Promise von YourBucky ================================================================================ Kapitel 1: Erste Erinnerung - Schicksal ~ Fate ---------------------------------------------- Erste Erinnerung - Schicksal ~ Fate Der junge König schlenderte in Gedanken versunken den kleinen, von Blumen gesäumten Weg im Garten seines Schlosses entlang. Die Farbenpracht war nahezu überwältigend. Exotisch anmutende Blüten leuchteten neben kleinen, beinahe unscheinbaren heimischen Gewächsen. Dazwischen sorgten zarte Farne für eine märchenhafte Atmosphäre. Alles wirkte so, als wäre es ganz zufällig an seinem Platz gewachsen. Dass dies jahrelange Arbeit und genauste Planung erfordert hatte, sah man nicht mehr. Ein kleines Paradies auf Erden war entstanden, eine Oase der Ruhe, die dennoch voller Leben war. Die Parkanlage war so groß, dass jeder, der sich nach Einsamkeit sehnte, diese auch finden konnte. Und wer nicht allein sein wollte, konnte sich auf einer der Wiesen niederlassen, die Sonnenstrahlen genießen und mit Gleichgesinnten ein belangloses Gespräch über das süße Leben beginnen. Nicht nur ihre Majestät höchstpersönlich zog es an einem derart schönen Tag wie magisch ins Freie. Auch die zahllosen Bediensteten ließen ihre dringenden Aufgaben für einige Zeit ruhen und erholten sich in dieser zauberhaften Oase. Talitha und Sitara waren beide noch nicht lange am Schloss und so überwältigte sie die unglaubliche Schönheit dieses Ortes umso mehr. Kichernd liefen die beiden Mädchen über eine der zierlichen hölzernen Brückchen. Das sanfte Plätschern eines kleinen Wasserfalles begleitete sie. "Ist es nicht wundervoll?" Rief Talitha begeistert und warf sich ihre pechschwarzen Locken über die Schultern. "Dieses Schloss ist fantastisch! Ganz Belicia ist fantastisch!" "Wie Recht du hast!" Stimmte Sitara lachend zu. Sie warf ihrer übermütigen Freundin einen liebevollen Blick zu. "Weißt du, als mir meine Eltern erzählten, dass es hier im Sommer keinen Schnee gibt... ich konnte es zuerst gar nicht glauben! Aber jetzt... es ist noch viel schöner, als ich gedacht hatte!" "Oh ja! In Akai ist es nicht halb so schön!" Mit leuchtenden Augen ergriff Talitha Sitaras Hand und sprang ausgelassen den weichen Pfad entlang. Die beiden Mädchen waren schon von Kindesbeinen an Freundinnen gewesen. Sie ergänzten sich perfekt. Talitha war so ausgelassen und überschwänglich, dass sie nur allzu oft einen Menschen brauchte, der sie auf den Boden der Tatsachen zurückholte oder vor bösen Überraschungen bewahrte. Auch ihr aufbrausendes Temperament musste in etlichen Situationen gebremst werden - und dafür war Sitara einfach ideal. Sie war eher ruhig veranlagt und ziemlich schüchtern - deshalb hatte sie Probleme damit gehabt, Freunde zu finden. Manchmal musste man sie eben erst einmal ermuntern, sich an neue Situationen heranzuwagen oder sie aus der Nachdenklichkeit zu holen, die sie öfters befiel, als gut für sie gewesen wäre. Im Laufe der Jahre hatten jedoch beide reichlich aufeinander abgefärbt - und was sie schon immer verbunden hatte, war die Freude am Leben und an jeglichem Unsinn. Sitara spielte mit einer Strähne ihres endlos langen, dunkelbraunen Haares, dass ihr in sanften Wellen über den Rücken fiel. "Akai mag ich natürlich auch, aber es war schon ein unglaubliches Glück, dass wir nach Belicia - noch dazu an den Königshof gekommen sind. So eine Stelle kriegt ja nun wirklich nicht jeder. Wie gut, dass die beiden Länder Frieden geschlossen haben! Mutter hat mir viel vom Krieg erzählt und es muss furchtbar gewesen sein!!!" "Vergiss den Krieg!" Entgegnete Talitha mit feierlicher Stimme. Ihre dunklen Augen glitzerten vor Aufregung. "Heute ist unser Glückstag. Schau mal, wer da kommt!!!" Sitara blickte den Weg entlang, und nun riss auch sie die Augen überrascht auf. Direkt vor ihnen war der junge König aus einer Biegung des Pfades hervorgetreten. Das Herz des Mädchens schlug schneller. Sie hatte ihn noch nie in ihrem Leben so nah erlebt! Sie tauschte mit ihrer Freundin einen begeisterten Blick aus, dann musterte sie die sich nähernde Gestalt eingehend. Der König war ganz ohne jeden Zweifel wunderschön. Obwohl er ein eher einfaches Gewand trug, ging von ihm eine kaum greifbare Würde aus. Seine Gesichtszüge waren vollkommen ebenmäßig und trotzdem keinesfalls langweilig oder zu perfekt - es war einfach alles genau so, wie es sein musste, auch wenn er eher einer unglaublich hübschen Frau ähnelte. Strähnen von langem, weißen Haar rahmten sein engelsgleiches Gesicht ein. Ein türkisfarbener Schimmer ließ sie wie Kristall in der Sonne glitzern. Vorne hingen die Haare etwa schulterlang herab, außerdem fiel ihm ein langer Pferdeschwanz über die Schulter nach vorne. Die Farbe seiner sanften Augen glich der von geschmolzenem Gold und wirkte wegen ihrem metallischen Glanz im ersten Augenblick sehr ungewohnt. Und dennoch passte sie zu seiner bleichen Haut und auch seiner nahezu unwirklich scheinenden Schönheit. "Ist er nicht toll?" flüsterte Talitha. "Oh ja!" raunte Sitara. "Aber ich finde, er sieht traurig aus." "Traurig?" "Ja! Und wie! Schau dir mal seine Augen an!!!" Talitha folgte der Aufforderung ihrer Freundin und warf einen weiteren Blick auf die goldenen Augen des jungen Königs. Und jetzt fiel auch ihr der unverkennbare Ausdruck tieftrauriger Melancholie auf, der ihr anhand seines sanften Lächelns entgangen war. Für einen Augenblick tat er ihr leid. Dann stieg ein Anflug von Wut in ihr auf. "Sitara, du bist dumm!" sagte sie und vergaß ihre feierliche Aufregung dabei vollkommen. "Warum sollte er denn bitteschön traurig sein? Er hat doch alles, oder? Er ist der Herrscher eines wunderschönen Landes, ihm gehört das tollste Schloss auf dem ganzen Planeten, er sieht so gut aus, dass es fast schon wieder weh tut... Ich würde alles geben, um mit ihm tauschen zu können!!!" Dem Mädchen war gar nicht aufgefallen, dass sie ihre letzten Sätze in einem weitaus lauteren Tonfall ausgesprochen hatte, als sie es vorgehabt hatte. Ihr Fehler wurde ihr schlagartig bewusst, als sie die Augen des jungen Königs auf sich ruhen sah. Augenblicklich lief sie tiefrot an schlug die Hände vor den Mund. Der Weißhaarige änderte seine Richtung und näherte sich den Beiden, die nun ziemlich verwirrt und ängstlich da standen. Hastig verbeugten sie sich. "Eure Majestät, es - es... verzeiht, ich..." stammelte Talitha beschämt. "Entschuldige dich nicht", entgegnete er lächelnd. "Auch für... einen König gehört es sich nicht, ein fremdes Gespräch zu belauschen... allerdings blieb mir kaum eine andere Möglichkeit in Anbetracht der Lautstärke, in der ihr Selbiges führtet..." Talitha wurde noch ein bisschen röter und starrte auf ihre Füße. Sitara jedoch sah, dass in den goldenen Augen des Königs keine Spur von Zorn lag. Stattdessen trat er auf die Wiese neben ihnen und ließ sich mit einem wohligen Seufzer auf den sonnenerwärmten Grashalmen nieder. "Setzt euch doch... und bitte, seht mich nicht so ängstlich an. Falls ihr fürchtet, ich könnte euch fressen... keine Sorge, ich habe bereits gefrühstückt!" In seinen traurigen Blick trat ein warmer Ausdruck. Talitha und Sitara verloren ihre Scheu zwar nicht, zumindest aber ihre an Angst grenzende Ehrfurcht. Zögerlich ließen sie sich neben dem Weißhaarigen im Gras nieder. "Wie heißt ihr?" fragte er. "Ich bin Talitha!!!" erwiderte das Mädchen eilig. Ihre Wangen glühten vor freudiger Erregung. Langsam wurde ihr Erlebnis zu einem wundervollen, unglaublichen Abenteuer für sie. "Mein Name ist Sitara", fügte die ein wenig schüchterner hinzu. "Gut. Talitha, du wünscht dir also... eine Königin zu sein, ja?" "Oh ja, und wie!!!" Die Schwarzhaarige nickte vor Begeisterung mit dem Kopf. "Ich könnte einen König heiraten, dann würden wir gemeinsam alles tun, um unser Volk glücklich zu machen! Ich würde wundervolle Kleider tragen und alle meine Freundinnen dürften bei mir im Schloss wohnen, vor allem Sitara! Und weil ich ja nicht mehr arbeiten müsste und trotzdem soooo viel Geld hätte, würde ich tolle Feste feiern, und ein Pferd hätte ich auch!" Ihre Augen glänzten. "Alle Mädchen träumen davon, Prinzessin oder Königin zu sein!" ergänzte Sitara hastig und in erklärendem Tonfall. Die Augen des jungen Königs fixierten einen Punkt irgendwo am Horizont. "Ich möchte euch eine Geschichte erzählen..." Er sah die beiden jungen Dienerinnen an und lächelte wieder. "Die Geschichte von einem Jungen namens Lalit." "Lalit?" fragte Talitha irritiert. "Das seid doch ihr, nicht wahr, eure Majestät?" "Hör zu, dann wirst du es verstehen. Ich möchte, dass ihr beide mir vom Anfang bis zum Ende zuhört. Es ist nicht nötig, Fragen zu stellen, alles wird sich früher oder später ergeben... denke ich zumindest..." Talitha nickte eifrig. Sie konnte immer noch nicht fassen, dass sie tatsächlich mit dem König höchstpersönlich auf einer einsamen Wiese in der Sonne saß. Und nicht nur das, dieser hatte niemand anderen als sie und ihre beste Freundin dazu auserwählt, einer Geschichte - nein, verbesserte sie sich: seiner Geschichte zu lauschen. Sie fühlte sich wie im Paradies. "Gut..." Der Weißhaarige ließ seinen Blick erneut ins Unendliche schweifen, dann begann er mit sanfter Stimme zu erzählen. Vor vielen Jahren, in einer eiskalten Winternacht, wurde genau hier in diesem Schloss ein Kind geboren. Keine Wolke verhüllte den Himmel, der nahezu taghelle Vollmond und die unzähligen Sterne ließen die schneebedeckten Ebenen silbern glitzern und funkeln. Die unzähligen Menschen auf den Straßen Lanthayas merkten jedoch nichts von dem märchenhaften Naturschauspiel. Sie waren versunken im Rausch eines gigantischen Festes. Alle Häuser waren mit schillernden Stofftüchern und anderem Schmuck behangen, tausende und abertausende bunter Lampions tauchten die überfüllten Straßen in ein unwirkliches, warmes Licht. Etliche Paraden marschierten an der jubelnden Menge vorbei: Prachtvoll geschmückte Pferde und die für den Eiskontinent typischen weißen Elefanten mit ihrem langen Fell trugen kriegerisch anmutende Reiter mit glänzenden Rüstungen und prachtvollen Waffen. Aber auch ebenso lustige wie gelenkige und waghalsige Artisten gab es zu sehen, wunderschöne Frauen mit langen Kimonos, über und über mit Schmuck behangen, kleine Kinder in fantastischen Kostümen... Wohin das Auge blickte, überall gab es etwas zu bestaunen. Atemberaubende Showkämpfe, mitreißende Theaterdarbietungen und natürlich jede Menge zu Essen und zu Trinken. Der Duft von gebrannten Mandeln, Glühwein und exotischen Gewürzen erfüllte die schneidend kalte Luft. Das neue Jahr stand unmittelbar bevor. Die junge Königin bekam von all dem berauschenden Trubel nicht viel mit. Sie lag in ihrem Zimmer, oben im Turm des weißen Schlosses und schenkte ihrem ersten Sohn das Leben. Als das kleine Wesen endlich seinen ersten Schrei von sich gab, konnte die schöne schwarzhaarige Frau sich noch nicht wirklich darüber freuen. Sie war viel zu erschöpft, Fieber hatte ihren Körper befallen. Ihre goldenen Augen blickten starr aus dem Fenster auf die riesigen, kreisrunde Silberscheibe am Nachthimmel. Trotz der Kälte rann ihr Schweiß über die Stirn. Behutsam ließ eine der Hebammen das winzige Kind von der ersten Muttermilch trinken, sie wussten ja, dass der Kleine sonst nicht überleben konnte. Danach kümmerten sich die versammelten Heiler sofort wieder um die kranke Herrscherin. Der König stand unterdessen an einem der Fenster im Thronsaal und erwartete sehnsüchtig eine Nachricht über das Befinden seiner Frau und natürlich seines Kindes. Die Zeit schien unendlich langsam zu vergehen, bis endlich ein Klopfen an der ebenholzfarbenen Türe ertönte und ihn aus seinem bangen Warten riss. "Tretet ein!" Er konnte die Aufregung in seiner Stimme nicht verbergen. Ein noch recht junger Heiler betrat den prachtvoll ausgeschmückten Raum. Auf seinem Gesicht lag ein bedrückter Ausdruck, trotzdem wirkte er auch erleichtert. "Was ist nun?" "Dem Kind geht es gut!" Er lächelte. "Es ist ein kleiner Junge und er scheint wohlauf. Um ihre Majestät, die Königin, haben wir uns jedoch große Sorgen gemacht. Sie überkam auf dem Kindbett ein leichtes Fieber, das in den letzten Stunden jedoch zunehmend schlimmer wurde. Sie hat außerdem viel Blut verloren. Anscheinend war ihr Körper durch eine erst kürzlich ausgestandene Krankheit noch geschwächt und so hat sie sich eine Infektion zugezogen. Sie ist nun außer Gefahr... allerdings wird sie wohl... da die Geburt sehr schwierig verlief... nicht mehr imstande sein, weitere Kinder zu gebären." "Das ist nicht weiter tragisch... solange es ihr selbst und unserem Sohn nur gut geht. Er ist unser erstes Kind und er wird unser Thronfolger." Ein stolzes Lächeln stahl sich auf seine Lippen. "Wann kann ich ihn sehen?" "In Kürze, eure Majestät", entgegnete der Heiler. "Ich werde den Hebammen sofort Bescheid geben." Er verneigte sich tief und verließ dann den Thronsaal. Wenig später hielt König Favian Alaric Isaiah VI seinen mittlerweile gebadeten und in ein zartes nachtblaues Hemdchen gehüllten Sohn in den Armen. Er saß am Bett seiner Frau und sah sie mit seinen violetten Augen liebevoll an. "Wie wunderschön er ist!" flüsterte er nahezu ehrfürchtig und strich dem Kind über seine kleine Wange. Noch verriet nur die auffallend bleiche Haut seine königliche Abstammung, die Augen des Babys waren so blau wie die jedes anderen Neugeborenen auch. "Er wird mein Nachfolger, also benenne ich ihn nach meiner Großmutter, der Königin Layla... wie es unserer Tradition entspricht." Die junge Königin nickte schwach und strich sich ihr schwarzes Haar aus dem Gesicht. Trotz ihrer Müdigkeit machte es sie glücklich, mit welcher Zärtlichkeit ihr Mann dieses Kind betrachtete. "Das Schicksal dieses Landes wird eines Tages in deinen Händen liegen, mein kleiner Lalit Alaric..." Der kleine Prinz verstand noch nichts von diesem bedeutenden Moment, er nuckelte zufrieden an seinem Daumen, dann schloss er seine Augen und schlief ein. Die Katastrophe zeigte sich erst wenige Monate später. Zunächst hoffte man, es wäre nur ein Irrtum und würde sich mit der Zeit in Nichtigkeit auflösen. Doch spätestens am ersten Geburtstag des kleinen Thronfolgers war klar: Mutter Natur war ein schrecklicher Fehler unterlaufen. Lalit krabbelte jauchzend über den dunkelroten Teppichboden und blinzelte den entsetzten Eltern aus großen goldenen Augen entgegen. "Das ist unmöglich!" stieß der König wütend hervor und strich sich nervös durch seinen weißen Bart. "Kein Nachfolge der Isaiah-Familie ist jemals so sehr aus dem Rahmen gefallen!" Die Königin strich dem Kleinen traurig durch den weißen Flaum, der im Moment noch mehr Ähnlichkeit mit den Federn eines Kükens als mit echten Haaren besaß. Der Junge quietschte zufrieden. "Aber er hat doch deine Haare geerbt!" seufzte sie. "Ja, meine Haare... und deine Augen..." Seine letzten Worte hatten einen scharfen Klang. "Willst du mir deshalb Vorwürfe machen?" Die Königin strich sich durch ihr langes, pechschwarzes Haar. "Kann ich das denn?" Die Stimme des Königs klang nahezu enttäuscht, aber auch ein wenig hilflos. Er blickte das Kind nachdenklich an. Dessen goldene Augen glänzten wie geschmolzenes Metall. "Jedenfalls kann er so nicht dein Nachfolger werden..." Der Vater des Königs hatte sich nun eingemischt. Er hatte dieselben weiße Haare und violetten Augen wie sein Sohn, da er bei dessen Geburt jedoch schon sehr alt gewesen war lagen nun tiefe Furchen auf seinen ehemals so schönen Gesichtszügen. Seit seine Frau vor einigen Jahren von einer schweren Grippe dahingerafft worden war spielte stets ein Ausdruck tiefer Verbitterung und Wut auf die ganze Welt um seinen Mund. "Es ist unmöglich... so etwas auf den Thron zu setzen!!!" "Was sollen wir denn machen?" Jetzt wurde die Königin wütend. "Ihr wisst doch genau, dass ich keine weiteren Kinder bekommen kann! Müsst ihr denn ständig darauf herumhacken?" "Pass auf, was du sagst!!!" zischte der König. "Du verstehst wohl nicht, worum es hier geht? Die Isaiah-Blutlinie steht hier auf dem Spiel! Was, wenn er diesen Makel an seine eigenen Kinder weitervererbt?" "Haben wir denn eine Wahl?" Die schwarzhaarige Frau stampfte wütend mit Fuß auf den weichen Teppichboden. Das kleine Kind blinzelte seine Mutter mit großen Augen an und begriff nicht, was die Menschen um ihn herum eigentlich wollten. "Weiße Haare, weiße Haut, schöne Gesichtszüge und violette Augen. Das ist ein Isaiah... und nichts anderes!!!" Des Königs Vater musterte die winzige Gestalt mit einem hasserfüllten Blick. "Dieses Kind sollte man ertränken!" "Ich bitte euch!!!" Die Königin stellte sich schützend vor ihr Kind. Der alte Mann warf ihr einen verächtlichen Blick zu, sein Sohn tat es ihr nach kurzem Zögern gleich. "Ich hätte euch niemals verheiraten sollen!" stieß er mit zornig flackernden Augen hervor. "Wenn doch nur nicht irgendwie für Frieden gesorgt werden müsste..." Er drehte sich ruckartig um und stapfte wütend aus dem Zimmer. Der König folgte ihm. "Warte doch!" Die Schwarzhaarige hielt ihren Mann am Arm fest. "Ich weiß, es ist ein furchtbares Unglück, aber jetzt kann es doch niemand mehr ändern! Ich bitte dich, mach mich nicht für dieses Missgeschick verantwortlich!" Für einen Augenblick trat ein mitleidiger, entschuldigender Ausdruck auf das Gesicht des jungen weißhaarigen Königs. Als er jedoch in die flehenden, metallisch golden glänzenden Augen seiner Frau sah, schlug diese Gefühlsregung erneut in Wut um. Er stieß sie von sich und eilte aus dem Kinderzimmer. Die Königin blieb zurück. Sie sah zu Boden. War nicht vor kurzer Zeit noch alles perfekt gewesen? Obwohl sie sich ihren Mann nicht hatte aussuchen können, war inzwischen ein Band zarter Liebe zwischen den jungen Herrschern entstanden. Dieses außerordentliche Glück war gekrönt worden durch die Geburt ihres gemeinsamen Sohnes Lalit. Und jetzt? Nun machte sie jeder dafür verantwortlich, dass die Isaiah-Blutlinie verunreinigt worden war. Sie musterte das lachende Kind, das übermütig über ihren Fuß krabbelte. Für einen Augenblick spürte sie eine liebevolle Wärme in sich hochsteigen. Dann sah sie wieder den Blick zweier hasserfüllter violetter Augen auf sich gerichtet. Der stumme Vorwurf im Gesicht des Menschen, den sie liebte. Sie stieß ihren Sohn unsanft zurück und warf ihm einen verächtlichen Blick zu. "Du bist an allem Schuld!" stieß sie wütend hervor. Der Kleine begann zu schreien. Die Königin rief nach der Amme, dann eilte sie aus dem Raum und ließ das Kind allein. Die Jahre verstrichen. Lalit hatte mittlerweile ein Alter erreicht, in dem andere Kinder am liebsten miteinander spielten, tobten und den Ernst des Lebens zumindest für eine Weile vergessen konnten - sofern ihre unbeschwerte Kindheit ihnen überhaupt jemals schmerzliche Erfahrungen gebracht hatte. Der kleine weißhaarige Junge kannte so ein Leben überhaupt nicht. Von klein auf hatte er Anstand und Pflichtbewusstsein lernen müssen. Wenn doch einmal das Temperament mit ihm durchging und er wie ein ganz normaler im Garten tobte und sich dabei schmutzig machte oder gar eine kostbare Vase in den Gängen des Schlosses zerbrach, sorgte sein Großvater mit strenger Hand dafür, dass er es schnell bereute. Der Kleine verstand damals noch nicht, wieso ihm seine Eltern stets nur eiskalte Blick schenkten, warum dieser schreckliche alte Mann ihm wegen jeder Kleinigkeit weh tat... Stets bekam er nur zu hören: "Du bist der Prinz dieses Landes. Du musst dich nun einmal benehmen können." Nur manchmal, ganz selten, nahmen seine Eltern ihn in den Arm, lächelten ihn an... strichen ihm durch sein langes Haar. Das war immer dann, wenn die ganze Familie zusammen mit ihrer großen Gefolgschaft das Schloss verließ und in fantastische, fremde Länder reiste. Lalit freute sich immer wie verrückt auf diese wunderschönen Tage. Die langen Kutschfahrten oder sogar Seereisen mochten anstrengend sein, aber wenn das Ziel erst einmal erreicht war, kam er aus dem Staunen meist gar nicht mehr heraus. Er hatte schon viel gesehen in seinem jungen Leben. Riesige, prächtige Städte, gigantische Schlösser und manchmal sogar weite, grüne Wälder ohne eine einzige Flocke Schnee. Das war jedes Mal, wenn sie über das große, weite Meer fuhren, und das fand er ganz besonders aufregend. Dann sah er seltsame Blumen, Strände mit echtem Sand und das leuchtendste Gras, dass er sich nur vorstellen konnte. Nur die Feste in diesen fremden Ländern mochte er nicht. Es war schrecklich langweilig, zwischen all den großen Menschen herumzustehen und nur dann höfliche Antworten zu geben, wenn man gefragt wurde. Doch Lalit schenkte den Menschen dort gerne ein falsches Lächeln, weil er wusste, dass diese manchmal Einladungen zu sich nach Hause aussprachen. Das war das Beste an diesen Reisen, denn an solchen Abenden waren seine Eltern so lieb zu ihm, wie er sich sonst nur wünschen konnte, auch wenn er nicht wusste warum. Das war jedenfalls immer so, wenn niemand anderes als ein Mensch in der Nähe war, der die beiden mit "sie" oder, ganz selten, sogar mit "du" anredete. Das war eine unvorstellbar große Ehre. Lalit war beides nicht gestattet, nicht einmal, wenn er mit seinen Eltern sprach. Meistens verbrachte er seine Tage aber natürlich im Schloss. Er lernte viele verschiedene Sprachen und die Schrift seines Heimatlandes, las in alten, furchtbar dicken Büchern oder verbesserte seine Reitkünste auf eine der wuscheligen Ponys. All diese Dinge waren zwar manchmal anstrengend, trotzdem machten sie Spaß. Nur vor den Trainingsstunden mit seinem Großvater hatte er Angst. Obwohl er noch so jung war, führte Lalit sein Schwert bereits mit außergewöhnlichem Geschick. Als Nachfolge der Isaiah-Familie war es für ihn gleichsam Pflicht wie auch Privileg, deren alte Kampftechnik zu erlernen. Wenn ein Isaiah kämpfte, so wirkten seine geschmeidigen, anmutigen und fließenden Bewegungen wie ein tödlicher Tanz. Kineta hieß diese seit Generationen überlieferte Kunst, die jedem jungen Nachkommen im Blut zu liegen schien. Und noch etwas Besonderes zeichnete diese Technik aus: man kämpfte stets mit geschlossenen Augen. Für Lalit war es etwas vollkommen Normales gewesen, dass ihn niemals völlige Dunkelheit umfing, wenn er seine goldenen Augen zumachte. Die geheimnisvolle Gabe der Hellsichtigkeit war der Adelsfamilie in die Wiege gelegt. Im Kampf konzentrierte sich der Junge voll und ganz auf den psychischen Körper seines Gegners, so konnte er schneller reagieren, ohne von unwichtigen äußeren Umständen abgelenkt zu werden. Er sah seine Umgebung mit seinen Gefühlen. Jetzt war es seine Aufgabe, diese Fähigkeit so weit zu perfektionieren, dass er sich im Kampf voll und ganz darauf verlassen konnte, und das war keineswegs einfach. Und zu allem Überfluss hatte des Königs Vater ganz eigene Methoden, dies zu üben. Es war der Tag nach Lalits siebtem Geburtstag. Der Junge hatte viele Geschenke bekommen, so viele wie andere Kinder in ihrem ganzen Leben nicht. Trotzdem war er enttäuscht. Ausgerechnet an so einem wichtigen Tag war sein Vater zu einer diplomatischen Verhandlung ins Nachbarland aufgebrochen. Dies war durchaus nichts Ungewöhnliches, aber eine letzte, verzweifelte Hoffnung ließ Lalit an dem Glauben festhalten, dass seine Eltern sich irgendwann vielleicht doch noch ändern würden. Eines seiner Geschenke war jedoch so großartig gewesen, dass es all seine trüben Gedanken zumindest für kurze Zeit vollständig auslöschte: Ein kleines, goldfarbenes Fohlen mit weißer Mähne. Mit seine langen Beinen stakste es unbeholfen auf seinen neuen Besitzer zu und prustete ihm mit seinen winzigen Nüstern ins Gesicht. Es war ein eher schweres Tier, trotzdem war sein Köpfchen edel und schön geschnitten. "Er heißt Tahir", sagte die Königin. "Er soll nun dir gehören. Und denk daran, es ist ein sehr wertvolles Pferd." Lalit war das eigentlich egal. Er war begeistert von dem staksigen, zutraulichen Wesen. Endlich hatte er einen Freund nur für sich allein! Am liebsten wäre er Tag und Nacht bei dem Fohlen geblieben, aber das ging natürlich nicht. Heute hatte ihn der Ernst des Lebens wieder und er musste mit seinem Großvater zusammen seine psychischen Fähigkeiten trainieren. Ein harter Schlag traf den Jungen ins Gesicht und riss ihn von den Füßen. Er konnte sich gerade noch abfangen, rollte sich dann zur Seite und blieb leicht benommen auf dem hölzernen Boden liegen. Die Augen des Mannes über ihm blitzten zornig auf. "Verdammt, wie oft haben wir das hier jetzt schon geübt?" rief er in ungeduldigen Tonfall. "Du hättest diesen Schlag doch kommen sehen müssen! Kleiner Versager..." Lalit sah zu Boden. "Verzeiht, Großvater..." murmelte er. "Ich bin noch ein wenig müde. Es ist sehr früh und gestern bin ich natürlich recht spät zu Bett gegangen..." "Alles Ausreden!" schnaubte der Bärtige. "Du bist einfach nur zu faul und vor allem zu untalentiert. Du wirst es nie lernen! Du bist eine Schande für die ganze Familie!" Er zog den Jungen auf die Füße und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige. "Großvater, warum bin ich das?" fragte Lalit leise. Er sah ihm dabei nicht in die Augen. "Warum du eine Schande für uns bist? Schau dich doch an!" Er stieß ein verächtliches Lachen aus. "Du bist... eine kleine Fehlgeburt, nicht mehr!!!" Der kleine weißhaarige Junge riss seine Augen weit auf und starrte den wütenden Mann ungläubig an. Er konnte nicht glauben, was er da hörte. "Das... das werde ich Mutter sagen, dass du so etwas behauptest!" rief er mit zitternder Stimme. Sein Großvater antwortete nicht sofort. Stattdessen sah er ihn mit seinen violetten Augen durchdringenden an. "Lalit..." Er sprach vollkommen ruhig. "Glaubst du wirklich, deine Eltern lieben dich?" Lalit erstarrte. Von einem Augenblick auf den anderen hatte er dass Gefühl, eine eiskalte Hand würde sich um seinen Hals legen und langsam zudrücken. Er öffnete den Mund, um irgendetwas zu erwidern, aber er brachte keinen Ton hervor. "Sie schämen sich für dich, weißt du?" fuhr der lächelnde Mann langsam fort. "Das Problem ist nur, dass es unmöglich ist, einen weitern Thronfolger auf die Welt zu setzen. Ansonsten hätte man dich einfach umgebracht und ein anderes Baby an deine Stelle gesetzt..." Mit jedem Wort wurde das Lächeln auf seinen Lippen zufriedener. "Das ist überhaupt nicht wahr" schluchzte Lalit nun. "Ihr lügt! Meine Eltern lieben mich, natürlich lieben sie mich!" "Und warum nehmen sie dich dann nicht in den Arm und knuddeln dich den ganzen lieben Tag lang, wie andere Eltern das machen?" "Weil ich ein Prinz bin, und da geht so etwas eben nicht!" Trotzig schob Junge eine Unterlippe vor. "Alles Ausreden!" lachte der Bärtige. "Sie lügen dir etwas vor, und weißt du auch warum? Weil sie dich hassen!" Er drehte sich um und ging mit hoch erhobenem Haupte auf die hölzerne Türe zu. Dann blieb er stehen und drehte sich noch einmal um. "Weißt du was? Wenn ich es irgendwie verhindern kann, dass du unseren Thron besteigst, werde ich es tun!" "Ach ja?" Langsam schlug die Fassungslosigkeit des kleinen Weißhaarigen in verzweifelte Wut um, Wut und Hass auf diesen Mann, der ihm sein ganzes Leben so schwer wie nur irgendwie möglich gemacht hatte. "Und wie wollt ihr das machen? Ich bin der Kronprinz dieses Landes und ich werde auch mal König, wenn ich älter bin! Ihr könnt mich doch nicht einfach umbringen, so wie ihr es vielleicht gerne getan hättet!" Seine Stimme überschlug sich vor Aufregung. "Nein, das kann ich wirklich nicht, kleiner Thronerbe..." lächelte er. In seine Augen trat ein boshaftes Funkeln. "Aber ihr könntet ja zum Beispiel freiwillig davonlaufen." Mit einem gehässigen Lachen verließ er den Übungsraum und schlug geräuschvoll die Türe hinter sich zu. Lalit sank auf die Knie und brach in ein verzweifeltes Schluchzen aus. Tränen liefen über seine bleichen Wangen und tropften auf den dunklen Holzboden. "Dann hasse ich euch eben auch!" schrie er wütend. Er wusste, niemand konnte ihn hören. Die Trainingshalle lag ein bisschen abseits des Schlosses in dem riesigen Park, verborgen hinter den dunklen Bäumen eines kleinen Wäldchens. Hier herrschte absolute Ruhe, das war wichtig für die notwendige Konzentration. Normalerweise hatte Lalit Angst, wenn er alleine in diesem Raum war, so still und düster war es hier. Noch dazu war heute ein wolkenverhangener Tag. Das neue Jahr begann mit eisiger Kälte und schlechtem Wetter. In diesem Augenblick war Lalit das alles egal. Mit einem Schlag bemerkte er, wie sinnlos seine Trauer doch war. Er bemühte sich, wieder ruhig zu atmen und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Dann rappelte er sich auf und ging langsam auf die dunkle Holztüre zu. Das waren sie doch gar nicht wert, dachte sich Lalit wütend. Wenn ihn alle wirklich so sehr hassten, dann hatten sie es wirklich nicht verdient, dass er auch nur eine einzige Träne für sie vergoss! Ab jetzt wollte er sich noch mehr anstrengen, er würde trainieren, oh ja. Dieser ausgemusterte König sollte sich noch sehr wundern, wie gut er kämpfen konnte! Eines Tages würde er den Thron besteigen und das ganze Land regieren, ob es ihnen passte oder nicht! Die Zeit, in der er verzweifelt und vergeblich der Liebe seiner feinen Eltern hinterherlaufen würde, war endgültig vorbei!!! An diesem Tag beschloss Lalit, nie wieder wegen seiner Familie zu weinen. Die Zeit lief ungerührt weiter, erneut zogen Jahre ins Land und mit jedem Tag schien der junge Thronfolger ein wenig schöner zu werden. Doch auch andere Veränderungen waren mit ihm vorgegangen. Er war kühler geworden, und das lag nicht nur an seiner Art, sondern vor allem auch an dem Ausdruck in seinen Augen. Seine Untergebenen behandelte er zunehmend herablassender und kaltschnäuziger. In nahezu jeder freien Minute war er in der Übungshalle beim Schwertkampf zu finden, außerdem erkundigte er sich zunehmend nach den politischen Handlungen und den wirtschaftlichen Problemen des Landes. Er beobachtete die Reaktionen seines Vaters, die Gespräche mit dessen Beratern und die daraus wiederum folgenden Veränderungen und Verbesserungen. Am gravierendsten hatte sich jedoch Lalits Verhalten gegenüber seinen Eltern geändert. Er behandelte sie zwar mit dem nötigen Respekt, jedoch schienen sie gleichsam vollkommen Fremde für ihn zu sein. Wollten sie eine gegensätzliche Meinung durchsetzen, so mussten sie ihm befehlen, wie sie es auch mit einem ihrer Generäle getan hätten. In jedem Blick, den er ihnen schenkte, lag eine verletzte Gleichgültigkeit, die jeden anderen Menschen hätte erschaudern lassen. Einzig und allein den tiefen Hass auf seinen Großvater konnte Lalit nicht vollkommen verbergen. Der alte Mann zeigte ihm einfach zu oft und zu deutlich, dass diese Gefühle stark auf Gegenseitigkeit beruhten. Der Winter war über dem Eiskontinent hereingebrochen, selbst das verhältnismäßig warme Klima Belicias war nun in eisige Kälte umgeschlagen. Stürme tobten über das Land und brachten Schneemassen mit sich. Eine weiße, weiche und tückische Decke legte sich über die Ebenen, die Wälder und die Städte und verwandelte alles in eine Märchenlandschaft. Lalit liebte diese Monate. Der prächtige Schlosspark erschien ihm nun noch ungleich fantastischer. Sofern er Zeit dazu fand, konnte er stundenlang durch diesen verzauberten Garten schlendern, vorbei an den letzten Blumen, die ihre bunten Köpfchen durch den in der Sonne glitzernden Schnee streckten, an vereisten Seen und erstarrten Wasserfällen, an verwunschenen Pavillons, von deren Dach bizarre Eiszapfengebilde hingen. Es war wie ein einsamer, überwältigender Traum, aus dem er am liebsten nie mehr erwacht wäre. Lalits Gestalt passte perfekt in diese Umgebung. Alles an ihm wirkte kalt: Sein langes weißes Haar hatte einen eisig blauen Schimmer. Sämtliche vorderen Haare trug er schulterlang und vollkommen gerade abgeschnitten. Das hintere Haar fiel ihm meist zusammengebunden oder nur zu einem kleinen Teil geflochten über die Schulter. Nur selten hing es ihm wie ein seidiger Umhang lang über den Rücken hinab. Auch die Haut des jungen Prinzen war bleich wie frisch gefallener Schnee und dabei vollkommen rein und glatt. In den goldenen Augen spiegelte sich kaum eine Emotion. In seinem Gesicht ließ sich keine einzige Unregelmäßigkeit finden, nichts, was auch nur im Geringsten den Eindruck der Perfektion gemindert hätte. Der Tag war noch jung. Die Morgensonne tauchte die Schneedecke in ein sanftes rötliches Licht. Das Jahr neigte sich dem Ende zu und der junge Thronfolger würde bald sein 16. Lebensjahr erreichen und somit in den Status der Volljährigkeit übergehen. Dies war natürlich ein großes Ereignis und so herrschte schon seit einigen Tagen große Hektik am Hofe. Lalit ließ sich davon nicht beeinflussen. Er stand in seinem Zimmer vor dem Spiegel und kämmte sein Haar. Für den heutigen Trag trug er ehe schlichte Kleidung: ein etwa knielanges Gewand in dunklem Türkisblau mit einem breiten schwarzen Gürtel, dazu eine weiße Hose und hohe schwarze Stiefel. Nun nahm Lalit noch ein ebenfalls türkisfarbenes Band und schlang es um sein Haar, flocht es dann in einen etwa zehn Zentimeter langen Zopf mit ein und befestigte es dort so, dass man den Knoten nicht sehen konnte. Dann trat er einen Schritt zurück und musterte sich zufrieden. Er war schön und er wusste es auch. Mit einem kühlen Lächeln auf den Lippen verließ er sein Gemach. "Sieh an, sieh an..." Unverhohlene Boshaftigkeit schwang in der Stimme mit. Lalit musste sich nicht einmal mehr umdrehen, um zu wissen, wer da mit ihm sprach. "Hier treibt sich also die ach-so-wichtige Persönlichkeit herum... wie kommt es, dass ihr zur Abwechslung einmal nicht jede Aufmerksamkeit auskostet, die euch heuchlerischerweise geschenkt wird?" "Großvater, was für eine Freude, euch zu sehen!" Ein eiskalter Blick aus metallischen Augen traf den bärtigen Mann. "Aber ich muss euch enttäuschen, ich habe mich umgezogen, um nun mit Tahir auszureiten." "Das wird leider nicht möglich sein", entgegnete der Alte mit einem bösen Lächeln auf den Lippen. "Eines seiner Hufeisen scheint sich gelockert zu haben, und ihr wisst, bei diesem Schnee solltet ihr vorsichtig sein." "Das weiß ich, mein lieber Großvater", antwortete Lalit triumphierend. "Aber anscheinend wisst ihr nicht, dass heute der Hufschmied am Hofe war." "Oh doch, das weiß ich. Nur hat er aus irgendeinem Grund euer Pferd nicht angesehen, ich verstehe gar nicht, wie es dazu kommen konnte..." Nun hatte er wieder die Oberhand gewonnen. Er lachte spöttisch. "Oh, vielleicht wird ihm irgendein verachtenswerter Idiot eine falsche Auskunft gegeben haben, auch wenn ich mir nicht denken kann, wer so unendlich dumm, einfältig und überhaupt..." "Halt den Mund, du verzogenes Balg!" Eine schallende Ohrfeige traf Lalit im Gesicht. Der junge Kronprinz lächelte. "Was habt ihr?" fragte er unschuldig. "Ihr fühlt euch doch nicht etwa angesprochen?" Der Alte antwortete nicht sofort, stattdessen keuchte er vor Wut und schlug den Weißhaarigen ein zweites Mal, nur hatte er seine Hand jetzt zu einer Faust geballt. "Was für ein Unglück ist es doch, dass du deinen Geburtstag noch erleben darfst! Ach, wärst du doch statt deiner bedauernswerten Mutter am Kindbett erkrankt, um wie vieles leichter hätte uns das alles nur gemacht!" Lalit wusste, dass sein Großvater langsam in Rage geriet. Obwohl er seinen Enkel so sehr verachtete, kam es doch nicht allzu oft vor, dass er ihn duzte. Er wusste, jetzt sollte er eigentlich klein beigeben und sich zurückziehen, aber sein Stolz und sein Hass gestatteten es ihm nicht. "Wie kann ich diese Welt verlassen, ohne zu wissen, dass ihr mir mit gutem Beispiel vorangegangen seid?" Er lächelte kalt und wusste noch im selben Augenblick, dass dies ein großer Fehler gewesen war. Der so alt wirkende Mann packte ihn mit einer blitzschnellen Bewegung bei den Schultern und rammte ihm so fest das Knie in den Bauch, dass Lalit keuchend in sich zusammensank. Ihm wurde schwindlig, vor seinen Augen flimmerte es. Einmal mehr verfluchte er die Tatsache, dass sein eigener Großvater ungleich stärker, wenn auch nicht geschickter war als er. Lalit schnappte nach Luft und schloss seine Augen. Er hörte Schritte, die sich entfernten. Als er jedoch endlich wieder aufblickte, sah er, dass er nicht allein war. "Sir Lalit, was habt ihr?" Eine besorgte Stimme sprach zu ihm. "Fühlt ihr euch nicht gut?" Als der junge Kronprinz seinen Blick nach oben wandte sah er geradewegs in das sanfte Gesicht einer schönen Frau. Sie besaß zwei schmale, blitzende Augen, zart geschwungene Lippen und porzellanfarbene Haut. Ihr Haar glänzte in einem warmen Goldbraun. Das auffälligste an ihr waren jedoch die langen, spitz zulaufenden Ohren. Lalit musste unwillkürlich lächeln. Es war wirklich kaum zu glauben, dass er ausgerechnet die Amme seine Großvaters vor sich hatte. Das elbische Blut in ihren Adern hatte sie jung gehalten, auch wenn sie schon so lange am Königshof war wie kein Anderer. Über ihr wahres Alter wahrte sie jedoch beharrliches Schweigen. "Es ist... nichts." Lalit rappelte sich mühsam auf. "Mach dir keine Sorgen, Lyra." "Mein Gott... ihr blutet ja!" Sie trat auf den jungen Weißhaarigen zu und zog ein besticktes Stofftaschentuch aus ihrer Tasche. Mit einer vorsichtigen Bewegung wischte sie ihm damit über die Stirn. "Das war doch nicht etwa... wieder..." "Denk nicht weiter darüber nach..." Lalit seufzte. Er konnte der schönen Frau ansehen, wie sehr sie das Verhalten ihres ehemaligen Schützlings schmerzte. Sie sah zu Boden. Lalit wollte sich gerade von ihr verabschieden, als sich plötzlich und beinahe ungewollt ein quälender Gedanke über seine Lippen stahl: "Lyra, warum hasst er mich so sehr?" "Aber Sir Lalit..." Tiefe Bestürzung trat auf die feinen Gesichtszüge der Braunhaarigen. Sie stand für einige Sekunden lang mit offenem Mund da. Als sie weitersprach, klang ihre Stimme sehr, sehr leise. "Ihr wisst doch... dass euer Erscheinungsbild... nun einmal nicht vollständig dem Ideal eines Isaiah entspricht..." "Ist das wirklich alles?" Lalit schüttelte den Kopf. Er sah die Elbin flehend an. "Meine Eltern... wenn sie mich anblicken, sehe ich in ihren Augen nichts als kühle Verachtung. Aber bei meinem Großvater... ist das etwas anderes. Er würde mich am liebsten töten... aber wieso nur?" "Nun gut... es ist nicht nur wegen euren Augen, Sir Lalit, auch wenn es damit durchaus zusammenhängt." Die Frau wirkte beschämt. "Ihr müsst wissen... auf eine grausame Art und Weise entsprecht ihr dem Bild eines Isaiah mehr, als euer Großvater es jemals getan hat. Er hatte vielleicht die weißen Haare und die violetten Augen, auf die er jetzt so stolz ist... aber sein Gesicht war niemals so schön wie das eure. Er war sicherlich... sehr gutaussehend, damals, als er noch jung war... aber mehr auch nicht. Ihr wisst, ich bin schon sehr lange am Königshof. Ich erinnere mich noch genau an die erste große Liebe von ihrer Majestät, des Königs Vater. Damals gab es eine bezaubernde Prinzessin im Nachbarkönigreich Akai. Er war unsterblich in sie verliebt, doch sie ließ ihn abblitzen, weil er ihr nicht schön genug war..." "Aber mein Vater sah doch genauso aus!" Lalit war verwirrt. "Warum hasst er ihn dann nicht?!" "Ich denke, sein Problem ist... dass ausgerechnet ihr... ein - verzeiht, Sir Lalit - in seinen Augen unvollkommener Isaiah wie ihr... etwas besitzen soll, dass ihm verwährt geblieben ist... das kann er nicht akzeptieren... und aus dieser Eifersucht hinaus will er euch das Leben zur Hölle machen..." "Dann... dann kann ich wohl gar nichts tun..." Lalit sah zu Boden. "Was für ein Leben! Meine ganze Familie hasst mich wegen meinem Gesicht..." "Seid nicht traurig, Sir Lalit... ich bitte euch!" Die Elbin lächelte. "Ihr sei wunderschön, dass kann euch niemand nehmen. Ihr werdet gewiss ein guter König werden, wenn es eines Tages so weit ist..." Sie verneigte sich noch einmal, dann ging sie mit anmutigen Schritten den Korridor entlang. Lalit sah ihr noch lange nach, selbst dann, als ihre zierliche Gestalt schon längst in einer der ebenholzfarbenen Türen verschwunden war. Lalits Leben ging auch nach seinem sechzehnten Geburtstag weiter wie bisher. Das Gespräch mit Lyra aber hatte etwas in ihm verändert. Der Hass auf seinen Großvater bestand nach wie vor, doch jetzt nahm er sich dessen Schläge und Beschimpfungen nicht mehr so sehr zu Herzen wie bisher. Im Gegenteil - oft genug belächelte er den alten Mann für seine krankhafte Eifersucht. Das machte diesen wiederum natürlich noch wütender. Trotzdem war die Situation beinahe genauso wie zuvor. Bis, ja... bis zu jenem schicksalhaften Tag, eine Woche vor Lalits siebzehnten Geburtstag. Der Weißhaarige bereitete sich in der Übungshalle auf das Training mit seinem Großvater vor. Er schloss seine Augen und vollführte einige spielerische Bewegungen mit seinem Schwert. Als die Türe hinter ihm geöffnet wurde, drehte er sich um, öffnete seine Augen jedoch nicht. "Großvater! Wie ihr seht... ich habe schon ohne euch angefangen!" Er lächelte. "Leg deine Waffe weg!" Die Stimme des alten Mannes klang gebieterisch. Lalit kannte diesen Tonfall, er duldete nicht den geringsten Widerspruch. Aber Lalit hatte keine Lust zu gehorchen. Stattdessen strich er sich das Haar aus dem Gesicht und sah den Bärtigen herausfordernd an. "Warum sollte ich das tun?" fragte er mit ruhiger Stimme. "Habt ihr etwa Angst, ich könnte euch töten?" "Halt den Mund!" Mit einer heftigen Bewegung warf der alte Weißhaarige die Türe hinter sich zu und schloss ab. "Heute trainieren wir nicht!" Lalit verdrehte die Augen und legte seine Waffe vorsichtig auf den Boden. "Warum bin ich dann überhaupt hier? Meint ihr nicht, ich hätte besseres zu tun?" "Das ist mir egal! Ich muss mit dir über ein wichtiges Thema reden!" Er trat neben Lalit und blickte auf ihn herab. "Du bist nun schon seit einiger Zeit volljährig. Jetzt solltest du einmal im Leben etwas Nützliches machen und deinem Königreich aus einer schwierigen Lage heraushelfen." "Aha. Und wie stelle ich das bitte an? Soll ich meinen Vater umbringen?" "Du verzogenes kleines..." Die Hand des Alten verirrte sich höchst unsanft in Lalits Gesicht. "Wir haben politische Schwierigkeiten mit dem Nachbarland Fuyubi. Deshalb sollst du deren Tochter heiraten, um den Frieden zu sichern, hast du verstanden?" "HEIRATEN?!?" Lalit riss seine goldenen Augen weit auf. "Moment mal, das ist ja jetzt wohl nicht ernst gemeint! Ich heirate doch nicht irgend so eine Tussi, die ich nie im Leben gesehen habe!" "Dich fragt keiner!" Der alte Mann lächelte böse. "Die Hochzeit ist von deinen Eltern bereits beschlossen und du wirst daran bestimmt nichts mehr ändern." "Ach, nein?" Der junge Weißhaarige schrie nun beinahe. "Das war doch alles deine Idee, oder? Das machst du doch nur aus purer Gehässigkeit, weil du es nicht verkraftet hast, dass deine große Liebe dich nicht gewollt hat, ist es nicht so? Du könntest es nicht mit ansehen, wenn ich jetzt glücklich wäre!" "Halt den Mund, sonst..." "Sonst was?!? Willst du mich wieder verprügeln, ja? Du kannst wohl einfach nicht ertragen, dass ich schöner bin als du! Das missratene kleine Etwas hat das Gesicht, das ich mir immer gewünscht hatte! Weißt du was? Du tust mir leid! Du tust mir einfach nur leid!!!" Der Alte rastete nicht aus. Stattdessen verzogen sich seine schmalen Lippen zu dem gehässigsten Lächeln, das Lalit in seinem Leben jemals gesehen hatte. "Du wirst niemals der König dieses Landes werden, dafür sorge ich!" Plötzlich ging alles ganz schnell. Der Bärtige hatte Lalit gepackt und auf den Boden geworfen. Er setzte sich so auf ihn, dass der junge Thronfolger sich nicht mehr wehren konnte, dann begann er, ihm ein Kleidungsstück nach dem anderen vom Körper zu reißen. "Was... was machst du da?" keuchte der Weißhaarige. Mit einem Mal stieg Panik in ihm auf. "Lass mich los! Ich... HILFE!!! VERDAMMT NOCHMAL, HILFE!!!" Lalit wusste, dass ihn niemand hören konnte. Er hatte keine Chance gegen den größeren, kräftigeren Mann. Trotzdem schrie er und schrie, bis seine Stimme irgendwann in ein ersticktes Schluchzen überging. Lalit wusste nicht mehr, wie lange er noch alleine auf dem Boden der dunklen Trainingshalle gelegen war. Es dämmerte schon, der Raum schien mit jeder Minute düsterer und unheimlicher zu werden. Der Weißhaarige merkte davon überhaupt nichts. Sein Blick war getrübt vom Weinen, aber er konnte einfach nicht damit aufhören, bis irgendwann keine Tränen mehr kamen. All die aufgestauten Gefühle der vergangenen Jahre waren mit einem mal über ihn hereingebrochen. Er konnte einfach nicht mehr. Als er sich irgendwann endlich wieder aufrappelte und am ganzen Körper zitternd in seine Kleidung schlüpfte, war die Nacht bereits über dem Schlosspark hereingebrochen. Lalit stolperte auf die Türe zu, folgte einem der Wege und erreichte dann, nach einem viel zu langen Gewirr von Gängen den Thronsaal. Dieses Schwein würde noch bereuen, was es ihm angetan hatte. Der Weißhaarige trat ohne zu klopfen ein. Ihr Götter, schoss es ihm dabei durch den Kopf, lasst ihn jetzt bloß nicht hier sein! Als er seinen Vater alleine am Fenster stehen sah, fiel ihm ein riesengroßer Stein vom Herzen. Auf dem Gesicht des Königs lag ein zutiefst nachdenklicher Ausdruck. "Wer wagt es...?" Er blickte nahezu erschrocken auf. "Ich... ich bin es... Vater..." "Lalit?" Die violetten Augen des Mannes weiteten sich. "Wo warst du den ganzen Tag? Und wie siehst du überhaupt aus?" "Ihr müsst ihn einsperren lassen!!!" "Einsperren? Was redest du?" "Euren verfluchten Vater! Man sollte ihn augenblicklich hinrichten lassen!" "Kein solches Wort mehr! Bist du vollkommen übergeschnappt?" "Vater... er... er..." "Was?!?" "Er hat gemeint... ich sollte heiraten... aber das wollte ich nicht! Verdammt, was hätte ich sagen sollen? Und dann ist er plötzlich... über mich hergefallen... ich... ich habe die ganze Zeit um Hilfe gerufen, aber in der Übungshalle hört einen doch niemand, wenn... ich meine, es war niemand im Park, und..." Er brach ab und ballte seine Hände zu Fäusten. Auf dem Gesicht seines Vaters lag nicht einmal ein Anflug von Überraschung oder gar Erschütterung. Für einige Sekunden stand er regungslos da. Dann plötzlich trat er vor und versetzte Lalit eine schallende Ohrfeige. "Was fällt dir ein, solch unverschämte Lügen zu verbreiten? Ich möchte so etwas nie wieder hören, hast du das verstanden?" "LÜGEN?!?" "Oh ja! Heute waren den ganzen Tag Bedienstete im Park, um die Feierlichkeiten zu jenem verfluchen Tag vorzubereiten, an dem DU das Licht der Welt erblicktest... Nur, damit du es weißt: einer meiner privaten Diener hat den Teich nahe des Trainingsraumes gereinigt... hätte er dich nicht hören müssen? Warum hat er dir denn nicht geholfen?" "Die Türe war doch abgeschlossen, und außerdem..." Lalit stockte und starrte den König fassungslos an. "Ihr... ihr wusstet es, nicht wahr?" "Wovon redest du?" "Dein Diener, er hat mich gehört, oder? Darum hast du nicht einmal mit der Wimper gezuckt, als ich dir das erzählt habe, ist es nicht so?" "Rede nicht so einen Unsinn!" "Vater, das kann euch doch nicht egal sein!" Lalit packte den Mann bei den Schultern und sah mit einem flehenden Blick zu ihm herauf. "Begreift ihr denn nicht, was er mir angetan hat?" "Halt den Mund, Lalit!" Er stieß den jungen Weißhaarigen zurück und wandte sich ruckartig ab. "Und jetzt geh mir aus den Augen! Ich möchte dich nicht mehr sehen!" Lalit hatte mit einem Mal das Gefühl, die Welt um ihn herum würde gefrieren. Alles schien sich im Zeitlupentempo zu bewegen. Er bekam kaum noch mit, wie er herumfuhr und aus dem Thronsaal lief... über den Schlossplatz... überall waren die Bediensteten des Schlosses damit beschäftigt, die bevorstehenden Feierlichkeiten vorzubereiten. Die Gebäude und die Bäume wurden prächtig geschmückt, mit bunten Lampions und seidenen Fahnen behangen. Lalit achtete gar nicht darauf. Er rannte in die Trainingshalle und holte seine Waffe. Danach trugen ihn seine Schritte wie mechanisch in den Stall. Tahir schnaubte freudig, als er seinen Herren kommen sah. Lalit führte das Pferd aus der Box und zäumte es auf. Der weiche Schnauze des Isabellen tastete behutsam die Kleidung des jungen Kronprinzen nach einem Stückchen Zucker ab. Der Weißhaarige strich seinem Hengst sanft über sein goldenes Fell und schlich sich dann leise aus dem Stall. Tahir stieß ein leises, erwartungsvolles Wiehern aus. "Shhh, mein Guter", flüsterte Lalit. "Wir machen jetzt einen schönen Ausritt. Aber du musst leise sein!" Er schwang sich in den Sattel und ritt dann los. Zunächst noch langsam, vorsichtig... erst, als sie den Schlosshof hinter sich gelassen hatten und der lange, mondbeschienene Weg ins Tal vor ihnen lag, begann er zu galoppieren. Lalit blickte nicht ein einziges Mal zurück. Sein Entschluss stand fest. Er wollte diesen verfluchten Ort niemals wiedersehen. Er war über eine Woche lang fast pausenlos geritten. Sein Nachtlager hatte er stets an besonders gut versteckten, schwer erreichbaren Stellen im Wald aufgeschlagen und sich so gut es ging von den dort wachsenden Beeren ernährt. Wenn er sich in ein Dorf gewagt hatte, um dort wenigstens ein bisschen Nahrung zu kaufen, dann blieb er stets in seinen Umhang gehüllt und versuchte, möglichst wenig Menschen zu begegnen. Seine Flucht war bislang glücklich verlaufen, dennoch war er unendlich erleichtert, als er die Grenzen Belicias endlich hinter sich zurückgelassen hatte. Trotz seiner überstürzten Flucht hatte sich Lalit über seinen Zielort viele Gedanken gemacht. Letztendlich hatte er sich dann für Akai entschieden. Dies mochte das Heimatland seiner Mutter sein, war aber gleichzeitig auch der kälteste, unwirtlichste Teil Ragnaras. Unzählige Wälder, tückische eisige Ebenen und halsbrecherische Gebirgspässe und Schluchten bestimmten das Landschaftsbild des Königreiches. In einem der kleinen Dörfer konnte er sich problemlos verstecken. Hier würde man bestimmt zuletzt nach ihm suchen. Wenn man überhaupt nach ihm suchen ließ... Lalit schüttelte den Gedanken ab. Natürlich musste man ihn zurückbringen, immerhin war er doch der einzige Thronfolger des Landes! Es versetzte ihm einen Stich im Herzen, als er daran zurückdachte, wie er seinen Geburtstag frierend und einsam in einer kleinen Höhle in irgendeinem düsteren Nadelwald verbracht hatte. Am Hofe hätte er ein wunderschönes, berauschendes Fest feiern können, herabblicken auf das Treiben in den Straßen Lanthayas... Und dann das wunderschöne Feuerwerk beobachten, dass noch heller strahlte und funkelte als der Mond und die Sterne zusammen. Nein, dachte er sich. Er wollte jetzt nicht wehmütig werden. Was gab es an diesem Tag denn schon groß zu feiern? Und überhaupt, er wollte nie, nie mehr zurückkommen. Lalits Augen weiteten sich, als er am Horizont sanfte Rauchfahnen gen Himmel steigen sah. War das ein Dorf? Seine müden, schmerzenden Glieder schrieen förmlich nach einem weichen Bett, außerdem hatte er furchtbaren Hunger. Bei dem Gedanken an eine warme Mahlzeit lief ihm das Wasser im Munde zusammen. Er ließ Tahir schneller laufen. Was sprach dagegen, in dieser Ortschaft eine Rast einzuschlagen? Er war tagelang vollkommen planlos und durch alles andere als angenehme Gegenden geritten... wer sollte ihm schon bis hierher folgen können? Das Dorf stellte sich als verschlafenes, kleines Städtchen heraus, das sich größtenteils umschlossen von Wäldern in eine Talsenke kuschelte. Die kleinen, schneebedeckten Häuser, die winzigen, verwinkelten Gassen und die niedlichen Plätzchen weckten sofort eine heimelige Stimmung. Lalit machte vor einer Herberge mit Fachwerkfassade und hell erleuchteten Fenstern halt. Er stieg ab und band sein Pferd an einen der dafür bereitstehenden Pfosten. Nachdem er Tahir noch einmal den Hals geklopft hatte trat er ein. Die Gäste und der Wirt der kleinen Raststube blickten überrascht auf. Es kam nicht oft vor, dass sich zu solch später Stunde noch ein Mensch in den gemütlichen, von flackerndem Kerzenlicht erhellten Raum verirrte. Der leicht untersetzte Mann starrte den Neuankömmling mit einer Mischung aus Angst, Neugier und Ehrfurcht an. Der Fremde war in einen schwarzen Umhang gehüllt, von seinem Gesicht waren nur zwei metallisch funkelnde goldene Augen und ein Stück schneeweißer Haut zu sehen. Außerdem fielen einzelne Strähnen weißen Haares unter dem dunklen Stoff hervor. Ansonsten konnten man von ihm nur ein paar ebenfalls schwarzer Stiefel erkennen. Erst, nachdem er sämtliche Anwesenden eingehend gemustert hatte, ging er mit langsamen Schritten auf den Wirt zu. "Ich brauche ein Zimmer und einen Stall für mein Pferd." Der Weißhaarige sprach mit leiser Stimme. "Wie ihr... wie ihr wünscht, Fremder..." Der Wirt holte hastig einen Schlüssel unter der Theke hervor. "Euer Zimmer ist das letzte im Gang, auf der linken Seite. Um euer Pferd wird sich sofort mein Sohn kümmern..." Er rief nach einem kleinen, sommersprossigen Jungen mit wild zerzaustem dunkelrotem Haar. "Chain, versorge bitte das Pferd unseres Gastes..." "Alles klar, Dad!" Der Kleine warf dem düsteren Fremden einen ängstlichen Blick zu, dann lief er hastig aus der Gaststube hinaus. Lalit ergriff den Schlüssel und schleppte sich mit letzter Kraft die hölzerne Treppe hinauf ins obere Stockwerk. Erst jetzt, als er nicht mehr im Sattel saß, spürte er die Erschöpfung umso deutlicher. Jeder einzelne Knochen im Leibe tat ihm grausam weh. Er schloss die Türe zu seinem Zimmer auf, zog seinen Umhang und seine Stiefel aus, dann sperrte er sicherheitshalber hinter sich ab. Obwohl er sich nach einem Nachtmahl und einem warmen Getränk sehnte, brachte er nicht mehr die Kraft auf, in die Gaststube zurückzukehren. Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ er sich auf die weiche Matratze seines Bettes fallen, rollte sich zusammen und war im nächsten Moment auch schon eingeschlafen. Kapitel 2: Zweite Erinnerung - Ein Versprechen ~ A Promise ---------------------------------------------------------- Zweite Erinnerung - Ein Versprechen ~ A Promise Die warmen Strahlen der Mittagssonne schienen in das kleine Zimmer und kitzelten sanft Lalits Gesichts. Mit einem zufriedenen Seufzen streckte der seine erschöpften Glieder und blieb dann, alle Viere weit von sich gestreckt, lächelnd auf dem Rücken liegen. Zum ersten Mal seit Beginn seiner Flucht fühlte er sich nicht mehr gehetzt, er hatte keine Angst mehr. Am liebsten wäre er noch den ganzen Tag in seinem weichen, warmen, bequemen Bett geblieben und hätte sich schlicht und einfach mit Nichtstun beschäftigt. Einzig und allein sein ausgehungerter Magen protestierte mit einem lautstarken Knurren gegen diese ganz und gar unköniglichen Pläne. Im Zeitlupentempo quälte sich Lalit erneut auf die Beine und gähnte noch einmal ausgiebig. Von den vergangenen Tagen bei eisiger Kälte und schneidenden Wind hatte er einen üblen Muskelkater zurückbehalten. Trotzdem fühlte er sich nach dieser ausgiebigen Schlafpause wunderbar erholt und ausgeruht. Ein Blick in den Spiegel ließ ihn diese angenehmen Gefühl beinahe schlagartig wieder vergessen: er sah furchtbar aus. Seine edle Kleidung, mit der er sich so unachtsam unter die dicke Decke gekuschelt hatte, war vollkommen zerknittert. Auch seine Haare sahen aus, als hätten sie nie im Leben einen Kamm zu Gesicht bekommen. So konnte er unmöglich nach unten gehen! Eigentlich, dachte er unwillig, war sein Aufzug ohnehin sehr unpassend. Kein normaler Reisender trug solch wertvolle Stoffe! Er musste sich dringend eine neue Garderobe zulegen. Fürs erste musste eben sein guter alter Umhang als Tarnung genügen. Nachdem sich Lalit mehr als ausgiebig gekämmt und sein schneeweißes Haar zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, schlang sich Lalit den schwarzen Umhang um die Schultern, schlüpfte in seine Stiefel und stapfte die Treppe hinunter in die Raststube. Der Mittag war bereits angebrochen und so hielten sich verhältnismäßig viele Menschen in dem kleinen, gemütlichen Raum mit der niedrigen Decke auf. Ein Kamin sorgte mit flackerndem Feuer für wohlige Wärme. Überall wurden eifrige und lebendige Gespräche geführt, doch mit Lalits Eintreten verstummten diese schlagartig. Die Nachricht von dem geheimnisvollen jungen Fremden hatte sich bereits herumgesprochen. Vor allem der Wirt musterte die schlanke Gestalt mit höchstem Interesse. Er war überrascht, dass dieser seltsame junge Mann so auffallend schön war und wusste gar nicht, was worüber er sich am meisten wundern sollte: die weißen Haare oder diese seltsamen, goldenen Augen. Auf dem ganzen Eiskontinent, aber vor allem in Akai sah man nahezu ausnahmslos Menschen mit dunklen Haaren und Augen. Der Fremde passte mit seinen hellen Haaren und der bleichen Haut so gar nicht zu diesem Erscheinungsbild. Ob er ein Reisender aus einem fernen Land war? Aber was verschlug ihn wohl in solch ein gottverlassenes kleines Städtchen? Nicht nur an seinem gut gefüllten Geldbeutel und seinem edlen Reitpferd, sondern an seiner ganzen Art sich zu Bewegen konnte man seine adelige Abstammung erkennen. Der junge Reisende war und blieb ein Rätsel und somit ein gefundenes Fressen für die isoliert lebenden Dorfbewohner. Lalit nahm an einem einsamen Tisch in der Ecke der Gaststube Platz und wartete, bis die Bedienung zu ihm kam. "Was wünscht ihr?" fragte sie mit einem hinreißend schüchternen Lächeln auf den Lippen. Lalit musterte das Mädchen. Sie war noch jung, wahrscheinlich nicht einmal so alt wie er. Für diesen kleinen Gasthof musste sie eine besondere Attraktion sein - man sah auf den ersten Blick, dass sie eine Ausländerin war. Ihr aschblondes Haar fiel ihr in sanften, welligen Löckchen über die Schultern. Ihre großen Augen blitzten in einem sehr hellen Grün. "Eine Tasse Tee und einen Teller von dem Eintopf", bestellte Lalit lächelnd. Die Kleine mit dem kurzen Röckchen eilte in die Küche und kehrte wenig später mit einem Tablett zurück, auf dem zwei dampfende Schüsseln standen. "Hier, bitte sehr!" Sie stellte die Mahlzeit auf Lalits Tisch ab. Ihre grünen Augen streiften dabei unablässig über Lalits Gesicht. "Hab dank, meine Schöne..." flüsterte der Weißhaarige. Das Mädchen errötete. Sie blinzelte verlegen und spielte mit einer Strähne ihrer auffälligen Haarpracht. "Das macht vier Silberstücke!" meinte sie dann mit verlegener Stimme. Lalit überreichte ihr das Geld und behielt ihre Hand ein wenig länger als nötig in seiner eigenen. "Sei so gut, sag mir, wo ich hier in der Stadt einen Laden für Kleidung finden kann." Lalit legte seinen Kopf ein wenig schräg. Die Blonde wurde noch ein Stückchen röter. "Am... Am Marktplatz gibt es einen Laden, direkt gegenüber von diesem Gasthaus. Ihr könnt es nicht verfehlen..." Sie lächelte unsicher. "Ich danke dir..." Lalit sah, wie die junge Bedienung unter seinen Blicken dahinschmolz. Er war zufrieden und widmete sich seinem Eintopf. Das warme Essen war eine unglaubliche Wohltat. Er genoss jeden einzelnen Löffel, als hätte er das edelste Gericht vor sich stehen. Dann trank er langsam den heißen Tee und lehnte sich für einige Augenblicke zurück. Eigentlich sprach gar nichts dagegen, für einige Zeit in dieser Unterkunft zu bleiben. Weder das Essen, noch die Zimmer waren sehr teuer und so konnte er von seinem Geld problemlos eine Weile überstehen. Und danach? Wer wusste das schon! Irgendeine Arbeit würde sich schon finden lassen. All diese Gedanken erschienen ihm unheimlich aufregend. Sein von ewigen Pflichten und Vorschriften geregeltes Leben lief nun endlich in anderen, unbekannten Bahnen. Er war endlich aus seine goldenen Käfig ausgebrochen und er liebte das Gefühl neu gewonnener Freiheit. Lalit stand auf und verließ dann die Gaststube, nicht ohne der jungen Blonden noch ein vielsagendes Zwinkern zuzuwerfen. Auf das Gesicht des Mädchens stahl sich ein strahlendes Lächeln. Auch der junge Weißhaarige lächelte, aber seine Augen blieben dabei vollkommen kalt. Die kleine Stadt stellte sich als verschlafenes, zauberhaftes Paradies heraus. Lalit liebte die kleinen, wie Spielzeug wirkenden Häuschen und die verschneiten Wälder, die diesen verwunschenen Ort umgaben. Es war ein grandioses Gefühl, sich endlich frei bewegen zu können. Hier gab es keine Pflichten und Anstandsregeln, und vor allem begegneten man dem jungen Thronfolger nicht wie einem Halbgott, sondern einfach nur wie einem - wenn auch etwas seltsamen - Reisenden. Es war fantastisch! So erholte Lalit sich von der anstrengenden Flucht, flirtete mit der Bedienung aus der Gaststube und erkundete stundenlang die nähere Umgebung. Bis er eines Tages Ihm begegnete. Es war noch recht früh am Morgen, die Sonne blinzelte verschlafen hinter den Baumwipfeln hervor und tauchte den Schnee in ein sanftes rotviolettes Licht. Lalit schlenderte gedankenverloren durch die Gassen des Städtchens mit Namen Cecaya. Er achtete nicht auf seinen Weg oder seine Umgebung, er dachte nach. Über seine weiteren Pläne. Sein Leben. Wie wollte er denn jetzt Geld verdienen? In einer größeren Stadt hätte er vielleicht als Söldner arbeiten können, aber an diesem abgeschiedenen Ort am Rande der Welt war es weitaus schwieriger, sich durchzuschlagen. Sollte er überhaupt auf dem Eiskontinent bleiben? Oh ja, das wollte er auf jeden Fall. Er liebte doch den Schnee, wie sollte er da irgendeine andere Heimat suchen? Was wohl im Schloss geschehen war... Mitten in all diesen Überlegungen versunken bemerkte Lalit die sich eilig nähernde Gestalt erst, als es schon viel zu spät war. Die beiden Körper prallten zusammen, der Weißhaarige verlor das Gleichgewicht und mit einem erschrockenen Aufschrei und vergeblichem Armrudern landete er schließlich reichlich unsanft im Schnee. Auf ihm lag ein zierlicher Junge, von dem er im Augenblick nicht viel mehr erkennen konnte als sein schulterlanges, pechschwarzes Haar und die verhältnismäßig dünne Kleidung. "Kannst du nicht aufpassen, Idiot?" schon im nächsten Augenblick hatte sich der Fremde aufgesetzt und schrie nun wild gestikulierend in die Morgenstille hinaus. Lalit war im ersten Moment überwältigt, und das lag nicht nur an der ungewohnt respektlosen Anrede des Schwarzhaarigen. Irgendetwas an den wütend funkelnden intensiv türkis leuchtenden Augen des Jungen faszinierte ihn. In seinem Gesicht konnte man lesen wie in einem offenen Buch. Er war nicht der Typ Mensch, der seine Gefühle hinter einer unbewegten Maske verbarg, das sah man sofort. Auf eine faszinierende Art und Weise war er wunderschön. "Oh, verzeiht..." murmelte Lalit hastig. Er spürte, wie nun sein Gesicht und seine Kleidung eingehend gemustert wurden. "Ich war in Gedanken versunken und habe nicht auf den Weg geachtet." "Na das merke ich!" Plötzlich musste der Junge grinsen. "Aber... halb so schlimm, kuck nicht gleich so ängstlich, ich habe noch nie einen Menschen gefressen! Ich heiße übrigens Kieran! Und du kannst ruhig du zu mir sagen!" Er lachte. Alles in seinem Gesicht, seine lebendigen, großen Augen, seine schmale Nase, seine zart geschwungenen Lippen, jede einzelne seiner vielen Sommersprossen... alles schien in dieses Lachen einzustimmen. Lalit konnte gar nicht anders, als sich ebenfalls anzuschließen. "Ich bin Lalit!" meinte er dann. "Bist du von hier? Deine Kleidung sieht nicht wirklich... der Temperatur angemessen aus..." "Ich weiß... ich weiß... aber ich komme nicht aus diesem Kaff hier. Ich komme eigentlich von Silvania!" "Silvania? Wie bist du denn auf diesen Kontinent gekommen... und das ausgerechnet hierher?" Lalit war ein wenig überrascht. Außerdem sah der Junge nicht gerade so aus, als ob er sich eine teure Überfahrt ohne weiteres leisten konnte. "Ist eine lange Geschichte... nein, obwohl... eigentlich doch nicht. Ich reise einfach gerne, und ich möchte die ganze Welt sehen. Ich war seit meiner Kindheit immer unterwegs! Ich hatte eigentlich nie Eltern oder so was, keine Ahnung. Ich lebe für die Freiheit und genieße mein Leben!" In der Stimme des Schwarzhaarigen schwang keine Spur von Trauer mit. Seine Augen funkelten so sehr, dass Lalit einen Anflug von Neid nicht unterdrücken konnte. Wie glücklich musste dieser Junge doch sein! Im nächsten Augenblick überlegte er es sich anders und fügte in Gedanken hinzu: Ja, und wie sehr muss er doch frieren in diesem Aufzug. "Jetzt solltest du dir aber schleunigst etwas Wärmeres zum Ankleiden suchen, ansonsten könntest du dir den Tod und Schlimmeres holen!" Lalit stand auf. "Am Marktplatz gibt es etliche Kleidungsgeschäfte. Ich kann sie dir zeigen, wenn du willst." "Ja, klar! Das wäre super!" Und so saßen die Beiden wenig später warm eingekleidet und mit zwei dampfenden Tassen Tee an einem Tisch in der Ecke der Gaststube. Während sie das warme Getränk schlürften plauderte Kieran nahezu ohne Punkt und Komma aus seinen reichen Schatz an Erinnerungen - an fremde Orte, halsbrecherische Abenteuer und natürlich jede Menge besonders lustige Erlebnisse. Lalit hing wie verzaubert an den Lippen des Jungen. Das Leben dieses Wanderers faszinierte ihn so sehr, dass er ab und zu sogar die Maske der Kälte auf seinem Gesicht vergaß. Irgendwann unterbrach sich der Schwarzhaarige jedoch und sah den jungen Kronprinzen mit seinen wunderschönen Augen an. Sie leuchteten so geheimnisvoll wie das Meer an einem sonnigen Tag. "Woher kommst du eigentlich?" fragte er, offensichtlich ein wenig beschämt über seinen langen Monolog. "Ich erzähle und erzähle und langweile dich wahrscheinlich zu Tode! Dabei bist du doch viel interessanter. Jedenfalls siehst du gar nicht aus wie die anderen Menschen aus Ragnara, bist du nicht von hier?" "Doch, doch... und deine Geschichten sind keinesfalls langweilig!" "Du redest... komisch..." "Oh, wirklich?" Lalit blinzelte den Fremden in gespielter Überraschung an. In Wirklichkeit hätte er sich am liebsten die Zunge abgebissen. Erkannte man ihn jetzt schon an seiner Redeweise? Er musste sich wirklich mehr anstrengen!!! "Ich... komme aus Belicia, das ist das Nachbarkönigreich. Dort ist es auch ein bisschen, nein, sogar um einiges wärmer als hier!" "Schauder. Das hoffe ich doch. Und wieso bist du dann hier? Du siehst jedenfalls nicht sehr arm aus." "Hmm..." Lalit blickte auf die dunkelbraune Tischplatte. "Ich... ja, ich hatte auch nie Eltern. Und weil ich den Schnee, das Eis und die Kälte liebe... bin ich nach Akai gekommen. Mein Weg kreuzte zufällig diese kleine Stadt und jetzt bin ich hier." "Cool!" Der Schwarzhaarige lachte. Er sprach mit einem leichten silvanischen Akzent, was ihn in Lalits Augen noch ein wenig niedlicher machte. "Das Wichtigste ist ja sowieso, dass man zufrieden ist mit seinem Leben. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass man glücklich sein kann, ich meine, wirklich glücklich, wenn man nur einen einzigen Ort auf der Welt kennt!" "Ja... ja, das stimmt!" Lalit nickte. Er hob seine Teetasse an wie ein kostbares Sektglas. "Also, trinken wir... auf das Glück!" "Auf das Glück!" stimmte Kieran begeistert ein. Die beiden stießen an und nippten dann vorsichtig an der heißen Flüssigkeit. Lalit spürte ein Gefühl tiefer Zufriedenheit in seiner Brust. Mit einem Mal erschien ihm sein kleines Paradies noch ein wenig perfekter. Eine neue Nacht war hereingebrochen, eine der düsteren Nächte des Schneemonats. In diesen ersten Wochen des neuen Jahres erhellte kein Vollmond den Himmel. Bald würde sogar die lange Dunkelheit anbrechen, eine achttägige Neumondphase. Die grauen Schneewolken ließen kein Sternenlicht auf die Erde herabscheinen. Es war vollkommen Dunkel. Lalit kümmerte sich nicht darum. Er sah gut in der nächtlichen Finsternis, außerdem konnte er zur Not immer noch die Augen schließen und sich ganz auf den scharfen Blick seiner Emotionen verlassen. Genau das tat er auch gerade, als er plötzlich eine Gestalt vor dem Gasthof wahrnahm. Lalit schlug die Augen wieder auf. Der Marktplatz war hell erleuchtet, und so konnte er die Wartende gut erkennen. Sie sah ihn hingegen erst, nachdem er aus der schmalen, düsteren Gasse hinausgetreten war in das Licht der kleinen Laternen. Ihre hellgrünen Augen blitzen erfreut. "Lalit!" rief sie und lief auf ihn zu, ohne auf den glatten Boden zu achten. Man merkte sofort, dass sie ihr Leben an solch einem unwirtlichen Ort verbracht hatte. "Lalit, ich muss mit euch reden!" "Wieso denn?" Der Weißhaarige war wenig begeistert, ließ es sich aber nicht anmerken. Wieder einmal war es sehr zu seinem Nutzen, dass er sein ganzes Leben lang gelernt hatte, seine Gefühle zu verbergen. Sein Blick und jeder seiner Gesichtszüge blieben so ungerührt und kalt wie immer. "Weil... weil..." Sie sah zu Boden. Beschämte Röte trat in ihr Gesicht. "Nun, es ist so, dass... demnächst ist ein Fest... in der Hauptstadt Altania. Das findet nur einmal im Jahr statt und alle Mädchen gehen dorthin, mit, mit... einer männlichen Begleitung..." Die Worte fielen ihr sichtlich schwer. "Also, ich wollte euch fragen, ob, ob... ihr mich nicht begleiten wollt..." "Das Fest unserer Göttin Niva..." "Genau!" Sie nickte eifrig. "Nun ja... wenn ich recht darüber nachdenke..." Lalit legte den Kopf ein wenig schräg. "Nein." "Ja, aber..." "Nein. Ich kenne diese Feste doch. Wenn schon ein Partner erwünscht ist, dann tummeln sich dort nur Liebespaare. Heißt es nicht, während der längsten Neumondphase sollen alle Liebenden zueinander finden, um mit dem Licht ihrer Herzen einen neuen Mond zu erhellen?" "So erzählt es die Legende, ja... und... deshalb habe ich euch auch gefragt. Ich... ich habe mich in euch verliebt. Und ich denke... ich dachte... ihr würdet ähnliches für mich... empfinden..." "So, dachtest du das?" Lalits Lippen verzogen sich zu einem kalten, herablassenden Lächeln. "Du hast dich wohl geirrt. Such dir jemand anderen für deinen albernen Ball, ich glaube nicht an solche Märchen!" "Ja, aber..." Die hellen Augen des Mädchens begannen mit einem Mal feucht zu schimmern. "Das kann ich einfach nicht glauben! Wieso wart ihr denn dann so freundlich zu mir? Ihr habt euch verhalten, als würdet ihr mich lieben!" "Wie naiv du bist!" Der Weißhaarige schüttelte den Kopf. "Das war doch nur ein Spiel! Und jetzt lass mich in Ruhe!" Er ging mit unbewegter Miene an der fassungslos dastehenden Bedienung vorbei, ohne der Blonden einen weiteren Blick zu schenken. Die Konsequenz dieses Vorfalles wurde Lalit erst wenige Tage später bewusst. Er war gerade wieder auf einem seiner Spaziergänge durch das Städtchen, als er plötzlich Schritte hinter sich hörte. Der junge Thronfolger drehte sich um und sah ein paar junge Männer hinter sich stehen, allen voran eine besonders große und auffällige Gestalt. Vor allem sein kurzes, flachsblondes Haar stach sofort ins Auge, aber auch seine wasserblauen Augen waren für einen Ragnarer ziemlich ungewöhnlich. Auf seinem groben Gesicht lag ein derart böswilliger Ausdruck, dass Lalit unweigerlich erschauerte. "Du bist doch dieses Arschloch aus dem ,ewigen Licht', oder?" fragte er mit einer hässlichen, ein wenig dümmlich klingenden Reibeisenstimme. Ein typischer Bauernjunge, schoss es Lalit unweigerlich durch den Kopf. "Ich wohne in der Tat im Gasthof ,Zum ewigen Licht', aber ob ich das Arschloch bin, von dem ihr redet, kann ich leider nicht beurteilen." Er wollte sich gerade wieder desinteressiert abwenden, als er plötzlich sah, dass am anderen Ende der Gasse ebenfalls ein paar Gorillas standen. "Dürfte ich vielleicht erfahren, was ihr von mir wollte?" "Du hast meiner Schwester weh getan, das will ich von dir, du miese Ratte!" Seine wässrigen Augen funkelten böse. Langsam stieg ein höchst ungutes Gefühl in Lalit hoch. Er ließ sich dies aber nicht anmerken und zuckte nur mit den Schultern. "Hey, hörst du mir überhaupt zu? Das eins klar ist, nur weil du vielleicht irgendein verwöhntes Adelssöhnchen aus irgendeiner stinkreichen Familie bist, brachst du nicht zu glauben, du könntest dir hier alles erlauben!" Als der Gorilla immer noch keine Spur von Angst auf Lalits Gesicht erkennen konnte, lief sein Kopf zornesrot an. "Bist du fertig?" seufzte der mit ungerührter Stimme. "Ich würde nämlich jetzt wirklich gerne weitergehen, danke, ich habe nämlich Besseres zu tun." "Du kleiner..." Der blonde Gorilla schnaubte. "Das hast du nicht umsonst getan. "Los, zeigen wir ihm, wie wir mit solchen Schweinen umgehen!!!" Ehe Lalit sich versah, hatten die Riesen ihn eingekreist. Der Blonde packte ihn bei den Schultern und drückte ihn gegen die raue Hauswand. Mit einem Schlag kroch ein Gefühl beklemmender Panik in dem jungen Weißhaarigen hoch. Für einige Sekunden sah er nicht mehr die wutverzerrte Fratze des hässlichen großen Bruders vor sich, sondern ein auf eigentümliche Art und Weise faszinierendes Gesicht eines alten Mannes mit einem langen weißen Bart, violetten Augen und einem eiskalten, bösen Lächeln auf den Lippen. Er versuchte nicht einmal mehr, sich zu wehren. Er bemerkte auch nicht das triumphierende Grinsen des Flachsblonden, als dieser Lalits Körper unter seinen Bratpfannenhänden zittern spürte. "Ooooch, hast du jetzt etwa doch Angst?" säuselte er und rammte Lalit die Faust in den Magen. Dieser konnte sich gar nicht schnell genug zusammenkrümmen, bevor ihn ein weiterer Schlag mit voller Wucht ins Gesicht traf. Dem Weißhaarigen wurde schwarz vor Augen. Eine heftige Ohrfeige riss ihn jedoch ziemlich unsanft wieder aus der drohenden Bewusstlosigkeit. "Das ist für meine Schwester und alle anderen Mädchen, die du wahrscheinlich schon verarscht hast!" Eine weit, weit entfernte Stimme drang durch das Rauschen in Lalits Kopf. Dann hörte er plötzlich einen Schrei... wer war das? Er wollte aufblicken, doch einige weitere Bratpfannen-Hiebe rissen den letzten Funken Wahrnehmung mit sich. Entfernt bekam Lalit noch mit, wie er haltlos zu Boden fiel und im kalten Schnee landete, dann spürte er nichts mehr. Als Lalit die Augen wieder aufschlug, lag er nicht mehr auf der verschneiten Straße. Er war auch nicht mehr von einer Gruppe aufgebrachter Gorillabrüder umgeben, die mit gefletschten Zähnen nach seinem Fleisch lechzten. Stattdessen lag er in einem weichen Bett in der Gaststube. Er zog sich die Decke bis unters Kinn und genoss das Gefühl des warmen Stoffes auf seiner Haut und... Auf seiner Haut?!? Lalit stieß einen leisen Schrei aus. Er blickte mit einer höchst unguten Vorahnung an seinem Körper herab, stellte dann aber erleichtert fest, dass man ihm seine Hose gnädigerweise gelassen hatte. Mit einem Seufzer der Erleichterung vergrub er sich wieder in dem großen Kissen. Wo war er denn überhaupt? Dies war auf keinen Fall sein eigenes Zimmer! Mit einem höchst misstrauischen Blick fixierte er die sich nun langsam öffnende Türe. "Hey, zurück aus dem Reich der Toten?" Ein grinsender Junge trat ins Zimmer und sah den jungen Weißhaarigen mit blitzenden türkisfarbenen Augen an. "Sehr witzig!" grummelte dieser, obwohl er eigentlich unheimlich erleichtert war, Kieran zu sehen. "Dürfte ich erfahren, wieso ich halb nackt in deinem Bett liege?!?" "Wuuuh, was glaubst du denn?" Der Schwarzhaarige verschränkte die Arme vor der Brust. "Bedankst du dich immer so bei deinem Retter?" "Retter?" "Ja, klar! Dieser Trupp von tollwütigen Menschenaffen war über dich hergefallen. Du lagst schon bewusstlos am Boden, wer weiß, was sie noch alles mit dir angestellt hätten! Ich habe ihnen gedroht, augenblicklich einen Gardisten zu holen - ja, so was gibt es auch in diesem gottverlassenen Kaff hier - und daraufhin haben sie kalte Füße gekriegt und sind getürmt. Feiglinge!" "Sei doch froh!" murmelte Lalit. Kieran grinste noch ein bisschen breiter. "Hast ja Recht... sag mal, warum wollten sie dich überhaupt zusammenschlagen?" "Vielleicht darf ich mich erst einmal wieder anziehen, bevor wir weiterreden?" Lalits Tonfall klang drängender, als er es beabsichtigt hatte. "Ist ja gut, reg dich nicht gleich auf!" Kieran drückte ihm den Rest seiner Kleidung in die Hand. "Außerdem... vielleicht solltest du doch lieber noch ein wenig liegen bleiben? Ich meine... die Typen waren ganz schön kräftig... jetzt untertreibe ich... hey, das muss doch weh tun!" "Man gewöhnt sich an alles." Lalit stand auf und zog sich an. Als letztes schlüpfte er noch in seine Stiefel und setzte sich auf das Bett. Erst jetzt bemerkte er Kierans zwischen Besorgnis und Verwirrung schwankenden Blick. "Lalit, was sollte das jetzt heißen?" "Nichts. Vergiss es einfach." "Willst du vielleicht über irgendetwas reden?" "Nein." Lalits Gesicht und seine Stimme waren wieder vollkommen kalt und emotionslos. Kieran seufzte. "Na wenn du meinst... und jetzt sag, wie hast du es bitteschön geschafft, dich mit diesen Kampfmaschinen anzulegen?" "Ganz einfach; ich habe der Schwester von diesem Blonden einen Korb gegeben... du weißt schon dass ist die Kleine aus der Gaststube unten!" "Die Bedienung? Hey, wieso das denn? Ich dachte, du willst was von der!" "Warum sollte ich?" "Na, so wie du geflirtet hast..." "Und? Was ist schon dabei..." "Lalit..." Kieran sah dem Weißhaarigen tief in die Augen. "Entschuldige bitte, aber... wenn das so ist, dann hast du die Tracht Prügel wirklich verdient. So etwas macht man doch nicht! Hast du nicht gemerkt, dass die Kleine total in dich verschossen ist?" "So ein Blödsinn!" Lalit stieß ein verächtliches Lachen aus. "Nichts Blödsinn! Mann... so hätte ich dich echt nicht eingeschätzt. Sorry, aber das ist doch wirklich das Letzte!" "Was bitte ist das Letzte? Meine Güte, das Blondchen ist doch eh nur auf mein schönes Gesicht abgefahren, oder? Als ob die sich ernsthaft in mich verliebt hat!" Er warf sich sein weißes Haar über die Schulter. "Eingebildet sind wir aber nicht, oder was?" Kieran verschränkte die Arme vor der Brust. "Ich weiß nicht, ob du wirklich so denkst... aber nicht alle Menschen sind so oberflächlich wie du es vielleicht bist... Schrecklich! Ich habe doch das Leuchten in ihren Augen gesehen... du etwas nicht? Hey, sie hat dich geliebt, wie so ein junges Mädchen eben lieben kann... glaub mir, sie hat dich wirklich geliebt und wie ich sie einschätze, tut sie es immer noch..." "Verdammt noch mal, niemand liebt mich!" Zu seinem Entsetzen musste Lalit feststellen, dass seine Stimme zu zittern begann. Er wandte ruckartig den Kopf ab und starrte zu Boden. "Was... Hey, was ist denn los?" Kierans Stimme klang mit einem Mal überhaupt nicht mehr wütend. Er setzte sich neben Lalit und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Der Weißhaarige atmete tief durch. Es kostete ihn einige Anstrengung, seine jahrelang antrainierte Kälte und Arroganz wiederzufinden. "Was soll schon sein?" "Hey, jetzt hör auf mit dieser Ich-bin-ein-wandelnder-Eisberg-Masche, OK? Ich habe nämlich gerade eben beschlossen, dass du mir leid tust!" "Ich brauche dein Mitleid nicht!" "Natürlich... aber dann rede nicht so einen Blödsinn!" "Blödsinn?" "Ja! Sag mir eines... wer hat dir das eingeredet? Ich meine, dass niemand dich liebt... auf so etwas kommt man doch nicht! Und dann diese Bemerkung von vorhin..." "Ich habe doch schon gesagt, denke nicht weiter darüber nach." Lalit wusste nicht, ob er den Schwarzhaarigen für seine unglaubliche Direktheit lieben oder hassen sollte. "Schon gut, mache ich ja gar nicht mehr!" Er seufzte. "Dürfte ich dich vielleicht trotzdem in den Arm nehmen?" "Wie... wie bitte?" Lalit starrte den Jungen vollkommen perplex an, doch dieser wartete keine Antwort mehr ab. Er legte dem Weißhaarigen mit einer sanften, nahezu vorsichtigen Bewegung die Arme um die Schultern und zog ihn zu sich heran. Lalit zuckte zusammen und begann unweigerlich, ein wenig zu zittern. "Nicht doch... du musst keine Angst haben, ja?" "Rede... rede mit mir nicht, als wäre ich ein kleines Kind!" "Mache ich doch gar nicht... du sollst dich nur ein wenig entspannen! Und wenn ich loslassen soll, sag es einfach!" Lalit öffnete den Mund, dann jedoch zögerte er. Wollte er denn wirklich, dass der Schwarzhaarige von ihm abließ? Dies war vielleicht das erste mal in seinem Leben, dass ihn jemand mit einer ehrlichen, tröstenden Geste in seine Arme schloss... genau davon hatte er als Kind immer nur träumen können. All die krampfhaft unterdrückte Sehnsucht nach ein wenig menschlicher Nähe, nach Wärme... nach Liebe... stieg mit einem Mal wieder in ihm hoch. Er verlor für einen Augenblick vollkommen die Kontrolle über sich und hielt sich wie ein kleines Kind an dem schwarzhaarigen Jungen fest. Er legte seinen Kopf an Kierans Schulter. Einen Moment lang musste er sich beherrschen, dass ihm jetzt nicht die Tränen kamen. Kieran begann, dem Weißhaarigen sanft über den Rücken zu streichen. "Ist ja gut... Ich gehe schon nicht weg, hörst du?" flüsterte er. Lalit nickte schwach. Was hätte er auch sagen sollen? Eigentlich war es ihm egal, was der Schwarzhaarige von ihm dachte. Er wünschte sich nur, dass dieser Augenblick nie mehr vorüber gehen würde. "Kieran..." murmelte er schließlich, nach einer ebenso endlos wie auch viel zu kurz erscheinenden Zeit. "Ich würde... ich möchte doch zu diesem Ball gehen..." "Aber Lalit", erwiderte der sanft. "Wenn du nun mal nichts für diese Tussi übrig hast, dann... dann... kann sie auch nichts daran ändern... OK?" "Nein, du hast mich nicht richtig verstanden." Lalit richtete sich auf und blickte Kieran tief in die türkisfarbenen Augen. "Ich möchte nicht mit ihr hingehen. Ich möchte mit dir hingehen." Der Schwarzhaarige starrte den jungen Thronfolger überrascht an. Zum ersten Mal seit Lalit ihn kannte, erlebte er den übermütigen Jungen vollkommen sprachlos. Na toll, dachte er, jetzt hält er dich für abartig und verrückt und möchte im Leben nichts mehr mit dir zu tun haben. Herzlichen Glückwunsch... "Das kommt... etwas... überraschend..." Kieran atmete tief durch. "Klar... das war... bescheuert, vergiss es am Besten einfach..." "Das kann ich leider nicht... so einfach..." "Verstehe..." Lalit sah zu Boden und hätte sich am liebsten selbst eine runtergehauen. "Jetzt hast du mich nicht richtig verstanden!" Der junge Schwarzhaarige grinste plötzlich über das ganze Gesicht. "Ich würde wirklich gerne mit dir dorthin gehen... Ich hätte nur... um nichts in der Welt damit gerechnet, dass du das auch... ich meine... ich dachte, du wärst mehr so... andersrum..." "Was soll das denn bitte heißen?!?" Auf Lalits bleiche Wangen trat eine leichte Rotfärbung. "Warum so empört? Wie soll ich es denn bitte sonst nennen?" "Ich habe nie behauptet, dass ich auf dich stehe?" "Ach nein?" Er kicherte. "Darum willst du auch mit mir das Feuer der Liebe entzünden... Kitsch ahoi! Aber im ernst... ich stehe auf dich. Das zumindest lässt sich nicht ändern. Und wenn du was dagegen hast, sag es lieber gleich!" "Du stehst auf mich?" Lalit konnte das Leuchten in seinen Augen nicht mehr ganz unterdrücken. Er konnte kaum glauben, was er da eben gehört hatte. Nur mit viel Mühe widerstand er der Versuchung, sich in den Arm zu zwicken, um sicherzugehen, dass er nicht träumte. "So was... so was passiert nun mal. Du bist wirklich nett, auch wenn du das immer so krampfhaft zu verbergen versuchst. Außerdem bist du einfach süß und siehst umwerfend aus." "Direkt sind wir aber nicht, oder wie?" Der Weißhaarige schüttelte den Kopf. Plötzlich musste er lachen. "Du bist verrückt!" "Ach? Und wieso bitte? Ich meine, was soll ich machen, wenn..." "Shhhh..." Er legte dem Schwarzhaarigen einen Finger auf den Mund. "Und genau das mag... liebe ich an dir!" "Aber... das meinst du nicht ernst, oder? Das finde ich jetzt jedenfalls nicht witzig! Und außerdem..." "Darf ich dich küssen?" Kieran war perplex. Er blinzelte den Weißhaarigen verwirrt an und sah dabei unheimlich niedlich aus. Nun war es Lalit, der eine Antwort nicht abwartete. Er zog den zierlichen Körper sanft zu sich heran und drückte seine Lippen vorsichtig an die des Jungen. Doch erst, als er keinerlei Gegenwehr spürte - im Gegenteil - versank er vollkommen in seinem ersten Kuss. Das Königshaus, seine Flucht, die Last des Vermächtnisses, das auf seinen Schultern ruhte... all das war einige wundervolle, berauschende Augenblicke vergessen. Vielleicht zum ersten Mal in seinem jungen Leben war Lalit wunschlos glücklich. Der Abend war wunderschön gewesen. Nirgendwo waren die Niva-Feste prächtiger und zauberhafter als in diesem kältesten Teil Ragnaras. Unzählige Gäste strömten in die Festhalle der Stadt Altania. Es gab nur wenige große Städte in diesem unwirtlichen Land, doch die kristallene Stadt war auf jeden Fall die Schönste von ihnen. Ihren Beinamen trug Akais Hauptstadt wegen der unzähligen weißen Häuser, die mit ihren schneebedeckten Dächern wie kostbarste Edelsteine in der Wintersonne glitzerten. Am Tag des Niva-Festes war alles mit silbernen Fäden behängen, so dass auch die kleinste Gasse wie ein verzauberter Märchenwald erschien. Im inneren der prächtigen Festhalle hingen neben diesem funkelnden Schmuck auch unzählige weiße und hellblaue Edelsteine von der Decke. Silberne Kerzen ließen die Dekoration blitzen und leuchten, so dass tausend kleine Lichter durch den ansonsten dunklen Raum tanzten. An den prächtigen Kleidern der adeligen Gäste, die sich wie selbstverständlich unter das normale Volk mischten, konnte man sich den ganzen Abend lang nicht satt sehen. Sanfte, nahezu unwirkliche Musik erfüllte das glitzernde Traumland und lud zum Tanzen ein. Des weiteren war ein riesiges Buffet mit allen nur erdenklichen Speisen und Getränken bereitgestellt. Die Zeit flog nur so dahin, bis irgendwann die Klänge des kleinen Orchesters verstummten und die unzähligen Paare hinaus in die mondlose Winternacht strömten. Lalit und Kieran hatten sich einen ruhigen Platz, fern von dem größten Trubel ausgesucht und blickten hinab auf die nächtliche Stadt. "Das war der schönste Tag in meinem ganzen Leben!" Kieran strahlte über das ganze Gesicht. Lalit zog den Schwarzhaarigen zu sich heran und drückte ihn fest an sich, als hätte er Angst ihn jemals wieder loszulassen. "Du hast recht... das Fest war wundervoll! Kieran?" "Was ist?" "Ich liebe dich!" "Und ich dich erst!" Das junge Paar küsste sich zärtlich. Dann standen sie noch lange einfach nur da und hielten sich im Arm, bevor sie schließlich langsam den Weg zurück zu ihrer Unterkunft antraten. Eng umschlungen wie alle anderen frisch Verliebten schlenderten sie durch Altanias verzauberte Gässchen. Morgen würden sie in ihren kleinen Zufluchtsort Cecaya zurückkehren. Lalit war einerseits ein wenig enttäuscht, aber auch erleichtert darüber. Hier in Altania waren entschieden zu viele Menschen! Die Gefahr, von irgendjemandem erkannt zu werden, war schlicht und einfach zu groß - vor allem, weil das Schneefest der Kristallstadt weltberühmt war. Und trotzdem bereute er keine Sekunde lang, hergekommen zu sein. Als die Lalit und Kieran schließlich wieder in der vollkommen überfüllten Kutsche saßen, die sie in die gemütliche Kleinstadt zurücktrugen, waren ihre Herzen von der tiefen Melancholie des Abschieds erfüllt. "Ich wünschte, wir könnten bleiben!!!" seufzte Lalit. "Ich doch auch! Aber, hey..." Kieran grinste. "Sei nicht traurig! Wir kommen nächstes Jahr wieder, OK?" "Oh ja!" Der Weißhaarige lächelte. "Wir kommen ab jetzt jedes Jahr hierher! Irgendjemand muss doch für einen neuen Vollmond sorgen!!!" "Kindskopf!" "Das sagt der Richtige!" Die Räder der Kutsche klapperten auf dem vereisten Boden mit den Hufen des Zugpferdes um die Wette. In dem morgendlichen Kältenebel verfingen sich die hellen Strahlen der Sonne. Es war ein wunderschöner Wintertag. Noch ahnte niemand etwas von der schleichenden Bedrohung, die der Kutsche folgte wie ein unsichtbarer Schatten. "Hey, Lalit!" rief der untersetzte Wirt an diesem Abend, als die beiden Verliebten Hand in Hand die hölzerne Treppe hinabstiegen, um unten in der Gaststube eine Mahlzeit zu sich zu nehmen. Der Wirt hatte die Scheu vor dem Weißhaarigen mittlerweile verloren, allein die hasserfüllten Blicke der blonden Bedienung schienen ihnen bei jeder Bewegung zu folgen. "Da waren anscheinend so komische Typen da und haben nach dir gefragt!" "Anscheinend?" "Nein, nicht anscheinend!" mischte sich nun die Blonde ein. "Sie haben mit mir geredet!" "Was haben sie dich gefragt?!?" Lalit schrie beinahe. Die übrigen Gäste im Gasthaus drehten sich erschrocken um. Das Mädchen tänzelte mit eine gehässigen Lächeln auf den Lippen zu dem Tisch des jungen Thronfolgers und setzte sich neben ihm. "Wir wollen ja nicht, dass alle das hier mitkriegen..." "Lalit, was ist?" fragte Kieran besorgt und legte seine Hand auf die von Lalit. "Du hast doch hoffentlich nichts ausgefressen?" "Nein! Ich meine..." Er starrte auf das dunkle Holz des Tisches. "Hast du ihnen gesagt, wo ich bin?" "Natürlich!" Sie lächelte. "Sie warten oben auf ihren Zimmern. Ich glaube, du hast sie sehr, sehr verärgert... Prinz Lalit Alaric Isaiah von Belicia!" Plötzlich herrschte völlige Stille in dem kleinen Raum. Kierans Augen weiteten sich. Dann schließlich verzog sich sein Gesicht zu einem gequälten Lächeln. "Hey, das ist ja wohl jetzt ein schlechter Witz!" "Das werden wir ja sehen!" Die Blonde kicherte. Erst jetzt bemerkte Lalit, dass auch ihr großer Bruder in der Gaststube saß. Mit einer gebieterischen Handbewegung deutete ihm das Mädchen, die Türe zu verstellen. Dann sprang sie auf und rannte in das obere Stockwerk. Lalit machte gar keine Anstalten zur Flucht. Er hielt nur Kierans Hand umklammert und blickte ins Nichts. Er wusste, er konnte jetzt nicht mehr davonlaufen. Zu zweit auf einem Pferd waren sie viel zu langsam, und um nichts in der Welt hätte er seinen Geliebten in diesem Augenblick zurückgelassen. "Lalit, sag mir jetzt bitte endlich, was los ist!" Die Stimme des Schwarzhaarigen zitterte. "Was soll das Gerede? Das ist doch wohl nicht wahr, oder?" "Was soll ich denn jetzt sagen?" Der junge Weißhaarige schüttelte traurig den Kopf. "Ja, es ist wahr. Ja, ich habe es dir verschwiegen. Ja, sie werden mich jetzt dazu zwingen, mit ihnen zu kommen!!! Aber... ich lasse dich nicht allein! Um nichts in der Welt! Ich liebe dich!" "Ich weiß..." Kieran atmete tief durch. "Oh man! Da verliebe ich mich einmal im Leben, und dann ausgerechnet in den Prinz von Belicia... Ich glaub's nicht... ich... das ist so absurd!!!" Wieder herrschte Schweigen in dem gemütlichen Raum. Als schließlich laute Stimmen und Schritte auf der Treppe zu hören waren, blickte Lalit nicht auf. "Sir Lalit!" Er kannte die Stimme nicht. "Was für ein Glück, euch hier zu finden! Der ganze Königshof war in großer Sorge!!!" "Ach?" Lalit biss sich auf die Lippe. "Gewiss! Es sind schreckliche Dinge geschehen in eurer Abwesenheit!" Wieso klang dieser Soldat denn nicht wenigstens ein bisschen wütend? "Ist ihre Majestät, des Königs Vater, vielleicht ums Leben gekommen?" "Nein, wie..." Als Lalit endlich doch aufsah, bemerkte er einen fragenden Ausdruck im Gesicht des braunhaarigen Soldaten. Trotzdem wusste er, er durfte seine Frage nicht stellen. Das gehörte sich nicht für einen einfachen Bediensteten. Da war sie wieder, diese verängstigte Ehrfurcht... Unweigerlich verhärteten sich die Züge des jungen Weißhaarigen. "Sprecht weiter!" forderte er den Soldaten auf. "Ihr müsst unbedingt mit uns kommen!" "Ich denke, ich habe wohl keine Wahl..." "Ihr versteht nicht ganz... Sir Lalit... der Königshof ist von radikalen Gegnern der Monarchie belagert. Etliche wichtige Staatsmänner wurden getötet und es ist im Moment leider nicht möglich, den Aufstand niederzuschlagen!" "Und warum braucht ihr mich dazu? Als ob ich etwas an dieser Situation ändern könnte! Wofür habt ihr einen König?" "Sir Lalit... euer Vater liegt im Sterben..." Lalit schnappte unweigerlich nach Luft. "Was habt ihr da eben gesagt?!?" Er wusste selber nicht genau, was ihn an dieser Nachricht so sehr erschütterte. Hasste er seinen Vater denn nicht? Es war auch nicht wirklich Trauer oder Sorge, die ihn erfüllte... Er war verwirrt. Was sollte er denn jetzt nur tun? "Sir Lalit, euer Land braucht euch!" Lalit stand auf. Er spürte Kierans entsetzten Blick auf sich ruhen. In diesem Augenblick hatte er Angst, schreckliche Angst. Trotzdem blieben seine Gesichtszüge vollkommen unbewegt. Seine kalten goldenen Augen ruhten auf den Soldaten vor ihm. Wie dumm war er auch gewesen! Hatte er wirklich gedacht, so einfach vor seiner Aufgabe davonlaufen zu können? Wie egoistisch war er nur gewesen! Ob seine Eltern überhaupt noch am Leben waren? Und das Schloss... das ganze Land... sein Land! Er konnte die Menschen nicht im Stich lassen! Er war doch der einzige Thronfolger! Und wenn sein Vater starb, würde er dann König werden? Kehrte er in eine sterbende Monarchie zurück? Oder kam er vielleicht schon zu spät? Was konnte er überhaupt tun?!? Seine Gedanken überschlugen sich. Für einen Augenblick wurden dem Weißhaarigen schwarz vor den Augen und er taumelte haltlos nach vorne. "Sir Lalit!" Der Soldat ergriff die Schultern seines jungen Kronprinzen und stützte ihn. "Lalit!!!" Nun sprang auch Kieran auf und lief zu Lalit hin. "Geht es dir nicht gut?" "Ich... ich bin in Ordnung..." Er schloss für einige Sekunden seine Augen und atmete tief durch. "Kieran... ich muss gehen..." der Schwarzhaarige sah zu Boden. "Du kommst nicht wieder, oder?" "Doch! Natürlich! Aber..." Lalit biss sich auf die Lippe. Der braunhaarige Soldat, ganz offensichtlich der Anführer des kleinen Trupps, deutete den anderen, die Gaststube zu verlassen. "Wir warten draußen auf euch, Sir Lalit!" meinte er hastig und entfernte sich. Ganz offensichtlich besaß er weitaus mehr Taktgefühl als die blonde Bedienung, die mit einer Mischung aus Freude, Neugier und auch Verwirrung auf die beiden Verliebten starrte. "Kieran, hör mir zu", sprach Lalit leise. "Ich muss mich jetzt um mein Land kümmern. Gott, das hört sich an... Ich weiß nicht, wie lange das dauert... bis sich alles wieder einrenkt... aber eines Tages komme ich zurück. Wir sehen uns wieder, hörst du? Ich liebe dich, und ich werde mein ganzes Leben lang niemals jemanden anderen lieben!!!" "Ich liebe dich auch, Lalit..." In den Augen des Schwarzhaarigen glitzerten Tränen. "Und ich verspreche dir jetzt auch etwas... Ich werde auf dich warten, egal wie lange es dauert! Ich verspreche es ganz, ganz fest!" "Kieran..." Die beiden jungen Männer versanken in einen letzten, verzweifelten Kuss. Für einen Augenblick schien die Zeit stillzustehen. Sie waren zusammen, sie hielten sich fest und alles war gut. Dann wandte Lalit sich ab und verließ die Gaststube. Auf dem kleinen Marktplatz stand bereits eine Kutsche bereit. Diese hatte mit dem wackligen, überfüllten Wagen aus Altania nicht das geringste Gemeinsam. Das goldgeschmückte Prachtgefährt hätte neben den sanft leuchtenden Straßenlaternen und den niedrigen Fachwerkhäusern nicht unpassender wirken können. Lalit wäre am liebsten umgedreht, zurück in den Gasthof gelaufen... zu Kieran... zu all den Menschen, die ihn einfach nur als ganz normalen Reisenden betrachteten. Diese schreckliche ehrfürchtige Kälte... Er spürte einen Stich in seinem Herzen. Und sein Großvater... was würde der nur mit ihm anstellen? Aber jetzt war es zu spät, um sich anders zu entscheiden... er hatte doch überhaupt keine Wahl! Lalit wollte nicht zurückblicken. Auch dann nicht, als der Kutscher die Pferde antrieb... reisten die Soldaten etwa in einem anderen Gefährt? Nur nicht mehr umdrehen... Er konnte nicht anders. Und da stand Kieran im blassen Licht der Laternen auf dem einsamen Platz. Kein Mond erhellte den Himmel. Seine langen, pechschwarzen Haare wurden sanft von Wind bewegt. Über seine sommersprossigen Wangen liefen Tränen. "Lalit!!!" Mit eine Schrei lief der Junge los, hinter der immer schneller werdenden Kutsche her. "Lalit, komm sofort zurück! Du darfst mich hier doch nicht allein lassen! Lalit!!!" "Kieran, nicht!!!" Der Schwarzhaarige rutschte auf dem glatten Boden aus und fiel hin, sprang aber sofort wieder auf und rannte weiter. "Lalit! LALIT!!!" Langsam wurden die Schreie leiser und verhallten schließlich ganz in der Dunkelheit der Nacht. Die schlanke Gestalt des Jungen verblasste mehr und mehr, wie ein schwindender Traum. Lalits Finger krallten sich in den tiefvioletten Stoff der Sitzbezüge. Er war allein. Niemand würde ihn sehen, wenn er jetzt weinte. Kapitel 3: Dritte Erinnerung - Das Vermächtnis ~ Legacy -------------------------------------------------------- Dritte Erinnerung - Das Vermächtnis ~ Legacy Unglaublich, aber wahr... ^^ Das neue Promise-Kapitel ist fertig. Ich habe eigentlich nicht mehr dran geglaubt und ich weiß gar nicht, was mich jetzt zum weiterschreiben bewegt hat, aaaaber... ab jetzt wird es ganz bestimmt viel schneller weitergehen! Ich hatte ganz vergessen, wie viel Spaß diese Fanfic macht!!! *Promise knuddel* Bitte lest trotzdem weiter und vergebt mir! Schließlich haben Lalit, Kieran und co. noch eine ganze Menge vor sich... ^_^ Allen viel, viel Spaß (?) beim Lesen und 1000000000 Grüße an meinen FF-Autor Chris und an meine Lieblingsverrückten namens Tía, Marron und Picco! *knuddl* Und an dich! ^.^ Lalit bewegte sich wie in Trance. Seine Schritte fanden fast automatisch den Weg auf das Schlosstor zu. Die Diener zu seinen Seiten beachtete er gar nicht. War das nur ein böser Traum? Er wollte nicht zurück. Nicht in dieses prunkvolle Gefängnis, nicht zu den Menschen, die sich seine Eltern nannten und schon gar nicht zu jenem alten, bärtigen Mann, der ihn mehr als alles andere in der Welt hasste und verabscheute. Es sollte nicht alles erneut beginnen! Der Weißhaarige war beinahe erschrocken, als er plötzlich vor der prachtvollen hölzernen Türe des Thronsaales stand. Am liebsten wäre er davongelaufen. Er hatte Angst davor, einzutreten. Angst vor den goldenen Augen seiner Mutter... Oh bitte, ihr Götter, schoss es Lalit durch den Kopf, macht, dass ER jetzt nicht dort ist! Das alles war auch so schon schlimm genug... Einer der Diener öffnete die Türe. Hätte er das nicht selber machen sollen? Oder hatte er gar nicht den Mut dazu? Langsam und zögerlich trat Lalit in den ihm nur allzu bekannten Raum mit dem dunkelroten Teppichboden. "Mu... Mutter?" Im ersten Augenblick war der junge Weißhaarige geschockt. Die schöne schwarzhaarige Königin war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Ein eigentümlicher Schleier von Kummer und tiefster Sorge hatte sich über ihr Gesicht gelegt. Ihre Augenringe erzählten von durchwachten Nächten, in ihrem Blick lag eine schmerzhafte Mischung aus Trauer, Verzweiflung und Hilflosigkeit. Mit einem Mal tat sie ihm leid. "Lalit!" War das etwa... Erleichterung? Freude? Der junge Thronfolger blieb wie angewurzelt am Eingang stehen, als die Königin den beiden Dienern deutete, das Zimmer zu verlassen. "Lalit, wie konntest du nur? Wie konntest du mir nur solche Sorgen bereiten?" Sie lief auf den Weißhaarigen zu und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige. Dann schloss ihn in ihre Arme. Lalit rührte sich nicht. "Sorgen?" flüsterte er. "Natürlich!" Ihre Augen füllten sich mit Tränen. "Wir wussten nicht, wo du bist, ob du überhaupt noch lebst... und dann ist auch noch dein Vater erkrankt und ich war ganz auf mich allein gestellt! Es war fürchterlich! Wie konntest du nur so egoistisch sein?" "Egoistisch?" Lalit hätte am liebsten geschrieen, aber seine Stimme und sein Gesicht blieben kalt und emotionslos wie immer. Sein Blick war starr ins Nichts gerichtet. "Mag sein. Aber seid ihr das nicht auch? Wäre ich nicht der einzige Thronfolger, hättet ihr euch niemals Sorgen um mich gemacht!" "So einen Unsinn möchte ich nicht hören!" Die Schwarzhaarige schüttelte energisch den Kopf. "Du bist mein Kind, ich wäre halb umgekommen vor Sorge um dich!" "Du liebst mich doch gar nicht..." "Was redest du da?" keuchte die junge Königin. Heuchlerin, dachte Lalit wütend. Aber sie brauchte sich gar keine Mühe zu geben! Jetzt war es zu spät für mütterliche Gefühle. "Natürlich... natürlich liebe ich dich!" Mit einer zärtlichen Bewegung zog sie den Kopf ihres deutlich größeren Sohnes auf ihre Schulter herab. Lalit zuckte zusammen und begann unweigerlich, ein wenig zu zittern. Was tat sie denn da? "Mutter, ihr..." "Nein..." Die schöne Frau strich ihm behutsam durch sein langes Haar. "Lass doch diese höfliche Anrede... bitte... Ich bin doch deine Mutter, Lalit. Es tut mir leid, dass... dass... ich weiß, ich war... nie wirklich für dich da... es tut mir so leid..." War das ein Traum? Lalit konnte nicht fassen, was diese scheinbar so Fremde da gerade eben gesagt hatte. Für einen Augenblick war er überwältigt von der Sehnsucht nach einer Liebe, die ihm seine Eltern niemals gegeben hatten. Er hatte nicht die Kraft, sich zu wehren. Sein einsamer Wunsch war stärker als die Wut in ihm. "Mutter, bitte, lasst... lasst das..." "Sag so etwas nicht... ich liebe dich doch..." Sie lächelte sanft. "Genauso, wie ich deinen Vater liebe." Das war zuviel. Lalit stieß die junge Königin ruckartig von sich und wich einen Schritt zurück. Seine kühlen, ausdruckslosen Gesichtszüge bebten mit einem Mal vor Zorn. Seine goldenen Augen funkelten hasserfüllt. "So ist das also!" stieß er wütend hervor. "Jetzt verstehe ich!" "Aber ich verstehe überhaupt nichts!" Die Schwarzhaarige starrte ihren Sohn fassungslos an. "Was machst du denn da? Habe ich etwas Falsches getan?" "Oh ja, und zwar schon dein ganzes verdammtes Leben lang!" Er schrie nun beinahe. "Du hast immer nur nach seiner Pfeife getanzt, nicht? Ich war Schuld, dass dein liebster Gatte wütend auf dich war... und deshalb hast du mich immer behandelt wie den letzten Dreck! Ihr habt euch nie um mich gekümmert! Weißt du, was ich mir als Kind immer gewünscht habe, auf all diesen Geburtstagsfesten... wofür ich alle meine tollen, teuren Geschenke weggeschmissen hätte? Wenn ihr mich nur ein einziges Mal in den Arm genommen hättet, begreifst du das? Aber du hast es nicht getan! Und jetzt, wo dein Mann schon halb im Grab liegt, da bin ich wieder gut genug! Da kann man sich ja wieder um die kleine Fehlgeburt kümmern, ja?" "Halt den Mund!" Die Königin verpasste ihrem Sohn eine wütende Ohrfeige. "Ja, so kenne ich euch schon eher!" Lalit stieß ein verächtliches, nahezu hysterisch klingendes Lachen aus. "Aber du brauchst nicht glauben, dass ich bei deinem Spielchen mitmache! Das hättest du dir früher überlegen müssen! Ich bin doch kein Hund, der immer wieder zu seinem Herrchen angekrochen kommt. Ich habe auch Gefühle, weißt du? Und jetzt möchte ich meine Ruhe haben!" Der Weißhaarige fuhr herum und lief aus dem Thronsaal. Die Königin starrte ihm mit offenem Mund hinterher. Sie war verwirrt und verletzt, aber gleichzeitig drängte sich ein quälendes schlechtes Gewissen in diese Emotionen. Noch nie in ihrem Leben hatte sie bei ihrem Sohn einen derartigen Gefühlsausbruch erlebt. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, was für eine tiefe Verletztheit hinter der kalten Fassade des Weißhaarigen verborgen war. Plötzlich hatte sie Angst vor der Antwort, warum er eigentlich weggelaufen war. Lalit sah sich nicht um. Er kannte dieses Schloss, er kannte jeden einzelnen Gang. Nichts hatte sich verändert. Auch sein Zimmer nicht. Eigentlich hätte es ihn gar nicht gewundert, wenn er diesen Raum vollkommen leer geräumt vorgefunden hätte. Wenn er im Geiste schon längst gestorben und begraben wäre. Aber halt, dachte er bitter, er war ja der Thronfolger und vielleicht auch bald... der König des Landes. Sie brauchten ihn. Jetzt plötzlich... Der Weißhaarige warf die Türe hinter sich ins Schloss und verriegelte sie. Er wollte nicht gestört werden, er wollte niemanden sehen, am allerwenigsten seine Mutter. Seine Gedanken drehten sich im Kreis, er wusste nicht mehr, was er jetzt fühlen sollte. Er war nicht glücklich, nicht erleichtert... aber auch nicht traurig oder verzweifelt... Lalit ließ sich auf sein Bett fallen, schlüpfte aus seinen Stiefeln und vergrub seinen Kopf in seinem Kissen. Wie ungewohnt weich diese Matratze doch war! Er hasste dieses Gefühl. Er hasste alles in diesem Schloss! Aber... aus irgendeinem Grund konnte er nicht wirklich wütend sein. Da waren zu viele andere Gefühle... und eigentlich fühlte er gar nichts wirklich... Nichts, außer einem tiefen, hilflosen Schmerz. Sanfte Lichtstrahlen schlichen sich beinahe ängstlich in das Zimmer des jungen Thronfolgers. Er schlug langsam und unwillig seine Augen auf und stellte fest, dass er in einem viel zu großen weichen Bett mit kostbarer tiefroter Bettwäsche lag. Alle Möbel in seinem Zimmer waren aus dunklem, edlen Holz aus den Wäldern Belicias gefertigt. Die luftigen weißen Vorhänge vor seinem Fenster waren nicht zugezogen. Heiteres Vogelgezwitscher drang zu ihm herein. Er fühlte sich wie aus einem langen, wunderschönen Traum erwacht. War das alles wirklich geschehen? Vielleicht hatte er ja in einer Woche Geburtstag, vielleicht war er nach seinem letzten Training nur erschöpft zusammengebrochen... vielleicht war auch das gar nie passiert und sein Vater war nicht todkrank und seine Mutter keine gebrochene Frau. Vielleicht hatte ihm seine einsame, traurige Fantasie nur einen nächtlichen Wunsch vorgesponnen... vielleicht... Ob die Wachen Tahir mitgenommen hatten? Bestimmt! Sie konnten sein Pferd ja nicht einfach so zurücklassen! Nein, nein, es war alles nie passiert. Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein. Dies war seine Realität. Dies war sein Schicksal, sein Vermächtnis, sein Gefängnis... Er musste mit diesem Unsinn aufhören! Lalit stand ruckartig auf, zog sich seine zerknitterte Kleidung aus und schlüpfte in eines der einfacheren und trotzdem immer noch unvorstellbar edlen Gewänder: ein knielanges, kimonoartiges Gewand aus schwarzem Stoff, verziert mit Goldstickereien und einem dunkelroten Rand. Dazu trug er eine weiße Hose und schwarze Stiefel. Sein langes weißes Haar kämmte er sich über die Schulter und flocht nur einen kurzen Teil davon, den Rest lies er offen herabhängen. Er seufzte, wandte sich von seinem wunderschönen Spiegelbild ab und schlenderte durch die unzähligen Schlossgänge zum Thronsaal. Er trat ohne anzuklopfen ein. Seine Mutter stand am Fenster und starrte auf die verschneite Märchenlandschaft herab. Sie sah traurig aus, unendlich traurig und Lalit erkannte an ihren Augen, dass sie die letzte Nacht hindurch geweint hatte. Als sie das Geräusch der sich öffnenden Türe hörte, warf sie nur einen flüchtigen Blick in diese Richtung. "Lalit? Guten Morgen, ich hoffe, du hattest eine angenehme Nacht", sprach sie mit tonloser Stimme. "Sicher. Und ihr, Mutter?" Spontan schien die Stimmung in dem prächtigen Raum noch eisiger zu werden als ohnehin schon. Lalit erschauderte unweigerlich über den Klang seiner eigenen Stimme. "Ich habe sehr gut geschlafen, und danke der Nachfrage." Du lügst, hätte Lalit am liebsten geschrieen, genauso wie ich gelogen habe. Zum Teufel mit dieser ganzen geheuchelten Höflichkeit!!! "Das freut mich..." murmelte er, ganz einfach deshalb, weil ihm nichts Besseres einfiel. "Ach ja, dein Großvater möchte dich sprechen..." Die Königin sah den jungen Weißhaarigen nicht an und sie merkte auch nicht, dass sich für den Bruchteil einer Sekunde ein Ausdruck von Panik auf seine Gesichtszüge legte. Schon im nächsten Moment hatte er sich jedoch wieder gefangen. "Soso, möchte er das..." "Ja, er wartet im kleinen Garten auf dich. Er trinkt dort seinen Tee. Und deinem Vater solltest du auch einen Besuch abstatten. Er liegt in seinem Bett... auf unserem Zimmer... ein Heiler ist stets bei ihm..." "Das werde ich danach machen..." sagte Lalit kalt. Und den Heiler kann ich dann wahrscheinlich gleich selber brauchen, fügte er in Gedanken hinzu. "Es lohnt sich nicht mehr, noch ein Frühstück zu mir zu nehmen... ich werde euch dann wohl erst beim Mittagessen wiedersehen..." Ohne eine weitere Verabschiedung verließ Lalit den Saal. Erst jetzt bemerkte er, dass seine Hände zitterten. Der alte Mann saß auf einer schmiedeeisernen, mit kostbaren Ornamenten verzierten Bank. Zwei mit Rosen bestickte Seidenkissen sorgten für die nötige Bequemlichkeit. Der kleine Garten war von Wänden eingekreist, an denen sich zarte Rosen emporrankten, in einem kleinen Teich plätscherte eine Wässerfontäne. Glitzernde Fischchen kreisten in dem kristallklaren Nass umher. Trauerweiden säumten den Weg zu der kleinen Terrasse, auf der nun der alte Adelige seinen Tee einnahm. Mit seinem weisen Gesicht, dem langen Bart und dem fließenden roten Gewand war er auf eine seltsame Art und Weise wunderschön. Lalit trat schweigend neben die entspannt dasitzende Gestalt. Es dauerte eine Weile, bis sein Großvater seine Gegenwart bemerkte und aufblickte. "Lalit..." Der Weißhaarige zuckte beim Klang seines Namen unweigerlich zusammen. In den violetten Augen des alten Mannes flackerte ein Ausdruck von blankem, unverhohlenem Hass auf. Wie ein lauerndes Tier erhob sich der Bärtige und näherte sich seinem Enkel. Dann holte er mit einer blitzartigen Bewegung aus und schlug ein paar mal auf den jungen Weißhaarigen ein. "Seid mir gegrüßt, Großvater..." murmelte der und legte eine Hand auf seine schmerzende Wange. "Wie ich sehe, habt ihr euch kein bisschen verändert..." "Halt den Mund!" zischte der Alte. "Du weißt doch gar nicht, was du deiner Familie angetan hast! Deine Mutter hast du in tiefe Trauer gestürzt, deinen Vater jagst du in den Tod... was muss noch geschehen, damit du endlich zufrieden bist?" "Euer... Herz... bräuchte nur nicht mehr schlagen, Großvater, glaubt mir... dann wäre ich glücklich!" In den goldenen Augen des jungen Thronfolgers blitzte es. "Du..." Der immer noch unheimlich kräftige alte Mann verpasste dem Weißhaarigen einige weitere Faustschläge, bis diesem irgendwann die Beine nachgaben und er keuchend auf die Knie brach. "Sag, wie fühlt... ihr euch jetzt?" stieß Lalit hervor. Von seiner Lippe tropfte Blut und hinterließ rote Spuren auf seiner bleichen Haut. "Seht ihr es nicht? Ich bin längst ein erwachsener Mann, und ihr verprügelt mich wie einen Hund! Ihr seid so erbärmlich, Großvater..." "Wage es nicht, so mit mir zu reden!" Die Furchen im Gesicht des Alten bebten wie Felsklüfte bei einem Erdbeben. In seinen Augen stand bloße Abscheu. "Erwartet ihr... Respekt?" Der Weißhaarige stieß ein abfälliges Lachen aus. Schon im nächsten Augenblick fühlte er sich jedoch bei den Schulten gepackt und auf den Boden gedrückt. Der Bärtige setzte sich mit einer schnellen Bewegung auf seine Brust und hielt seine Arme fest auf die kalten Steinplatten gepresst. Lalit spürte mit einem Mal, wie ein lähmendes Gefühl von Panik seinen Körper befiel. Er war nicht mehr in der Lage, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen oder einen einzigen Ton über seine Lippen zu bringen. Er bemerkte gar nicht mehr, wie er unweigerlich zu zittern begann. "Respekt?" Der Alte lachte zufrieden. "Nein, Respekt verlange ich nicht von dir... ich bezweifle, dass du überhaupt, weißt, was das ist... so ein arroganter, selbstverliebter kleiner Mistkerl wie du es bist, Lalit... aber... wozu denn auch? Ich sehe... etwas viel Besseres... Angst! Du hast Angst vor mir, nicht wahr? Du wehrst dich nicht, weil du es nicht kannst... und weißt du was? Du wirst... dem Wunsch deines Vaters nachkommen, oder willst du etwa noch einmal davonlaufen?" Langsam erhob er sich, seine Lippen immer noch zu einem selbstgefälligen, boshaften Grinsen verzogen. "Jetzt sage mir, Lalit, wer von uns beiden... ist erbärmlich?" Mit nahezu gemächlicher Gelassenheit schlenderte der Bärtige den Steinpfad zurück zum Schlosseingang entlang. Ein fröhliches Pfeifen begleitete ihn. Lalit blieb regungslos auf der Steinterrasse zurück und schnappte nach Luft. Sein Blick war starr in den stahlblauen Himmel gerichtet. Kein Wölkchen trübte das Licht der strahlenden Wintersonne. Ein paar Vögel zwitscherten munter in den Bäumen. In den Ohren des Weißhaarigen klang ihr Lied wie das höhnische Echo seines pfeifenden Großvater. "Verdammt!" Lalit schlug mit der Faust auf den harten Boden und rappelte sich dann auf. Für einige Augenblick stand er keuchend und mit geschlossenen Augen da, dann schüttelte er den Kopf und betrachtete seine Hand. Seine Fingerknöchel waren aufgeplatzt, über seinen Finger rann warmes Blut. Der Weißhaarige zuckte mit den Schultern. Und wenn schon? Eine Verletzung mehr oder weniger machte jetzt auch keinen Unterschied mehr! Sein Vater würde ja ohnehin nicht danach fragen, selbst wenn er halb tot vor ihn kriechen würde... er wollte ihn nicht sehen. Er wollte nur noch raus aus diesem Schloss, weg von allen Menschen hier, von den entzückenden Gärten und der Pracht, der heuchlerischen Etikette und den Dienern, die es nicht wagten, ihn anzusehen, wenn er grün und blau geschlagen durch die Gänge lief. Der Wunsch seines Vaters... Er wollte nicht wissen, was sie nun wieder von ihm verlangen würden. Er hatte doch ohnehin keine Wahl. Und doch wusste er, sein Großvater hatte recht. Er konnte nicht schon wieder weglaufen. Er musste sich mit seinem Schicksal abfinden. Sein schöner Traum war endgültig vorbei, und je eher er jetzt aufwachte, desto schneller würde es aufhören zu schmerzen. Der Mann auf dem Bett sah unendlich alt aus. Beinahe kraftlos lag er in einem Berg aus edlen Decken und seidenen Kissen vergraben, seine Augen blickten müde hinaus aus dem großen Fenster. Er war zu einem stillen Beobachter geworden, nichts erinnerte mehr an den stolzen, schönen König vergangener Tage. Als Lalit die Türe zu dem prächtigen Schlafgemach öffnete, regte der Herrscher sich nicht einmal. "Vater... ich bin zurück", sagte der junge Weißhaarige leise. Der Blick seines Vater wandte sich langsam in seine Richtung. Das eingefallene Gesicht des Mannes blieb erschöpft und ausdruckslos. "Lalit... ihr seid zurückgekehrt..." In dem Tonfall seiner Stimme lies sich weder Hass noch Freude erkennen. Jedes Wort schien den sterbenden König unendliche Anstrengung zu kosten. "Ihr seht nicht gut aus, was ist geschehen?" Lalit wusste nicht, was er in dieser Situation sagen sollte. Was sollte er beim Anblick dieses todkranken Mannes denn auch empfinden? An jenem Tag, als er aus dem Schloss davongelaufen war, hatte er seinen Vater aus tiefstem Herzen gehasst und verachtet. In seiner ganzen Kindheit war ihr Verhältnis von Feindseligkeit und gegenseitiger tiefer Abneigung geprägt gewesen. Doch wenn er nun die bleiche Gestalt im Bett betrachtete, brachte er keine dieser Emotionen mehr zustande. Eine seltsame, herablassende Art von Mitleid stieg in ihm auf. "Ihre Majestät hatte schon immer ein schwaches Herz, Sir Lalit", mischte sich nun der grauhaarige Heiler ein, der auf einem Stuhl neben dem Bett saß. "Eine Grippe hat ihm außerdem schwer zugesetzt, aber ich versichere euch, wir alle tun unser Bestes!" "Dessen bin ich mir sicher... aber ich komme aus anderen Gründen, Vater. Ihr wolltet mich sprechen, nicht wahr?" "Ja... ich wünsche, mich mit euch... allein... zu unterhalten..." Er hob langsam einen Arm und deutete auf die Türe. Die Bewegung schien ihn große Anstrengung zu kosten, trotzdem erhob sich der Heiler sofort und eilte aus dem prachtvollen Zimmer. Lalit nahm an seiner Stelle auf dem Stuhl platz und blickte seinen Vater von oben herab an. "Ich höre?" "Seht mich nicht so an... ihr... wisst, mit eurem Verschwinden habt ihr... große Aufregung verursacht... es war... unverantwortlich..." Er hustete. "Ich kann euer Handeln nicht... gutheißen, vor allem eurer Mutter habt... ihr Unvorstellbares angetan... aber ich bin bereit, das Geschehene zu... zu vergessen..." "Wie gnädig!" Lalit warf seine Haare zurück. "Aber lassen wir doch diese... höflichen Floskeln, Vater, außer uns hört niemand dieses Gespräch und wir wissen beide, warum ich den Hof verließ. Wozu sollten wir Gefühle vortäuschen, wo keine existieren? Ihr wollt etwas von mir, also schleicht bitte nicht um das eigentliche Thema herum wie eine feige Katze... das ist verschwendete Zeit, die... in eurem Falle vielleicht kostbar sein könnte, meint ihr nicht?" "Rede nicht... so mit mir..." stieß der König in müdem Tonfall hervor. Lalit zog eine Augenbraue nach oben und verzog seine Lippen zu einem kalten Lächeln. "Es... scheint dich... glücklich zu machen, mich in... in diesem Zustand zu sehen... ja, das passt zu dir, Lalit..." Er schüttelte träge den Kopf. "Und doch muss... ich akzeptieren, dass du... den Thron dieses Landes besteigen wirst. Dazu brauchst du... eine Königin an deiner Seite... und es liegt an mir, diese Frau zu bestimmen..." "Heiraten, ja?" Der junge Weißhaarige starrte auf die Lichtbahnen, die durch die großen Fenster in das weinrote Zimmer fielen. Tanzende Staubkörnchen zauberten wirbelnde Muster in die weißen Strahlen der Wintersonne. "Ich soll den Frieden des Landes sichern, nicht wahr? Ja, euer Vater hat mir bereits davon erzählt... aber... ich... ich... vielleicht hätte ich ihm zustimmen sollen, mir scheint, es bleibt mir am Ende, doch keine Wahl... Welch Ironie des Schicksals!" "Was... redest du?" Der todkranke Herrscher hob seinen Kopf ein wenig. "Aber... du... du warst dir ja noch nie über deine Pflichten... im Klaren... wann wirst du wohl endlich begreifen, dass du... den Thron dieses Landes besteigen wirst? Du bist so... egoistisch..." Er stieß ein kurzes, abgehacktes Lachen aus. "In jedem Fall wirst du... Prinzessin Dalia Joanna Magnifica von Fuyubi zu deiner Frau nehmen... zum Glück herrscht auf beiden Seiten freudiges Einverständnis über diese Hochzeit..." "Oh ja, welch Freude!" Lalit stand auf. "Damit wäre alles geklärt... ich werde mich nun wieder zurückziehen, falls ihr es mir gestattet... möge es euch bald wieder... besser gehen." Der Weißhaarige wandte sich ab und verließ das Krankenzimmer, ohne seinem Vater einen weiteren Blick zu schenken. Er ließ die Ebenholztüre hinter sich ins Schloss fallen und atmete tief durch. Erst jetzt bemerkt er die große, hagere Gestalt des Heilers, der im Vorzimmer gewartet hatte. "Ich sehe, euer Gespräch ist beendet!" merkte der Mann trocken an. "So könnte man es sagen, ja..." Lalit blickte dem Grauhaarigen tief in die Augen und sah, wie dieser unter seinem eiskalten Blick erschauderte. "Solltet ihr euch nicht um ihre ehrenwerte Majestät kümmern? Er könnte zu Tode kommen, während ihr abwesend seid... wäre das nicht schrecklich?" "Sir Lalit!" Der Heiler starrte den jungen Thronfolger kopfschüttelnd an und suchte vergeblich nach einer Gefühlsregung in den unbewegten, unfassbar schönen Gesichtszügen des Weißhaarigen. "Blickt mich nicht so feindselig an!" Auf die Lippen des Kronprinzen legte sich ein kühles Lächeln. "Ich weiß, ihr mögt mich nicht, aber denkt bitte daran, wer bald dieses Land regieren wird! Ihr seid ein schlechter Heiler..." Lalit schüttelte den Kopf und stieß ein geringschätziges Lachen aus. "Hättet ihr sonst nicht schon längst bemerkt, dass ich verletzt bin? Und nun geht und pflegt den Sterbenden..." Er warf seine weißen Haare über die Schulter und schlenderte dann langsam den Gang zum Speisesaal hinab. Die Zeit lief ungerührt weiter und ließ die Tage im Schloss wieder zum gewohnten Alltag werden. Langsam fand Lalit in seinen gewohnten Rhythmus zurück. Er studierte die Geschicke des Landes, trainierte, ritt, kämpfte und betrachtete seine Umgebung mit unveränderlicher Gleichgültigkeit. Er lachte nicht, er weinte nicht, er rastete nicht aus. Sein wunderschönes Gesicht blieb stets kalt und emotionslos, nur manchmal stahl sich ein kühles, grausames Lächeln auf seine Lippen. Das Leben ging weiter, ohne große und erwähnenswerte Neuerungen mit sich zu bringen. Bis zu jenem regnerischen Frühlingstag. Zwei Gestalten waren in der Küche des Schlosses zusammengekommen. Sie trugen die einfachen Gewänder der Bediensteten, doch während einer der beiden Jungen den Kopf beschämt gesenkt hielt, stolzierte der andere stets mit einem selbstsicheren Lächeln auf den Lippen durch das Leben. "Wie... wie ist er... denn so?" fragte der Schüchterne vorsichtig. "Aaaach..." Der junge Diener zog eine Augenbraue nach oben. "Stell dir vor, du hast ein Stück Eis und das bekommt Arme und Beine, ja, das trifft's dann ungefähr..." "Oh nein..." "Nun kuck nicht so! Er wird dich schon nicht umbringen! Sei bloß froh, dass sie dich nicht zu seinem Vater geschickt haben!" "Wieso? Ist der etwa noch schlimmer?" "Sagen wir mal so: Sir Lalit kann ich nicht leiden, der König ist eine halbe Leiche... aber der ehemalige König... ach, der stiert einen immer so gierig an und manchmal versucht er, die Diener zu begrapschen... zumindest solche Hübschen, wie wir zwei es nun mal sind, du verstehst... aber das darf man sich einfach nicht gefallen lassen... Halb so schlimm!" "Ach, Rashid... Ich weiß nicht, ob ich das alles kann... ich bin noch so... verwirrt..." "Das... kann ich mir denken..." Auf Rashids Gesicht trat ein warmer, mitfühlender Ausdruck. Er blickte den neuen Diener mit seinen dunklen Augen sanft an. "Aber hab mal keine Angst, du packst das schon! Und wenn du Probleme hast... du kannst jederzeit zu mir kommen, OK?" "OK... Danke..." Mit traurigem, zu Boden gerichtetem Blick ging der Junge langsam von dannen. Er hatte keine Wahl. Er musste sich seinem neuen Herren vorstellen. Lalit schlenderte gedankenverloren durch die Gänge des Schlosses. Sein Blick war ins Nichts gerichtet, er achtete nicht auf seinen Weg und hatte auch gar keinen Grund dazu. Er strebte kein bestimmtes Ziel an, seine Füße trugen ihn wie von selbst an den großen, prachtvollen Wandgemälden vorbei, während draußen der fallende Regen ein sanftes, melancholisches Lied zu singen schien. Eigentlich war dies ein Tag wie jeder andere. Lalit hasste diese Frühlingsmonate. Obwohl er den Regen liebte, drückte der unstete, unentschlossene Wechsel von halbwarmer Sonne, nasser, ungemütlicher Kälte und schwüler Gewitterhitze auf sein Gemüt und ließ ihn stets in ein zielloses Grübeln verfallen. Seine Gedanken drehten sich im Kreis, während die ersten Pflanzenkeime in matschigem, braunem Schnee erstickt wurden. Plötzlich hörte der Weißhaarige ein Geräusch am Ende des Ganges. Er wusste selber nicht, warum er aufblickte. Eigentlich interessierte es ihn gar nicht, wer sich ihm da näherte... es war ja mit Sicherheit doch nur irgendein Diener oder einer dieser Heiler, die er auf den Tod nicht ausstehen konnte. Trotzdem sah er auf, nur für einen einzigen, flüchtigen Moment. Er erstarrte. Vor ihm stand ein Junge in der Kleidung eines gewöhnlichen Dieners. Er hielt seinen Kopf gesenkt, so dass ihm sein schulterlanges, pechschwarzes Haar wie ein Schutzschild vor sein hübsches Gesicht fiel. Das Auffälligste an seiner Erscheinung waren wohl seine Augen. Sie funkelten in einem so intensiven Türkisblau, wie man es sonst nur bei dem Eismeer an einem besonders sonnigen Tag sah. Lalit spürte, wie seine Hände zu zittern begannen und sein Herz anfing, wie wild zu schlagen. Das war doch nicht möglich! Fantasierte er jetzt etwa schon am helllichten Tag? Der Weißhaarige schloss seine goldenen Augen und zählte langsam bis zehn. Dann rannte er los und warf sich Kieran um den Hals. "Was hast du dir nur dabei gedacht?" Die Stimme des jungen Thronfolgers zitterte. "Warum bist du hier, du verdammter Idiot? Das... ist doch... Wahnsinn..." Er schloss seine Augen und presste seinen Kopf fest an den Hals seines Geliebten. In diesem Augenblick hatte er nur einen einzigen Wunsch, dass er dieses wundervolle Gefühl von Wärme und Nähe nie, niemals wieder hergeben müsste. "Oh ihr Götter... ich habe dich... so vermisst..." "Ich... ich..." Die Stimme des Schwarzhaarigen klang hilflos. "Ich verstehe nicht ganz..." "Was redest du da, du Dummchen?" Lalit lächelte und für einen Augenblick trat in seine Augen ein warmer Ausdruck. "Ich... ich liebe dich! Ich liebe dich so sehr! Jetzt... wird alles gut, mein Kieran..." Wieder drückte er den Körper des Jungen fest an sich und genoss das Gefühl, nicht mehr alleine zu sein. Lalit war so versunken im Rausch der Wiedersehensfreude, dass ihm in diesem Augenblick noch gar nicht auffiel, dass der Schwarzhaarige wie angewurzelt dastand und es nicht wagte, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen. "Ihr... ihr seid doch Sir... Lalit, nicht wahr?" wagte er es endlich, mit zittriger Stimme zu sprechen. "Bitte verzeiht, aber... ihr müsst mich verwechseln... ihr... aber wieso kennt ihr meinen Namen? Ich verstehe das einfach nicht!" Er begann, leicht und nahezu unmerklich zu zittern. "Kieran?" Lalit löste sich von dem jungen Schwarzhaarigen und sah ihm tief in die Augen. "Kieran, was redest du da? Wenn... wenn das ein Witz sein soll, dann kann ich nicht darüber lachen!" "Aber eure Majestät!!!" Kieran klang unendlich verzweifelt. In seinem Blick lag eine Mischung aus Verwirrung und Angst. "Kieran, wieso nennst du mich so? Wie redest du mit mir?" Der Weißhaarige schüttelte den Kopf. "Was ist hier überhaupt los? Wieso bist du hier, und... verdammt, was ist mit dir?" "Ich... ich..." Der Junge verbeugte sich tief. "Bitte verzeiht, eure Majestät, aber... ich bin erst seit heute hier! Ich soll euer Diener werden, da ihr... ihr ja bald König sein werdet und... es tut mir leid... ich weiß... ich weiß gar nichts mehr, ich..." "Was soll das heißen?!?" Lalit schrie nun beinahe. "Verdammt, wir lieben uns! Du hast mir versprochen, wir sehen uns wieder, du wartest auf mich, hast du das schon vergessen?!?" "Ich... ich habe alles... vergessen..." Er hob seinen Kopf nicht. "Als ich... vor etwa einem Monat erwachte... lag ich im Schnee und blutete aus einer Wunde am Kopf. Ich weiß, dass ich aus Silvania komme, aber nicht, warum ich hier bin und... ich... es tut mir leid, eure Majestät! Ich kann mich nicht daran erinnern, euch jemals zuvor gesehen zu haben!" "Eure Majestät! Eure Majestät, so blickt mich doch an, ich bitte euch!" Die Stimme des Heilers klang besorgt. Vergeblich bemühte er sich, die Aufmerksamkeit seines Patienten zu gewinnen. Langsam verzweifelte er an dieser Aufgabe. Seit Stunden saß der junge Thronfolger nun schon auf seinem Stuhl am Fenster und starrte hinaus auf den sanften Frühlingsregen. Die Bäume waren kahl und glänzten in einem nassen Schwarz, auf dem matschigen Boden hatte sich eine graue Brühe aus Schnee, Schlamm und Wasser gebildet. Ein paar einsame Krähen flatterten durch den grauen Schleier der Abenddämmerung. "Eure Majestät! Sir Lalit!" Der Mann seufzte und ließ seinen Kopf sinken. Dann drehte er sich herum und verließ den Raum. Mit einer Hand strich er sich durch seinen langen grauen Bart. Nur zögerlich trat er zu der schwarzhaarigen Königin, die an einem Fenster im Gang wartete und kopfschüttelnd die triste Szenerie betrachtete, die ihr die Natur an diesem Frühlingsabend zu bieten hatte. Erst als der Heiler sich leise räusperte, blickte sie auf. "Nun... wie... wie geht es ihm?" In ihrem Blick lag Verzweiflung. "Was hat er denn nur?" "Ich... ich muss gestehen, dass ich das nicht weiß, eure Hoheit..." Er blickte betreten zu Boden. "Ihre Majestät. Sir Lalit, scheint überhaupt nicht auf seine Umgebung zu reagieren... er scheint jedoch kein Fieber zu haben, im Gegenteil. Ich befürchte, dass er... aus irgendeinem Grund unter Schock steht. Daher... diese Apathie..." "Ein Schock? Das... das verstehe ich nicht!" "Ich weiß nicht, woher dieser Zustand kommt. Bei meinem Eintreten blickte Sir Lalit jedoch kurz auf und... murmelte irgendeinen Namen. So, als hätte er an meiner Stelle einen anderen erwartet." "Einen Namen? Was war das für ein Name?" "Ich glaube... Kira... oder Kieran... ich bin mir nicht ganz sicher..." "Kieran?" Die Königin legte den Kopf schräg. "Das ist seltsam... ich glaube mich zu erinnern, dass Sir Lalits neuer Kammerdiener diesen Namen trägt... aber wieso..." "Verzeiht, aber diese Frage kann ich nicht beantworten." "Was könnt ihr für ihn tun?" "Ich kann nichts für ihn tun, eure Majestät. Aber ihr solltet zu ihm gehen und versuchen, ihn zu beruhigen. Ich sage es noch einmal, er steht unter Schock. Er braucht jetzt jemanden, der ihn in den Arm nimmt." "Und ich soll... nein, das kann ich nicht!" "Eure Majestät, er ist euer Sohn!" "Ich kann das trotzdem nicht! Er wird... sich gewiss wieder beruhigen... ich bin mir sicher, er würde mich jetzt nicht sehen wollen!" "Vielleicht solltet ihr nach diesem Kieran schicken lassen..." "Ja, ja, das werde ich tun... vielleicht könnt ihr ihn holen gehen, ich... ich werde hier warten! Und beeilt euch!" "Selbstverständlich, eure Majestät!" Der Heiler verneigte sich und ließ die schöne Schwarzhaarige dann alleine auf dem Flur zurück. Sie seufzte tief und sah dann wieder aus dem Fenster. Und so kam es, dass ein vollkommen verwirrter Kieran nur kurze Zeit später vor der Herrscherin des Landes Belicia stand. Er verbeugte sich tief und wagte es nicht, zu der goldäugigen Frau hinaufzublicken. "Was wünscht ihr, eure Majestät?" Auch seine Stimme hielt der Junge gesenkt. "Dem Kronprinzen, Sir Lalit, geht es nicht gut." Sie sah weiterhin aus dem Fenster. "Eu... eurem Sohn? Das tut mir leid, eure Majestät!" "Weißt du vielleicht... etwas davon?" "Nein, eure Majestät!" Der Schwarzhaarige ballte seine Hände zu Fäusten. Nur zu gut war ihm das eigentümliche Verhalten des jungen Thronfolgers in Erinnerung geblieben, aber er wagte es nicht, der Königin etwas davon zu erzählen. "Der Heiler erzählte mir, Sir Lalit hätte deinen Namen gerufen. Was hast du dazu zu sagen?" "Ich..." Er biss sich auf die Lippe. "Ich weiß doch auch nicht, was das zu bedeuten hat, eure Majestät! Es... tut mir leid. Ich habe Sir Lalit heute schon einmal getroffen und ich glaube, nein... er glaubt wohl, mich zu kennen. Ich verstehe das nicht! Verzeiht, eure Majestät! Ich hoffe aus... aus tiefstem Herzen, ihre Majestät, Sir Lalit... ist nicht wegen mir... in einem schlechten Zustand... ich..." "Kennen? Woher?" Die goldenen Augen fixierten das hübsche Gesicht des Jungen, der unter dem prüfenden Tonfall der Königin unweigerlich zusammenzuckte. "Ich weiß es nicht, eure Majestät! Der Heiler sagte, ich... ich leide unter Amnesie... ich kann mich nicht erinnern, aber Sir Lalit meinte, dass er mich... dass wir... verzeiht, eure Hoheit!" Er fiel erneut in eine tiefe Verbeugung. "Erhebe dich, Kieran! Wo warst du, als man dich gefunden hat?" "Es war nur ein kleines Dorf... ich glaube, es hieß... Cecaya, eure Majestät!" "Cecaya? Dann..." Ein nachdenklicher Ausdruck trat auf ihr schönes Gesicht. "Ein Soldat hat mir von einem Jungen erzählt, der bei Sir Lalit gewesen ist, als... man ihn in ebendiesem Dorf gefunden hat. Anscheinend bist du... das gewesen." "Das mag sein, eure Majestät... aber ich weiß nichts mehr davon..." "Es... ist wohl besser so!" Sie holte tief Luft und wandte sich dann ab. Als sie ihren Kopf drehte und zu dem Jungen zurückblickte, hatte dieser seinen Blick immer noch nicht erhoben. "Seid so gut und seht nach Sir Lalit. Mag sein, dass er auf eure Anwesenheit nicht reagieren wird... wenn doch, sagt ihm, er soll sich ausruhen und teilt mir dies dann mit." "Selbstverständlich, eure Majestät!" Kieran verneigte sich noch ein wenig tiefer und wartete, bis die schlanke Gestalt der jungen Königin hinter einer Biegung des Ganges verschwunden war. Dann holte er tief Luft und wandte sich dem Zimmer des Kronprinzen zu. Das Herz des Dieners schlug ihm bis zum Hals, am liebsten wäre er auf der Stelle davongelaufen. Schlimm genug, dass ihm ein Teil seines Gedächtnisses, so viele kostbare Erinnerungen geraubt worden waren... jetzt wurde er auch noch in so eine heikle Angelegenheit mit hineingezogen! Ausgerechnet der Thronfolger Belicias war davon überzeugt, dass sie sich geliebt hatten... er und solch ein Adeliger, wie konnte das denn überhaupt sein? Er kannte diesen wunderschönen jungen Mann doch gar nicht! Was sollte er denn jetzt nur tun? Er fühlte sich furchtbar hilflos und von der ganzen Situation einfach überfordert. Warum nur musste das alles ihm passieren? Ängstlich und zögernd öffnete er die dunkle Ebenholztüre zu dem Zimmer des Kronprinzen. Der Raum war in bedrückende Dunkelheit getaucht, nur vom Fenster fiel ein schwaches, graues Licht herein und warf bleiche, verschwommene Schatten auf den edlen Fußboden und die weißen Wände. Inmitten dieses Halbdunkels ruhte eine unbewegt dasitzende Gestalt auf einem Stuhl aus pechschwarzem Holz und starrte hinaus in den warmen Regen. "Eure... Majestät?" Kieran flüsterte beinahe. Seine Hand lag noch auf dem schmiedeeisernen Türgriff. Er hielt den Atem an. "Ki... Kieran?" Unendlich langsam, nahezu wie in Zeitlupentempo, wandte Lalit seinen Kopf und sah den Schwarzhaarigen an. Sofort senkte dieser seinen Blick. "Eure... eure Mutter hat mich zu euch geschickt... wie fühlt ihr euch, eure Majestät?" "Du... du bist gekommen..." In die gebrochenen Augen des jungen Thronfolgers trat ein schwaches Leuchten. "Kieran, warum siehst du mich denn nicht an?" "Verzeiht, eure Majestät..." Kieran fühlte sich zunehmend unwohler. Die graue Dunkelheit in dem prachtvollen Zimmer bedrückte ihn auf eine seltsame Art und Weise, die er nicht beschreiben konnte. Und vor allem machte ihm das Verhalten Sir Lalits Angst. "Kann ich irgendetwas für euch tun?" "Kieran... warum?" "Eure Majestät..." "Nein! Schweig, sofort!" Mit einem Mal trat ein Ausdruck von Wut auf das Gesicht des Weißhaarigen. Sein Atem ging schneller. Kieran wich unweigerlich einen Schritt zurück. "Warum nennst du mich so? Warum wagst du es nicht, mich anzublicken? Ich habe mich doch nicht verändert, siehst du das denn nicht? Du redest, als wärst du nur ein einfacher Untertan... und... und ich dein grausamer Herrscher! Warum tust du das?" "Ich bitte euch, eure Majestät... ich bin... ich bin nur ein einfacher Diener, nicht mehr!" "Sag so etwas nie wieder! Wenn... wenn du so mit mir reden möchtest, dann... geh!" "Aber..." "Geh! Lass mich endlich alleine!" "Wie ihr wünscht, eure Majestät..." Verängstigt und eingeschüchtert eilte der Junge aus dem finsteren Zimmer hinaus auf den Gang. Er wusste nicht, was er der Königin jetzt sagen sollte. Er wusste nicht, was er falsch gemacht hatte. In Gedanken verfluchte er den Tag, an dem er an den Königshof gekommen war. Doch jetzt war es zu spät, um noch davonzulaufen. "Willkommen am Hofe!" Der Regen hatte längst schon wieder aufgehört. Der strahlend blaue Mittagshimmel hing wie ein leuchtendes Seidentuch über den verschneiten Ebenen Belicias. Die Sonne ließ all jene Stellen, die noch mit einer weißen kalten Decke überzogen waren, glitzern wie tausend Splitter gesprungenen Glases. Mitten in dieser märchenhaften Landschaft stand ein weißes Schloss, das seine unzähligen Türmchen dem wolkenlosen Himmel entgegenstreckte. Und auf den Hof dieses wie verzaubert wirkenden Palastes fuhr langsam eine prächtige Kutsche ein. Der Anblick des Gefährtes war nahezu atemberaubend. Das Holz war weiß gestrichen und an jeder nur erdenklichen Stelle mit einer Vielzahl von funkelnden Juwelen besetzt. Die Speichen der Räder blitzten bei jeder Umdrehung hundertfach auf, das Dach war aus kostbarer, rotvioletter Seide gefertigt. Gezogen wurde dieses beinahe unwirklich scheinende Gefährt von zwei feingliedrigen Schimmeln, deren zierliche Hufe rhythmisch auf dem steinernen Weg klapperten. Der Kutscher zügelte die schönen Tiere und die Märchenkutsche hielt an. Eilig lief ein Diener herbei und öffnete eine der diamantenbesetzten Türen. Zunächst stieg eine Bedienstete aus, deren helle Wangen vor Aufregung gerötet waren. Sie war kein sonderlich hübsches Mädchen, hatte ein eher grob geschnittenes Gesicht, aber auch einen absolut ehrlichen und aufrichtigen Blick. Sie mochte nicht besonders intelligent sein, auf jeden Fall aber loyal und treu untergeben. Hastig streckte sie eine Hand in das Innere der Kutsche aus und half einem jungen Mädchen heraus. Ihr schlanker Körper war in ein kostbares Gewand gehüllt, der tiefe Ausschnitt des samtenen Oberteils mit Juwelen besetzt. Ihre Taille wurde durch ein enges Mieder zusammengeschnürt, darunter breitete sich ein weiter, schneeweißer Rock mit einem transparenten Überwurf bis weit auf den Boden hinab aus. In ihrer noch freien Hand hielt sie einen Fächer. Ihr Haar hatte die Farbe von hellem Blond, was sie zu einer sehr exotischen Schönheit machte, ihre Augen glitzerten in einem hellen Blau. Beim Anblick des Schlosses wirkte sie weder überwältigt noch erstaunt. Ihre rosafarbenen Lippen verzogen sich zu einem höchst zufriedenen Lächeln und sie wandte sich hoch erhobenen Hauptes der bereitstehenden Dienerschaft zu. "Welch entzückender Anblick!" Ihr reizendes Stimmchen klang hell und rein wie das Leuten eines kleinen Glöckchens. "Es ist uns eine besondere Freude, euch am Hofe willkommen zu heißen, Prinzessin Dalia Magnifica von Fuyubi!" "Die Freude ist ganz und gar meinerseits!" "Selbstverständlich werdet ihr auf der Stelle zu ihrer Majestät, Königin Amaya und ihrem Sohn, ihrer Majestät, Sir Lalit gebracht werden!" "Es ist mir ein Vergnügen!" Sie ließ ein zuckersüßes Lachen erklingen und warf den Kopf zurück. "Ich bin höchst erfreut darüber, den Palast von innen zu betrachten. Schließlich werde ich in nicht allzu ferner Zukunft hier leben und dieses Land regieren... aber was rede ich? Komm, Carlynne, gehen wir!" Der ganze Hof war in Aufruhr. Endlich, nach so langer Zeit des Wartens, war jener bedeutende Abend gekommen, an dem das Willkommensfest der zukünftigen Königin Belicias stattfinden sollte. In allen Sälen brannten die diamantgeschmückten Kronleuchter, überall hingen die Banner von Belicia und Fuyubi, in der großen Halle des Schlosses hatten sich zahllose Menschen eingefunden, zu einem großen Teil natürlich Adelige, aber auch Scharen von Dienern, die alle Gäste nach Leibeskräften bedienten und bewirteten. Ein kleines Orchester spielte vergnügte, leichtfüßige Tanzmusik, ein nahezu gigantisches Buffet lud zum Essen und Trinken ein. Im Mittelpunkt der Feier stand selbstverständlich ein junges Paar, das von allen Seiten beglückwünscht und bewundert wurde. Beide waren sie unbestritten wunderschön, zusammen konnte man die beiden Königskinder nur noch als atemberaubend beschreiben. Er, der Kronprinz mit dem kalten, aber dennoch engelsgleichen Gesicht und den langen weißen Haaren, sie, ein durch und durch bezauberndes, puppenhaftes Geschöpf mit dem Benehmen einer wahren Prinzessin. Gemeinsam bildeten sie ein Paar, so unglaublich schön, dass keiner der Gäste müde wurde, es anzublicken. "Es ist ein solch wundervolles Fest!" lachte Dalia mit ihrem Kinderstimmchen, als die beiden zukünftigen Herrscher sich für einen kurzen Augenblick von dem Trubel zurückziehen konnten. "Mag sein..." Lalit zuckte mit den Schultern. "Ich frage mich nur, ob es denn einen Grund gibt, zu feiern..." "Aber..." für einen Augenblick wirkte die Blonde irritiert. "Selbstverständlich gibt es den! Solch ein zauberhaftes Kennenlernen muss doch auch gefeiert werden, oder meint ihr nicht?" "Sicher..." Der Blick des Thronfolgers war eiskalt. "Ein überaus wichtiger Augenblick für unsere Länder und all unsere Untertanen." "Oh, aber Sir Lalit! Ihr redet, als ob dieses Glück nicht auch euer eigenes Empfinden wäre!" Die Bewegungen ihres Fächers wurden hastiger, fahriger und wirkten mit einem Mal nervös. Ihre zarten Lippen öffneten sich leicht, ihre großen hellblauen Augen blinzelten unentwegt. Dieser Anblick gespielter, überzogener Ratlosigkeit ließ für einen Augenblick das Gefühl von Hass in dem jungen Weißhaarigen aufsteigen. Er wandte seinen Blick von ihr ab. "Ich denke, ihr habt mich verstanden, Lady Dalia. Aber denkt nicht darüber nach. Selbstverständlich ist heute ein zauberhafter Abend. Genießt ihn, ich bitte euch. Ihr werdet an diesem Schloss regieren... ihr werdet hier leben... so nutzt die Zeit, euch an diesen Ort zu gewöhnen!" "Das ist mit Sicherheit nicht nötig!" Dalia lächelte. "Es ist ein wunderschönes Schloss. Aber nun... lasst uns tanzen! Die Gäste warten auf uns!" Der Abend verlief weiterhin genauso prächtig und ausgelassen, wie er begonnen hatte. Irgendwann jedoch hatte auch diese Feier ein Ende und so verließen die entzückten Gäste das Schloss, die Dienerschaft machte sich ans Abräumen und das junge Prinzenpaar zog sich erschöpft auf ihre Zimmer zurück. Doch trotz seiner Müdigkeit lag Lalit in dieser Nacht noch lange wach und blickte aus seinem Fenster hinaus in den sternenklaren Nachthimmel. Der Mond hing wie eine riesige, silbrig glänzende Sichel in dem Meer aus winzigen Leuchtpunkten und tauchte die Nacht in ein sanftes, unwirkliches Licht. Dies war also die Frau, mit der er den Rest seines Lebens verbringen würde. Dalia war unbestritten eine Schönheit. Sie war höflich, wusste sich zu benehmen. Sie... sie war ein Püppchen. Eine zuckersüße Marionette, eine Prinzessin wie sie im Buche stand. Eines jener märchenhaften Geschöpfe, wie kleine Mädchen sie sich erträumten, sie beneideten. Es war klar: Er würde regieren, sie würde repräsentieren. Aber dennoch, sie war eine Traumfrau, sie war perfekt, ach, es würde an ein Wunder grenzen, wenn auch nur irgendjemand irgendeinen winzigen Fehler an ihr entdecken könnte. Er hasste dieses Mädchen. Lalit konnte nicht einmal wirklich sagen, warum, aber der Gedanke, mit dieser Kindfrau zusammenleben, das Land beherrschen... irgendwann auch Kinder kriegen zu müssen, erschien ihm unerträglich. Oder war es nur, weil er sie einfach nicht liebte und auch niemals lieben könnte? Er wusste es nicht. Und eigentlich war es auch egal. All seine Gedanken, all seine Grübeleien waren überflüssig. Er würde sie heiraten. Es war keine Frage, es war eine Tatsache und alles war bereits fest und endgültig beschlossen und festgelegt. Und je länger er darüber nachdachte, desto mehr wurde ihm klar, warum sein Vater ausgerechnet sie ausgewählt hatte. "Eure Majestät, geht es euch nicht gut?" Lalit zuckte zusammen und blickte auf. Für einen Augenblick umfing eine tiefe Wärme seine trüben Gedanken und zauberte nur für den Bruchteil einer Sekunde ein Lächeln auf sein emotionsloses Gesicht. Vor ihm stand ein ihm nur allzu gut bekannter Diener mit schulterlangem, pechschwarzem Haar und funkelnden türkisfarbenen Augen, die jedoch wie immer demütig zu Boden gerichtet waren. "Mir... natürlich geht es mir gut, Kieran", erwiderte Lalit sanft. "Wie sollte es anders sein?" "Oh... verzeiht... heute ist ja eure Hochzeit, eure Majestät." "Genau..." Lalits Blick schweifte wieder gen Fenster. Der Frühling hatte außergewöhnlich warme Temperaturen mit sich gebracht. In den königlichen Gärten blühten Kirschbäume, die Erde war mit einem zartrosafarbenen Blütenteppich bedeckt. "Ihr... habt mich rufen lassen, eure Majestät?" "Ja, du sollst mir beim Anlegen der Festgewänder behilflich sein." "Selbstverständlich!" Kieran verneigte sich leicht und machte sich augenblicklich ans Werk. Das war allerdings leichter gesagt als getan - Lalits Hochzeitsgewand war ebenso prächtig wie aufwändig, und so hatte der junge Diener seine liebe Mühe, all die Schnallen und Verschlüsse an der kunstvollen Rüstung genau an der richtigen Stelle zu verschließen und anzubringen. Über das tiefblaue Hemd des jungen Thronfolgers zog er einen blitzenden Brustharnisch aus reinem Silber, er legte ihm kriegerisch anmutende, jedoch über und über mit prächtigen Ornamenten verzierte Armschienen an und streifte ihm ebenfalls reich mit Silberschmuck verzierte, hohe schwarze Stiefel über die schneeweiße Hose. Das kimonoartige, etwa knielange Oberteil aus dunklem petrolfarbenen Samt hielt er mit einer Vielzahl kostbarer Gürtel zusammen. Zuletzt legte er Lalit einen langen - und wie er schnell feststellen musste auch ziemlich schweren - weißen Umhang um die Schultern und verschloss ihn mit einer prächtigen Silberschnalle. "Mein Haar werde ich für diesen Anlass offen tragen," ordnete Lalit mit sanfter Stimme an. Seine Augen waren gefangen von dem in tiefer Konzentration versunkenen Gesichtsausdruck seines jungen Dieners. "Natürlich, eure Majestät!" Kieran trat hinter den zukünftigen Bräutigam und begann vorsichtig, Strähne um Strähne seines schneeweißen Haares zu kämmen, bis es ihm wie ein seidiger Vorhang bis weit über die Hüften hinab den Rücken bedeckte. Dann machte er sich schüchtern daran, das schulterlang geschnittene Haar, das Lalits schönes Gesicht einrahmte, noch ungleich vorsichtiger mit den silbernen Zinken des Kammes zu durchfahren. "Kieran?" Lalit Stimme klang ein wenig abwesend. Er blickte den schwarzhaarigen Jungen nicht mehr an. Seine Augen fixierten die zarten Wolkenkolonnen, die sich träge durch das azurblaue Meer des Frühlingshimmels zogen. "Was habt ihr, eure Majestät?" "Heute ist doch meine Hochzeit..." Der Weißhaarige legte den Kopf schräg. "Ja, aber... aber natürlich! Stimmt etwas nicht, eure Majestät?" "Das sollst du mir sagen, Kieran." "Ich?!?" Der junge Diener blinzelte irritiert. Auf seine Wangen trat ein Hauch von Röte. Er wagte es nicht, den Blick auch nur um einen einzigen Millimeter zu heben. "Ver... verzeiht! Ich meine... wie... wie meint ihr das, eure Majestät?" "Nun, wenn heute meine Hochzeit ist... müsste ich dann nicht glücklich sein? Oder wenigstens ein klein wenig aufgeregt?" Lalit legte eine Hand an Kierans Kinn und hob vorsichtig seinen Kopf ein kleines Stück an. Der Schwarzhaarige stieß ein leises, erschrockenes Keuchen aus. Sein Blick entfloh den kalten goldenen Augen des jungen Kronprinzen. "Ich... ich weiß nicht... seid... seid ihr das etwa nicht?" Das Herz des Dieners schlug ihm bis zum Hals. Er hasste diese Momente, in denen er sich so schrecklich hilflos fühlte und einfach nicht wusste, was er sagen sollte. Warum tat Sir Lalit immer solche Dinge, und das ausgerechnet an diesem unheimlich wichtigen Tag? Er wusste doch nicht, welche gemeinsamen Erinnerungen sie irgendwann einmal verbunden hatten. Jetzt war er nicht mehr als ein einfacher Bediensteter und Sir Lalit stand kurz vor der Hochzeit, die ihn endgültig zum Thronerben machen würde. "Ich fühle mich ganz so wie immer. Ist das nicht seltsam?" Lalit spürte, wie Kieran unter seinen Fingern leicht zu zittern begann. Er zog seine Hand zurück und erhob sich. "Wahrscheinlich wird sich das noch ändern. Sehe ich dem Anlass angemessen aus?" "Aber selbstverständlich!!!" Kieran sprang hastig auf die Füße und trat vor den jungen Kronprinzen hin. Er musterte ihn scheu von Kopf bis Fuß, dann nickte er eifrig. Ein zufriedenes Lächeln stahl sich auf seine Lippen. "Ihr seid wunderschön, eure Majestät!" "Wirklich?" Lalit trat langsam auf den zierlichen Jungen zu. "Du findest mich schön?" "Natürlich, eure Majes..." Weiter kam Kieran nicht, denn im nächsten Augenblick hatte der Weißhaarige ihn an sich gezogen. Der Junge riss seine türkisfarbenen Augen weit auf und starrte an die kahle weiße Wand vor ihm, deren Farbe beinahe der bleichen Haut des jungen Thronfolgers glich. "Eure... eure Majestät... bitte... ihr tut mir weh..." "Das... das tut mir leid, Kieran, ich..." Der Griff des schönen Kronprinzen lockerte sich ein wenig. Dafür ließ er nun seinen Kopf auf die Schulter des Kleineren hinabsinken und verharrte regungslos in der unerwiderten Umarmung. "Eure Majestät, ihr solltet... ich meine, die Zeremonie... man erwartet euch..." "Ich weiß." Lalit vergrub seinen Kopf zwischen dem pechschwarzen Haar des jungen Bediensteten. "Ich möchte sterben..." "Eure Majestät..." "Ist gut!" Sanft löste sich der Weißhaarige von dem bebenden Körper des Jungens. Auf seinen Lippen lag ein schwaches Lächeln, dass jedoch von dem tieftraurigen Ausdruck in den goldenen Augen Lügen gestraft wurde. "Ich werde erwartet. Natürlich." Der junge Thronfolger wandte sich ab. Als er die Ebenholztüre durchschritt, war die emotionslose Kälte auf sein Gesicht zurückgekehrt. Der Schlosshof hatte lange kein solches Fest mehr gesehen. Alle Bäume trugen neben der natürliche Zierde ihrer zartrosafarbenen Kirschblüten unzählige glitzernde Girlanden und kostbare Schmuckstücke, die das Sonnenlicht tausendfach reflektierten und jeden noch so kleinen Ast wie ein unvorstellbar wertvolles Edelsteingebilde aussehen ließen. Ein tiefroter, mit silbernen Ornamenten geschmückter Teppich führte vom Ebenholztor des Schlosses bis in den Park hinein. An seinem Ende war ein Podest errichtet, auf dem ein silberner Altar noch heller strahlte und funkelte als das Licht der Sonne und aller Bäume zusammen. Vier scharlachrote Kerzen brannten auf seinen vier Ecken und weinten dicke Tropfen aus Kerzenwachs auf die reich verzierten Silbertäfelungen der geweihten Kostbarkeit. Auch viele der anwesenden Gäste vergossen Tränen - allerdings lag das vielmehr an der Rührung über das ganz offensichtlich perfekte Glück des zukünftigen Königspaares. Die Menschenmassen, die den Weg zum Altar hin säumten, waren an und für sich schon eine Augenweide, so prachtvoll hatten sich vor allem die Damen für das große Ereignis herausgeputzt. Ein Kleid war kostbarer als das andere, Wasserfälle von Samt und Seide ergossen sich auf den rosafarbenen Blütenteppich. Hier und dort verschaffte ein reich bestickter Fächer Kühlung vor der Mittagshitze. Auch die stattlichsten Herren ergriffen die Hände ihrer Angetrauten, bewegt von den Erinnerungen an die eigene Hochzeit, die neben dem einmaligen Schauspiel dieses warmen Frühlingstages beinahe verblasste. Doch all der Schmuck konnte nicht mit der unglaublichen Schönheit des jungen Hochzeitspaares konkurrieren. Während der junge Prinz in unvorstellbar kostbare und prächtige Gewänder gehüllt war, trug die exotisch anmutende Prinzessin lediglich ein Hauch von Nichts auf ihrer porzellanfarbenen Haut. Der transparente Stoff, der nahezu jeden makellosen Zentimeter ihres perfekten Körpers zeigten, ließ trotz des eher schlichten Schnittes selbst die aufwändigsten Prunkkleider jedes noch so schönen weiblichen Gastes schlichtweg verblassen. Nur die nötigsten Stellen wurden von schneeweißem Stoff bedeckt, und dennoch wirkte die blonde Schönheit mit ihrem endlos langen Schleier so unschuldig und rein wie kein anderes Wesen es jemals sein könnte. Ihre Lippen trugen die Farbe der Kirschblüten, ein sanftes, gütiges Lächeln ließ ihr Gesicht engelsgleich wirken. Die Miene des Prinzen war unbewegt, so kalt, dass er beinahe wie eine unfassbar schöne Statue einer jungen Göttin wirkte. Sein schneefarbenes Haar schimmerte in der Sonne wie der kostbarste alle Stoffe. Er hielt die Hand seiner zukünftigen Gemahlin in seiner eigenen. Mit langsamen, andächtigen Schritten gingen sie auf den Altar zu. Die königliche Würde schien sie wie eine greifbare Aura zu umgeben. Ein Alter Mann mit langem, schneeweißem Bart und einem über und über mit Silberfäden und blauen Juwelen bestickten Priestergewand empfing das Paar am Ende des samtenen Teppichs. Er sprach die heiligen Worte der Hochzeitszeremonie in leisem, andächtigem Tonfall, trotzdem konnte auch der letzte Gast sie noch verstehen. Die Menge hielt den Atem an. "Unter dem Segen der Liebesgöttin Estellah, reicht mir eure Hände und empfangt das heilige Band der Ehe. Möge das silberne Licht des Mondes bis ans Ende eurer Tage über euch wachen, dass dieses Band niemals zerreißen möge." Lalit und Dalia streckten ihre ineinander gelegten Hände nach vorne, als der Priester der Liebes- und Mondgöttin seine lange Rede mit jenen bedeutsamen Worten schloss, die das junge Paar für immer aneinander binden sollten. Der alte Mann nickte bedächtig, dann wandte er sich dem silbernen Altar zu und hob ein breites Stoffband auf, auf dessen glatter Oberfläche das Sonnenlicht ein Farbspiel von tiefem Dunkelblau zu intensivem Türkis zauberte. Ineinander verschlungene Ornamente neben langen Zeilen längst vergessener Runen zierten den glänzenden Stoff. Der Priester schlang das Band um die Hände des unfassbar schönen Prinzenpaares. Seine Finger zitterten leicht. In seinen Augen lag ein ehrfürchtiges Leuchten. "Ihr seid nun Mann und Frau, verbunden im Leben und im Tode." Für einen Moment herrschte vollkommene Stille auf dem riesigen Festplatz. Selbst die Vögelchen in den Bäumen, das Rauschen des kaum spürbaren Windes in den reich geschmückten Ästen schien in dieser Sekunde zu verstummen, so als hielte die Zeit den Atem an. Dann brach das tosende Gejubel los. Die Menge war kaum noch zu halten, sie schrie dem frisch vermählten Paar aus vollem Halse ihren einstimmigen Glückwunsch entgegen, während die beiden vom heiligsten aller Bünde verbundenen Engel einen vorsichtigen Kuss austauschten. In diesem Augenblick waren auch die kältesten Gemüter bewegt, so unwirklich schön war der Anblick dieser durch und durch perfekt scheinenden Menschen, die schon bald den Thron des Landes Belicia besteigen würden. Wem sollte es da noch auffallen, dass in den Blicken des Paares nicht ein Hauch von Liebe lag? Die Nacht war spät hereingebrochen über dem weißen Palast von Lanthaya. Ein ausgelassenes Fest hatte die finstere Stille mit Lachen, Schwatzen und heiterer Musik erfüllt. Tausende von Lampions hatten den Garten erhellt und die glitzernden Bäume in ein kirschblütenfarbenes Sternenmeer verwandelt. Der Strom der begeisterten und zutiefst gerührten Gratulanten hatte nicht enden wollen, ebenso wenig wie die zahllosen Speisen und Getränke auf den langen, in Tiefblau und Silber gehaltenen Festtafeln. Lalit war der Abend endlos erschienen. Als sich dann jedoch endlich die letzten Gäste auf ihre Zimmer im Schloss oder in ihre Häuser und Herbergen unten in der Stadt zurückgezogen hatten und nur noch rastlose Dienerscharen zwischen den blühenden Bäumen umherzogen, um wieder für Ordnung zu sorgen, fühlte er sich wie aus einem langen Traum erwacht. Erst jetzt, als er müde und erschöpft durch die Gänge des Schlosses zu dem gemeinsamen Zimmer für diese besondere Nacht trottete, wurde ihm deutlich bewusst, dass er den ganzen Tag neben sich gestanden hatte. War das alles wirklich passiert? Die prunkvolle Hochzeit, die jubelnde Menge... das meeresfarbene Band der Liebe, dass ihn an den zarten Arm dieses wundervollen Porzellanpüppchens kettete... Er schüttelte den Kopf und blickte an sich hinunter. Hatte ihm denn tatsächlich schon ein Diener beim Ablegen seiner schrecklich schweren Festgewänder geholfen? Er konnte sich kaum noch daran erinnern. Das ganze unerträgliche Fest und alles, was danach noch passiert war, schien hinter einer dichten Nebelschicht verborgen zu sein. Der Weißhaarige seufzte tief. Warum konnte diese Nacht nicht einfach schon vorbei sein? Er wusste, was ihn jetzt erwartete. Er wusste es auch schon, bevor er die Türe des Brautzimmers durchschritt und die feingliedrige Schönheit auf dem mit weißen Samt überzogenen Bett sitzen sah. "Lalit?" Ihre Stimme klang mit einem Mal erwachsener als sonst. Jede ihrer Bewegungen wirkte beinahe schon aufgesetzt lasziv, ihr Körper war nur noch von einem durchsichtigen kurzen Spitzenhemdchen bedeckt. Lalit sah ihr nicht in die Augen, als er die Türe hinter sich verschloss und sich dann langsam auf dem Bett niederließ. "Leg dich hin, Dalia," murmelte er und starrte auf den rosafarbenen Teppich zu seinen Füßen. Seine Farbe glich der zarten Schicht der gefallenen Kirschblüten unten im Schlosspark. "Du kannst es wohl gar nicht mehr erwarten, Schatz!" Dalia kicherte. Der junge Thronfolger konnte am Rascheln der Bettwäsche erkennen, dass seine Frau sich tatsächlich hingelegt haben musste. Langsam öffnete er das türkisfarbene Band seines knielangen Kimonos und ließ sich den nachtblauen Stoff von den Schultern gleiten. "Warum lässt du dir dann so viel Zeit, mein Liebster?" "Spar dir diese lächerlichen Namen!" Lalit blickte sich immer noch nicht um. Stattdessen spürte er, wie ihm langsam eine Hand durch sein langes Haar fuhr und dann über den Rücken hinabglitt. Gegen seinen Willen begann er leicht zu zittern. "Was ist denn los?" Dalia richtete sich mit einem unwilligen Seufzen wieder auf. Im nächsten Augenblick jedoch klang ihre Stimme wieder so verführerisch und sanft wie zuvor. "Hast du etwa Angst?" "Ich habe keine Angst, verdammt noch mal!" Die Stimme des jungen Thronfolgers klang herrischer, als er eigentlich beabsichtigt hatte. Die Bewegung von Dalias Fingern brach ab. Lalit wandte seinen Blick über die Schulter dem Bett zu. Er sah, dass die blonde Prinzessin ihre Hand zurückgezogen hatte und sich auf die weiche Matzratze zurückfallen ließ. Sie räkelte ihren zarten Körper und blickte Lalit aus halb geschlossenen Augen an. "Du liebst mich nicht!" Ihre Stimme glich der eines beleidigten Kindes. "Du weißt doch genauso gut wie ich, dass wir nicht aus freien Stücken geheiratet haben!" Lalits Finger zeichnete zusammenhangslose Linien auf die glänzende Oberfläche der schneefarbenen Bettdecke. "Wir sind Königskinder. Wir haben nicht das Privileg, aus Liebe heiraten zu dürfen." "Denkst du, ich weiß das nicht?" Dalia richtete sich mit einem Ruck auf. In ihre hellblauen Augen trat ein wütendes Funkeln. "Du bist der Thronerbe, ich bin nur die Zweitgeborene, ein Mädchen. Mein Schicksal ist es, einen zukünftigen König zu heiraten, um das Land meiner Eltern politisch zu stärken. Und dein Schicksal ist es, eine Prinzessin zur Frau zu nehmen und einen Thronfolger zu zeugen!" "Vielen Dank für die Belehrung!" Lalits Lippen verzogen sich zu einen kalten Lächeln. "Wie mir scheint, hätte mein Vater lieber seinen besten Zuchthengst auf den Thron gesetzt. Der hätte sich wenigstens nicht beschwert..." "Warum sagst du solche Dinge?" Die Prinzessin packte Lalit von hinten bei den Schultern. Ihre Unterlippe hatte zu zittern begonnen. "Du bist so kalt zu mir..." "Bin ich das? Verzeih!" Der junge Weißhaarige wandte seinen Blick von ihr ab. "Du hast es vielleicht nicht begriffen, aber mein Vater wählte dich nicht nur aus, um das unsichere politische Verhältnis zwischen Belicia und Fuyubi zu sichern - dann hätte er mich eher mit der Prinzessin von Phoenicia verheiraten müssen. Nein, du..." Er drehte sich ruckartig zu dem zierlichen Mädchen um und strich ihr mit einer Hand durch das hellblonde Haar. "Du bist meine Frau geworden, weil dein Haar und deine Augen so hell sind. Deine Eltern haben beide blondes Haar, ist es nicht so? Man weiß jedoch, dass sich dieses Aussehen in den seltensten Fällen vererbt... mein Vater möchte ganz sichergehen, weißt du? Nicht, dass es noch einmal so eine Missgeburt im Stammbaum der Isaiah-Familie gibt, wie ich es bin!" "Lalit..." "Halt den Mund!" Jedes einzelne Wort aus dem Mund des weißhaarigen Kronprinzen traf seine frisch vermählte Frau wie ein eisiger Pfeil. "Ist das nicht ein großartiges Gefühl, meine liebste Dalia? Du wurdest ausgewählt wie ein Pferd auf dem Viehmarkt!" "Hör auf damit!" Dalia schnappte nach Luft und verpasste dem jungen Thronfolger eine schallende Ohrfeige. Ihre Hand bebte. "Wie leicht du es dir machst! Lässt deine ganze Wut an mir aus! Schön, wir sind verheiratet, aber du gibst dir ja nicht einmal Mühe, ein kleines bisschen nett zu mir zu sein! Was bezweckst du damit? Diese Verbindung wird nicht wieder aufgelöst werden..." "Wie zärtlich du bist..." "Spar dir diese Sprüche!" Auf das puppenhafte Gesicht der schönen Prinzessin hatte sich ein Schatten von Hass gelegt. Ihre Lippen verzogen sich zu einem boshaften Lächeln. "Du hältst mich anscheinend für vollkommen dumm und blind, aber das bin ich nicht! Sag, Lalit, würdest du mich liebevoller behandeln, wenn ich schwarzes Haar hätte und mich als Diener vor dir auf den Boden würfe?" "Was redest du da?" Lalit spürte, wie sich ihm eine eiskalte Hand in den Nacken legte. Er packte Dalia am Arm und zog sie ein bisschen näher zu sich hin. Nur noch wenige Zentimeter trennten ihre Gesichter. Die hasserfüllte Feindseligkeit in ihren Blicken lag wie etwas Greifbares zwischen ihnen im Raum. "Soll ich jetzt Angst kriegen? Ich denke doch, du weißt nur allzu gut, wovon, oder besser gesagt, von wem ich rede. Meinst du etwa, mir ist nicht aufgefallen, was zwischen dir und deinem Hündchen vor sich geht?" "Wage es nicht, so von ihm zu reden!" Der Weißhaarige verstärkte seinen Griff. Dalia zuckte merklich zusammen, aber das Lächeln auf ihrem Gesicht blieb. "Zwischen Kieran und mir läuft überhaupt nichts! Und überhaupt, woher willst du das wissen?" "Meine treue Carlynne hat mir so einiges erzählt. Halte mich nicht zum Narren! Du liebst den Jungen, auch wenn er diese Gefühle offensichtlich nicht erwidert - aber wie auch? Würde irgendjemand einen herzlosen Eisberg wie dich lieben?" "Du weißt nicht, wovon du sprichst!" "Es interessiert mich auch nicht!" Dalia löste sich aus Lalits Griff und schlang ihm die Arme um den Hals. Ihre Lippen hauchten einen zarten Kuss auf die des jungen Thronfolgers. "Du bist mein Mann, verstehst du das? Ob es dir passt oder nicht, wir sind jetzt vereint durch das Band der Liebe und schon bald..." In ihre Stimme trat ein sanfter Ausdruck, der nicht zu dem boshaften Funkeln in ihren Augen passte. "Bald wird die Frucht unserer Liebe in mir heranwachsen. Du wirst diesen schrecklichen Jungen nicht mehr sehen!" "Ach nein?" Lalit packte seine Frau mit einer plötzlichen Bewegung an den Schultern und presste sie auf die weiche Matratze ihres Bettes. Er beugte sich mit einem höhnischen Lächeln auf den Lippen über sie, bis er ihren Atem in seinem Gesicht spüren konnte. "Und wie bitte möchtest du das verhindern?" "Wie ich es verhindern möchte?" Ihre zarten Lippen begannen zu zucken. Im nächsten Augenblick stieß sie ein beinahe hysterisch klingendes Kichern aus. "Aber Sir Lalit, ich sehe, ihr überschätzt euch! Ich kann es nicht glauben. Wisst ihr, was in mir vorging, als ich euch das erste Mal sah? Ich war das glücklichste Mädchen des ganzen Planeten, weil ihr alle meine Erwartungen bei weitem übertraft. Ihr seid der schönste Mensch, den ich jemals gesehen habe, das denke ich auch jetzt noch. Aber inzwischen weiß ich, dass ihr gleichermaßen auch der herzloseste seid..." "Ich weiß immer noch nicht, was du mir mit diesen Worten sagen willst." "Nun, ich ahnte schon vor unserer Hochzeit, wie ihr euch verhalten würdet. Deshalb habe ich vorgesorgt und bereits alles mit eurer Mutter und ihrer geschätzten Majestät, dem ehemaligen König, abgesprochen. Wir werden dieses Schloss verlassen!" "Du beliebst zu scherzen!" Lalit stieß ein humorloses, überhebliches Lachen aus. "Warum sollten wir dieses Schloss denn bitteschön verlassen? Dies ist deine zukünftige Heimat und wir werden in Kürze hier regieren." "Ja, das werden wir!" Ihr Kichern wurde noch ein wenig schriller, dann verstummte sie und legte eine Hand in Lalits Nacken. "Aber bis dahin, Sir Lalit, werden wir uns auf dem Schloss meiner Familie aufhalten. Und zwar so lange, bis ich unseren Nachfolger unter dem Herzen tragen werde. Nun, was sagt ihr dazu? Die Kutsche steht schon bereit. Wir können jederzeit aufbrechen." "Warum weiß ich nichts davon? Das... das kann doch nicht sein! Hör auf, dich über mich lustig zu machen!" "Aber Sir Lalit, sehe ich da etwa einen Anflug von Entsetzen auf eurem Gesicht? Ich fühle mich geehrt. Dies ist die erste Gefühlsregung, die ihr mir gegenüber jemals gezeigt habt! Wie es scheint, mache ich Fortschritte!" "Warum tust du das, Dalia? Erwartest du etwa, dass ich dich auf diese Art und Weise lieben werde?" "Nein, Lalit, das erwarte ich nicht! Wir haben ein ganzes Leben lang Zeit, uns zu verlieben, hörst du? Du bist jetzt mein!" Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Sanft befreite sie sich aus Lalits erstarrtem Griff und zog seinen Kopf auf ihre Brust herab. "Sagte ich es nicht, mein Liebster? Du wirst diesen Jungen nie, nie mehr wiedersehen!!!" Kapitel 4: Vierte Erinnerung - Denk an mich ~ Remember me --------------------------------------------------------- Vierte Erinnerung - Denk an mich ~ Remember me Auf dieser Fanfic liegt ein Fluch! ^^; Diesmal konnte ich so lange nicht schreiben, weil mein PC grad nicht tut und ich die Story erst vor ein paar Tagen auf einer Diskette gefunden habe... dafür ist das Kapitel besonders lang geworden. Lalit ist so ein toller Charakter! Auch wenn ich ihn diesmal wirklich manchmal nicht mehr verstanden habe... ich glaube, er versteht sich selber nicht... *drop* Ich war aber auch so gemein und habe all meine Ferienendendepri und meine Angst vor der neuen Klasse an Lalit-kun ausgelassen. Gomen! Und... ich weiß auch nicht, was mich zu diesem Ende bewegt hat, wirklich! Vergebt mir! ^^; Wie auch immer, dieses Stück Wahnsinn widme ich vor allem mal wieder meinem FF-Autor Son-Goku Daimao! Für dich!!! *knuddl* Und außerdem ist das hier für Van17... danke, danke, danke für die langen Commis! ^.^ Viel Spaß beim lesen!!! Die Kutsche war noch vor Sonnenaufgang aufgebrochen. Zwei kräftige Apfelschimmel zogen das schneeweiße Gefährt durch die verschlafene Frühlingslandschaft. Lalit wusste, dass sich das Bild hinter dem kleinen Fenster schon bald wandeln würde. Während hier in Belicia die warme Jahreszeit an einigen Bäumen prächtige Blütenregen hervorbrachte und die weißen Wiesen in zarte Farbenpracht tauchte, lag das Königreich Fuyubi noch in tiefstem Winterschlaf. Im Land der Eisseen wurde es zwar wärmer als in den sturmgepeitschten Tälern von Akai, aber dennoch lag das ganze Jahr hindurch dicker Schnee auf den endlosen Ebenen. Lalit sah aus dem Fenster, ohne wirklich auf die vorbeiziehende Landschaft zu achten. In seinem Kopf spielten sich noch einmal die Szenen der vergangenen Stunden und Tage ab. Er sah seinen Vater, wie er in einem riesigen Berg aus Kissen und Decken in jeder Sekunde ein bisschen mehr starb. Die müden violetten Augen, die ihn ohne jegliche Wärme musterten, und die zittrige Stimme, die nur noch entfernt an die Strenge und Autorität vergangener Tage erinnerte. "Lalit, Ihr wisst, was ihr zu tun habt." "Natürlich, Vater. Wenn wir zurückkehren, werden wir euch einen würdigeren Nachfolger mitbringen, als ich es war. Macht euch das nicht glücklich?" "Redet... nicht so mit mir." "Verzeiht, Vater." "Ach, lasst doch diese... geheuchelte Höflichkeit bleiben. Erfüllt eure Bestimmung. Und wehe, ihr lasst irgendwelche... Schande... auf unser Königshaus kommen." "Aber natürlich nicht, Vater." Der sterbende König hatte nicht mehr geantwortet. Sein Kopf war kraftlos zur Seite gekippt, seine Augen geschlossen. Seine Brust hob und senkte sich langsam in unruhigem Schlaf. Der Heiler war augenblicklich eingetreten und hatte Lalit angewiesen, den Patienten nun ruhen zu lassen. Lalits goldene Augen folgten versunken den übermütigen Sprüngen eines zierlichen, schneeweißen Rehs, das sich erschrocken vom Hufgeklapper der Pferde in sein Versteck zwischen den verschneiten Bäumen eines dichten Waldes zurückzog. Der junge Thronfolger seufzte leise. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie sehr er das gewohnte Bild der tiefgrünen Wälder Belicias vermissen würde. Er war als Kind schon einmal in Fuyubi gewesen und erinnerte sich noch verschwommen an endlose, glitzernde Felder aus reinem Weiß und dem blendenden Hellblau der unzähligen gefrorenen Teiche. Damals war er, wie vor jeder Reise, von freudiger Erregung erfüllt gewesen und hatte sich an dem so ungewohnten Anblick gar nicht satt sehen können. Von dieser Freude war an dem jetzigen Morgen nicht das Geringste übrig geblieben. Lalit hörte den gleichmäßigen Atem seiner schlafenden Frau hinter sich. Er selbst war ebenfalls noch müde, aber die wirbelnden Gedanken in seinem Kopf ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. Der junge Weißhaarige lehnte sich zurück und starrte hinaus auf die dichte Mauer aus tiefgrünen Fichten und Tannen. Ihre Äste hingen schwer unter dem drückenden Gewicht der Schneemassen hinab. In Lalits Gedanken drängte sich die Erinnerung an seinen Abschied vom Hof. Die lieblose Umarmung seiner Mutter, begleitet von ein paar guten Worten, die aus ihrem Munde irgendwie hilflos wirkten. Neben ihr stand sein Großvater. Lalit konnte sich selten daran erinnern, den alten Mann so glücklich und zufrieden erlebt zu haben. Der Weißhaarige verzog das Gesicht. Schon bei dem bloßen Gedanken an dessen selbstgefälliges Lächeln wurde ihm übel. Er schüttelte den Kopf und vertrieb das Bild. Die weiße Kutsche rollte in eiligem, aber nicht zu schnellem Tempo aus dem verschneiten Wald hinaus. Den Wegesrand säumte nun eine Wiese, deren Oberfläche nur vereinzelt mit einer Schneeschicht bedeckt war. Hier und dort gab es große Flecken, in denen winzige Blumen ihre zarten Köpfe aus dem dichten, sattgrünen Gras streckten. Lalit wusste, dass diese kleinen grünen Oasen immer seltener werden würden, sobald sie sich der Landesgrenze näherten. Eigentlich mochte der junge Thronfolger den Winter lieber als den Frühling, wenn die ganze Landschaft von einer weißen, glitzernden Schicht verzaubert wurde. Und dennoch stimmte ihn der Gedanke traurig, dass er einen Frühling ohne die blühenden Bäume und die farbenfrohe Blütenpracht inmitten der leuchtenden Wiesen ihres Schlossgartens erleben würde. Ohne das Leuchten der schönsten Augen, die ein Mensch nur haben konnte. Zwei Augen, die intensiver funkelten als das Blau des Himmels und des Türkis des Meeres an einem wolkenlos sonnigen Sommertag. Kein Edelstein konnte kostbarer Glitzern, kein Schmuckstück konnte prächtiger und wertvoller sein. Lalit seufzte leise. Es war doch zum Verzweifeln! Jetzt war er noch nicht einmal einen einzigen Tag aus dem Schloss aufgebrochen, und schon begann er, Kierans Anwesenheit zu vermissen. So schmerzhaft es auch sein mochte, den Geliebten stets um sich zu haben, ohne ihn berühren zu können oder von ihm in die Arme geschlossen zu werden, umso mehr zerriss ihm diese so endgültig scheinende Trennung das Herz. Wer konnte ihm denn schon sagen, wie lange der Aufenthalt in Dalias Schloss dauern würde? Das Einzige, was er mit grausamer Gewissheit sagen konnte, war, dass die Zeit ihm dort wie eine Ewigkeit erscheinen würde. Wie sollte er denn nur leben können ohne seinen Kieran? Lalit schloss seine Augen und sah im Geiste noch einmal jenen unendlichen und doch vergänglichsten aller Augenblicke, in dem er seinen schwarzhaarigen Engel das letzte Mal hatte sehen sollen. Wie immer war der Junge mit gesenktem Haupt vor ihm gestanden, den Blick starr zu Boden gerichtet, die Hände zu Fäusten geballt, so als harre er in stummer Erwartung der schrecklichen Dinge, die ihm jede Sekunde widerfahren konnten. Die ganze Haltung seines Körpers drückte tiefste, unterwürfige Demut aus und versetzte Lalit einen schmerzhaften Stich mitten in sein Herz. "Kieran, ich habe eine Aufgabe für dich!" Lalits Worte hatten sanft klingen sollen, doch kaum hatte er sie ausgesprochen, entglitten sie seinen Händen und verwandelten sich in einen gewöhnlichen Befehl. Für einen Moment stockte dem jungen Thronfolger der Atem und er wagte es nicht, mit seiner Rede fortzufahren. "Natürlich, eure Majestät!" versicherte Kieran eilig und verneigte sich leicht. Lalit fragte sich unweigerlich, was wohl geschehen mochte, wenn er seinen jungen Diener anwies, augenblicklich aus dem Fenster seines Turmzimmers zu springen. Wahrscheinlich würde er auch solch einen Selbstmordbefehl ohne ein einziges Mal mit der Wimper zu zucken befolgen. "Ich möchte, dass du mir schreibst, was in meiner Abwesenheit am Hofe geschieht. Ich werde dir antworten und wiederum Bericht von meiner Situation erstatten. Diese Briefe sollst du sammeln, aber niemandem zeigen, es sei denn, ich teile es dir ausdrücklich mit. Ganz egal, was du lesen wirst, behalte es nur für dich!" Auf Kierans Gesicht trat ein ängstlicher Ausdruck. Ihm war deutlich anzusehen, dass er den Sinn hinter dem Befehl des jungen Thronfolgers nicht erkennen konnte. Dennoch nickte er. "Selbstverständlich, eure Majestät!" "Es ist ganz einfach so, dass ich nicht den Überblick über die Geschehnisse am Hof verlieren möchte. Wenn es nun ein Problem gibt, kann ich dir immer noch schreiben, was du unter Umständen tun kannst!" Lalit wusste selber am Besten, dass er sich und seinen Diener mit diesen Worten belog, aber das war ihm vollkommen egal. Allein der Gedanke, seinen Geliebten für einen unbestimmten, auf jeden Fall aber unerträglich langen Zeitraum nicht mehr sehen zu können, war an und für sich schon mehr, als er ertragen konnte. Wenn es nun irgendeine Möglichkeit gab, doch noch mit ihm in Kontakt zu bleiben, musste er sie um jeden Preis nutzen. "Die Briefe wirst du in einem Umschlag versiegeln und dann Lyra, der Amme meines Großvaters geben. Sage niemand anderem etwas davon. Lyra wird sie unter ihrem Namen verschicken und ich werde meine Antworten ebenso an sie adressieren." Wiederum nickte Kieran, ohne seinen Blick auch nur ein Stückchen dabei zu heben. Lalit fragte sich ernstlich, was wohl im Kopf seines schönen Dieners vorgehen musste. Die Anweisungen seines Herrn mussten ihm unvorstellbar absurd erscheinen! Wie nicht anders zu erwarten lies er sich jedoch nichts von seiner Verwunderung anmerken und stimmte ohne irgendwelche Fragen zu stellen zu. "Ich werde den ersten Brief am Tag meiner Ankunft im Schloss schreiben und du wirst mir so schnell wie möglich darauf antworten. Falls ich einmal innerhalb von sechs Wochen nicht zum Schreiben kommen sollte, wirst du ebenfalls einen Brief senden. Wundere dich nicht, wenn ich unter falschem Namen schreibe. Hast du alles verstanden?" "Ja, eure Majestät! Ich werde alles genauso befolgen, wie ihr es mir befehlt!" Lalit nickte. Seine Augen fixierten unaufhörlich das dem Boden zugewandte Gesicht des schwarzhaarigen Dieners. Er wusste mit einem Mal nicht mehr, was er jetzt noch tun sollte. War das alles wirklich nicht nur ein böser Traum? Er redete über unvorstellbar lange Zeiträume, so als wären sie eine gottgegebene Selbstverständlichkeit. Hatte er sein Schicksal denn schon so schnell akzeptiert? Blieb ihm überhaupt eine Wahl? In seinem Inneren nagte unaufhörlich ein dumpfer, nicht enden wollender Schmerz, während seine äußere Hülle sich wie in einem Trancezustand eingefroren weiter bewegte. Der junge Thronfolger hatte das Gefühl, einen Meter über seinem eigenen Körper zu schweben und in lähmender Fassungslosigkeit gefangen zusehen zu müssen, wie unter ihm ein längst vollendetes Theaterstück ablief, in das er nicht mehr eingreifen konnte. "Leb wohl, Kieran!" fuhr die geistlose Hülle unter ihm fort. "Ich verlasse mich auf dich, während ich nicht hier bin." "Lebt wohl, eure Majestät!" Kieran verneigte sich tief. Seine Stimme und auch sein Gesicht waren zwar keineswegs so kalt und emotionslos wie es bei Lalit der Fall war, aber dennoch lies sich nicht die geringste Gefühlsregung aus seinen Worten ablesen. Es war, als spräche er nicht aus eigenem Antrieb, sondern vielmehr so automatisch wie eine Puppe, deren Spieler in alter Gewohnheit immer wieder an denselben Fäden zog. "Ich werde für eure Sicherheit und für euer Wohlergehen beten!" "Ich danke dir. Und vergesse nicht, was ich dir aufgetragen habe." Lalit wusste, dass dies der endgültige Abschied war. Er würde gehen, hinab auf den Platz, wo die Kutsche und der Teil seiner Familie auf ihn wartete, der nicht gerade halb tot in einem weichen und kostbaren Sarg in Form eines Himmelbettes lag. Kieran würde wahrscheinlich sogar aufatmen, das Zimmer seines Herren in Ordnung bringen und dann anderen Aufgaben im Schloss nachgehen, bis ihn in einigen Wochen sein abgezwungenes Versprechen mit Stift und Papier an einen Tisch fesseln würde. Ein Versprechen... Der junge Thronfolger zuckte unweigerlich zusammen, als ihm schmerzlich in Erinnerung gerufen wurde, dass dies bereits der zweite Abschied von seiner ersten und einzigen großen Liebe war. Und obwohl diese unerträglichen Augenblicke scheinbar verschiedener nicht sein konnten, kroch in Lalit exakt das gleiche Gefühl hoch wie in jener längst vergangenen Winternacht. Sicher, damals war sein Kieran schreiend hinter der Kutsche hergerannt, die das junge Liebespaar so erbarmungslos auseinandergerissen hatte. Tränen waren über seine sommersprossigen Wangen gelaufen und hatten die türkisfarbenen Augen zum Glitzern gebracht, wahrend er verzweifelt den Namen seines Geliebten in die Nacht hinausrief. Mit dem durch und durch leidenschaftlichen, heißblütigen Jungen von damals schien jener scheue, unterwürfige Diener nichts mehr gemeinsam zu haben. Stumm und ängstlich stand er da, den Kopf demütig gesenkt, und wahrscheinlich wartete er sehnsüchtig darauf, dass sein seltsamer junger Herr ihn endlich allein ließ. Lalits Verhalten jedoch war dasselbe. Er war innerlich wie eingefroren, ließ sich ohne den geringsten Versuch von Gegenwehr von den Fäden ziehen, die das Schicksal für ihn gesponnen hatte. War nicht in Wirklichkeit er die Puppe, die sich bedingungslos umherzerren und herumkommandieren lies? Dies war nicht einfach nur der zweite Abschied. Es war das zweite Mal, dass Lalit regungslos dabei zusah, wie der Mensch, den er mehr als alles andere liebte, von ihm weggerissen wurde. "Kieran..." Lalit fuhr herum um zog die zierliche Gestalt des jungen Dieners mit einem Ruck an sich. Seine Hände vergruben sich in den pechschwarzen Haaren. Er fühlte die Wärme des kleineren Körpers an seinem eigenen, spürte, wie der flüchtige Atemhauch seinen Hals streifte. Er hatte in diesem Augenblick keinen anderen Wunsch, als die Berührung von Kierans Armen an seinem Rücken zu spüren, und sei es auch noch so zögerlich - und gleichzeitig wusste er, dass dieser eine Wunsch unerreichbarer war als jedes noch so kostbare Gut auf dem gesamten Planeten. Stattdessen begann der Schwarzhaarige in seinem Griff leicht zu zittern. Lalit wusste, dass er wahrscheinlich jede seiner Umarmungen aus tiefstem Herzen hasste und er verabscheute sich für das, was er tat. Dennoch konnte er nicht anders, als sein Gesicht ein letztes Mal gegen den Hals seines Geliebten zu pressen, noch ein einziges Mal seine Nähe zu spüren. Dann löste er sich von ihm. Kieran stand wie erstarrt inmitten des prächtigen Zimmers. Sein Blick war starr, beinahe krampfhaft auf den Boden gerichtet, seine Wangen gerötet. Sein schmaler Leib bebte, die höfliche Ausdruckslosigkeit auf seinem Gesicht wirkte erzwungen. "Denkst du an dein Versprechen, Kieran?" Lalit meinte, seine Stimme zittern zu hören, aber er wusste, dass er sich das nur einbildete. Im Laufe der Jahre war die kalte, gefühllose Maske mit seinem eigenen Gesicht verschmolzen und er wusste nur zu gut, dass er sie wahrscheinlich nie wieder abnehmen konnte. "Na-natürlich... eure... eure Majestät!" Kieran hatte einige Probleme damit, seine Fassung wiederzugewinnen, dennoch nickte er eifrig. Der junge Thronfolger fühlte einen kurzen, aber unvorstellbar schmerzhaften Stich in seinem Herzen. Wie konnte Kieran denn auch wissen, dass er die Frage seines Herrn nicht richtig verstanden hatte? "Gut... dann denk bitte daran..." Lalit wandte sich ab und ging auf die Türe zu. Er wusste, dass es unnütz war, seinem Diener zum Abschied zuzuwinken oder auch nur die Hand zu heben - er wagte es ja ohnehin nicht, ihn anzublicken. Trotzdem nickte er dem schwarzhaarigen Jungen noch ein letztes Mal zu. "Leb wohl..." Der Weißhaarige war langsam aus dem Zimmer gegangen. An den Weg hinab in den Hof konnte er sich nicht mehr erinnern. Er hatte nicht gedacht, nicht gefühlt... es war, als sei er auf diesen letzten Metern in seinem heimatlichen Schloss mit jedem Schritt ein bisschen mehr gestorben. Lalit schüttelte den Kopf und schlug müde die Augen wieder auf. Vor dem Fenster der Kutsche zogen endlose weiße Landschaften vorbei. Die Sonne tauchte die zahllosen Eiskristalle in ein kostbares, magisches Funkeln. Hier und dort ragten pechschwarze Baumskelette oder vereinzelte, dich aneinander gedrängte Tannengruppen aus der alles bedeckenden Schneeschicht hervor. Der junge Thronfolger wandte sich ab. Der Anblick mochte wunderschön sein, aber er berührte ihn nicht. Außerdem wusste er nur zu gut, dass ihm die nächsten Tage kaum andere Bilder zeigen würden. Gegen seinen Willen fielen dem schönen Kronprinzen erneut die Augen zu. Er blinzelte, aber seine Lider schienen mit jeder Sekunde ein wenig schwerer zu werden. Lalits Gedanken wurden von einem dunklen Nebel eingekreist, dem er schließlich nicht mehr ausweichen konnte. Er rutschte so weit wie möglich von seiner schlafenden Frau weg, dann gab er der süßen Versuchung nach und ließ sich in das dunkle, traumlose Nichts fallen. Die Fahrt zog sich fast zwei Wochen lang hin, obwohl sie jeden Tag lange Strecken zurücklegten und nur mit einem einzigen schwereren Schneesturm zu kämpfen hatten. Die Hufe der Pferde trabten sicher über jeden noch so glatten oder felsigen Boden, und auch die Räder der Kutsche, so prächtig verziert sie auch sein mochten, waren von meisterlicher Hand dazu geschaffen, selbst den extremsten Bedingungen Stand zu halten. Für Lalit machte es kaum einen Unterschied, ob die Fahrt nun Tage, Wochen oder Monate dauerte. Er fühlte sich wie in einem Schwebezustand zwischen zwei Welten, die beide aufhörten zu existieren, sobald man ihnen den Rücken kehrte. Das unwirkliche Gefühl war so allgegenwärtig wie die glitzernd weiße Schneedecke, auch wenn es mehr einem nebligen Käfig glich, der den jungen Thronfolger in einer ebenso flüchtigen wie unendlichen Traumwelt gefangen hielt. Als dann schließlich, nach zahllosen Meilen der Einsamkeit, der holprige Boden unter ihrem Gefährt zu einer breiten, gepflasterten Straße wurde, als die vereinzelten Bäume sich allmählich in Häuser wandelten, die Dörfer, die sie durchquerten, zu Städten heranwuchsen und nach weiteren winzigen Ewigkeiten der schneeweiße Scherenschnitt des Schlosses von Fuyubi auftauchte, konnte Lalit diesen Anblick anfangs noch gar nicht begreifen. Alles erschien ihm so fremd, so unwirklich, als würde sich das prachtvolle Bild jede Sekunde in Luft auflösen, sobald er es nur wagte, die Türen der Kutsche zu öffnen. Fuyubis Hauptstadt Chaela ließ sich jedoch auch mit gutem Gewissen als traumhaft beschreiben. Die Stadt war nicht nur von ihren Ausmaßen her gigantisch, sondern auch ein architektonisches Meisterwerk. Das Häusermeer schmiegte sich an eine kleine Anhöhe, wie sie ansonsten kaum in dem ansonsten so flachen, von endlosen Schneefeldern bestimmten Landschaftsbild zu finden waren. Oben auf diesem niedrigen Plateau lag nicht nur das Schloss der königlichen Familie, sondern auch ein riesenhafter See, der nur in den kältesten Wintermonaten zufror. Für die Einwohner Chaelas war jener See ein göttlicher Segen. Er goss sein Wasser in etlichen Wasserfällen in die Stadt hinab, wo es über ein ausgeklügeltes Kanalsystem bis in die entlegensten Winkel transportiert werden konnte. Und dies sicherte nicht nur das Leben der unzähligen Menschen, es verhalf der Metropole auch zu einer besonderen, bis weit über die Grenzen des Landes hinaus bekannten Schönheit. Ein türkisfarben glitzerndes Netz durchzog die weißen Straßen und spaltete sich von den sieben Hauptadern ab. Überall fand man kleine Brückchen und verwunschene Hinterhöfe. Ihre efeubewachsene Torbögen führten wiederum zu kleinen Plätzchen, von denen jedes zu einer Rast an einem der Flüsschen einlud, während ein großes Mühlrad gemächlich das Wasser durchwälzte und unzählige Tropfen in die Luft schleuderte, die von der Sonne in glitzernde Kristallsplitter verwandelt wurden. Doch nicht nur abseits der großen Straßen ließ es sich gemütlich verweilen. Das allgegenwärtige Plätschern der kristallenen Fluten und das Rauschen der Wasserfälle brachten eine gewisse Ruhe und Gemächlichkeit in das rege Treiben der Menschen. Sei es in den schnurgeraden, von hohen weißen Häuserfronten gesäumten Gassen, sei es auf dem riesigen Marktplatz mit dem alles überragenden Níva-Tempel oder den zahllosen Restaurants und Cafés, die sich in die von dort aus abzweigenden Seitenstraßen drängten. Von all diesen Dingen bekam Lalit noch reichlich wenig mit. Ihre Kutsche passierte keine der vielen Attraktionen und Touristenmagnete Chaelas, sondern rollte zielstrebig durch ein wenig belebtes Randgebiet, dessen Prachtbauten mit ihren riesigen Grundstücken auf das Wohnviertel der höheren Schicht hinwiesen. Der junge Thronfolger blickte versunken aus dem Fenster und fühlte sich an seine lange zurückliegenden Besuche in der riesigen Metropole Gharyth, der Hauptstadt des Waldkontinentes Silvania erinnert. Auch dort war alles ein bisschen größer und prunkvoller gewesen als in anderen Städten und die Straßen und Gassen zogen sich ebenso geometrisch exakt durch die Häuserreihen, als hätte man sie mit einem Lineal gezogen. Die Fahrt durch Chaela erschien Lalit nahezu lächerlich kurz im Vergleich zu ihrer bisherigen Reise. Auch wenn er es sich nur höchst ungern eingestand, war er ein wenig enttäuscht. Die großen Städte hatten ihn seit jeher fasziniert, und das Bild der Häuser und geschäftigen Menschen bot eine nur allzu angenehme Abwechslung zu den endlosen, leeren Ebenen der vergangenen Wochen. Er hatte schon viel von dem berühmten Marktplatz zu Füßen der Wasserfälle gehört, von der unglaublichen Atmosphäre des Níva-Viertels bei Nacht, wenn die schmalen Straßen von Menschen überquollen, hundert verschiedene Düfte in der blauen Luft lagen und von Köstlichkeiten aus allen nur erdenklichen Ländern erzählten. Überall lockten Kellner die Vorbeieilenden in ihre Gaststuben, und die unzähligen Lichter verwandelten das Wasser der Kanäle in einen glitzernden Strom aus fließenden Sternen. Lalit seufzte leise, als ein schmerzhafter Stich in seinem Herzen ihn daran erinnerte, wer ihm einst von jener unbeschreiblichen, besonderen Schönheit der silbernen Stadt Chaela berichtet hatte, damals, in einer kalten Winternacht, bei einer dampfenden Tasse Tee im Gasthof von Cecaya. Er sah noch heute vor sich, wie Kierans türkisfarbene Augen gestrahlt hatten, als er ihm von den Wintermonaten in Fuyubis Hauptstadt berichtet hatte. Wenn die riesigen Wasserfälle zu bizarren Gebilden aus Eis erstarrten und das Licht der Sonne in funkelnden Facetten reflektierten, bis der sanfte Schein des Mondes sie schließlich in gefrorene Kristalle verwandelte. Und jeder einzelne von ihnen schien eine einzige glitzernde Träne des Silbermondes in sich zu tragen. Der junge Kronprinz wandte sich von seinem schönen Spiegelbild ab, das ihm mit kalten Augen aus der Scheibe der Kutsche entgegenblickte. Warum machte er sich überhaupt Gedanken über Chaelas Schönheit bei Nacht? Was brachte es ihm, wenn er Erinnerungen an irgendwelche großartigen Erzählungen nachhing, deren märchenhafte Wunder er doch niemals selbst erblicken konnte? Es waren doch alles nur dumme Spinnereien! Er war der zukünftige König von Belicia, es war ihm schlicht und einfach nicht möglich, sich wie ein einfacher Schaulustiger aus einem fremden Land in die Menschenmassen zu stürzen und die Schönheit dieser oder irgendeiner anderen Stadt am eigenen Leibe zu erfahren. Sein Leben würde in den kommenden Monaten in dem alles überragenden Palast stattfinden. Wenn überhaupt, dann konnte er Chaela mitsamt einer Horde von Leibwächtern und natürlich seiner reizenden Gemahlin erkunden, und darauf konnte er nun wirklich mehr als getrost verzichten. "Liebling? Oh Liebling, sieh doch!" Der junge Weißhaarige verzog unmerklich das Gesicht. Was für ein großartiger Zufall! Kaum sprach, oder besser gesagt, dachte er vom Teufel, da säuselte der ihm im nächsten Augenblick auch schon mit seinem liebreizenden Stimmchen ins Ohr. Lalit wandte sich nur halb um, aber das genügte, um das sonnenfarbene Leuchten des hellblonden Haares, das Blitzen der himmelblauen Augen und das verzückte Lächeln auf den zartrosafarbenen Lippen Dalias wahrzunehmen. "Was ist denn los?" fragte er in einem so kalten Tonfall, dass die strahlende Sonne sich für den Bruchteil einer Sekunde verdunkelte und ein grauer Wolkenschleier sich über das Hellblau des Himmels legte. Doch noch im nächsten Augenblick war die äußerst kurzlebige Schlechtwetterfront auch schon weitergezogen und machte einem Hoch aus blendender guter Laune Platz. "Jetzt! Sieh dir die Stadt an! Sieh nur, wie wunderschön sie ist!" Dalia hob ihren porzellanfarbenen Finger in Richtung des Fensters. In ihrem Blick lag ungetrübte Begeisterung. Für die puppenhaft schöne Prinzessin war das Ende ihrer langen Fahrt eine Heimkehr. Doch selbst Lalit musste sich eingestehen, dass ihn der Blick von der Anhöhe auf die Stadt hinab überwältigte. Die Dächer Chaelas erstrahlten beinahe ausnahmslos in blitzendem Silber, das mit dem türkisblauen Kanalnetz zu einem kostbaren, funkelnden Stoff vernetzt wurde, besetzt mit reinen Diamanten. In der Ferne stach aus dem riesenhaften Teppich das hohe Gebäude des Níva-Tempels hervor, dessen hohe, silberne Kuppeln mit den perlmuttfarbenen Mauern und den darin eingesetzten, hellblauen Edelsteinen um die Wette strahlen. Die vier kleineren Türme an den Seiten des Gotteshauses waren in sich gedreht und in ihren blitzenden Kuppeldächern hingen unzählige Silberglöckchen, die das Lied des Windes in ein immerwährendes, überirdisch schönes Glockenspiel verwandelten. Eingerahmt wurde dieser unfassbar prächtige Bau von zwei Wasserfällen, die eine meeresfarbene Kristallflut in den metallenen Ozean hinabgossen. Wie gebannt ruhten Lalits goldene Augen auf dem unglaublich schönen Bild, das wie ein bewegtes Gemälde hinter dem Kutschenfester vorbeizog. Der junge Thronfolger verstand nun, warum Chaela auch die silberne Stadt genannt wurde, und obwohl er die verschneite Metropole bislang nur aus der Ferne hatte bewundern können, wusste er ganz genau, warum Kierans Augen bei seinen Erzählungen derart geleuchtet hatten. Lalit konnte nicht genau sagen, warum, aber die prachtvolle Stadt passte zu seinem Geliebten, wie er ihn früher einmal gekannt hatte. Vielleicht lag es an dem allgegenwärtigen, türkisfarbenen Glitzern, vielleicht aber auch an jenem nicht greifbaren, inneren Strahlen und Funkeln, das einen schon auf den ersten flüchtigen Blick gefangen nahm. Er betrachtete die Stadt mit einer Mischung aus Bewunderung und schmerzhafter Trauer, bis die Kutsche irgendwann um eine scharfe Biegung rollte und ihm den Blick verwehrte. Lalit senkte seinen Kopf. Er wusste, dass das Ende ihrer langen Reise unmittelbar bevorstand. Die beiden Apfelschimmel zogen die schneeweiße Kutsche in gemächlichem Trab auf das königliche Schloss von Fuyubi zu. Der schöne Kronprinz fühlte sich, als ob sie ihn geradewegs zu seiner Exekution trugen, oder auch in einen düsteren, grässlichen Kerker, in dem er den Rest seines unglücklichen Lebens dahinvegetieren musste. Ein leiser, bitterer Seufzer stahl sich über seine Lippen. Vielleicht lag er mit diesem zweiten Gedanken ja gar nicht so falsch. Der Weißhaarige war so in Gedanken versunken, dass er gar nicht merkte, wie außerhalb seines vierrädrigen Gefängnisses unaufhaltsam die Zeit voranstrich. Er blickte auch dann noch nicht auf, als der Kutscher seine Tiere zügelte, dass sie zunächst in langsamen Schritt übergingen und dann schließlich ganz zum Stehen kamen. Er bemerkte nicht den leisen, entzückten Ausruf seiner Frau, die ihr Gesicht an die Scheibe gepresst hatte und mit riesigen, vor Begeisterung funkelnden Augen aus dem Fenster hinausstarrte. Erst, als neben ihm die Türe geöffnet wurde, begriff er, dass sie soeben im Schloss seiner Gemahlin angekommen waren. Der Empfang war weit weniger prunkvoll, als Lalit befürchtet hatte. Wohl aus Rücksicht auf das von der anstrengenden Reise erschöpfte Ehepaar waren lediglich ein paar Wachen herbeigestellt, die sich ihnen augenblicklich in tiefer Demut vor die Füße warfen. Im Hintergrund lauerte eine Dienerschar, um das Gepäck der zukünftigen Herrscher Belicias auf die bereitgestellten Zimmer zu bringen. Doch zumindest Dalia schien von all dem nicht das Geringste zu bemerken. Sie schwebte mit einem durch und durch glücklichen Lächeln auf den Lippen hinaus auf den Schlossplatz, um ihre wiedergewonnen Heimat zu begrüßen. Lalit folgte ihr weitaus weniger begeistert und euphorisch. Das Schloss Fuyubis stand seinem eigenen in nichts nach, aber es ähnelte ihm auch nicht im Geringsten. Es war ein langgezogener, eher flacher Prachtbau, dessen Fassade von Weiß, Hellblau und Silber bestimmt wurde. Besonders auffällig war eine hohe, kreisrunde Kuppel am Westende des Palastes, der mit seinen reichen Verziehrungen und Glaseinsätzen auf eine große Kapelle hinwies. "Ehrwürdige Majestät, Sir Lalit, und Prinzessin Dalia, verehrte Herrin, ich bitte euch, folgt mir!" Eine der Wachen hatte sich erhoben und blickte in unterwürfiger Ehrfurcht zu seinen jungen Gebietern auf. "Ihre Majestät, der König persönlich, wünscht, sie zu empfangen. Selbstverständlich können sie sich danach auf ihre Gemächer zurückziehen und sich von der gewiss sehr anstrengenden Reise erholen!" "Oh, habt Dank!" Dalia spitzte die Lippen und schaffte es auf wundersame Weise, noch ein bisschen püppchenhafter auszusehen als sie es ohnehin schon tat. Auf ihrem Gesicht ließ sich bloße Begeisterung ablesen. Sie konnte es ganz offensichtlich kaum noch erwarten, ihre Eltern wiederzusehen. Lalit spürte ein seltsames Gefühl in sich aufsteigen, das er selber nicht ganz einordnen konnte. War es etwa Eifersucht? Nein, unmöglich! Wahrscheinlich fühlte er lediglich die wachsende Beunruhigung beim Gedanken an die Eltern seiner Gemahlin. Immerhin, wenn Dalia ihre Eltern liebte, beruhte dieses Gefühl höchstwahrscheinlich auf Gegenseitigkeit. Und allein die Vorstellung, die kommenden Monate seines Lebens mit einer ganzen Familie von hinterhältigen, verlogenen und äußerst zickigen Puppen verbringen zu müssen, jagte ihm kalte Schauer über den Rücken. Aus irgendeinem Grund hielt sich seine Freude über die kommende Begegnung stark in Grenzen. Lalit ließ sich nichts von seinem Widerwillen anmerken und folgte ohne jeglichen Einspruch der demütigen Wache, die das junge Prinzenpaar durch ein Labyrinth von breiten, verzweigten Korridoren führte. Immerhin konnte er mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass er sich in diesem Schloss vom ersten Augenblick an fremd und unwohl fühlte. Dabei kam er auf dem gesamten Weg nicht an dem kleinsten Detail vorbei, das den Eindruck von offener, strahlender Schönheit mindern konnte. Im Gegenteil. Fuyubis königlicher Palast war mit großem Abstand das einladendste, freundlichste Schloss, das er in seinem ganzen Leben gesehen hatte. Überall ließen hohe Fenster durch weiße, luftige Vorhänge das Sonnenlicht in die langen, geraden Gänge einfallen. Die Wände erstrahlten in reinstem Weiß, die Böden waren mit schachbrettartig angeordneten, schwarzen und weißen Fließen bedeckt. Auch die an und für sich dunklen Türen wurden durch goldene und silberne Verzierungen derart wirkungsvoll aufgehellt, dass sie den durch und durch von Licht erfüllten Eindruck nicht im Geringsten störten. Doch jede Leiste, jede noch so kleine Zierde war von meisterlicher Hand genau so platziert, dass sie die würdevolle Leichtigkeit dieses Ortes zwar schmückte, aber dennoch nicht beschwerte. Wie düster, wie erdrückend konnten einem da die tiefroten Tapeten und Teppiche, die ebenholzfarbenen Wandvertäfelungen und schweren Türen in Belicias Schloss erscheinen! Und doch sehnte Lalit sich in jeder einzelnen Sekunde so sehr nach ihnen, wie er es noch nie zuvor in seinem Leben getan hatte. Sicher, sein eigenes, prunkvolles Zuhause war ihm sein Leben lang wie ein goldener Käfig erschienen. Aber wenn der Palast in Belicia ein Käfig war, dann war dieser hier in Fuyubi ein finsterer Kerker. Bei aller Unterwürfigkeit besaß ihre Wache dennoch ganz offensichtlich auch einen ausgeprägten Orientierungssinn, denn sie fand den Weg durch die Gänge zum Thronsaal hin mit traumwandlerischer Sicherheit. Lalit dachte in diesem Augenblick gar nicht daran, dass der noch verhältnismäßig junge Wächter die Strecke vom Tor zum Saal ihrer Majestät wahrscheinlich schon unzählige Male gelaufen war. Für ihn erschien der Weg unangenehm kurz. Er konnte nicht wirklich sagen, dass er nervös war, vielleicht wollte er das auch ganz einfach nicht. Er wusste nur, dass er am liebsten auf dem Absatz kehrt gemacht hätte, selbst wenn er dafür jeden einzelnen Meter auf dem endlosen Weg zurück nach Belicia zu Fuß hätte bestreiten müssen. Natürlich drehte er nicht um. Er pilgerte auch nicht in sein Heimatland zurück, sondern folgte mit sehr zu seinem Missfallen heftig klopfendem Herzen der Wache in einen riesigen, an beinahe schon blendender Helligkeit kaum noch zu übertreffenden Raum hinein. Das Weiß der Wände, der Decke, der von feinen, schimmernden Fäden in metallischem Hellblau durchzogenen Vorhänge brach wie eine Welle über jeden Eintretenden hinein und raubte einem für einen Augenblick den Atem, noch bevor man die majestätischen Gestalten auf den funkelnden Thronen erblicken konnte. Das Herrscherpaar schaffte es, all die geballte Pracht noch zu übertreffen. Die Königin war eine der schönsten Frauen, die sich ein Mensch nur vorstellen konnte. Ihr Körper war schlank, zierlich, aber durchaus wohlgeformt. Ihr Gesicht glich dem einer göttlichen Statue, geschaffen von dem begabtesten Künstler, der sich auf dem gesamten Rund des Planeten finden ließ. Ihre Augen waren von einem so intensiven Grün, dass sie das Licht wie kostbar geschliffene Edelsteine in tausend kleine Funken zu brechen schienen. Die Farbe ihrer Haut glich der von feinstem Porzellan, ihre Lippen trugen den seidigen Schimmer und das intensive Rot frisch gefallener Rosenblüten. Ihr Haar war von einem tiefen Honigblond, nur vereinzelt zogen sich hellblonde Strähnen wie Sonnenreflexe durch die seidene Flut. Während die Königin auf einem silbernen Thron Platz genommen hatte, saß der König selber auf einem unbeschreiblich prächtigen Thron aus purem Gold, bezogen mit dunkelblauem Samt. Noch bevor man ihn näher betrachtete, spürte man unweigerlich eine beinahe greifbar im Raum liegende Würde, die ihn wie eine goldene Aura umgab. Sein Gesicht war gleichzeitig herrschaftlich streng, erhaben, Ehrfurcht einflössend, und doch unendlich gütig, beinahe weise - dabei schien er sogar noch recht jung zu sein. Das hellblonde Haar trug er zurückgekämmt, seinen Bart exakt geschnitten. Neben dem Königspaar saß noch eine weitere Gestalt auf einem kleineren Thron. Es war ein junger Mann mit langem, welligem Haar in einem so intensiven Goldblond, als ob sich das Licht der Sonne in jeder einzelnen Strähne verfangen hätte. Man musste nicht zweimal hinsehen, um zu erkennen, dass dieser junge Mann Dalias Bruder war, und er stand ihr in Schönheit um nichts nach. Dabei lag in seinen strahlend blauen Augen ein verschwörerisches, heiteres Blitzen. Er lächelte. "Mutter!" Dalias Stimme hatte mit einem Mal jegliche gespielte, antrainierte Höflichkeit verloren. Sie stieß ein übermütiges Lachen aus und rannte auf die wunderschöne dunkelblonde Frau auf dem Silberthron zu. Auch diese erhob sich augenblicklich, um ihre Tochter in die Arme zu schließen und mit einer liebevollen Geste an sich zu drücken. Innerhalb weniger Sekunden hatten sich auch Prinz und König dazugesellt und verharrten in seliger Einigkeit. "Vater! Und Alan! Oh, ich habe euch so vermisst!" "Wir haben dich auch vermisst, Schatz!" Die Königin strich ihrer Tochter mit einer liebevollen Bewegung durch das hellblonde Haar. "Ich freue mich unglaublich darüber, dich wieder in unserem Schloss begrüßen zu können... oh..." Sie lächelte leicht verlegen und wandte sich dann Lalit zu. "Verzeiht meine Unhöflichkeit! Euch heiße ich natürlich auch mit Freuden willkommen, Sir Lalit!" "Natürlich!" Nun meldete sich der König zu Wort, löste sich mit einem letzten, zärtlichen Kuss auf die Stirn von seiner Tochter und trat auf den jungen Weißhaarigen zu. Der verneigte sich und ergriff dann die Hand, die der blonde Mann ihm entgegenstreckte. "Wir fühlten uns zutiefst geehrt, eine so enge Bindung mit Eurem Königshaus eingehen zu können. Die Vermählung unserer Tochter war ein großes, freudiges Ereignis für uns. Umso mehr fühlen wir uns geehrt, euch nun in der Heimat eurer Gemahlin willkommen heißen zu dürfen." "Mir ist es ebenfalls eine Ehre, eure Majestät!" Lalit konnte nicht sagen, warum, aber er verspürte mit einem Mal das dringende Bedürfnis, aus diesem Thronsaal entfliehen zu können. Der Anblick seiner überglücklichen Frau mit ihrer wunderschönen, perfekten Familie ließ ein seltsames, beinahe unerträgliches Gefühl in ihm hochsteigen, das er beim besten Willen nicht einordnen konnte und wollte. "Ich bitte euch, im privaten Kreis können wir doch auf diese Höflichkeit verzichten, immerhin gehört ihr ja nun auch zur Familie. Nennt mich ruhig Ayâm, das sind meine Frau Zahra und mein Sohn Alan. Nun, ihr seid sicherlich sehr erschöpft, nicht wahr?" Lalit nickte. Er fühlte sich so erschöpft wie nie zuvor in seinem Leben, aber gleichzeitig wusste er auch, dass dies nicht allein von der langen Reise herrührte. Die prachtvolle, freundliche, vollkommene kleine Welt um ihn herum ermüdete ihn schon nach den wenigen vergangenen Minuten so sehr, dass er sich aus tiefstem Herzen in die kalte, schaukelnde Kutsche zurücksehnte, die bis in alle Ewigkeit durch eine monotone weiße Schneelandschaft irrte, ohne ihr Ziel auch nur zu kennen, geschweige denn erreichen zu können. Vor allem aber wollte er die Chance, endlich und ganz offiziell beglaubigt vor diesem Anblick vollkommenen Glücks davonlaufen zu können, nicht einfach so verstreichen lassen. Wer konnte ihm nach einer derart ermüdenden Reise denn auch verdenken, wenn er schlicht und einfach seine Ruhe haben wollte, um sich in seinem Zimmer einzuschließen und sich unter seiner Bettdecke vor dem königlichen Paradies und seinen elfengleichen Bewohnern zu verstecken? Und ganz nebenbei war dies vielleicht auch für eine sehr lange Zeit die letzte und einzige Gelegenheit, eine Nacht ohne seine liebreizende Gemahlin verbringen zu können. "Oh, ich bin natürlich auch sehr müde!" Wie auf Bestellung stieß Dalia ein helles, tonloses Seufzen aus und verdrehte ihre großen, hellblauen Augen. "Nun sei mal nicht so theatralisch, Schwesterherz!" Alan stieß der Prinzessin in die Seite. Auf seinem sanften Gesicht breitete sich ein Grinsen aus. "Auch wenn ich es dir nicht verdenken kann, dass du dich auf dein eigenes Zimmer freust. Belicias Schloss soll ja - verzeiht mir den Ausdruck - eher einer luxuriösen Gruft gleichen." Lalit nahm das warme Lachen des Blonden mit versteinerter Miene zur Kenntnis. Während der König sich um einen strengen, tadelnden Blick bemühte, verbarg die Königin ihr glockenhelles Kichern hinter ihrem samtenen Handschuh. Dalia stimmte weitaus unverblümter in das Gelächter ihrer wunderschönen Mutter ein, während der junge Weißhaarige einen Hilfe suchenden Blick aus dem Fenster hinaus in den strahlend blauen Himmel sandte, auf dass düstere Wolken die Sonne verdeckten und seinem qualvollen Dasein durch einen kurzen, aber heftigen Blitz mitten durch das prachtvoll verzierte Schlossdach ein nicht unbedingt ehrenvolles, aber dafür umso erlösenderes Ende bescheren würden. Statt dem gnädigen Gewitter ergriff nun wieder einmal Fuyubis König das Wort. "Sei doch nicht so unhöflich, Alan!" Eine Armee von Lachfalten breitete sich um seine blitzenden Augen herum aus. Lalit sah mit einem Mal ein erschreckendes Bild vor sich, wie dieser Mann am Bettchen des zukünftigen belitischen Thronfolgers stehen und ihm geistlose Geschichten aus einer besseren Welt erzählen würde, neben sich seine engelsgleiche Frau und die puppenhafte Tochter. Willkommen in unserer heilen Familie, kleiner Prinz, kleine Prinzessin. Fürchte dich nicht, denn der Märchenonkel Ayâm wacht an deiner Seite. "Wieso? Wird Fröhlichkeit seit neuestem von der Hofetikette verboten?" Alan sah bei der Frage nicht seinen Vater an. Seine blauen Augen streiften Lalits Gesicht, blieben kurz an seinem eiskalten Blick hängen und wanderten dann zu seiner Schwester hin, die augenblicklich wieder zu kichern begann. "Alan!" Der König warf seinem Schwiegersohn einen entschuldigenden Blick zu, ohne dabei anscheinend auch nur im Geringsten zu ahnen, dass er die Situation auf diese Art und Weise alles andere als retten konnte. Danke für den Hinweis, schoss es Lalit durch den Kopf, während sich seine Hand unauffällig zu einer Faust ballte. Ergebensten Dank, Majestät, aber eigentlich hatte ich den dezenten Hinweis ihres reizenden Sohnes auch schon vor diesem Wink mit dem Gartenzaun verstanden. Das schöne Gesicht des Weißhaarigen blieb vollkommen unbewegt, während er den Kronprinzen Fuyubis im Geiste mit seinem Schwert durchbohrte und dann dem königlichen Ehepaar zur Türe hin folgte. Draußen wartete die ortskundige, demütige Wache mit einem Lächeln darauf, die ehrwürdigen Neuankömmlinge an jeden Ort zu geleiten, zu dem seine Herrin ihn weisen würde. Lalit zweifelte nicht im Geringsten daran, dass er auf eine einzige flüchtige Handbewegung hin durch einen tosenden Schneesturm geradewegs in die Schatten des Totenreiches und wieder zurückstürzen würde, aber natürlich hatte die gnädige Königin für derartige Boshaftigkeiten keinen Platz in ihrem bezaubernden Kopf. Stattdessen wies sie den jungen Mann mit ihrer sanften Stimme schlicht und einfach dazu an, ihre Tochter und deren Gemahl auf ihre Gemächer zu geleiten, und seltsamerweise klangen die Worte aus ihrem Mund nicht wie ein Befehl, sondern wie eine durch und durch freundliche Bitte, der man sich gerade deshalb gar nicht verweigern konnte. "Ich hoffe, eure Unterkunft ist zu eurer Zufriedenheit, Sir Lalit!" lächelte sie dem jungen Weißhaarigen in exakt demselben herzlichen Tonfall zu. Vergeblich suchte er in ihren Augen nach einer Spur von Ablehnung, stattdessen fand er lediglich ein freudiges, zufriedenes Glitzern in den unfassbar reinen, lebendigen Smaragden, dass sie wie von innerem Licht erfüllt strahlen ließ. "Gewiss." Lalit schaffte es nur mit all seiner Selbstbeherrschung, dem warmen Blick der Frau nicht auszuweichen. Er wusste mit einem Mal selber nicht mehr, warum er solch eine Abneigung gegen diese Menschen in sich trug, dass sie beinahe wie eine greifbare Mauer zwischen ihnen die Luft durchtrennte. Ganz offensichtlich hatte sich nicht nur die königliche Familie aus tiefstem Herzen auf ihre Ankunft gefreut, nein, das ganz Schloss schien seine prächtigen Türen und Fenster in stummem Jubel aufzureißen, die weißen Vorhänge wie Siegesbanner im Wind schwenkend, während das Sonnenlicht einen goldenen Teppich auf die Schachbrettböden zauberte. Auch die Dienerschaft war sichtlich gerührt, jene geheiligte Erde küssen zu dürfen, auf die der Schatten ihres ehrwürdigen Porzellanpüppchens gefallen. Jeder einzelne Schlossangestellte, seien es die unzähligen verhuschten Dienstmädchen, die stämmigen Köche oder die Stallburschen unten auf dem Hof, schien wie gebannt von dem wunderschönen Paar, das die Gänge des Schlosses wie ein zarter, reiner Lichtstrahl erhellte. Und in all ihren Augen spiegelte sich dieses Leuchten, wenn sie ehrfürchtig zu ihren Herrschern hinaufblickten, um ein Stückchen von ihrer Pracht und ihrem Glanz für sich zu bewahren. Es schien wie die Erfüllung eines Märchens - zwei junge Liebende, Sie so strahlend und golden wie die Sonne, Er so geheimnisvoll und silbern wie das Licht des Mondes. Wen wunderte es da, dass sogar die Natur sich an diesem Freudentag in ihrem schönsten Gewand zeigte? Der Schnee, der unter dem perfekt blauen Himmel noch ein bisschen heller und kostbarer glitzerte als sonst, und das schillernde, triumphale Gezwitscher der Vögel, die ihre Freude in überschwänglichen Trillern der strahlenden Sonne entgegenschickten. In diese kollektive Rhapsodie fiel die junge Prinzessin mit einem übermütigen Kichern ein, als sie sich ein letztes Mal von ihrer Familie verabschiedete, so als lägen Jahrhunderte zwischen ihrer nächsten Begegnung, unüberwindliche Gebirge und noch ungleich vernichtendere Schneestürme als auf ihrer Anreise. Lalits kalte goldene Augen wichen dem auf eine bizarre Art und Weise endgültig wirkenden Szenario aus - und streiften dabei Alans Gesicht. Der blonde Kronprinz musste ihn seinerseits schon deutlich längere Zeit lang angesehen haben, dennoch wich er Lalits Blick nicht aus, als dieser dessen stille Musterung bemerkte. Der Weißhaarige konnte nicht einmal genau sagen, was es war, aber irgendetwas an dem Ausdruck in Alans Augen gefiel ihm nicht. Dalias Bruder lächelte, aber gerade dieses Lächeln wirkte feindseliger, als jede andere, noch so finstere Mimik es hätte sein können. Lalit antwortete mit einem nichts sagenden, vollkommen emotionslosen Blick und wandte sich von dem letzten, verschwindenden Wall der Ablehnung wieder der Flut aus warmen, lautlosen Willkommensrufen zu, die wie schneeweiße, glühende Nebelschwaden durch die Korridore des Schlosses zogen. Das Königspaar lächelte ihm zum Abschied noch ein letztes Mal zu, doch die Wärme dieser verabschiedenden Geste schien im Grunde genommen nichts anderes zu sein als die Einladung zu einem baldigen Wiedersehen. Lalit konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was sie von ihrem Schweigersohn eigentlich hielten, aber in ihren Augen las er lediglich dieselbe einladende Freude, wie sie auch der Rest der versammelten Schlossbevölkerung mitsamt Vorhängen, Vögelchen und Frühlingshimmel an den Tag legten. Und dennoch fühlte sich Lalit so fehl am Platze, wie noch nie zuvor in seinem Leben. Die Nacht lag wie geschmolzenes Blei auf dem schlafenden Prachtbau, der mit gelassener, wohlwollender Erhabenheit auf die silberne Stadt zu seinen Füßen hinabblickte. Hier und dort hallte das Kichern und Wispern der jungen Dienerinnen durch die weiten Gänge, die vom flackernden Widerschein der Fackeln selber in weißes Feuer verwandelt zu werden schienen. Nur noch vereinzelt huschten geschäftige Gestalten über das blanke Schachbrett, vorbei an den seidenen Vorhängen, die durch das blitzende Glas der Fenster sehnsüchtig zum kalten Nachtwind hinausblickten. Lalit interessierte sich in diesem Augenblick jedoch reichlich wenig für Winde, Schlossgänge oder die unerfüllten Sehnsüchte der schimmernd weißen Stoffbahnen. Er saß an dem kleinen, schneeweißen Tischchen, dessen verschnörkelte Beine nur leicht schwankend auf dem weinroten Teppichboden Halt fanden. Ein dreiarmiger silberner Kerzenleuchter tauchte den Raum in warmes, leicht unscharfes Licht. In der Hand des jungen Thronfolgers ruhte schon seit geraumer Zeit ein weiß-goldener Federkiel. Das Tintenfässchen, das sich Wärme suchend an den kantigen Fuß des blitzenden Lichtbringers schmiegte, war unberührt. Der Weißhaarige seufzte leise. Seine kalten goldenen Augen tasteten die schneeweißen Wände des Zimmers ab, deren sterile Helligkeit im schummrigen Kerzenschein zu einem weichen, konturlosen Orangegelb verschwamm. Ein detailliertes Gemälde des Schlosses stand seinem breiten, mit weißem Samt und roten Kissen bedeckten Bett gegenüber. Der goldene, reich verzierte Rahmen der prunkvollen Schlafstätte wirkte im heimeligen Halbdunkel matt und glanzlos. Sei gegrüßt, Kieran Wie in einer plötzlichen, hinterhältigen Attacke schnellte die Feder nach vorne, bohrte sich tief in das schwarze Blut des Tintenfasses und raste dann in feinen, geschwungenen Linien über das leicht gelblich weiße Papier. Lalit zog eine Augenbraue hoch, begutachtete die drei unscheinbaren Worte und setzte dann weitaus langsamer Datum und Aufenthaltsort über das noch beinahe leere Blatt. Wie angekündigt erhältst du hiermit mein erstes Schreiben. Der junge Thronfolger betrachtete die Worte mit unverhohlener Feindseligkeit. Er hatte sich zwar vorgenommen, in den Briefen stets eine sachliche, gewählte Ausdrucksweise zu bewahren, aber dennoch erschien ihm diese hölzerne Förmlichkeit mehr als nur unangebracht. Tausend Dinge rasten wie kopflose Kutschpferde in seinem Kopf herum, dass ihm beinahe schwindlig davon wurde, aber seine Finger formten mit kühler Distanziertheit leicht verlaufende Striche auf dem Papier. Er atmete tief durch und strich sich einige Haarsträhnen aus dem Gesicht. Es war gut, so wie es war. Er durfte sich nicht zu irgendwelchen gefühlsduseligen Dummheiten hinreißen lassen. Dies war ein Bericht, sein letzter Kontakt zu seiner Heimat, und somit eine unersetzliche Informationsquelle, die er dementsprechend nutzen musste. Wir sind nun im Schloss von Chaela, Fuyubis Hauptstadt angekommen. Die Reise verlief bis auf kleinere Zwischenfälle problemlos. Auch Dalia ist wohlauf, wenn auch noch ein wenig erschöpft, was mir wiederum Gelegenheit dazu verschafft, diesen Brief zu verfassen. Lalit konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie Kieran diesen letzten Satz auffassen würde - in jedem Fall aber ganz bestimmt nicht so, wie er ihn tatsächlich gemeint hatte. Der junge Kronprinz traute seinem Diener vielleicht mehr zu, als dieser tatsächlich vermochte, aber auf keinen Fall die durchaus erheiternde Einsicht, dass Dalia aufgrund der anstrengenden Reise noch einige Tage in ihrem eigenen Zimmer verbringen wollte und solange schweren Herzens auf ihre ehelichen Pflichten verzichtete. Der Weißhaarige spürte eine leichte, diffuse Übelkeit in sich aufsteigen und wandte sich hastig wieder seinem Schreiben zu. Das Schloss ist sehr Er überlegte einige Sekunden. reizvoll, ebenso wie die königliche Familie. Uns wurde ein herzlicher Empfang bereitet. Es ist kälter als in Belicia, die Landschaft ist jedoch überaus schön. Ich hoffe auf eine Gelegenheit, in Kürze die Stadt besichtigen zu können. Die Feder hob sich langsam vom Papier und verharrte regungslos in der Luft. Lalits Blick verschmolz für einen Augenblick mit dem Feuer der Kerzen, deren intensiv rotes Wachs sich an den Rändern des Leuchters zu bizarren, formlosen Gebilden auftürmte. In seinem Kopf herrschte trotz der unzähligen, nicht greifbaren Gedankenfetzen eine merkwürdige Leere. Er wusste nicht, was er noch schreiben sollte. Die schmalen Zeilen verschwanden förmlich auf dem übermächtigen weißen Viereck, das gierig nach weiterer Tinte lechzte. Der Anblick war lächerlich. Von den genaueren Umständen werde ich in meinen künftigen Schreiben Bericht erstatten, wenn ich näher mit den Örtlichkeiten vertraut bin. Ich erwarte eine baldige Antwort. Vor Lalits geistigem Auge setzte sich ein trostloses Bild zusammen, das Kieran in seinem kleinen Kämmerchen zeigte, wie er auf seinem Bett saß und sich die wenigen kümmerlichen Sätzchen zu Gemüte führte. Der Brief schien dabei jedoch eine seltsame Art von Eigenleben zu entwickeln, er erhob sich, baute sich vor dem jungen Diener auf und sprach zu ihm mit gestrenger Stimme: "Ich erwarte eine baldige Antwort!" Lalit konnte sich lebhaft vorstellen, wie Kieran unter dem Befehlston des autoritären Stücks Papier zusammenzuckte wie unter einem Peitschenhieb, wie seine türkisfarbenen Augen dem erhobenen Zeigefinger seines imaginären Herren auswichen und er sich schließlich wie ein geprügelter Hund an ein niedriges Tischchen trollte, um der Anordnung ihrer Majestät unverzüglich nachzukommen. Der junge Weißhaarige schüttelte in einem Anflug schwermütiger Resignation den Kopf, setzte seinen Namen unter das Geschriebene und faltete den Brief zusammen. Er steckte das Papier in einen Umschlag, versiegelte ihn und schrieb in förmlichen Lettern den Namen Lyras darauf. Ein lautloser Seufzer hob seine Brust. Der erste Schritt war getan. Nun konnte er nur noch den Boten befehligen, warten und hoffen, dass sein Schreiben sicher und unversehrt die Mauern seines Schlosses erreichen würde, ohne auf dem langen, beschwerlichen Weg einem Schneesturm, Banditen oder anderen unvorhersehbaren Hindernissen zum Opfer zu fallen. Lalit stand auf, zog kurz die Schultern hoch, um seinen leicht, aber äußerst hartnäckig schmerzenden Nacken zu entspannen und ließ sich dann auf seinem herrschaftlichen Bett nieder. Dort streifte er sein Obergewand ab, löste das schwarze Band aus seinen Haaren und sank dann rückwärts in den schimmernden Berg aus Decken und Kissen. Er schloss seine Augen und lauschte auf das gleichmäßige Geräusch seiner Atemzüge, um sich kurz zu vergewissern, dass er auch wirklich noch am Leben war. Der glatte, weiche Stoff strich ihm angenehm warm über den Rücken. Er vergrub seine Finger darin und lehnte den Kopf zurück. In diesem Augenblick begriff Lalit zum ersten Mal, dass die Geschehnisse der vergangenen Stunden und Tage kein Traum gewesen waren. Die unwirkliche Reise durch das glitzernde, weiße Nichts, die überirdische Schönheit der Stadt, das durch und durch von Licht erfüllte, prächtige Schloss... die perfekte kleine Familie seiner wundervollen Gattin... all das war nicht einfach nur als innerer Film an ihm vorbeigezogen - im Gegenteil. Es war weitaus realer, als ihm lieb war. Er war in einem fremden Land, an einem grauenhaft schönen Ort, unendlich weit von seinem verlorenen Geliebten entfernt. Und er war gerade erst seit einigen Stunden hier. Diese scheinbar so endlos langen Augenblicke waren so verschwindend kurz, geradezu lächerlich im Angesicht der Zeitspanne, die er noch in den weißen, freundlichen Mauern von Chaelas Schloss verbringen sollte. Ein Jahr? Zwei Jahre? Er wusste es nicht. Im Grunde genommen wusste Lalit trotz der plötzlichen Einsicht in jener stillen, friedlichen Nacht überhaupt nichts mehr. Bis auf die Tatsache, dass er Dalias Bruder in seinem ganzen Leben nie wieder begegnen wollte. In den folgenden Tagen begann Lalit, das Schloss und seine Umgebung bewusst zu erkunden, ohne dessen Bewohnern bei diesen Streifzügen allzu nahe kommen zu müssen. Er mied die Gesellschaft der königlichen Familie so weit es eben möglich war, ohne dabei unhöflich zu wirken. Allerdings schien Dalia auch gar keinen allzu großen Wert darauf zu legen, ihren Gemahl bei den familiären Treffen bei sich zu haben, sondern schien ihn im Gegenteil eher davon fernhalten zu wollen, was Lalit alles andere als traurig stimmte, wenn auch ein wenig verwunderte. Im Laufe der Zeit lernte der Weißhaarige einiges über seine vorläufig neue Heimat, aber auch über die Menschen, die sie bevölkerten. Das Schloss schien mit jedem Mal, in dem er es durchquerte, noch ein klein wenig schöner zu werden. Es war zu jeder Tageszeit und bei jedem Wetter unverändert freundlich und offen, ein Ort der Begegnung, an dem sich jedermann schlicht und einfach wohl fühlen musste. Dennoch gab es nicht viele Plätze, die Lalit wirklich mochte. Am besten gefiel ihm mit großem Abstand der Blick auf Chaelas blitzende Dächer. Der junge Thronfolger konnte Stunden damit verbringen, am Rande des Abgrunds, direkt neben dem Wasserfall zu stehen, zuzusehen, wie sich die türkisblauen Kristallfluten auf den Häuserteppich hinabstürzten und das Gewirr aus schneebedeckten Dächern und geschäftigen Menschen mit glitzernden Fäden durchsponn. Lalits goldene Augen ruhten starr und ausdruckslos auf dem gewaltigen Naturschauspiel, und manchmal verdrängte all das Funkeln und Rauschen und Tosen für kurze Zeit jeglichen Gedanken aus seinem Kopf. Es war wie eine Erlösung. Erst, wenn der Anblick ihm allzu schön erschien, wenn er sich plötzlich wünschte, Kieran diesen Ort zeigen zu können - nein, ihn sich von Kieran zeigen zu lassen, den farbenfrohen, lebendigen Erzählungen seines Geliebten zu lauschen und dabei in seine leuchtenden Augen zu sehen, die noch viel intensiver glitzerten als das reine Wasser, verließ er das kleine Stück Paradies und kehrte ins Schloss zurück. Der zweite Ort, den Lalit mochte, war eine kleine runde Kapelle, die sich an den Palastkomplex anschloss. Das spitzbogige Tor der Tempelstätte erschien beinahe wie das Tor in eine andere, dunklere Welt. Wie Lalit erfahren hatte, war dieser Gedanke gar nicht so abwegig, denn die Kapelle war lange vor dem übrigen Teil des Schlosses errichtet worden. Ihre Wände bestanden aus grauem, blankem Stein, in den jedoch eine Unzahl von Verzierungen und kleinen Figuren gemeißelt worden war. Spitze Bögen zogen sich zur niedrigen Decke hin. Zwischen den steinernen Sitzbänken schwebte stets jener unverkennbare Duft, der sämtlichen Gotteshäusern anhaftete, eine angenehme Mischung aus Weihrauch, verbranntem Kerzenwachs und warmer Vermoderung. Die einzige Lichtquelle des Raumes war ein kreisrundes, von sternförmigen Steinverstrebungen durchbrochenes Fenster aus blauem Glas, durch das weiches, unwirkliches Licht fiel und das Bildnis der kindlichen Schneegöttin Níva hinter dem steinernen Altar zum Leben erweckte. Wenn Lalit seine Zeit nicht gerade auf einer der Bänke der alten Kapelle oder hoch über den Dächern Chaelas verbrachte, lief das Leben mehr oder weniger Ereignislos an ihm vorbei. Stunden kamen und gingen, Tage reihten sich aneinander, während die Nächte von einer gierigen, Blut saugenden Puppe beherrscht wurden, die mit unerbittlicher Sanftheit Abend für Abend die Türe des prachtvollen gemeinsamen Schlafzimmers hinter sich verschloss. Der junge Weißhaarige hörte irgendwann auf, die Sonnenaufgänge zu zählen, denen er jeden Morgen mit leeren Augen entgegenblickte. Er genoss jede Nacht, die er in seinem eigenen Zimmer verbringen konnte, allein, ohne die entzückende Herrin der Finsternis, an die er durch ein blaues Band in alle Ewigkeit gekettet war, aber dennoch begann er, seine Situation zu akzeptieren. Umso überraschter war er, als eines Tages ein Brief auf seinem Schreibtisch lag. Sein immer noch anhaltender Zustand irgendwo zwischen Träumen und Wachen hatte ihn jegliches Gespür für den Fluss der Zeit gekostet. Waren denn wirklich schon so viele Tage vergangen, seit er seine letzten, unbeholfen höflichen Zeilen in seine ferne Heimat geschickt hatte? Selbst wenn Kieran augenblicklich geantwortet hatte - und daran zweifelte Lalit nicht im Geringsten - war es doch eine beachtliche Strecke nach Belicia und wieder zurück. Der junge Thronfolger seufzte leise. Konnten die Wochen und Monate bis zu seiner Heimkehr nicht ebenso schnell vorüber gehen? Mit heftig klopfendem Herzen setzte sich Lalit auf sein Bett, angelte nach einem Brieföffner und befreite endlich das Antwortschreiben aus seinem schneeweißen Gefängnis. Eure in höchstem Maße geehrte Majestät, auf euer Geheiß schicke ich euch hiermit eine Antwort. Lalit konnte sich ein amüsiertes Kopfschütteln anhand der leicht zittrigen, krampfhaft um gewählte Ausdrucksweise kämpfenden Zeilen nicht verkneifen. Er meinte beinahe, Kierans ängstliche, demütige Stimme hören zu können, der es nur mit höchstem Widerwillen und äußerst unsicher wagte, das Wort an seinen gottgleichen Herren und Meister zu richten. Ich bin sehr erfreut über eure wohlbehaltene Ankunft. Die Dinge am Schloss verlaufen gut. Es hat wieder zu schneien begonnen. Der Sommer ging in diesem Jahr sehr früh zu Ende, aber bislang gab es noch keinerlei Stürme. Ich hoffe, ihr seid bei Gesundheit und ich konnte meine Aufgabe zu eurer Zufriedenheit ausführen. Ehrfürchtigst, euer Diener Zweimal, dreimal flogen Lalits goldene Augen über den äußerst seltsamen, unbeholfen formulierten Brief. Er spürte ein seltsames Gefühl von Leere in seiner Brust aufsteigen, ein erdrückendes, schmerzhaftes Nichts. War er etwa enttäuscht? Was hatte er denn auch von dem Schreiben seines ehrfürchtigst grüßenden Dieners erwartet? Der Weißhaarige strich mit den Fingerkuppen über das leicht raue Papier. Dann drückte er das Schriftstück für einige Sekunden an seine Brust, bevor er aufstand, den Brief auf sein Tischlein legte und dann das Zimmer verließ. Er würde Kieran noch an diesem Abend antworten. Wie mechanisch bewegten sich Lalits Füße dem großen Balkon entgegen, der nebst etlichen kälteunempfindlichen Pflanzen und seidenen Paravents, über die sich exotische Blütenmuster rankten, auch einen atemberaubenden Blick auf den riesigen See und die scheinbar unendlich weit entfernte Stadt bot. In seinem Kopf formten sich Sätze zusammen, bewegte Wortpuzzles, die von der unfassbaren Schönheit Chaelas berichteten. Wenn irgendwo in Kieran noch etwas von seiner alten Abenteuerlust erhalten geblieben war, schoss es Lalit durch den Kopf, während er an das vergoldete Geländer trat, dann könnte es ganz gewiss von nichts anderem besser erweckt werden, als von den Erzählungen eines Märchenlandes, das der junge Diener vor langer Zeit selbst einmal bereist und geliebt hatte. Lalit würde von dem Silberteppich berichten, den Chaela aus der Vogelperspektive betrachtet vor einem ausrollte, von dem glitzernden Wasserfall und dem See, der dem Himmel so nah war, dass er sein intensives Türkis wie ein wertvoller Edelstein widerspiegelte. Auch von dem Schloss wollte er schreiben, von seiner Oase der Ruhe, der kleinen Kapelle. Kieran hatte Tempel jeglicher Art geliebt, vor allem die alten, die noch voll von Schatten, von Dämmerlicht und einer ganz besonderen, düsteren, aber doch unendlich friedlichen Atmosphäre waren. Er würde den Garten des Schlosses beschreiben, mit all seinen kunstvoll geschnittenen Bäumen, vollkommen symmetrisch angelegt, mit seinem Labyrinth aus immergrünen Hecken und weißem Schnee. Lalit war so in Gedanken versunken, dass er die Schritte zunächst noch gar nicht wahrnahm, die sich langsam von hinten näherten. Erst, als sich ihm eine Hand auf die Schulter legte, riss der Strom in seinem Kopf ab und schleuderte ihn äußerst unsanft in die blendend helle Realität zurück. Leicht erschrocken und gleichzeitig wütend über seine eigene Schreckhaftigkeit drehte er sich um. Hinter ihm stand Alan. "Ihr genießt den Anblick unserer wunderschönen Hauptstadt?" Der blonde Prinz strich sich durch sein welliges Haar. Er lächelte, aber irgendetwas an dem Blitzen in seinen Augen gefiel Lalit nicht. Der Weißhaarige antwortete nicht, deutete stattdessen nur ein leichtes Nicken an und wandte sich dann wieder dem himmelsfarbenen See zu. "Ich hatte noch nie die Gelegenheit, mich allein mit Euch zu unterhalten", fuhr Alan ungerührt fort und blickte seinerseits auf die in schwachem Dunst liegende Stadt hinab. "Wie gefällt es euch hier am Schloss?" Lalit schwieg einige Augenblicke, und als er endlich zu einer Antwort ansetzte, sah er Dalias Bruder dabei nicht an. Er verspürte nicht die geringste Lust, sich mit dem Blondschopf zu unterhalten, und er sah auch absolut keinen Grund, jegliches Interesse vortäuschen zu müssen. "Chaela ist in der Tat sehr schön", sagte er mit vollkommen kalter Stimme. "Ebenso das Schloss." "Schöner als euer Schloss in Belicia?" "Nein." Erst jetzt begriff Lalit, dass seine offensichtlich dargelegte Ablehnung in Wirklichkeit ein großer Fehler gewesen war. Hatte er sich nicht selber denken können, dass Alan das Gespräch mit ihm nicht suchte, weil ihn die Meinung des Weißhaarigen Interessierte? So kindisch und abstoßend ihm der Gedanke auch erschien, aber der Prinz Fuyubis schien einzig und allein darauf aus zu sein, ihm auf die Nerven zu gehen - und sich über ihn lustig zu machen. "Nein?" "Es ist zu... neu." Mit einigem Widerwillen riss sich Lalit von der friedlichen Aussicht los und sah Alan direkt in die dunkelblauen Augen. "Ein klein wenig zu, verzeiht mir den Ausdruck, protzig." "In Belicia scheint man düstere, alte Gemäuer ja ganz offensichtlich vorzuziehen." Der Blondschopf stieß einen theatralischen Seufzer aus. "Ich habe das belitische Schloss auch schon einmal gesehen. So weiß, mit all diesen Türmchen und Gängen und Winkeln... durchaus nett zu betrachten, aber nicht gerade ein Musterbeispiel an Wohnlichkeit und... Komfort." "Komfort..." Lalits Stimme klang so emotionslos wie immer, dennoch schien es, als müsse er den Namen einer grauenvollen Seuche über die Lippen bringen. Ein leicht abfälliger Zug spielte um seine Mundwinkel. "Welch ein Glück, dass die fuyubischen Architekten von solchen Dingen offensichtlich mehr verstehen. So ein perfektes kleines Schlösschen." "Perfekt? Mag sein!" Alan lachte. "Fast so perfekt wie unser bezauberndes Prinzenpaar. Vater und Mutter sind überglücklich, Euch hier am Hofe haben zu dürfen." "Es ist mir eine Ehre." Eine Woge von Misstrauen stieg in Lalits Brust auf. Ihm gefiel die Richtung, in der Dalias Bruder das Gespräch nun lenkte, ganz und gar nicht. Am liebsten hätte er auf dem Absatz kehrt gemacht und sich in seine Gemächer zurückgezogen, zu seinem Papier, seiner Feder und den Gedanken, die er auf diesem Wege seinem Geliebten senden würde, weit entfernt von dem nichts sagend lächelnden Blondschopf - den er bei dieser Gelegenheit bedauerlicherweise über das Geländer gestoßen hatte, wie der junge Weißhaarige nicht ohne eine gewisse Genugtuung im Geiste hinzufügte. "Aber natürlich!" Der leise Spott in Alans warmer Stimme war nun nicht mehr zu überhören. "Es ist solch eine Freude, eure tiefe Verliebtheit und Verbundenheit spüren zu können!" "Ist es das?" Lalit strich sich eine seiner weißen Haarsträhnen aus dem Gesicht. "Und wie!" Ein leichter, unterschwelliger Anklang von Wut schien mit einem Mal in den Worten des Blondschopfes zu liegen. Es war nicht wirklich sein Tonfall, der sich verändert hatte, aber ganz plötzlich war es, als hafte jedem seiner Worte ein schwaches, aber doch unüberhörbares Zittern an. "Ich liebe sie nicht." Lalit bereute seine Worte, kaum dass er sie ausgesprochen hatte. Er wusste selber nicht, warum er Alan herausforderte, provozierte und für einen Moment erschreckte er sich sogar vor seiner eigenen Kaltschnäuzigkeit. Als er dann jedoch sah, wie die lächelnde Maske des fuyubischen Prinzen mit einem Schlag zerbrach und einem Ausdruck vollkommener Fassungslosigkeit Platz machte, wischte ein kurzer, aber heftiger Adrenalinschub seine letzten Zweifel fort. "Ja... ja, aber..." "Ich liebe sie nicht, und das wisst Ihr, sonst hättet Ihr mich doch nicht angesprochen." Die Lippen des Weißhaarigen verzogen sich zu einem eiskalten Lächeln. "Ich habe sehr wohl begriffen, worauf Eure lachhaften kleinen Anspielungen bezogen waren. Warum erschreckt es Euch nun so sehr, das Thema auf den Punkt zu bringen?" "Wie könnt Ihr so etwas sagen?" Der wütende Unterton in Alans Stimme war einem zornigen Beben gewichen. Seine Augen blitzten, aber diesmal war es nicht mehr die spöttische Freude, die das tiefe Blau zum Funkeln brachte. "Ihr meint, wie kann ich Euch etwas ins Gesicht sagen, das ihr ohnehin schon wisst?" Lalit warf sich sein langes Haar über die Schulter. "Es ist ganz einfach. Ich lüge nicht gerne, und dennoch muss ich es viel zu oft tun. Seid Ihr etwa wirklich so naiv zu denken, ich hätte Euer Schwesterchen aus Liebe geheiratet? Die Wahrheit ist: Ich hatte keine Wahl. Ich konnte es mir nicht aussuchen, glaubt mir, sonst hätte ich sie eher in ein Spielzimmer als in mein Bett gelassen." "Ihr... Ihr..." Alans Hände zitterten. Er krallte sie um das kalte Geländer, wie um krampfhaft die Beherrschung zu wahren. "Ihr seid abscheulich! Von überall drang die Kunde Eurer prachtvollen Hochzeit zu unserem Hof. Man sagte mir, ihr wärt das schönste Paar, das die ragnarischen Königshäuser seit langem gesehen haben! Und jetzt..." "Was ist jetzt?" Lalit hob den Kopf ein Stück weit an und sah dem etwas größeren Prinzen nun direkt in die Augen. Ein seltsames, berauschendes Kribbeln jagte wie Stromstöße durch seinen Körper. Er begriff schon lange nicht mehr, warum er sich auf dieses grausame Spiel mit dem Blondschopf eingelassen hatte, aber er musste sich eingestehen, dass es ihm Spaß bereitete, auf eine absurde, boshafte Art und Weise. "Findet Ihr Eure Schwester jetzt etwa nicht mehr schön?" "Ich glaube das einfach nicht!" Alan stieß ein irgendwo zwischen Hilflosigkeit, Wut und Hysterie schwankendes Lachen aus. "Wie könnt Ihr nur so unglaublich gefühllos sein? Meine Schwester liebt Euch! Sie hat mir schon in ihren Briefen vorgeschwärmt, wie unglaublich schön ihr seid! Mutter hat geweint vor Glück, als sie von der Hochzeit und allem erfahren hat und sie haben sich beide so auf dieses Zusammentreffen gefreut... wie könnt Ihr es wagen, sie so zu behandeln?" "Eure heile Familie rührt mich zutiefst, aber ich habe niemals darum gebeten, auf dieses Schloss zu kommen. Ich habe auch nicht darum gebeten, mich mit Euch zu unterhalten, also entschuldigt mich jetzt." Ohne den Blondschopf eines weiteren Blickes zu würdigen, wandte Lalit sich von ihm ab und ging langsam auf die verglaste Türe zu, die ihn zurück in die strahlende Welt aus Schachbrettfliesen und weißen Vorhängen bringen würde. Er legte seine Hand auf die kalte Metallklinke, öffnete das gläserne Portal und trat ein. Genauer gesagt wollte er es tun, aber noch bevor er einen Fuß über die golden blitzende Türschwelle setzen konnte, packte ihn eine Hand äußerst unsanft am Arm und riss ihn herum. Dann warf Alan die Türe geräuschvoll wieder ins Schloss und stieß Lalit mit dem Rücken an die eisige Glasscheibe. Seine zweite Hand hielt das Kinn des Weißhaarigen äußerst unsanft fest und zwang ihn so dazu, dem fuyubischen Prinzen direkt in die hasserfüllten blauen Augen zu sehen. "Jetzt hör mir mal gut zu!" Zischend wie Schlangen krochen die Worte zwischen den Zähnen des Blondschopfes hervor. Einige Strähnen seines Engelshaares hatten sich bei der heftigen Bewegung gelöst und hingen ihm nun wirr ins Gesicht. "Ich lasse nicht zu, dass du meiner Schwester Weh tust, hast du das verstanden?" "Warum... so unhöflich?" Lalits Gesicht blieb vollkommen ungerührt, während er innerlich verzweifelt um seine Fassung kämpfte. Auch wenn er sich dafür verfluchte, rief Alans fester Griff wieder einmal Bilder in ihm wach, die er am liebsten auf ewig aus seinem Gedächtnis verbannt hätte, und die ihn doch wieder und wieder einholten. Er ballte eine seiner Hände zu einer verkrampften Faust, bis ihm seine Fingernägel wie stumpfe Nadeln in die kalte Haut stachen. Der Schmerz ließ seine unweigerliche Angst zwar nicht verschwinden, aber er half ihm dabei, sich zu kontrollieren. "Warum? Warum? Weil dein... weil Euer Gesicht mich krank macht, darum!" Der Druck an Lalits Schulter verstärkte sich. "Ihr konntet mich doch vom ersten Augenblick an nicht leiden, ist es nicht so?" Der Weißhaarige stieß ein verächtliches Lachen hervor, was angesichts der erschwerten Bedingungen allerdings eher wie ein ersticktes Keuchen klang. "Ja, so ist es! Ich verstehe nicht, wie meine Schwester so jemanden wie Euch lieben kann! Ihr habt sie nicht verdient... Ihr... Ihr wisst doch wahrscheinlich gar nicht, was Liebe ist!" "Wie pathetisch Ihr sein könnt..." Lalit ignorierte den quälenden Stich, der sich wie ein giftiger Pfeil direkt in sein Herz bohrte. Er dachte an den Brief, der auf dem kleinen weißen Tischchen in seinem verlassenen Zimmer lag. Der Brief, dessen Papier immer noch den Duft von Kierans pechschwarzem Haar und seiner hellen, weichen Haut zu verströmen schien, obwohl das nach seiner langen Reise durch Schnee, durch Wind und Stürme natürlich nicht möglich war. Er dachte an Kierans Lachen, an eine warme Gaststube im Kerzenschein, und diesmal war er beinahe froh, dass der feste Griff von Alans Fingern ihn kurz und schmerzhaft in die Realität zurückzerrte. "Ich meine es ernst, verdammt noch mal!" "Das... kann ich mir durchaus vorstellen. Aber was wollt Ihr jetzt tun?" Erneut stahl sich ein kaltes Lächeln auf Lalits bleiche Lippen. "Wollt Ihr etwa zu... zu eurer Mutter rennen? Meint Ihr nicht, sie wäre enttäuscht, wenn Ihr einfach so ihre schöne kleine Illusion des strahlenden Paares zerschlagen würdet?" "Wenn Ihr wüsstet, was ich am liebsten zerschlagen würde..." Alans Augen flackerten. Ein fortwährendes Beben lief durch seine Unterlippe, dass ihm mit einem Mal eine groteske Ähnlichkeit mit seiner jüngeren Schwester verlieh. "Natürlich... werde ich nicht sagen, was für ein gefühlloser, arroganter Mistkerl ihr seid! Aber... aber glaubt mir... wenn ihr Mutter enttäuscht, oder wenn ihr Dalia zum Weinen bringt..." Seine Finger schlossen sich enger um Lalits Hals und raubten ihm für einen Augenblick die Luft zum Atmen. "... dann bringe ich euch um!" Er hielt den würgenden Griff für einige Sekunden aufrecht, dann stieß er Lalit mit einer wütenden Bewegung zurück - so fern das die Türe in seinem Rücken überhaupt noch erlaubte - und stapfte wutentbrannt von dannen. Doch erst als seine hoch gewachsene Gestalt in einem der vielen anderen gläsernen Durchgänge verschwunden war, schien der drückende Bann von dem Körper des Weißhaarigen abzufallen. Das Zittern, dass er die ganze Zeit über so krampfhaft unterdrückt hatte, brach nun mit aller Macht über ihn herein und ließ ihn wie einen tödlich Verwundeten an dem glatten, kalten Glas hinabrutschen. Er versuchte vergeblich, sich abzufangen, aber seine Arme und Beine gehorchten ihm nicht mehr. Lalit ließ seinen Kopf in den Nacken fallen, schloss seine Augen und schnappte nach Luft. Immer noch schien eine unsichtbare Hand fest um seine Kehle gelegt zu sein, die ihm das Atmen beinahe unmöglich machte und die kalte Luft in seinen Lungen schmerzen ließ. Er vergrub das Gesicht in seinen Händen und wartete darauf, dass sich sein rasender Herzschlag irgendwann wieder beruhigen würde, während ein einziger, hilfloser Gedankenfetzen durch seinen Kopf raste. Oh bitte, ihr Götter, lasst jetzt niemanden durch diesen verfluchten Gang hinter meinem Rücken gehen. Es dauerte lange, bis Lalit wieder die Kraft und die innere Ruhe fand, sich auf die Beine zu ziehen und den Balkon zu verlassen. Er wusste nicht, ob seine stummen Gebete erhört worden waren, doch bevor er sich wieder in das freundliche, wenn auch wahrhaft recht protzige Schloss zurückwagte, blieb er vor der Glastüre stehen und betrachtete sein Spiegelbild. Im Grunde genommen sah er aus wie immer. Sein Haar war etwas unordentlich, ebenso seine Kleidung, aber das war auch schon alles, was auf die Geschehnisse der vergangenen Minuten hinwies. Der junge Thronfolger atmete noch einmal tief durch, ordnete seine Frisur, strich den Stoff seines Oberteiles glatt und tat dann endlich das, woran Alan ihn so unsanft gehindert hatte. Er drehte die goldene Türklinke herum, öffnete geräuschlos die gläserne Pforte und tauchte dann in die angenehme Wärme des Schlosses ein. Der Weg zu seinem Zimmer erschien dem Weißhaarigen heute länger als jemals zuvor. Er achtete nicht auf seine Umgebung, die hier in dem Trakt, in dem die Gemächer der königlichen Familie lagen, sogar noch ein wenig prunkvoller war als sonst. Seine goldenen Augen waren starr auf das vorbeiziehende Schachbrettmuster des Bodens gerichtet. Auch die zahllosen Bediensteten, die sich ehrfürchtig und teils auch überaus entzückt vor ihm verneigten, nahm er nur ganz am Rande wahr. Es war eine ihm mittlerweile nur allzu gut bekannte Stimme, die sich tief in sein Bewusstsein drängte und ihn augenblicklich stehen bleiben ließ. Einen Moment lang begriff Lalit selber noch nicht, warum er so plötzlich angehalten hatte. Er fühlte sich wie ein Schlafwandler, der von irgendeinem unbekannten Geräusch aus seiner träumerischen Rastlosigkeit gerissen worden war und sich nun reichlich verloren auf einem viel zu breiten, viel zu realen Gang wiederfand, ohne sich daran zu erinnern, wie er eigentlich an diesen Ort gekommen war. Sein Blick tastete suchend seine Umgebung ab, doch noch bevor er die halb geöffnete Türe zu seiner Linken bemerkte, verstand Lalit, was ihn aus seinem vermeintlichen Traum gerissen hatte. Es war Alans Lachen. Lalit blickte verstohlen nach Rechts und Links, bevor er näher an die goldene Türe herantrat, hinter der das warme, herzliche Geräusch hervordrang. Der lange Korridor war leer. Die Bediensteten säuberten die Zimmer der Königsfamilie schon in den frühen Morgenstunden und waren den Rest des Tages stets darauf bedacht, ihre gnädigen Herren so wenig wie möglich zu stören. Und so kam es, dass ausgerechnet der schönste Teil des Schlosses nur allzu oft wie verlassen und ausgestorben im goldenen Licht der Sonne schlummerte. Der Weißhaarige näherte sich langsam, schleichend, um kein Geräusch auf dem glatten Boden zu verursachen. Noch ein letztes Mal vergewisserte er sich, dass die Luft auch wirklich rein war, dann schob er seinen Kopf so weit hinter den Türspalt, dass er in das Innere des Zimmers blicken konnte. Und nun verstand er auch, was ihn an Alans Lachen gestört hatte. Er war nicht allein. Das Kichern einer zweiten Person hatte sich über die Stimme des Blondschopfes gelegt. Neben dem Prinzen saß ein zweiter junger Mann auf dem Bett, deutlich kleiner und zierlicher als er selbst, mit dunkler Haut und schwarzen Haaren. Er trug einfache Gewänder, und seine tiefbraunen Augen hingen wie gebannt am Gesicht seines Gegenübers. Alan hatte einen Arm um die Taille des Schwarzhaarigen geschlungen. Sein Blick war noch ein klein wenig sanfter als sonst. Mit einer zärtlichen Bewegung strichen seine Finger über die Wange des Kleineren, spielten kurz mit einer seiner dunkel glänzenden Haarsträhnen und glitten dann langsam in seinen Nacken hinab. Er sagte nichts, aber in seinem Lächeln lag ein Ausdruck solcher Zufriedenheit, solchen Glücks, dass jedes weitere Wort überflüssig gewesen wäre. Ruckartig wandte sich Lalit ab und ging mit schnellen Schritten weiter. Er fühlte sich mit einem Mal unglaublich schäbig. Wie weit war es mit ihm gekommen, wenn er nun schon wie ein Verbrecher oder irgendein perverser Spanner um fremde Zimmertüren herumschlich? Zum zweiten Mal an diesem Tag hoffte er aus tiefstem Herzen, dass ihn niemand bei dieser peinlichen Aktion beobachtet hatte. Der Kronprinz Belicias lauschte an fremden Türen! Es war erbärmlich. Lalit senkte unweigerlich seinen Blick, als ihm eine Gruppe junger, schnatternder Dienerinnen entgegen kam, und beschleunigte seinen Gang so weit es eben noch möglich war, ohne allzu sehr nach einer Flucht auszusehen. Der junge Weißhaarige kam sich plötzlich so vor wie ein kleiner Junge, der irgendetwas ausgefressen hatte und seinen Heimweg nun als reinsten Spießrutenlauf empfand. Das Wort "schuldig" schien ihm mit leuchtend roten Lettern auf die Stirn geschrieben zu sein, und das entzückte Kichern der Mädchen verwandelte sich in seinen Ohren in ein höhnisches, boshaftes Meckern. Dabei, dachte Lalit in einem Anflug von Trotz, hatte er doch eigentlich nichts weiter getan, als kurz in eine unverschlossene Türe zu blicken. Aber vielleicht lag seine seltsame Betroffenheit ja viel eher daran, was er gesehen hatte? Die Situation war mehr als eindeutig gewesen. Die warmen, tiefen Blicke, in denen Alan und der junge Diener gegenseitig versanken wie in eine süßen, berauschenden Strudel, der die gesamte restliche Umgebung wie Regentropfen wegwischte und verblassen ließ. Die vertrauten Gesten, die selbstverständliche und doch elektrisierende Art der Berührungen... Irgendwie, dachte Lalit und konnte sich ein leises, sarkastisches Lachen nicht verkneifen, schien es Ragnaras Fluch zu sein, dass alle seine Kronprinzen schwul waren. Der Weißhaarige stieß die Türe zu seinem Zimmer auf, trat ein und ließ sich mit einem tiefen Seufzer auf sein Bett fallen. Er fühlte sich wie erschlagen. Es vergingen wiederum etliche Minuten, bis er sich dazu aufraffen konnte, sein weiches Lager zu verlassen und den Posten am Schreibtisch zu beziehen. Dann nahm er Papier und Feder zur Hand, legte Kierans Brief aufgefaltet neben sich und begann zu schreiben. Der Himmel hatte sich im Laufe des Nachmittages bewölkt. Zunächst war nur hier und dort eine fedrige Wolke über den Horizont gezogen, doch nach und nach hatten sich die Federbällchen zu ausgewachsenen Türmen zusammengezogen, nur um schließlich ein grau-weißes, alles verschluckendes Netz über das zartblaue Firmament zu spannen. Die Luft roch nach Regen, aber dennoch war es nicht kalt - im Gegenteil. Eine feuchtwarme Schwüle drückte wie ein Stein auf das Land und ließ die Natur erstarren. Der kühlende Wind der Morgenstunden war verstummt, und sogar die immer fröhlichen Vögelchen schwiegen. Lalit ließ sich von dem plötzlichen Wetterumschwung nicht beeindrucken. Trotz des drohenden Unwetters hatte er die schützenden Wände des Schlosses verlassen und schlenderte wieder einmal durch den weitläufigen Palastgarten. Im hinteren Teil der grünen Oase war ein kleines Wäldchen angelegt worden, das ihn in seiner verträumten Zartheit an die mindestens ebenso schönen, aber weit weniger planvollen Gärten seiner Heimat erinnerte. Der junge Thronfolger ging oft zwischen den dünnen, vereisten Stämmen spazieren, nicht zuletzt deshalb, weil sich nur selten andere Menschen in diesen Teil des königlichen Parks verirrten. Nur hier und dort tauchte plötzlich eine weiße, steinerne Statue zwischen dem Blattwerk auf, wie in der Bewegung zu Eis erstarrt, die leeren Augen gen Himmel gerichtet. Der Weißhaarige mochte die Statuen, aber noch viel mehr gefiel es ihm, wenn der riesige Schlossbau irgendwann von den weißgrünen Baumwipfeln verdeckt wurde, wenn ihn die grüne Mauer des Vergessens umfing und für kurze Zeit an einen weit entfernten Ort brachte, einen Ort, an dem es keine liebestollen Püppchen und selbstgerechten Prinzen mit Schwesternkomplexen gab. An diesem Abend schafften es jedoch weder die immergrünen Bäume, von deren Blättern die Eiszapfen wie kristallenes Kerzenwachs hinab hingen, noch die steinernen Helden und Schönheiten an den Wegesrändern, die düsteren Gedanken des Tages zu vertreiben und mit dem Schleier einer süßen, trügerischen Illusion zu bedecken. Lalit hatte sich von dem Spaziergang einen klaren Kopf erhofft, aber die stagnierende Luft trieb das Sorgenkarussell in seinem Inneren nur noch ein wenig schneller voran. Sei mir gegrüßt, Kieran Ich hoffe, du bist immer noch wohlauf, trotz des frühern Wintereinbruchs. Es hat mich zutiefst erfreut, dass du deine Aufgabe derart gewissenhaft erfüllst. Wie angekündigt werde ich nun mehr über das Schloss und die nähere Umgebung berichten können. Was würde Kieran bei der Lektüre seines detaillierten Berichtes wohl empfinden? Lalit wusste nicht, ob es ihm auch nur ansatzweise gelungen war, die Schönheit seiner Lieblingsplätze in Worte zu fassen. Er war nicht sonderlich geübt in solchen Dingen, und er hoffte inständig, seinen Diener nicht allzu sehr mit seinen Erzählungen zu langweilen. Ob der junge Schwarzhaarige wohl über das Ausmaß seines zweiten Schreibens erschrecken würde? Wahrscheinlich würde er zunächst einmal eine endlose Aneinanderreihung von Anweisungen und Befehlen erwarten. Lalit konnte sich sein ängstliches Gesicht beim Anblick des Briefes lebhaft vorstellen. Aber wie würde er erst aussehen, nachdem er die schwarzen Zeilen gelesen hatte? Verzeih, aber ich habe in meinem letzten Brief gelogen. Die königliche Familie ist bei Weitem nicht so perfekt, wie ich zunächst angenommen hatte. Über das königliche Paar vermag ich nichts Schlechtes zu schreiben, ihr ältester Sohn ist jedoch einer der gewichtigsten Gründe, warum ich so rasch wie möglich zurückkehren möchte. Die Bezeichnung Alans als ,gewichtigen Grund' schickte einen dünnen, kläglichen Lichtstrahl der Erheiterung in die bedrückende Finsternis in Lalits Kopf. Er bezweifelte, dass es dem reizenden blonden Engel sonderlicher gefallen würde, in irgendeinem Zusammenhang als ,gewichtig' bezeichnet zu werden, schon gar nicht, wenn ein weitaus boshafteres kleines schwarzes Engelchen in Lalits Gedanken höhnisch kichernd ein ,über' vor das Wort setzte. Die Stimmung des jungen Thronfolgers erhellte sich ein wenig, auch wenn er natürlich wieder einmal mit völliger Sicherheit sagen konnte, dass Kieran das kleine Wortspiel ohnehin nicht bemerken würde. Während Lalits Gedanken immer noch bei dem längst versiegelten und einem Boten anvertrauten Schriftstück hingen, hatte sich der bleierne Himmel über den Baumwipfeln verdunkelt. Mond und Sterne waren unerbittlich hinter einer schwarzgrauen Mauer gefangen. Die kleinen Laternen, die hier und dort in dem mit zarten Eisblumen bedeckten Astwerk hingen und in lauen Nächten den pudrigen Schnee zum Glitzern brachten, waren angesichts des drohenden Unwetters nicht angezündet worden. Das Schweigen der Vögel ließ eine schwere, unruhige Stille zurück, die ebenso schwer auf der eisigen Erde zu lasten schien wie das lauernde Gewitter. Die Finsternis färbte die dünnen, gekrümmten Äste in ein dreckiges Schwarz, über dem sich das verkrustete Weiß der Blätter wie ein zerfetztes Leichentuch ausbreitete. Lalit achtete jedoch nicht auf seine Umgebung. Er dachte vielmehr daran, wie seine Hand die zierliche Feder angehoben hatte, um eine förmliche Verabschiedung und seinen Namen unter den ohnehin schon viel zu langen Brief zu setzen - und dann im letzten Augenblick in der Bewegung erstarrt war. Es war, als hätte sich urplötzlich im Kopf des jungen Weißhaarigen ein Hebel umgesetzt, der irgendeine unvorhersehbare Reaktion in Gang gesetzt hatte. Lalit wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, was sich in ihm verändert hatte, und eigentlich konnte er es immer noch nicht mit Gewissheit sagen. Es war wie ein fester, unumstößlicher Entschluss, den irgendein Teil von ihm getroffen hatte, den er selber noch nicht kannte und vielleicht auch nie in seinem Leben finden würde. Und genau in dem Moment, als die ihm unbekannte Entscheidung nun endgültig getroffen, auf einen steinernen Vertrag gemeißelt und mit Blut unterzeichnet worden war, verlor Lalit die Kontrolle über seinen gesamten Körper. Die bleichen Finger des jungen Thronfolgers formten Buchstaben und Linien auf dem Papier, ohne dass er diesen unheimlichen Vorgang beeinflussen oder gar aufhalten konnte. Wie ein stummer, regungsloser Beobachter musste er zusehen, was die schwarze Tinte auf dem dunklen Weiß des Papiers niederschrieb. Ich vermisse dich, Kieran. Nein, schoss es Lalit durch den Kopf, das konnte er nicht schreiben. Das war verrückt! Verdammt, er hatte es die gesamten letzten Jahre seines Lebens geschafft, sich vor seiner Familie, seinem Volk, vor sämtlichen Menschen, die ihn umgaben, stets zusammenzureißen. Wie konnte es da sein, dass er nur anhand eines lächerlichen kleinen Briefes nun die Kontrolle verlor? Ich weiß, dass du mir in Kürze antworten wirst, genau so, wie ich es dir gesagt habe. Aber den größten Gefallen könntest du mir tun, wenn du nur ab und zu an mich denkst. Lalit wusste nicht, was für ein stiller Wahn seinen Körper befallen hatte, derartige Zeilen zu Papier zu bringen, aber noch viel weniger verstand er, warum er diesen Brief tatsächlich versiegelt und abgeschickt hatte. Das unscheinbare Stück Papier sollte in dem kleinen vergoldeten Papierkorb liegen, der sich in der Dunkelheit unter seinem weißen Schreibtisch versteckte, oder noch besser in den glühenden Flammen des nächstbesten Kamins - stattdessen aber trat er nun seine lange, beschwerliche Reise durch die Eiswüste Fuyubis an. Und bei seinem Glück, dachte Lalit bitter, würde das verfluchte kleine Schriftstück natürlich keinem Raubüberfall oder Schneesturm zum Opfer fallen. Ein eiskalter Wassertropfen stahl sich durch das Labyrinth der schneebedeckten Zweige und zerplatzte zielsicher mitten auf der Stirn des jungen Thronfolgers. Er zuckte erschrocken zusammen und blickte auf. Erst jetzt bemerkte er, wie finster es um ihn herum geworden war - und begriff noch im gleichen Augenblick, dass es nicht nur die Dunkelheit der Nacht war, die sich über das Land gesenkt hatte. Mit einem Mal stieg ein ungutes Gefühl in dem Weißhaarigen auf. Er sah sich um, jedoch nur um festzustellen, dass er sich in einem ihm völlig unbekannten Teil des Schlossgartens befand. Sicher, das Wäldchen war nicht besonders groß und im dichten Netz der Schatten glich eine Statue der anderen, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass Lalit keine Ahnung mehr hatte, wo er sich befand oder woher er gekommen war. Am allerwenigsten jedoch wusste er, wohin er gehen sollte. Lalit atmete tief durch, um das beklemmende Gefühl in seiner Brust zu vertreiben, und beschleunigte stattdessen seinen Schritte. Der weiße Sand des Weges wurde in der Dunkelheit zu einem leuchtenden Weg, der durch ein Nichts aus lebendiger Schwärze führte. Doch nicht nur die Natur hatte eine stumme, abstoßende Wandlung vollzogen. Auch die steinerne Statuen waren mit einem Mal alles andere als schön und romantisch anzusehen. Ihre Gliedmaßen wirkten in dem gelblich schwarzen Zusammenspiel von Licht und Schatten seltsam verdreht und unförmig. Der helle Stein ließ sie wie Geistererscheinungen zwischen den finsteren Stämmen hervorstechen, mit boshaften leeren Augen und maskenhaft verzerrten, kalten Gesichtszügen. Und dann, von einer Sekunde auf die andere, ging die Welt um Lalit herum in Flammen auf. Ein grelles Licht zuckte über den Himmel, brachte die Konturen der Bäume zum Glühen und ließ die erstarrten Geister in einer Woge gleißenden Lichtes verblassen. Die blendende Helligkeit krallte sich in jedem einzelnen Eiskristall fest, erstarb dann schließlich doch und ließ gelblich flirrende Luft zurück. Auf den Blitz folgte der Donner. Der Himmel brüllte der Erde seinen Zorn entgegen und für einen Moment war sich Lalit vollkommen sicher, dass der Blitzschlag das Schloss getroffen und in tausend Stücke zersprengt haben musste, so ohrenbetäubend laut war das explosionsartige Grollen, dass die dürren Zweige der Bäume erzittern ließ. Vereinzelt fielen kalte Tropfen auf den Boden und färbten den hellen Sand schwarz wie getrocknetes Blut. Der erlösende Regenguss jedoch blieb aus. Und erst jetzt begriff Lalit die Lage, in der er sich gerade befand. Ein apokalyptisches Gewitter war losgebrochen und er befand sich exakt an dem Ort, der in dieser Situation wohl der ungünstigste war: mitten in einem Wald. Ein lähmender Schauer kroch mit quälender Langsamkeit den Rücken des jungen Weißhaarigen hinab. Seine goldenen Augen jagten rastlos über den schwarzen Wall der Bäume und Geisterstatuen, ohne einen vertrauten Punkt ausmachen zu können. Der Weg teilte sich und verschwand nach einigen Metern im hölzernen Meer aus Dunkelheit. Obwohl sich jede Faser in Lalits Körper dagegen sträubte, blieb er stehen und versuchte vergeblich, irgendeinen winzigen Hinweis zu entdecken, der ihm den Weg zurück zum Schloss deuten konnte. Ein weiterer, nicht minder greller Blitz zuckte über den Himmel, und diesmal folgte der rollende Donner sogar noch schneller als zuvor. Lalit atmete tief durch. Er hatte keine Zeit mehr zum Grübeln, und tief in ihm wusste er längst, dass er noch Stunden vor der finsteren Weggabelung stehen und auf die schwarzen Bäume starren konnte, ohne eine plötzliche Eingebung, einen göttlichen Fingerzeig oder sonst irgendetwas zu erhalten, das ihm die Entscheidung abnehmen würde - vorausgesetzt, er würde dann nicht schon längst von einem brennenden Stamm oder einem der Blitze erschlagen worden sein. Der junge Thronfolger wandte sich kurz entschlossen nach Links und schritt noch ein bisschen eiliger aus als zuvor. Schon bald machte sich ein nagendes, unangenehmes Stechen in seiner Seite bemerkbar, aber er zwang sich zu ruhigen Atemzügen und ignorierte den Schmerz. Er konnte sich keine erbärmlichere Todesart vorstellen, als aufgrund von Seitenstechen durch eines der kümmerlichen Bäumchen im Schlosspark Fuyubis in Brand gesteckt zu werden, und so ging er unbeirrt weiter, bis sich schließlich in einigen Metern Entfernung die düsteren, knochigen Stämme lichteten und den Blick in die Nacht hinaus freigaben. Ein stummer Seufzer der Erleichterung hob Lalits Brust. Scheinbar war es ihm nun doch ein einziges Mal an diesem verfluchten Tag gestattet, Glück zu haben. Auch wenn irgendetwas in ihm davor zurückschreckte, auf die freie Ebene hinauszutreten, seinen scheinbaren Schutz aufzugeben, so wusste er im Grunde genommen doch ganz genau, dass die trügerische Sicherheit unter den gefrorenen Baumwipfeln doch in Wirklichkeit eine unglaubliche Gefahr bedeutete. Er verdrängte das leichte, instinktive Zögern in seinem Inneren und legte noch ein letztes Mal an Tempo zu. Als sich dann endlich die Bäume auftaten und den Weg aus dem schwarzen Geisterwald freigaben, hätte Lalit am liebsten vor Schreck und Enttäuschung aufgeschrieen. Wie hatte er auch nur einen einzigen Augenblick lang annehmen können, die richtige Entscheidung getroffen zu haben? Immerhin wusste er nun endlich, wo er sich befand, und gleichermaßen begriff er auch, dass es allein die Dunkelheit der Nacht und die Angst vor dem Gewitter gewesen waren, die seine Umgebung bis zur Unkenntlichkeit verzerrt hatten. Tatsächlich hatte er sich die ganze Zeit über auf einem Weg befunden, den er in den vergangenen Tagen schon unzählige Male entlang geschlendert war, vielleicht sogar öfter als jeden anderen Pfad in dem kleinen Wäldchen. Und gleichzeitig konnte er sogar noch einen großen Irrtum berichtigen, dem er in den letzten alptraumhaften Minuten erlegen war. Der ungünstigste Ort, den ein Mensch bei einem derartigen Gewitter aufsuchen konnte, war keineswegs ein Wald. Es war definitiv der kleine See mitten auf der schmalen Waldlichtung, vor der Lalit nun stand. Das ruhige Wasser, das im Licht der Sonne stets in geheimnisvollem Grün schimmerte, hatte nun die dreckige, grau-gelbe Farbe des Himmels angenommen. Etwas mehr als ein Meter trennte die letzten, niedrigen Bäume von dem schlammigen, von hohen Schilfzäunen umringten Ufer des kleinen Gewässers. Wäre seine Lage nicht so verdammt ernst gewesen, hätte der junge Weißhaarige zum ersten Mal seit unvorstellbar langer Zeit wieder aus tiefstem Herzen lachen können. Die Situation war absurd! Er war praktisch umzingelt von allen nur erdenklichen Dingen, die Blitze irgendwie anziehen konnten. Sicher, er hatte mittlerweile begriffen, dass das Schicksal gegen ihn war, aber musste es dabei immer gleich so sehr übertreiben? Oder waren es vielleicht gar nicht Zufall und Schicksal, die ihn hierher geführt hatten? Kaum hatte Lalit den Gedanken zu Ende gebracht, erschien es ihm auf einmal vollkommen absurd, dass er nicht schon viel eher darauf gekommen war. War es wirklich sein unbestreitbares Pech gewesen, das ihn auf den Pfad zum See oder überhaupt in diesen Wald geführt hatte? Das Gewitter hatte sich schon vor Stunden angekündigt. Konnte man da wirklich noch so vermessen sein und von einer Laune des Schicksals reden, dass er nun im tiefsten Unwetter durch die Finsternis irren musste? Nein, verbesserte er sich in Gedanken. Er war nicht geirrt, und im Grunde genommen hatte er sich auch von Anfang an nicht in dem Wäldchen verlaufen. Viel eher war es wieder einmal der Einfluss jener unbezwingbaren, unterbewussten Macht gewesen, die ihn wie einen Träumenden zielsicher durch das Labyrinth der schwarzen Stämme geführt hatte. Und jetzt, als er unter dem von gleißenden Wunden durchzuckten Bleihimmel am glanzlosen Wasser des Waldsees stand, fügten sich mit einem Mal alle Puzzleteile in seinem Kopf zu einem sinnvollen Bild zusammen. Er verstand nun plötzlich alles. Seine scheinbar so widersinnige, vollkommen unvernünftige Entscheidung, trotz des düsteren Wetters und der stickig schwülen Luft ausgerechnet in diesem Teil des Parks, fernab vom sicheren Schloss spazieren zu gehen. Die Worte, die sich wie von selbst unter seinen Brief geschrieben hatten. Er verstand nun sogar, warum er genau dieses Schreiben nicht einfach wieder zusammengeknüllt und weggeworfen hatte, wie es sein erster Impuls gewesen war. Und nicht zuletzt wusste er auch, was ihn durch die Finsternis des Waldes ausgerechnet zu diesem See geführt hatte. Alles lag ganz klar und deutlich vor ihm, geradezu lachhaft einfach, nun, nachdem er endlich die Entscheidung kannte, die er im Schein der roten Kerzen an seinem kleinen weißen Tischlein getroffen hatte. Das beklemmende, erdrückende Gefühl der kalten Angst war von Lalits Schultern gewichen. Er war auch nicht wirklich glücklich, aber doch erleichtert, als er seine Augen schloss und langsam in das flache, kalte Wasser hineinging. Ende des vierten Kapitels Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)