zu kochen.“ Eine Welle der tiefen Dankbarkeit rollte über mich hinweg und bestätigte mich wieder bei meinem Entschluss, mich nur noch von meiner besten Seite zu zeigen. „Du solltest wissen, dass er gezielt nach deinen Namen gesucht hatte. Aber sag ihm nicht, das du das von mir hast.“ Überrascht schaute ich Joey an. „Dann muss ich ihm heute Abend aber mehr als nur ein Bier ausgeben.“ Der Blonde fing an zu lachen und klopfte mir auf die Schulter. „Höchstens ein Bier für ihn von der Bar holen. Man zahlt da nichts, schon vergessen?“ Schuldig räusperte ich mich. „Soll ich dich mitnehmen?“ Er ließ sich nicht zweimal bitten und ehe ich mich versah, hatte er sich schon auf den Beifahrersitz geschwungen. Kopfschüttelnd ging ich um den Wagen herum und setzte mich auf den Fahrersitz. Die Fahrt über erzählte er mir, dass Yami schon seit Sonnenaufgang auf dem Platz beim Aufbau half. Er machte öfters bei wohltätigen Dingen mit und half, wo man ihn brauchte. Wundern tat es mich allerdings nicht mehr. Es passte zu dem Bild, was sich langsam aber sicher von ihm in meinem Kopf festsetzte. Freundlich, hilfsbereit, aber auch direkt. Als ich Joey vor seinem Haus abgesetzt hatte, beeilte ich mich, schnell zu mir nach Hause zu fahren. Das Auto ließ ich einfach vor der Einfahrt stehen, stürmte in die Küche und wollte gerade alle benötigten Zutaten zusammen suchen, als mir einfiel, dass ich den Korb im Wagen gelassen hatte. Also machte ich kehrt und gerade als ich durch die Haustür wieder nach draußen trat, sah ich im Augenwinkel eine Bewegung in Yamis Garten. Sagte Joey vorhin nicht, dass er schon beim Erntefest war? Gerade als ich es als Täuschung abtun wollte, hörte ich ein leises Scharren, was nun eindeutig von seiner Terrasse gekommen war. Ich überlegte nicht lange, schlüpfte rechts durch die Hecke, die unsere Grundstücke voneinander trennte und war darauf gefasst, ein streunendes Tier zu verscheuchen. Was ich dann jedoch sah, ließ mich stutzen. Eine blonde Frau stand an der Terrassenscheibe und versuchte hinein zu spähen. Ein Gartenstuhl stand weiter abseits, den sie wohl zur Seite geschoben haben musste. „Kann ich ihnen helfen?“ Freundlich ging ich auf sie zu. Ich ging davon aus, dass sie wohl eine Freundin von ihm sein musste, doch sie erschrak sich als sie meine Stimme hörte, wirbelte herum und rannte so schnell wie ihre High Heels sie trugen an mir vorbei - auf die Straße. Sofort keimte in mir der Verdacht auf, dass es Harumi war und war gleichzeitig auch entsetzt. Ging sie wirklich soweit und stalkte Yami? Die nächsten zwei Stunden zerbrach ich mir den Kopf darüber, ob sie auch an den Klingelstreichen von gestern Schuld war. Doch schnell verwarf ich den Gedanken wieder. Was hätte sie denn schon davon, außer, dass sie ihn damit nervte? Als ich den Kartoffelauflauf aus dem Ofen holte, beschloss ich, Joey darüber zu informieren. Theoretisch hätte ich es auch gleich Yami sagen können, aber ich wollte ihn nicht weiter beunruhigen. Zumal er bestimmt gerade unter Stress stand. Ich zog die Ofenhandschuhe aus und fischte mein Handy aus der Gesäßtasche. Joey schlug vor, es erst nach dem Fest Yami zu sagen und ich erklärte mich damit einverstanden. Allerdings fühlte ich mich nicht wohl, sein Grundstück nach dem Vorfall unbeaufsichtigt zu lassen. Doch was blieb mir anderes übrig? Vielleicht hatten die anderen eine Idee. Aus dem Korb Kartoffeln bekam ich drei Auflaufformen voll und die Tomaten hatte ich mit Zwiebeln und Schafskäse als Salat umfunktioniert. Gerade rechtzeitig verschloss ich die Behälter, als es schon an der Tür klingelte. Als ich sie vollbeladen mit dem Essen öffnete, stand Tristan vor mit und hatte schon eine Hand zur Begrüßung erhoben, doch er stutzte, als er mich sah. „Was hast du denn da an?“ Verwirrt blickte ich an mich hinunter. „Das ist ein Kimono.“ Unsicher zupfte ich mir meinen Kragen zurecht. „Ist der unpassend? Ich war mir nicht sicher, was ich zum Anlass tragen sollte.“ Ein fettes Grinsen schlich sich auf sein Gesicht und schüttelte den Kopf. „Nein, lass ihn an. Das ist mal was anderes. Damit wirst du der Mittelpunkt vom Erntefest.“ Entsetzt starrte ich ihn an und wollte mich gerade umdrehen, um mich umzuziehen, doch er hielt mich am Ärmel fest und zog mich raus. Tristan stellte selbstgebackenes Brot und Erdbeermarmelade in meinen Kofferraum, als ich meinen Wagen mit der Fernbedienung öffnete. „Wollte Mai sich nicht auch bei mir treffen?“ Er schüttelte seinen Kopf und setzte sich ans Steuer. Ich ließ ihn fahren, da ich nicht genau wusste, wo das Fest veranstaltet werden sollte. „Sie ist mit Serenity schon vorgefahren und hilft seit dem Mittag bei der Dekoration.“ Etwas schuldbewusst warf ich einen schnellen Blick auf den Kofferraum, ehe ich mich wieder nach vorn wandte, mich anschnallte und Tristan den Zündschlüssel reichte. Jeder in dieser Stadt leistete seinen Beitrag und ich Nuss hatte nur etwas gekocht, was ich nicht mal selbst abgeholt hatte. Es war inzwischen 17:00 Uhr nachmittags, als wir die Stadt auf der einzigen kleinen Sandstraße verließen, die die Stadt mit der Außenwelt trennte. Nach weiteren vier Minuten bog Tristan auf einen kleinen Kieselweg, den ich glatt übersehen hätte und mir stockte unweigerlich der Atem. Es fing langsam an zu dämmern, was den Himmel in ein wunderschönes Violett tauchte. Am Ende des Weges waren vereinzelt Autos geparkt, aber dass, was mich stutzen ließ, war das dahinter. An den Bäumen, die hinter den Wagen am Weg standen, waren bunte Schwebelichter an den Ästen befestigt worden, was jeden einzelnen Baum in ein wunderschönes Licht tauchte. Ein drei Meter hohes begehbares Zelt blitzte zwischen den Baumstämmen hervor. Deren Stangen, die im Boden verankert waren, waren von weißen Lichterketten umwickelt. Tristan lenkte mein Auto auf einen freien Parkplatz und sofort öffnete ich die Autotür und stieg aus. Kindergelächter drang an mein Ohr und leise, fröhliche Musik. Dieser kleine Moment strahlte eine solche Idylle aus, dass ich erst einmal tief Luft holen musste. Ich nahm nur am Rande wahr, wie Tristan sich das Essen schnappte, während ich schon langsam zwischen den Bäumen hindurch ging und konnte mich kaum an den Lichtern über mir satt sehen. Doch als ich auf die Lichtung trat, staunte ich nicht schlecht. Es war nicht nur ein begehbares Zelt, sondern ein Monstrum an weißen Tüchern als Decke. Dutzende von Stangen, die das Dach stützten waren alle paar Meter aufgestellt. Sie waren so eng mit den Lichterketten umwickelt, dass das Metall nicht mehr erkennbar war und man somit den Eindruck hatte, als wären glitzernde Lichtsäulen das Fundament. Auf der linken Seite befanden sich die Tische, wo später das Essen serviert werden sollte und rechts waren unzählige Sitzgelegenheiten. Doch die kleinen Details, wie auf jedem Tisch ein Schwebelicht, beschwert mit einem schwarzen Stein waren einfach unglaublich. In der Mitte war glatt getretener Erdboden, was später wohl die Tanzfläche wurde. Und das alles in einem riesigen Ausmaß, sodass die Einwohner von Churchill locker drin Platz fanden. Wer immer für diese Organisation zuständig war, hatte gewaltige Arbeit geleistet. Viele Leute, die ich nur vom Sehen kannte, standen entweder in kleinen Grüppchen beisammen und besprachen etwas, oder waren noch mit den Vorbereitungen beschäftigt. Jeder hatte sich festlich angezogen. Ich entdeckte Mai in einem wunderschönen blauen Kleid, wie sie auf einer Leiter stand und einen Scheinwerfer ausrichtete. Serenity stand zu ihren Füßen und hielt die Leiter fest. Sie hatte einen weißen Hosenanzug an, der ihre Figur zur Geltung brachte und ich fühlte mich nicht mehr overdressed. Wenn jeder sich herausgeputzt hatte, war ich Gott sei Dank doch nicht der Mittelpunkt. In den Moment drehte sie sich in unsere Richtung, hob die Hand, als sie uns sah und stutzte genau wie Tristan zuvor. Sie griff nach Mais Kleidersaum, zog leicht daran, sagte etwas und deutete auf Tristan und mich. Doch bevor ich zu ihnen ging, wollte ich erst mal das Essen loswerden. Also nahm ich es Tristan aus der Hand, der inzwischen neben mir stand und ging zu den Tischen. Unsicher, wo es genau hin sollte, stellte ich es erst einmal vor mir ab und ignorierte die Blicke der Leute. Hatten die denn noch nie einen Japaner im Kimono gesehen, oder was? Einige Meter weiter entdeckte ich Yami. Er hatte ein Klemmbrett auf dem Arm und kritzelte etwas darauf. Selbst er hatte sich herausgeputzt und sah für einen Mann wirklich großartig aus. Seine Lederhose hatte er gegen eine Anzugshose, mit rotem Hemd und schwarzer Krawatte getauscht, jedoch waren seine Haare ungebändigt wie immer. Ich beobachtete fasziniert, wie sich das Licht an seinem Daumenring der linken Hand brach, während er das Klemmbrett hielt. Mein Blick glitt weiter hinunter, auf seine Schuhe - registrierte nur nebenbei, dass sie ein paar Dreckschlieren von der Arbeit aufwiesen – wieder seine Beine hoch (wie konnte eine Hose nur so perfekt sitzen?!) und landete auf seine Unterarme, die durch die hochgekrempelten Ärmel frei lagen. Ich versuchte meinen Blick loszureißen, aber als ich auch noch einen kleinen silbernen Ohring entdeckte, der mir frech entgegen blitzte, konnte ich mit dem Gaffen einfach nicht mehr aufhören. Ich sah, wie Yami von seiner Arbeit aufblickte, etwas zu seinem Nebenmann sagte, anfing zu lachen und dann den Kopf zu mir drehte. Sein Blick streifte mich, wanderte weiter… stoppte und ruckte sofort zu mir zurück. Plötzlich erstarb das Lächeln und er schaute mich einfach nur an. Leute durchkreuzten unser Blickfeld, doch anstatt das er etwas tat, wie mich zu begrüßen, auf mich zugehen oder einfach nur weiter zu arbeiten, lagen seine Augen auf mir, als sähe er mich heute zum ersten Mal. Unsicher strich ich meinen Kimono glatt. Warum starrte er so? Vielleicht hätte ich mich doch nochmal umziehen sollen. Doch dann setzte er sich endlich in Bewegung und kam auf mich zu, achtete nicht auf die Menschen, die wegen ihm ausweichen mussten. Als er vor mir stand, sah er mir weiterhin in die Augen. „Wie nennt man das, was du trägst?“ Ich räusperte mich und versuchte, nicht weiter an den Stoff rumzufummeln. „Das ist ein Kimono. In Japan trägt man dieses Gewand zu Festen, aber du hast Recht. Ich sollte nochmal nach Hause fahren und mich umziehen.“ „Nein“, sagte er und besah sich meinen Kimono genauer. „Es steht dir und bringt hier mehr Kultur rein. Lass ihn an." Ich musste dann doch ein wenig schmunzeln. Als ob ich ihn hier vor allen ausgezogen hätte. Yami nahm mir das Essen ab und meinte, er komme gleich wieder. Ich stand nur wenige Minuten allein, doch die ganzen neugierigen Blicke waren mir verdammt unangenehm. Einige Kinder waren sogar mutig genug, ohne zu fragen an den Stoff zu fassen. Gerade die Mädchen bekamen dann glänzende Augen und riefen „Oh, der ist ja ganz weich!“ Aber dann begriff ich, dass die Menschen hier in Churchill es nicht böse meinten. Sie kannten diese Sitte einfach nicht und für einen Außenstehenden musste ich wirklich… seltsam aussehen. Ich atmete tief ein, bog meinen Rücken gerade und fing an, jeden freundlich anzulächeln, der zu mir sah und es wirkte. Sie lächelten zurück, nickten mir zu. Einige verwickelten mich sogar in ein Gespräch und wollten alles ganz genau wissen, wie man einen Kimono anzog, wie man einen Obi band und welche es noch so gab. So langsam geriet ich dadurch aber auch in Bedrängnis. Ständig das Gleiche zu erzählen war anstrengend, aber Yami kam wie ein Retter in Not und zog mich aus der Traube der Menschen. Die Zeit verging wie im Fluge. Ich versuchte den Mädels noch beim Dekorieren zu helfen, aber leider hatte ich in solchen Dingen einfach nur zwei linke Hände. Also klebte ich Yami am Rockzipfel und versuchte ihm unter die Arme zu greifen. Allerdings kannte ich kaum die Namen der Mitbewohner, oder das Gesicht und konnte mit den Speisen nichts anfangen und stand mehr im Weg. Da blieb mir nur noch Joey übrig, also hängte ich mich an ihn, der mit Tristan zusammen das Musikpult aufbaute und später auch als DJ funktionierten. Allerdings hatte ich von Technik noch weniger Ahnung, als vom Dekorieren und am Ende artete es soweit aus, dass die beiden Jungs alles neu verkabeln mussten, was ich angerührt hatte. Völlig deprimiert saß ich in einer Ecke und wusste nichts mit mir anzufangen. Vielleicht hätte ich doch erst später aufkreuzen sollen. Dann hätten die anderen nicht mehr Arbeit und ich würde mich nicht so schrecklich langweilen. Und ohne es zu wollen, schoss mir ein Satz durch den Kopf, der mich schlagartig erröten ließ. „Sollte sie es noch einmal wagen, dich in die Sache mit hinein zu ziehen, werde ich nicht mehr so gelassen sein können.“ Natürlich sagte der Satz kaum etwas aus und man konnte es so interpretieren, wie man wollte. Aber indem er mir dabei eine Strähne hinters Ohr gestrichen hatte, tendierte es doch in eine spezielle Richtung. Ich versuchte, mir für die Außenwelt nichts anmerken zu lassen, aber sicher ist sicher und versteckte mich hinter meinem Glas Wasser. Ich wusste nicht einmal, warum es mich so aus dem Konzept gebrachte hatte. Im Grunde war es doch etwas Banales, oder? Freunden sagte man doch etwas Nettes. Das Kribbeln an meinem Ohr erinnerte mich wieder an diese federleichte Berührung und ließ mich gleich doppelt erröten. Es war nicht unangenehm gewesen, nur ungewohnt. Bisher hatte nur mein Großvater oder Tea mich berührt, indem sie mich in den Arm nahmen. Aber so eine Geste hatte ich noch nie. In Japan hatte ich nur zwei Beziehungen gehabt. Sie waren aber nichts Erwähnenswertes gewesen und hielten auch nicht lange. Irgendwie wollte jede Frau einen >coolen< Partner. Aber ich war nicht diese Art von Mensch. Zusätzlich war ich auch nicht gerade eine große Persönlichkeit. Entweder waren die Damen gleichgroß oder sogar noch größer als ich und das war für die Frauenwelt nur schwer zu verkraften. Eine Haarsträhne hinter das Ohr zu streichen, bei jemand anderen ist doch etwas vertrautes. Man konnte es sogar schon intim nennen und das tat man nicht bei jedem. Um auf den Punkt zu kommen: ich kam noch nie in den Genuss dieser vertrauten Geste – bis gestern. Auch wenn sie von einem Mann ausging, so war es doch angenehm gewesen. Plötzlich wurde ich aus den Gedanken gerissen, als neben mir ein Stuhl über den Boden schabte. Überrascht blickte ich zur Seite, denn noch waren die Vorbereitungen nicht abgeschlossen und keiner meiner >Freunde< konnte so kurz vor Beginn eine Pause machen. Als ich aber die Person neben mir erkannte, blieb mir fast das Herz stehen. Harumi, mit einer bezaubernden Hochsteckfrisur, Spitzenbluse und Minifaltenrock sah mich durch ihre getuschten Wimpern an. Sofort ratterten Fragen durch meinen Kopf. Was sie wollte, warum ich und vor allem – warum jetzt? Ich hatte noch nicht einmal mit Yami über heute Mittag gesprochen, doch genau darauf wollte sie scheinbar anspielen. Ihr perfekt nachgezogener Mund lächelte mich an und sie hielt mir ihre Hand entgegen. Da ich aus gutem Hause stammte, erwiderte ich das Lächeln und legte meine Hand in ihre. „Du musst Yugi sein. Yami hat mir schon einiges über dich erzählt.“ Ach, tatsächlich? Krampfhaft versuchte ich meine Augenbraue unter Kontrolle zu halten, die entgegen der Schwerkraft nach oben wandern wollte. Ich entschied mich dafür den Ahnungslosen zu spielen. „Leider weiß ich nicht, wer du bist. Aber du warst doch heute bei ihm auf den Grundstück, oder?“ Das Lächeln bröckelte kein Stück, als sie mir frech ins Gesicht log. „Ich bin Harumi, Yamis Freundin. Vorhin wollte ich nur schauen, ob er wieder mal auf der Couch eingeschlafen war, als er mir nicht die Tür öffnete. Du hattest mich wirklich erschreckt!“ Es erklang ein glockenhaftes Lachen, was mich verwirrte. Sie kam mir nicht gerade wie eine durchgeknallte Psychopathin vor. „Tut mir leid, dass ich weggelaufen bin. Aber ich hatte nicht damit gerechnet, jemand fremden in seinem Garten zu treffen und er hatte mich vorgewarnt, dass jemand bei ihm stalkte. Da bekam ich es mit der Angst zu tun, doch eben wurde ich von Yami aufgeklärt, wer du bist.“ Okay, damit nahm sie mir den Wind aus den Segeln. Was war denn jetzt nun richtig und was falsch? Und warum ärgerte es mich so sehr, als sie sich als seine Freundin vorstellte? Ihr Blick war weiterhin freundlich und es war keine Spur Unsicherheit darin zu lesen. Aber so wie ich mich kannte, war in meinen Augen wahrscheinlich gleich die doppelte Menge zu finden. „Dein Kleid gefällt mir. Dieses blasse Violett passt gut zu deinen Augen.“ Kleid? KLEID? KLEID?! Wollte die mich verarschen? Ich fühlte, wie sich meine Kiefermuskeln ohne mein Zutun anspannten und die Zähne fest aufeinander gebissen waren. Unweigerlich spielte ich mit den Gedanken, diese Beleidigung ein Ende zu setzen indem ich mich einfach in mein Auto schwang und mich für die nächsten Wochen in mein Haus verkroch. Meine Hände zuckten schon. Doch sie schien das richtige Gespür zu haben wann sie jemanden treten musste der am Boden lag, um ihn noch mehr zu demütigen. Denn keine zwei Sekunden später legte sie eine Hand auf meinen Unterarm und drückte leicht zu. „Es steht dir und unterstreicht deine Kindlichkeit. Du siehst damit unwahrscheinlich süß und knuffig aus.“ Hahaha, knuffig. Welcher gestandene Mann, Anfang zwanzig, in der Blüte seiner Lebenszeit und Stolz auf die Männlichkeit, die die Bartstoppeln jeden Morgen im Gesicht hervor riefen, wollte denn nicht gern als süß und knuffig bezeichnet werden? Da wünscht man sich doch nur noch einen rosa Teddybären als Sahnehäubchen. Ihre Worte trafen mich mehr, als ich mir anmerken ließ, aber sie plapperte weiter, ohne auf meinen verletzten Gesichtsausdruck zu achten. „Yami findet das auch, daher bat er dich, es anzubehalten. Nachher müssen wir unbedingt ein Gruppenfoto machen! Aber nun muss ich los und Joey suchen. Er hat mir versprochen meine bestellten Zeitschriften mitzubringen.“ Zum Abschied tätschelte sie kurz meinen Arm und ließ mich mit meinem gebrochenen Stolz wie ein Häufchen Elend an dem Tisch zurück. Ob man sich im Wasserglas ertränken kann? Während der Trubel immer mehr um mich zunahm und die Vorbereitungen abgeschlossen wurden, grübelte ich darüber nach, wirklich in Selbstmitleid zu baden und mich im Haus zu verschanzen. Ich legte keinen Wert auf die Meinung einer einzelnen Person. Aber was wäre, wenn sie von anderen geteilt wurden? Tristan und Yami hatten die gleiche Wortwahl wie Harumi verwendet. Ich schämte mich nicht für den Männerkimono, denn ich fühlte mich darin wohl und es gehörte nun mal zu meiner Kultur, dieses traditionelle Gewand zu tragen. Aber es würde mich innerlich zerstören wenn die Leute von denen ich dachte, dass sie meine Freunde waren, sich über mich lustig machten. Aber vielleicht war auch alles eine große Intrige und diese Frau war dreist genug, diesen perversen Plan öffentlich durchzuführen. Es konnte nur eine Lüge sein! Niemanden der Jungs oder Mädels schätzte ich so hinterlistig ein und nachdem ich Yami besser kennen gelernt hatte, weigerte ich mich das auch von ihm zu denken. Da gab es nur eine Möglichkeit. Ihn suchen und einfach fragen. Mit dem Beschluss bestärkt stand ich auf, blickte mich suchend um und fand erst einmal nur Joey, wie er am DJ-Pult stand und schon die ersten Lieder durch die Boxen schickte. Gerade als ich einen Schritt in seine Richtung tat, tauchte Harumi plötzlich vor dem Blonden auf, sagte etwas zu ihm, worauf er hinter sich griff und ihr ein paar Zeitschriften in die Hand drückte. Nur weil sie zu dem Thema die Wahrheit sagte, bedeutete es noch lange nicht, dass generell alles… „Yugi! Mensch, dieser Kimono steht dir aber echt gut.“ Mit verbissenem Gesicht drehte ich mich zu der Stimme um und blickte direkt auf Mai und Serenity. „Ihr nicht auch noch!“ Verwirrt schauten die beiden Frauen zu mir und wussten offensichtlich nicht, was ich meinte. „Wie bitte?“, fragte Mai und legte ihren Kopf schief. „Harumi sagte mir schon, wie toll ich doch aussehe! So langsam reicht es“ Das Wort >toll< spie ich ihnen verächtlich entgegen. „Harumi hatte dich angesprochen? Was hat sie erzählt!“ Mai packte mich am Arm und wollte mich hartnäckig am Gehen hindern, doch ich schüttelte sie ab. „Yugi, warte!“ Und schon hatte ich die nächsten Hände an meinem Arm. Serenity krallte sich regelrecht in meinen Kimono und versperrte mir den Weg. „Egal was sie dir erzählt hat, es ist nicht wahr!“, versuchte sie mich zu beschwichtigen. Zu gern würde ich ihr glauben, aber da passten so viele Dinge zusammen. Wenn man es allerdings von der anderen Seite betrachtete, passte da auch einiges… Ich war verwirrt und unsicher. Ich bemerkte gar nicht, wie Mai sich hinter mir durch die Menge wühlte. „Boahr. Auszeit!“ rief ich und kämpfte mich an ihr vorbei, um an meinen Wagen zu kommen. Doch sie war hartnäckiger, als man es ihr zutrauen würde und schon hatte sie ihren Griff an meinem Unterarm und ihr Körper hatte sich vor meinen geschoben. Sie hielt mich auf, solange sie konnte, doch ich hörte ihr gar nicht mehr zu. Als ich es endlich schaffte, mich zum zweiten Mal von ihr zu lösen und einen Schritt in die rettende Richtung getan hatte, war schon wieder eine Hand an mir – dieses Mal an meiner Schulter. Genervt schlug ich blind nach hinten, doch eine andere Hand packte meinen Arm und schon wurde ich an der Schulter kraftvoll umgedreht. Mit einem Mal stand nicht mehr Serenity vor mir, sondern ein großer Oberkörper mit einer schwarzen Krawatte. Ich musste meinen Kopf heben, um Yami ins Gesicht schauen zu können. Na toll, da hatte ich nun den Salat. „Du hast mit Harumi geredet?“ Seine Tonlage war ruhig und tief. Während ich ihm wieder in die Augen sah, schoss mir eine Frage durch den Kopf. Was wäre, wenn Harumi gelogen hatte? Dann konnte ich gleich meinen Kopf in den Sand stecken und mich verkriechen. Wir hatten uns ausgesprochen und ich wollte wirklich einen Neuanfang starten. Doch irgendwie war die Außenwelt völlig dagegen! Dabei hatte Yami sich solche Mühe gegeben. Ach, ich könnte mich ohrfeigen… Zuerst sollte ich Schadensbegrenzung betreiben und schauen, was an den Sachen dran war. Aber Yami kam mir zuvor. „Was hat sie dir erzählt?“ „Unterstreicht mein Kimono meine Kindlichkeit und sehe ich…“, ich tat mich schwer, dass Wort auszusprechen, „- knuffig aus?“ Yami bekam große Augen und starrte mich einfach nur an. Entweder er suchte nach den richtigen Worten oder er fühlte sich ertappt. „Yugi!“, sagte er und packte meine Schultern. „Der Kimono steht dir. Aber nicht, weil du darin süß aussiehst, oder knuffig“ – sogar er tat sich bei dem Wort schwer – „sondern weil du damit etwas Außergewöhnliches zu uns gebracht hast. Deine Kultur, eine Tradition! Du wirkst darin nicht kindlich oder süß, sondern erwachsen und ich muss zugeben... auch attraktiv.“ Ich konnte nichts erwidern, sondern einfach nur mit offenem Mund gaffen. Der Druck an den Schultern nahm zu, als er seine Finger tiefer in meinen Stoff vergrub. „Ich war die ganze Zeit ehrlich zu dir gewesen und habe dich nicht angelogen. Höchstens ein paar Dinge ausgelassen, aber das hast du auch getan. Du solltest mir vertrauen. Und vor alledem solltest du uns allen vertrauen!“ Das nannte man dann wohl knockout. Aber ich weigerte mich, auf die Matte zu sinken. „Bist du mit Harumi zusammen?“ „WAS??“ Der Ausruf kam so schnell, dass ich einen Schritt nach hinten getan hätte, wenn er nicht meine Schultern weiterhin festhielt. „Gott bewahre, NEIN!“ Hm… damit lag ich nicht nur auf den Boden, sondern wurde auch schon mit den Füßen zuerst aus dem Ring getragen. Mir wurde in dem Moment bewusst, was ich schon wieder angestellt hatte. Mensch Yugi, du selten dämliches Kamel. Sein Gesichtsausdruck war dabei so aufrichtig, dass ich gar nicht anders konnte, als ihm zu glauben. Wieso bin ich auf die dumme Kuh reingefallen? „Dann… dann lästert ihr nicht hinterm Rücken?“ Yami lachte trocken auf. „Worüber denn? Dass ich neben einem jungen Mann wohne, der ein fantastischer Nachbar ist? Ich habe doch gar keinen Grund dafür.“ Mai, die die ganze Zeit hinter Yami stand, lächelte mir erleichtert zu als sie sah, dass ich anfing es zu glauben. Serenity klopfte mir auf den Rücken und murmelte etwas wie „Gott sei Dank“. „Dann ist wohl eine Entschuldigung angebracht“, murmelte ich kleinlaut und traute mich gar nicht mehr, den Kopf zu eben. Doch mit seiner Antwort hätte niemand gerechnet, denn plötzlich lockerte sich sein Griff und er grinste mich siegessicher an. „Wunderbar, ich wüsste da schon etwas, wie du es wieder gut machen kannst!“ Hä?? „Ich wusste nicht, wie ich dich fragen sollte, aber das passt doch prima!“ Die Mädels klatschten begeistert in die Hände und ich schaute dumm aus der Wäsche, während Yami mich immer mehr zum DJ-Pult schob. In der Zwischenzeit hatte das Erntefest einen netten Einklang gefunden und die Mehrheit der Stadt war schon eingetroffen. Yami bugsierte mich an vergnügt kreischenden Kindern und lachenden Erwachsenen vorbei und blieb vor Joey stehen. Der Blonde sah auf. „Er sagt ja!“ „Super!“ Und schon wechselte eine CD den Besitzer, die schnell in der kleinen Anlage verschwand. „Moment mal!“, wollte ich protestieren, doch plötzlich hörte die Musik auf und Yami griff nach dem Mikrofon, den ihm Joey schon entgegen hielt. Er räusperte sich und es hallte auf dem gesamten Platz wider. Ich war zu verwirrt, um seine Worte wirklich zu verstehen. Er sagte irgendwas, dass er sich freute, dass das Essen für alle reichte und irgendwie schaltete mein Gehör immer wieder mal ab. Ich stand einfach zu sehr neben der Spur und musste das Geschehene erst einmal verdauen. Das war so eine Achterbahnfahrt gewesen, dass ich nachher wahrscheinlich wie ein Bär schlafen werde. Doch prompt wurde ich aus meinen Gedanken gerissen, als ich meinen Namen hörte. „… und Yugi hat sich bereit erklärt, uns einen japanischen Tanz vorzuführen!“ Sofort ertönte Beifall und Geklatsche. Ich erntete auch bewundernde Blicke, doch ich war einfach nur zur Salzsäule erstarrt. Ich konnte doch gar nicht tanzen! Was sollte das erst vor all diesen Leuten werden? Das ging nicht! Mein Zeigefinger zuckte um sich protestierend zu erheben, aber dann sah ich direkt auf Harumi, wie sie ihr wahres Gesicht zeigte. Triumphierend hatte sie sich auf einen Stuhl zurück gelehnt und kalte Augen blitzten zu mir rüber. Ich hatte nur zwei Möglichkeiten. Ihr den Sieg gönnen oder mich einfach der Herausforderung stellen. Verzweifelt kramte ich mein Gedächtnis nach einem Tanz, aber mir wollte partout keiner einfallen. Ich könnte auch einfach mit meinem Hintern wackeln und mit meinen Schlappen ein wenig rumhüpfen. Bei dummen Leuten könnte es klappen, aber leider waren die Bewohner alles andere als Landeier. Doch dann entdeckte ich eine Frau und sie hatte genau das in der Hand, was ich brauchte. Also wandte ich mich zu Yami, lächelte ihn an und nickte. Scheinbar hatte er nicht mit dieser Reaktion gerechnet. Daher fragte er um sicher zu gehen „wie…- ernsthaft?“ und ich nickte ihm erneut zu. Schnurstracks ging ich zu der Frau und lieh mir für einige Minuten ihren Fächer aus. Er war nicht besonders groß und passte auch nicht wirklich zu meinem Männerkimono, aber das musste reichen. Leise erklangen die ersten Töne einer Harfe und ich erkannte sofort den typisch japanischen Rhythmus. Es erinnerte mich an die Musik, die in Japan immer im Hintergrund leise in Fahrstühlen dudelte und ich musste mir echt ein Grinsen verkneifen. Das hörten sich doch nur noch die alten Säcke an. Aber ich sagte nichts, stellte mich einfach auf die Tanzfläche und atmete tief durch. Ich konnte nichts anderes außer Taichi-Übungen um meinen Körper und Geist fit zu halten, aber ich wurde ja auch nicht gefragt. Ich streifte meine Schlappen von den Füßen und kickte sie zu Yami, ging total nervös in Ausgangsstellung, indem ich mich gerade hinstellte. Ich betete, dass mein Kimono hielt und mich nicht in eine Blamage stürzte. 5 Minuten später hatte die Dame ihren Fächer wieder und das Fest ging seinen gewohnten Gang. Naja, zumindest bei den meisten. „Das war unglaublich!“, wiederholte sich Tristan schon zum sechsten Mal. „Ich wusste gar nicht, dass man mit einem Fächer so tanzen kann“, murmelte Joey und die Mädels kreischten ständig etwas von >Anmut und Eleganz<. Sogar Harumi hatte entsetzt geschaut, denn es lief scheinbar alles anders, als sie erhofft hatte. Nur Yami musste wieder mal aus der Reihe tanzen. Denn er hatte bisher sich noch nicht geäußert. Er hatte Applaus geklatscht und mir zugezwinkert, doch das war´s. Ich wusste nicht, ob ich mehr erwarten sollte, denn immerhin hatte er mich einfach ins kalte Wasser geworfen. Wenn ich mich bis auf die Knochen blamiert hätte, wäre er sofort einen Kopf kürzer gewesen. Nun aber stand er neben mir, nickte zur Zustimmung bei den Ausrufen und blickte mich völlig normal an. Als würden wir im Garten sitzen und uns über Maschendrahtzäune unterhalten. Also irgendwie… reichte mir seine Reaktion nicht aus, aber was ich stattdessen wollte, konnte ich auch nicht direkt sagen. Aber vielleicht hatte ich auch nur etwas übersehen? Also durchforstete ich seinen Augen nach etwas, doch er zwinkerte mir wieder nur zu. Seufzend gab ich auf. to be continued Dieses Kapitel hat mir echt Kopfzerbrechen bereitet. Es ist verdammt schwer, das aufs Papier zu bringen, was einem im Kopf rumgeistert. Allerdings habe ich bei der Vorführung der Taichiübungen aufgegeben und auf die Beschreibungen verzichtet. Wer sich dafür interessiert, wie sie aussehen und es nicht kennt, kann sich das anschauen: http://www.youtube.com/watch?v=POgxkDLd544&feature=related Besonderer Dank geht an für das Betan trotz des Stresses in der Uni *flausch* Kapitel 3: Lichtermeer ---------------------- Kapitel 3: Lichtermeer „Das war unglaublich!“, wiederholte sich Tristan schon zum sechsten Mal. „Ich wusste gar nicht, dass man mit einem Fächer so tanzen kann“, murmelte Joey und die Mädels kreischten ständig etwas von >Anmut und Eleganz<. Sogar Harumi hatte entsetzt geschaut, denn es lief scheinbar alles anders, als sie erhofft hatte. Nur Yami musste wieder mal aus der Reihe tanzen. Denn er hatte sich bisher noch nicht geäußert. Er hatte Applaus geklatscht und mir zugezwinkert, doch das war´s. Ich wusste nicht, ob ich mehr erwarten sollte, denn immerhin hatte er mich einfach ins kalte Wasser geworfen. Wenn ich mich bis auf die Knochen blamiert hätte, wäre er sofort einen Kopf kürzer gewesen. Nun aber stand er neben mir, nickte zur Zustimmung bei den Ausrufen und blickte mich völlig normal an. Als würden wir im Garten sitzen und uns über Maschendrahtzäune unterhalten. Also irgendwie… reichte mir seine Reaktion nicht aus, aber was ich stattdessen wollte, konnte ich auch nicht direkt sagen. Aber vielleicht hatte ich auch nur etwas übersehen? Also durchforstete ich seine Augen nach etwas, doch er zwinkerte mir wieder nur zu. Seufzend gab ich auf. Ich ging davon aus, dass das Fest sich so langsam dem Ende nähern würde, doch da hatte ich falsch gedacht. Nach meinem (Gott sei Dank!) Blamage freiem Auftritt wurde die Musik lauter gedreht und viele Menschen füllten die Tanzfläche. Die Stimmung war auf dem Höhepunkt, jeder lachte, trank Bowle von Mai, die sie fässerweise schon Wochen vorher aufgesetzt hatte (wo ich mich immer noch fragte, wie sie die hierher transportiert hatte) und ich… ja ich saß am Tisch, mein Gesicht auf meine Handinnenfläche gestützt und hielt mich ebenfalls an Mais Bowle fest. Es war nicht so, dass mich das alles nicht interessierte – ganz im Gegenteil. Ich hatte die Auswahl bei Serenity und Mai zuzuhören, die sich angeregt über die neuen Schuhe im Stadtzentrum unterhielten oder Tristan und Joey, deren Gesprächsthemen sich seit einer geschlagenen Stunde nur auf Autos und deren Zubehör beschränkten. Ich entschied mich für die Mädels und hatte inzwischen gelernt, dass Strasssteine an Schuhen zwar toll aussahen, aber sie nicht lange hielten. Seufzend griff ich nach meinem Glas und stellte enttäuscht fest, dass es schon wieder leer war. Na toll. Für Nachschub müsste ich aufstehen – dann würde ich aber mit großer Sicherheit wanken und bei meinem Glück Leute umrennen. Also blieb ich sitzen und schielte sehnsüchtig zur Bowle, die nur wenige Meter von mir an einem Büffettisch stand. Seltsamer Weise standen aber dieses Mal mehrere Glasgefäße nebeneinander – war es vor einigen Minuten nicht nur eins gewesen?! Irritiert rieb ich meine müden Augen, blickte erneut hinüber… aber wenn ich die Augen zukniff, war es wieder eins. Seltsam. Angewidert schob ich mein leeres Glas ein Stück von mir weg. Ich hatte eindeutig genug getrunken. Ich wurde kurz von Serenity abgelenkt, die laut aufkreischte, entzückt in die Hände klatschte und heftig nickte. Ich tat es in meinem benebelten Gehirn als unwichtig ab und erschrak, als ich plötzlich in zwei rubinrote Augen blickte. Unbemerkt hatte sich Yami neben mich gesetzt und grinste mich an. Er sah erschöpft aus, wollte es aber scheinbar überspielen, denn mit Elan griff er nach meinem leeren Glas und deutete auf das Büffet. „Ich werde mal die Luft rauslassen.“ Sofort wollte ich protestieren, erinnerte mich aber rechtzeitig an meinen Umstand und biss mir auf die Zunge, mit der ich wahrscheinlich eh nur lallen würde. Also nickte ich nur leicht und sah untätig zu, wie ich einem besoffenen Zustand immer näher rückte. Nur wenige Augenblicke später stand vor mir ein volles Glas und neben mir saß Yami, der wie ein kleiner Junge mit den Früchten im Alkohol spielte. So ein Fruchtpieker war schon was Feines. „Warum tanzt du nicht?“ Grummelnd schielte ich zu der Tanzfläche und schüttelte den Kopf. So weit kommt es noch, dass ich mich zum Affen machte. Ich war schon froh, dass ich mir nicht die Beine beim Fächertanz gebrochen hatte. Warum also das Glück mehrfach heraus fordern? Schnell musste ich das Thema wechseln, sonst würde der mich noch einfach hinauf schubsen. Nur wie sollte ich mich artikulieren? Panisch kaute ich auf meiner Unterlippe und zu allem Überfluss musste ich auch noch dringend auf die Toilette. Das wäre natürlich ein wunderbarer Grund gewesen, ungesehen für eine halbe Stunde zu verschwinden, um nüchtern zu werden. Jedoch wäre es keine gute Idee leicht angetrunken durch die Menschenmenge zu wanken. Also blieb mir nichts anderes übrig, als die Beine zusammen zu kneifen und nicht an Wasserfälle zu denken. „Was ist los? Du bist so verspannt.“ Gott, kann der Kerl mich nicht eine Sekunde in Ruhe lassen? Wie zum Geier soll ich ihm denn antworten, ohne mir die Blöße zu geben? Normaler Weise bin ich nicht von wenigen Gläsern angetrunken, aber ich hatte heute kaum etwas gegessen und… mehr Ausreden fielen mit nicht ein. Ich konnte seinen musternden Blick förmlich auf meinem Seitenprofil spüren und musste schlucken. Hoffentlich übersieht er meine verräterische Röte an meinen Wangen. „Du bist angetrunken!“, stellte er belustigt fest und grinste eine Spur breiter. Treffer. Meine Wangen wurden eine Spur dunkler und kniff noch fester die Beine zusammen. „Musst du auf die Toilette? Sie sind hinter dem DJ-Pult gleich links.“ Jaaaa doch, ich weiß das!! Leider war mein Gesicht scheinbar ein offenes Buch, denn plötzlich fing er leise an zu lachen. Der leichte Bass seiner Tonlage vibrierte in meinen Ohren und ich schob es auf den Alkohol, dass mir dabei eine Gänsehaut über den Rücken wanderte. „Du hast Angst, Tische umzurennen.“ Ertappt spielte ich mit meinem Daumennagel und vermied es weiterhin, ihn anzusehen. „Na dann muss ich mich aber mich ins Zeug legen, um dich einzuholen, denn ich habe nun Feierabend!“ Zur Bestätigung nickte er sich selbst zu, trank seine Bowle in einem Zug aus und als er auch noch nach meinem Glas griff und es an seine Lippen setzte, machte ich große Augen. Ohne es zu wollen, schoss mir eine Szene durch den Kopf, als ich noch in der Grundschule war. Seinen Seitenblick zu mir übersah ich dabei. Ein Mädchen bot mir im Sportunterricht ihre Wasserflasche an, die ich dankend annahm. Plötzlich kicherte sie los „Wusstest du, dass es gerade ein indirekter Kuss ist?“ Das Wasser flog in hohem Bogen aus meinem Mund und die Röte schoss mir ins Gesicht. Natürlich war so etwas total kindisch und wenn ich es Yami erzählen würde, würde er mich doch auslachen. Also tat ich so, als würde es mir nichts ausmachen und ignorierte das kleine Stimmchen in meinem Hinterkopf, was mich ärgerte, warum ich gerade bei ihm an so etwas denken musste. Doch ich hatte nicht mit Yamis neckischer Seite gerechnet, denn nun beugte er sich zu mir rüber. Ich konnte sein Aftershave riechen und ohne es zu wollen, begrüßte mich die Gänsehaut erneut an meinem Rücken. „Wusstest du, dass das gerade ein indirekter Kuss war?“ WAS? Ruckartig drehte ich mein Kopf zu ihm und schaute entsetzt in seine Augen, die mich warm anblickten und für meinen Geschmack zu nahe waren. Also versuchte ich auf Abstand zu gehen und rückte mit dem Stuhl soweit es ging nach hinten. Jedoch war nach wenigen Zentimetern schon die Zeltwand. Er reagierte aber schneller als mein benebeltes Hirn, legte seinen Unterarm auf meine Stuhllehne und war wieder nur eine halbe Armlänge von mir entfernt. Irgendetwas sagte er. Ich sah, dass sich sein Mund bewegte, aber in meinen Ohren rauschte das Blut so laut – sein Duft lullte meine vom Alkohol übrig gebliebenen Sinne ein und seine leicht glänzenden Lippen machten mich wahnsinnig. Benommen sprang ich von meinem Stuhl auf und versuchte die Flucht nach hinten. Nur schemenhaft registrierte ich seine weit aufgerissenen Augen und schlüpfte unbeholfen durch eine Lücke des Stoffes der Zeltwand und fand mich zwischen unzähligen Kisten und Kabeln wieder. Tolle Flucht, Yugi, du hast dich selbst in eine Falle manövriert. Denn ich war umzingelt von den Kisten. Sie waren so eng beieinander gestellt, dass es keine Lücke gab, wo ich mich selbst nicht mit eingezogenem Bauch hätte durchquetschen können. Fieberhaft überlegte ich, ob ich nicht einfach über die Kisten klettern sollte, als es hinter mir raschelte und Yami auftauchte. Ich konnte durch das schummrige Licht nur seine Konturen erkennen, wie er einen Schritt auf mich zu ging und ich nun wirklich endgültig in der Falle saß. Alles drehte sich und ich fand nur halt an den Kisten hinter mir. Beinahe wäre ich auch noch über ein Kabel gestolpert. „Was ist denn los? Warum rennst du vor mir weg?“ Seine Stimme klang monoton und fast normal, dennoch stand er mir im Weg. „Mir wurde nur alles zu viel und brauchte frische Luft.“ Selbst in meinen Ohren klang die Ausrede flach, daher wunderte es mich nicht, dass Yami nichts sagte. Wahrscheinlich zog er vor Unglauben sogar eine Augenbraue hoch. Ich wollte an ihm vorbei huschen, achtete aber nicht auf den Kabelwirrwarr auf den Boden, verhedderte mich mit meinen Füßen darin und prallte gegen seinen Oberkörper. Es verging nicht mal eine Sekunde, da hatte er mich schon zurück an die Kisten gelehnt und überbrückte den letzten Schritt zu mir. Nun stand er schon wieder so dicht bei mir, dass sein Duft in meine Nase wehte. Ohne es zu wollen, atmete ich diesen tief ein, was mich leider nur noch benommener machte. Mein Kopf schaltete sich völlig ab. Ich fragte mich nicht, warum er so handelte, oder worauf das hinaus lief. Ich ließ es nur auf mich zukommen und starrte ihn mit glasigen Augen an – versuchte in der Dunkelheit sein Gesicht zu erkennen. „Diesen Fächertanz musst du mir bei Gelegenheit beibringen. Das sah echt gut aus.“ Bääm. Ohne es zu wollen entgleisten meine Gesichtszüge. Im Nachhinein wurde mir erst bewusst, dass ich mit etwas anderem gerechnet, nein, sogar gehofft hatte. Doch ich ließ mir nichts anmerken und zuckte gleichgültig mit den Schultern. Ich wollte, dass es wie >sicher< aussah, aber irgendwie ging es schief, denn Yami lachte wieder in dieser tiefen Basslage, was mir durchs Mark und Bein ging. „Deine Gesten passen nicht zu deinem Gesicht, Yugi. Wenn du nicht willst, dass ich in dein Innerstes sehe, sollten deine Augen ausdruckslos sein.“ Aha. Spätestens da fühlte ich mich völlig verarscht. Welcher normale Mann verhielt sich denn bitte so? Erst dieses Gequatsche von indirektem Kuss, dann watschelte er mir ungefragt hinterher nur um mich mit seiner Nähe noch wuschiger zu machen und dann haute er solche Sätze raus! Ich stand hier völlig hilflos, seiner Hand ausgeliefert und sogar leicht angetrunken und er fragte nach Tanzstunden. Verwirrt blickte ich schnell zur Seite. Ich wunderte mich selbst über meine Gedanken. Was hatte ich denn bitte erwartet? Mein Verstand spielte mir scheinbar Streiche, denn ein Wort schwirrte mir durch den Kopf. >Kuss< Überrumpelt drückte ich ihn zurück, wo er einen halben Schritt auf Abstand gehen musste und ich versuchte meinen Kopf wieder klar zu bekommen. Das geht nicht, Yugi!, rügte ich mich selbst. Yami war ein Mann, genau wie ich! Der Alkohol brachte wohl meine Hormone in Wallung, dass ich mir schon einbildete, meinen Nachbar küssen zu wollen. Wenn er eine Frau gewesen wäre, könnte ich es auf Zuneigung schieben. Nein Moment, das war falsch. Für Yami empfand ich auch Zuneigung, aber bestimmt nicht so, wie es bei einer Frau gewesen wäre. Oder etwa doch? Innerlich raufte ich mir die Haare und wusste nicht mehr, was richtig oder falsch war. Oder gab es da überhaupt ein Richtig oder Falsch? ARGH! Yami half bei meinem innerlichen Kampf auch nicht gerade, denn er legte den Kopf schief und schien mich zu mustern. Am liebsten hätte ich wenigstens seinen Blick gesehen um erkennen zu können, was er dachte. Doch selbst das blieb mir verwehrt. Selbst die schemenhaften Umrisse reichten schon, um meine Gedanken in eine völlig falsche Richtung zu lenken. Denn in diesem Augenblick sah er verdammt gut aus. „Was ist los?“, fragte er vorsichtig, doch ich konnte nur „Platzangst“ zwischen meinen Lippen hervor pressen. Für mehr hätte meine Luft nicht gereicht. Der Kerl raubte sie mir völlig. Ich wagte es kaum zu atmen aus Angst, wieder sein Aftershave riechen zu können. Wie zum Geier sollte man denn da einen klaren Kopf bekommen?! Glücklicher Weise wehte dieses Mal nur ein leichter Geruch der Bowle zu mir herüber und ich fragte mich, wie viel er heimlich während der Arbeit getrunken hatte. So nüchtern schien er auch nicht zu sein, sonst würde er einem anderen Mann nicht so (unbewusst?) zu nahe treten. „Warum wolltest du nicht tanzen?“ Irritiert befeuchtete ich meine trockenen Lippen. „Wieso, hättest du mich denn zum Tanzen aufgefordert?“ Er überbrückte den halben Schritt zu mir und ich konnte nicht mehr zurück weichen. Die Kisten hinter mir bohrten sich schon in mein Rücken. „Ich frage mich, ob“, er hielt kurz inne und in der Stille konnte ich meinen verräterischen Herzschlag deutlicher hören. „Unter gegebenen Umständen … es angemessen ist, wenn ich dich bitte zu tanzen.“ Lautes Lachen drang durch die Zeltwand und eine kleine Gruppe an Menschen ging hinter Yami vorbei. Durch den weißen Stoff blieben sie verborgen, genau wie wir. Freiwillige Kellner gingen von Tisch zu Tisch und entzündeten die Schwebelichter neu. Kleine Kerzenlichter glimmten im Hintergrund auf und warfen nun ein schwaches Licht durch das dichte Gewebe – direkt auf sein Profil und seine Handinnenfläche, die er mir entgegen hielt. Er blickte mich so sanft an, als wäre ich etwas faszinierendes, was er noch nie zuvor gesehen hätte. In diesen Augenblick fühlte ich mich einzigartig und daraus schöpfte ich den Mut, leicht zu nicken. Ich zögerte kurz, ehe ich meine Hand in seine legte. Sofort umgriff er sie, zog mich langsam zu sich, legte mir einen Arm um meine Taille, behielt aber meine Hand in seine an seinen Oberkörper gedrückt, während wir uns im Takt der Musik bewegten. Sie war langsam und romantisch. Kitschige Gedanken schossen durch meinen Kopf, als wir die ganze Zeit den Blickkontakt aufrecht hielten und man hätte meinen können, ein verliebtes Pärchen habe sich nur eine ruhige Ecke gesucht, um ungestört sein zu können. Nie zuvor hatte ich mit einem Menschen so eng getanzt, doch es fühlte sich unbeschreiblich an, die Wärme des anderen Körpers an sich zu spüren. Ohne es zu wollen, legte ich meine Stirn an seine Schulter und selbst als ich mir der Situation bewusst wurde, löste ich mich nicht, denn so konnte ich die verräterische Röte auf meinen Wagen verbergen. Ich fragte mich nicht mehr, welche Beweggründe er hatte, sondern genoss einfach den Moment der Nähe. Schob die unbequemen Gedanken beiseite, die eine Antwort verlangten. Nicht nur von ihm, sondern auch von mir selbst. Als sein Daumen begann, meinen Handrücken entlang zu streichen, konnte ich ein Seufzen nicht mehr unterdrücken. Durch diesen Laut aus meinen Gedanken geschreckt, wollte ich mich von ihm lösen, doch die Hand an meiner Taille verschwand, nur um sich warm an meinen Nacken zu legen. Mit leichtem Druck behielt er meinen Kopf an seiner Schulter. Ich konnte seinen Atem an meinen Haaren spüren und schloss die Augen. Schon viel zu lange konnte ich mich nicht mehr so gehen lassen und genoss es, wie die Last von Stress nach und nach von meinen Schultern bröckelte. Es war so angenehm, dass ich nicht einmal bemerkte, wie Yami der Einzige war, der sich im Takt der Musik bewegte, während ich einfach nur entspannt in seinen Armen lehnte und mich mitziehen ließ. Im Nachhinein konnte ich nicht mehr sagen, wie lange wir in dieser kleinen Nische zwischen Kisten, Kabel und Staub getanzt hatten. Es kam mir wie eine kleine Ewigkeit und dennoch viel zu kurz vor. Wir hatten nicht weiter geredet, bewegten uns einfach nur aneinander gelehnt und wie ein Schwamm sog ich alles in mich auf, bis wir schließlich wieder zu unserem Tisch gingen, wo unser Fehlen nicht aufgefallen war. Wir saßen wieder nebeneinander, als wäre eben nichts vorgefallen. Als wären wir nur auf Toilette gewesen. Sofort schaltete sich eine kleine Stimme ein, die mich penetrant fragte, was denn vorgefallen sein sollte. Wir hatten nur getanzt, mehr nicht. Unter Freunden war doch so ein Verhalten üblich. Aber wieso fühlte es sich anders an? Wieso wollte ich, dass es sich anders anfühlte? Verzweifelt versuchte ich meinen stoischen Gesichtsausdruck unter Yamis wachsamen Augen zu wahren, was mir aber von Sekunde zu Sekunde schwerer fiel. Ich war kurz davor, Yamis Kopf mit meiner Handfläche weg zu drehen, doch es wurde mir abgenommen, indem Joeys Stimme durch das Zelt hallte. Ich blickte zum D.J.-Pult. „Da nun alle einige Tränke intus haben, wird es nun Zeit für unsere alte Tradition. Also Kinder, auf zur Tanzfläche!“ Es setzte ein Lied ein, das mich an alte Ranches und deren Farmer erinnerte. „Whiskey´s gone!“, rief Serenity begeistert und klatschte in die Hände. Sofort kippte die Stimmung und die Kleinen, die die ganze Zeit ruhig bei ihren Eltern waren, stürmten zur Tanzfläche. Sie stellten sich in mehrere Reihen nebeneinander auf und fingen an, mit den Füßen im Takt der Musik zu bewegen. „Line Dance.“, flüsterte mir Tristan ins Ohr. Es kam mir vage bekannt vor, aber die Kinder schienen ihren Spaß dabei zu haben, denn ihr Lachen drang in jede Ecke, begleitet von den Tritten auf dem Boden, was sie synchron stampften. Mein Blick schweifte über die >kleinen Tänzer< und blieb an einem Mädchen hängen, was etwas unschlüssig am Rand stand und sich nicht ganz traute, sich zu bewegen. Die Eltern, nur wenige Meter entfernt, versuchten sie zu animieren, was aber nicht ganz gelang. Ihr Gesicht sprach Bände, denn fast schon trotzig schüttelte sie ihren schwarzen Haarschopf. Yami schien gemerkt zu haben, auf was meine Aufmerksamkeit nun lag, denn er seufzte. „Das ist Amelia. Sie hatte sich vor zwei Jahren das Bein gebrochen und seitdem tanzt sie nicht mehr.“ Ich brauchte gar nicht nachzufragen, denn mein Bauchgefühl verriet mir, dass es beim Erntefest passiert sein musste. Ich war angetrunken, im Kopf ein wenig benebelt und noch völlig aus der Bahn geworfen, aber genau die Faktoren verursachten bei mir, dass ich meinen Stuhl zurück schob, mich hinter Yami um den Tisch schlängelte und auf die Tanzfläche zu schritt - kam direkt neben dem Mädchen zu stehen. „Na dann los..“, murmelte ich mir selbst zu und versuchte, mich an den anderen Kindern zu orientieren, was natürlich ordentlich in die Hose ging. Ich konnte weder die Schritte, noch konnte ich mich im Takt halten. Ständig stolperte ich über meine Holzschlappen und rempelte beinahe die Jungs und Mädels um mich herum an. Amelia hingegen schien es zu amüsieren, denn sie fing leicht an zu grinsen. „Aber das ist doch kinderleicht“, sagte sie voller Elan, kam näher und zeigte mir langsam die Schritte. Etwas verlegen kratzte ich mir die Wange. Bei den Kindern sah es so leicht aus… Als plötzlich die ganze Meute um mich herum, auf dem Stand hüpfte und sich umdrehte um mit den Rücken zu den Gästen weiter zu tanzen, kam ich völlig durcheinander. Amelia lachte lauter und zeigte mir voller Stolz, was sie konnte. In den zwei Jahren schien sie keinen einzigen Schritt verlernt zu haben und ich klatschte bewundernd in die Hände. Mehrere Lieder hindurch führte ich mich auf wie ein Elefant im Porzellanladen, doch es schien niemanden zu stören. Die Kinder hatten an meinen Versuchen Spaß und die Erwachsenen, die uns zusahen scheinbar auch. Als schließlich die letzten Töne von „Oh, Susanna“ aus der Anlage dudelten, wollte ich mich heimlich davon schleichen. Mir taten die Füße weh und die Holzschlappen an meinen Sohlen waren für solche Tanzabende nicht gemacht, doch da hatte ich nicht mit dem Willen der Kinder gerechnet. Ich kam nur wenige Schritte weit, als sich ein kleiner Junge vor mich stellte, den ich von der Arztpraxis kannte. Er grinste mich mit seinen strahlenden Milchzähnen an, was die kleine Zahnlücke zwischen seinen Vorderzähnen betonte. „Herr Muto, Sie wollen schon gehen? Aber wir haben Ihnen noch gar nicht alles gezeigt!“, und schon wurde ich wieder zur Tanzfläche gezerrt. Spürte weitere Kinderhände an meinen Rücken und Hintern, die mich ebenfalls unbarmherzig in die Mitte drückten. Verzweifelt warf ich einen Blick über meine Schulter, auf der Suche nach einem rettenden Erlöser, aber niemand schien gewillt zu sein einzugreifen. Ich sah noch im Augenwinkel, wie Yami unter unseren Tisch griff. Tristan deutete auf mich, lachte und bückte sich ebenfalls. Nette Freunde, schoss es mir durch den Kopf und fügte mich seufzend meinem Schicksal. Also reihte ich mich wieder in die Gruppe und versuchte die Schritte nachzumachen, die mir von den Kindern vorgezeigt wurden. Als auch dieses Lied zu Ende war, wollte ich die Gunst der Stunde nutzen und mich klangheimlich aus dem Staub machen, aber da hatte ich die Rechnung ohne die Einwohner gemacht. Es begann erneut die Melodie von „Whiskey´s gone“ und sofort erhoben sich fast alle Leute. Die Kinder machten bereitwillig Platz, indem sie zur Seite gingen. Sofort wollte ich ihnen folgen, wurde aber vom Bürgermeister aufgehalten. Dieser hatte seine feinen Schuhe mit Cowboystiefel getauscht, die bei jedem Schritt durch die Sporen rasselten. „Sie bleiben hier. Jetzt können sie Ihr Erlerntes einsetzen.“ Entsetzt starrte ich ihn an und wollte schon zum Protest ansetzen – die Wörter blieben mir aber im Halse stecken, als Yami mit den anderen ebenfalls die Tanzfläche betrat. Sie hatten sich Cowboyhüte aufgesetzt und zwinkerten mir verschwörerisch zu. Ich ahnte böses und wollte nun erst recht die Flucht antreten, als mich Yami gerade noch am Ellenbogen erwischte und unbarmherzig zurückzog. „Nix da! Du bist nun ein Teil der Gemeinschaft, also tu auch was dafür.“ „Aber ich habe doch schon Auflauf mitgebracht!“, versuchte ich es und würgte ein „und Salat“ noch hervor. Langsam ergriff mich die Panik und schnürte mir den Hals zu. Ich hasste Menschenmassen und ich bekam das Gefühl, als würde jeder Körper näher rücken und mich noch mehr einengen. Bei den Kindern konnte ich wenigstens über die Körper schauen, sie gingen mir ja nur bis zur Brust. Dadurch, dass ich aber nicht gerade der Größte war, sah ich aus wie ein Mensch unter Riesen. Doch Yami lachte nur, stellte sich neben mich. Joey kam auf die andere Seite und die Mädels vor mir. Na klasse – eingekesselt. Tristan hingegen blieb am Tisch sitzen und grinste mich so schadenfroh an, dass ich nicht anders konnte, als beleidigt die Backen aufzublasen. „Und was ist mit ihm?“, fragte ich und deutete mit dem Kinn in die Richtung des Verräters. „Tristan hat eine andere Aufgabe.“ Gerade als ich fragen wollte, welche, stand er schon auf und winkte mit einer Kamera. „Das ist unfair. Ich habe zwei linke Füße.“, jammerte ich nicht gerade meinem Alter entsprechend, aber Yami ließ sich auch nicht gerade davon erweichen. „Du hast schon bewiesen, dass das nicht so ist.“ Ohne es zu wollen schoss mir die Röte ins Gesicht. „Na dann habe ich meinen Beitrag für das Tanzen schon geleistet.“ Doch wieder schüttelte er den Kopf. „Das zählt nicht. Damit hast du nur dein Misstrauen in uns wieder gut gemacht.“ Ja sag mal, was wollte der Kerl denn noch?! Fast schon sauer entriss ich ihm meinen Arm. „Und was ist mit dem Tanz vorhin?“ Von der anderen Seite spürte ich den fragenden Blick von Joey, doch Yami schien ganz genau zu wissen, worauf ich anspielte. Denn er nahm den Cowboyhut ab und setzte ihn mir lachend auf. „Auch das zählt nicht, Yugi. Und jetzt zier dich nicht so.“ Gerade als ich wieder fragen wollte, warum, wurde ich von einem grellen Licht geblendet und aus dem Konzept gerissen. Tristans Grinsen war so breit, das er es sich glatt einmal um das Gesicht wickeln könnte, als er die Kamera senkte. Noch bevor ich ihn zu fassen bekam, verschwand er schon wieder in der Menge. Im Grunde hätte ich mir die Panik auch sparen können. Ich wurde nicht mal ansatzweise eingeengt, denn Yami links und Joey rechts neben mir hielten die Menge auf Distanz, indem sie einen Meter von mir entfernt standen und die Mädels vor mir ebenfalls. Natürlich redete ich mir ein, dass sie es nur taten, weil sie so etwas wie Instinkt hatten, wie es mir ging. Dass sie es nur taten, damit ich ihnen nicht in die Hacken latschte fiel mir in dem Moment nicht ein… Das Fest neigte sich langsam dem Ende zu und nach stundenlangem Line Dance saß ich endlich wieder am sicheren Tisch. Doch anstatt es nach und nach leerer wurde, schienen alle auf etwas zu warten. Viele Kinder saßen inzwischen auf dem Schoß ihrer Eltern und schliefen fest mit dem Kopf an deren Brust vergraben, während sich die Erwachsenen leise unterhielten. Yami stand vom Tisch auf und verschwand hinter einer kleinen Menschentraube. Kurz überlegte ich, ihm einfach hinterher zu laufen, doch ich besann mich eines Besseren. Nur kurze Zeit später tauchte er mit mehreren Schwebelichtern wieder vor mir auf, reichte mir eins und gab Mädels und den beiden Jungs auch eins. Serenity begann zu strahlen und fing sofort an in ihrer Tasche zu kramen. „Ist es soweit?“, fragte Mai, worauf Yami lächelnd nickte. Als er bemerkte, dass ich mich nicht rührte, sondern einfach nur das Schwebelicht anstarrte, beugte er sich zu mir rüber. „Kennt ihr diesen Brauch in Japan nicht?“ Wenn er mir noch sagen würde, welchen er meinte, könnte ich ihn vielleicht auch antworten. Also schüttelte ich verlegen den Kopf. Während er in die Runde zeigte, fing er an zu erzählen. „Jeder bekommt ein Schwebelicht an einem Bändchen und schreibt seinen größten Wunsch auf ein Stück Papier, um es an die Schnur zu binden.“ Die schlafenden Kinder wurden geweckt und strahlten um die Wette, als sie die Lichter erblickten. Jeder sah so glücklich aus, dass es mein Herz erwärmte. Ich entdeckte sogar die Frau mit ihrem Kind, die vor einigen Tagen bei mir in der Praxis war und unbedingt Antibiotika haben wollte. Sie war wie ausgewechselt und lächelte ihrem Kind nur zu, während es wie selbstverständlich nach dem Feuerzeug griff und das Licht im inneren der Papierkugel entzündete – unter dem wachsamen Blick seiner Mutter. „Wir versammeln uns dann auf dem Parkplatz und lassen gleichzeitig die Lichter los, um sie gemeinsam in den Himmel zu schicken. Die Wünsche, die wieder auftauchen und von Jemandem gefunden wurden, werden am Brunnen in der Stadtmitte an der Steinmauer befestigt. Nach unserem Glauben werden diese Wünsche bis zum nächsten Erntefest in Erfüllung gehen.“ Ich konnte nichts dazu sagen. Es war einer der schönsten Bräuche, die ich jemals gehört hatte und nahm dankend einen Zettel und Kugelschreiber von Joey an… und stoppte, kurz bevor die Spitze den Zettel berührte. Was sollte ich mir wünschen? Mein Blick schweifte zu der kleinen Runde am Tisch in der Hoffnung, Hinweise zu erhalten. Beobachtete, wie Tristan Joey scherzhaft in die Seite boxte, Mai noch etwas auf ihren Zettel schrieb, während Serenity schon eifrig daran war, ihren an die Schnur zu knoten und blieb an Yami hängen, der dabei war, sein Licht zu entzünden. Sein kleines Licht erhellte unseren gesamten Tisch und tauchte jedes Gesicht in einen warmen Gelbton – unterstützte nur diese Unbekümmertheit, die ich zum ersten Mal seit sehr langer Zeit wieder fühlte. Was also sollte ich mir wünschen, wenn ich bereits wunschlos glücklich war, hier unter neuen Freunden? Ohne es zu wollen, tauchten vor meinem inneren Auge die alten Bilder auf. Die Bilder, vor denen ich eigentlich geflüchtet war und in ein kleines Dorf zog. Was wäre, wenn es mir hier genauso erging wie in Japan? Wenn mich diese Probleme aus der Vergangenheit einholten? Ich zögerte nicht einen Moment, als ich nur ein Wort auf den Zettel schrieb. Akzeptanz. Wie Yami es beschrieben hatte, versammelten sich alle auf dem Parkplatz. Viele waren auf die Dächer ihrer Autos gestiegen, die sie vorher mit einer Decke überworfen hatten. So wie auch wir. Ich stand auf meinen kleinen Mini, neben mir Mai, die sich sogar die Schuhe ausgezogen hatte, um den Lack nicht zu beschädigen. Joey und Serenity standen direkt hinter uns, neben der Fahrertür und wenige Meter entfernt Tristan mit Yami, die auf die Ladefläche von Yamis kleinen, verrosteten Truck geklettert waren. Mein Licht hielt ich fest umklammert. Ich wollte es nicht aus Versehen zu früh los lassen und diesen schönen Moment versauen. Ein kleiner Junge der auf dem Arm seines Vaters war, passierte genau dieses Missgeschick. Ihm entglitt das Licht, griff mit seinen kleinen Fingern ungeschickt nach der Schnur, bekam nur seinen Wunsch zu fassen. Das Licht stieg höher, der Zettel jedoch in der Faust des Jungens, der nun leise wimmerte. Selbst der Vater versuchte noch, es zu erhaschen, doch was ihm nicht gelang, schaffte Yami, der mit einem Satz in die Luft sprang und durch seine erhöhte Standposition die Schnur locker erreichte. Normaler Weise würde ich nun mit den Augen rollen und >Angeber< denken, doch die Augen des Kindes glitzerten so glücklich und dankbar, dass man gar nicht anders konnte, als ihn ein wenig zu bewundern. Nicht jeder hätte so schnell reagiert und ich hatte schon oft die Hilfsbereitschaft dieser kleinen Gemeinde unterschätzt. Alle waren still und schienen auf etwas zu warten. Gerade als ich Mai fragen wollte, worauf, bekam ich die Antwort. Wie von Zauberhand lösten sich die Schwebelichter von den Ästen der Bäume um uns herum und schwebten langsam immer höher. „Jetzt“, flüsterte mir Mai zu, während sie ihres losließ. Es war ein wunderschöner Anblick, wie die Wünsche und Hoffnungen der Bewohner in Form von Lichtern erst ihre Gesichter streiften und sich dann zu den anderen über ihnen gesellten. Der kleine Junge lachte begeistert auf, als sein Licht das seines Vaters in der Luft anstupste. Zaghaft löste ich meine Finger von der Schnur und sah wie in Trance zu, wie es erst höher schwebte, dann von einem Windhauch geschoben zur Seite trieb und sich das Bändchen mit einem anderen verhedderte. Beide setzten ihren Weg gemeinsam fort und flogen langsam höher. Mein Blick schweifte zu dem Besitzer und traf direkt auf meinen Nachbarn, der mich erst erstaunt ansah, mich dann aber wieder so warm anlächelte, wie zuvor zwischen all den Kisten. Die Zeit um uns herum, begann sich in Zeitlupe abzuspielen, die Wunschlichter schwebten langsam um uns herum und warfen ein Licht auf Yami, das ihn noch unwiderstehlicher erscheinen ließ. Das Spiel der Muskeln seiner Arme, durch das hochgerollte Hemd leicht erkennbar, als er seine Hände in den Hosentaschen vergrub. Die Krawatte hing locker um seinen Hals und die obersten zwei Knöpfe waren geöffnet. Ich konnte meine Augen nicht von ihm losreißen und mir schlug das Herz bis zum Hals. Dieses Gefühl war für mich neu, es war beunruhigend und aufregend zugleich. Selbst Tage später konnte ich diesen Moment nicht aus meinem Gedächtnis streichen und immer wieder spukte mir auch das zweisame Erlebnis zwischen den Kisten im Kopf herum. Ich fragte mich, was Yami dabei dachte. Warum er sich dort so anders benommen hatte, als sonst. Wenn ich nicht so ein schüchterner Gänserich gewesen wäre, hätte ich ihn schon längst darauf angesprochen. Aber irgendwann würde ich es tun. Mit diesem Entschluss lebte ich meinen Alltag, benahm mich völlig normal. Und doch hoffte ich ein klein wenig, dass mein Nachbar von sich aus Andeutungen auf unseren Tanz machte… doch nichts geschah. Der werte Herr Sennen hielt es nicht für nötig, darüber auch nur ein Wort zu verlieren. Aber wirklich böse sein konnte ich ihm nicht. Er dachte sich nichts dabei, konnte ja nicht ahnen, was er damit in mir ausgelöst hatte und solange ich nichts sagte, würde er es wohl auch nie erfahren. Also grüßte ich ihn weiterhin jeden Morgen, winkte ihm freundlich zu, wenn ich ihn durch ein Fenster sah und verkroch mich nicht mehr Stuntman mäßig hinter Hecken. Abgesehen davon hatte ich auch ganz andere Sorgen, die meine Gedanken zerstreuten. Und zwar das anstehende Grillen, das dieses Mal in meinem Garten stattfinden sollte… mit Fleisch! Mir graute es davor, auch nur eine Metzgerei zu betreten, wie sollte ich es da schaffen, rohes Fleisch auf den Grill zu legen? Seit Jahren konnte ich mich erfolgreich drücken, es auch nur zu berühren. Aber ich hatte da eine kleine Idee. Ich gaukelte ihnen einfach vor, es sei Fleisch, dabei war es Tofu. Und wenn es ihnen schmeckte, holte ich mit erhobenem Haupt die Verpackung hervor und rieb ihnen unter die Nase, was sie gegessen hatten. Dann würden sie keine Witze mehr machen. Zumindest war das der Plan. Die Umsetzung war wieder ein ganz anderes Thema. Also fuhr ich am Freitag vor dem Grillwochenende in den kleinen Lebensmittelladen und plünderte das gesamte Tofu Angebot. Ich war noch von Japan so verwöhnt, das ich große Auswahl erwartete, aber sie hatten nur wenige Sorten. Doch auch das versetzte meinem Plan nur einen minimalen Rückschlag. Denn wenn man es richtig würzte, würden sie keinen Unterschied feststellen können. Voller Elan plünderte ich auch das Biersortiment in Joeys Kiosk. Natürlich hätte ich es auch in dem Lebensmittelladen besorgen können, aber es schien mir irgendwie nicht richtig. Jeder Geschäftsinhaber ist auf jede noch so kleine Einnahme angewiesen und so konnte ich den Blondschopf unterstützen, was er auch zufrieden zur Kenntnis nahm, indem er mir einige Chipstüten gratis in den Kofferraum stopfte. Den ganzen Abend war ich damit beschäftigt, die Reste meines Umzuges aus dem Weg zu räumen. Ich faltete die leeren Kartons zusammen und schob sie auf den Dachboden. Die Gartendekoration, die ich schon Anfang der Woche im Gartencenter der Stadt erbeutet hatte, verteilte ich auf meinem Rasen vor und hinter dem Haus und selbst die alten Gartenmöbel, die ich in der Garage gefunden hatte, wurden geschrubbt und aufgestellt. Nur ein Problem blieb: wohin mit dem Bier? So groß mein Kühlschrank auch sein mochte, es passte nicht mal eine Kiste rein. Doch darum wollte ich mich später kümmern. Seit ich hier in Churchill war, kam ich nicht dazu, meine Tai Chi-Übungen zu machen und der kleine Tanz bei dem Erntefest hatte mir nur zu deutlich gezeigt, wie sehr ich diese Entspannung vermisste. Also zog ich mir entschlossen die weiße Jacke an, die den klassischen Schnitt chinesischer Kleidung hatte, mit Stehkragen und schwarzen Knotenknöpfen. Nur nach meiner Hose musste ich etwas suchen. Sie lag nicht bei den anderen Sportsachen und ich sah mich schon nur in Boxershorts und Jacke, doch dann entdeckte ich sie zwischen meinen T-Shirts. Wie sie dahin kam, fragte ich mich lieber nicht. Ich schlüpfte in die Hose, wickelte mir den überlappenden Hüftbund fest um den Bauch, so dass sie eine große Falte hatte und zog mir meine typischen japanischen Socken an, wo nur der große Zeh abgetrennt wurde. Schnell schnappte ich mir meinen kleinen MP3-Player, steckte mir die Ohrstöpsel in die Ohren, betrat den Garten und atmete die warme Abendluft tief ein. Während ich langsam meinen Körper entspannte und die verschiedensten Techniken ausübte, lief mein Geist auf Hochtouren. In den ersten Minuten versuchte ich krampfhaft an nichts zu denken, aber die Erinnerungen kämpften verbissen um meine Aufmerksamkeit. Also versuchte ich mich auszutricksen, indem ich mich auf meine fließenden Bewegungen konzentrierte, aber auch das brachte nicht den gewünschten Erfolg. Immer wieder schossen mir einzelne Frequenzen durch den Kopf. Nur zu gut konnte ich mich an das bange Gefühl erinnern, das ich hatte als ich das Ortsschild von Churchill mit dem Umzugswagen passierte. Ich war voller Unsicherheit, die erst nachließ, als sich Joey förmlich aufdrängte und mich mit zu Yami schleifte. All meine Ängste schienen unbegründet. Sie waren freundlich zu mir, schauten großzügig über meine Fehler hinweg und selbst als ich mich wie der größte Trampel anstellte, verurteilten sie mich nicht – obwohl ich zu schnelle Urteile über Yami gezogen hatte. Man könnte es als wahren Glücksgriff bezeichnen. Langsam drehte ich mich auf meinen Ballen um und hob die Arme im Halbkreis, als ich das Gesicht von Yami vor Augen hatte. Warm lächelnd, freundlich und dieses kleine Grübchen, was sich dann immer in seinen Mundwinkel schlich, wenn…. stop!! Ruckartig wechselte ich die Stellung und verdrängte die Erinnerung. Dieses Spielchen lief mehrere Male, bis ich frustriert aufgab und sein Gesicht zuließ. Egal, was mir da mein Kopf sagen wollte – vielleicht half es ja, wenn ich einfach abwartete, was passierte. Doch leider überschwemmte mich mein Gehirn nicht nur mit Bildern, sondern auch mit Sinneseindrücken. Wie er roch, als wir im Kompost landeten. Wie es sich anfühlte, an seinen Oberkörper gelehnt zu tanzen und vor allem, was sein Blick alles in mir auslösen konnte. Zitternd setzte ich beide Beine fest auf den Rasen, krallte meine Zehen hinein und versuchte meine Atmung zu kontrollieren. Doch auch das gelang mir nicht. Wieder kroch Panik in mir hoch. Nicht schon wieder! Es durfte nicht noch einmal passieren, ich musste die Fassung bewahren… doch es gelang mir einfach nicht. Egal wie verzweifelt ich versuchte, mich dagegen zu wehren, umso heftiger kamen die Erinnerungen zurück, rissen mich fast um. „Hey Yugi, hier ist eine ganze Meute, die Fleisch und Bier will!“, ertönte es grölend hinter mir. Hektisch drehte ich mein Kopf um, blieb aber in der Tai Chi-Pose, die ich gerade vollführte und mir sackte mein Herz durch den Hüftbund, als ich in die fröhlichen Gesichter meiner Freunde blickte. Die Mädels hatten sich rausgeputzt und Tristan hatte ein riesigen Packen Fleisch unter seinen Arm geklemmt. Langsam keimte in mir der Verdacht auf, dass ich mich im Tag geirrt hatte. Und da war es wieder. Dieses verfluchte Gesicht. Lächelnd wie eh und je und mit einen Ausdruck in den Augen, den ich (oh, welch ein Wunder) nicht deuten konnte. Wie gern würde ich da in diesem Moment reinschlagen. tbc Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)