Der Rebell von Niekas ================================================================================ Kapitel 3: Noch weiter unten ---------------------------- Ich bin nie ein Mensch gewesen, deshalb kann ich mir nicht vorstellen, wie man sich so fühlt. So als Mensch. Und umgekehrt kann sich kein Mensch vorstellen, wie es ist, wochenlang in irgendeinem Kellerloch zu hocken, ohne einen Schluck Wasser oder irgendetwas zwischen den Zähnen, und vor allem ohne ein Wort. Ohne eine Bewegung. Ein Gesicht. Einen Schritt. Ich tue nichts, als da zu hocken und meine Unsterblichkeit abwechselnd anzubeten und zu verfluchen. „Ich denke, jeder Mensch würde an meiner Stelle verrückt werden.“ „Vermutlich.“ „Gut, dass ich keiner bin“, sage ich. „Gut, dass ich nicht verrückt werde.“ „Bist du sicher?“, fragt Ludwig. „Immerhin sprichst du mit mir.“ „War das gerade ein Scherz, Lutz? Ich glaub's nicht.“ „Es war die Wahrheit.“ „Ich werde nicht verrückt. Ich nicht. Und du versuchst gefälligst nicht, mir das einzureden, Westen!“ Dazu sagt er nichts mehr, und ich drehe den Kopf weg und sehe ihn nicht mehr an. Wenn ich ihn nicht ansehe, ist er nicht da. Als die Tür von außen entriegelt wird, setzt mein Herz einen Schlag aus. Jemand ist da. Zwar bin ich so großartig, dass ich mir selbst als Gesellschaft genug bin, aber von Zeit zu Zeit brauche ich auch jemand anderen, der mich bewundert. „Von Bock“, sage ich, weil es gut tut, meine Stimme zu hören. Eduard sieht allerdings alles andere als erfreut aus, wieder hier zu sein. Er sieht auf den Boden, kommt mit ein paar widerwilligen Schritten näher und stellt eine Schüssel vor mir ab. „Willst du essen?“, fragt er bemüht kühl, aber mit einem merklichen Zittern in der Stimme. „Lass mich kurz überlegen. Ich habe seit... wie lange schon nichts mehr gegessen? Um ehrlich zu sein, mir knurrt der Magen.“ Wortlos tauchte er den Löffel in die Pampe auf dem Teller. „Mund auf.“ Ich tue es und er schiebt den Löffel hinein. Unglaublich, dass ein bisschen verkochter Haferschleim so appetitlich aussehen kann. Bevor ich geschluckt habe, hat er schon den nächsten Löffel fertig. „Immer mit der Ruhe, von Bock.“ „Was?“ Er sieht mich an, als sei er mit den Gedanken woanders gewesen. „Vergiss nicht, dass ich eine ganze Weile lang gefastet habe. Du solltest mich langsamer wieder aufpäppeln, weißt du?“ Eduard verengt die Augen leicht. „Dazu habe ich keine Zeit. Ich habe jemand anderen aufzupäppeln, wie du dir sicher denken kannst.“ „Ach ja?“, frage ich, nachdem ich geschluckt habe. „Wen denn?“ Er starrt mich an und sagt nichts. „Doch nicht etwa Lorinaitis, oder?“ Eduard senkt den Kopf und klatscht den Löffel in den Rest Brei auf dem Teller. Seine Hände zittern. „Was ist mit ihm?“ „Was mit ihm ist?“, flüstert er. „Hast du eine Ahnung, was du Toris angetan hast?“ „Allerdings, das weiß ich. Was mich nur brennend interessieren würde, ist, was Braginsky ihm angetan hat.“ Ruckartig hebt Eduard den Kopf und starrt mich wütender an, als ich ihn je gesehen habe. „Du hast keine Ahnung, was du angerichtet hast!“ „Doch, eine Ahnung schon. Ich hab ihn gehört. Lorinaitis, meine ich.“ „Es wird ewig dauern, bis er wieder auf den Beinen ist! Ivan hat ihn nicht mehr so zugerichtet, seit... seit Jahren nicht mehr!“ „Selbst Schuld“, sage ich trocken. „Lorinaitis hätte sich nicht mit mir anlegen sollen. Und vielleicht hätte er Braginsky auch nicht so oft widersprechen sollen, das mag er nämlich nicht. Das sollte Lorinaitis aber eigentlich selbst wissen.“ „Was hätte er sonst tun sollen, als ihm zu widersprechen? Die Schuld auf sich nehmen für etwas, das er gar nicht getan hat?“ „Das musste er am Ende doch sowieso, wie ich Braginsky kenne.“ „Du...“, bringt Eduard hervor, und ich bemerke, dass Tränen in seinen Augen stehen. Verwirrt hebe ich die Augenbrauen. „Du hast... alles kaputt gemacht. Toris hatte Ivan gerade so weit, dass er ihm vertraut hat... vertraut! Weißt du, was das bedeutet, Gilbert? Was das für Möglichkeiten bietet?“ „Vertrauen?“, frage ich spöttisch. „Du meinst, er hatte sich bei Braginsky eingeschleimt?“ „Nenn es doch, wie du willst. Es wäre jedenfalls nicht schlecht für uns gewesen.“ „Schade für euch“, sage ich und ziehe die Schultern hoch. „Schicksal.“ „Nein, es tut mir nicht Leid.“ Ludwig sitzt nur da und sieht mich an. „Ich sagte, es tut mir nicht Leid! Es war Lorinaitis' Schuld, verdammt nochmal! Er hätte doch einfach tun können, was ich wollte! Er hätte Braginsky doch einfach Bescheid sagen können!“ Er sieht mich an. „Warum zum Teufel sollte es mir Leid tun, was ich getan habe? Ich habe es ja noch nicht mal getan, nicht direkt! Was Braginsky mit seinen Untergebenen anstellt, ist nicht mein Bier! Warum sollte es mir Leid tun?“ „Ich habe nie behauptet, dir sollte etwas Leid tun“, bemerkt Ludwig. „Du hast damit angefangen.“ Ein paar Tage vergehen. Eduard kommt, um mir mein Essen zu bringen, wechselt aber kein Wort mehr mit mir. Es ist fast schlimmer, als komplett allein zu sein, wenn der einzige, der kommt, nicht mit einem reden möchte. Ich bin erleichtert, als sich die Tür öffnet und es Raivis ist, der kommt. „Hey, Galante.“ Er starrt mich an. Seine Augen sind gerötet, als ob er geweint hätte. Der Teller in seinen Händen wackelt, so sehr zittern seine Hände. „Hey“, sage ich noch einmal. „Es war deine Schuld“, flüstert Raivis. „Was?“ „Deine und meine Schuld.“ „Was denn, zum Teufel?“ Er starrt mich an und kaut auf seiner Unterlippe herum. „Ich wollte nicht herkommen“, sagt er leise. „Ich wollte nicht. Aber Eduard hat gesagt, er muss sich um Toris kümmern, und Toris muss ja wieder gesund werden.“ „Ist er immer noch nicht wieder auf den Beinen?“ Ich weiß selbst nicht, ob das in meiner Stimme Spott oder Schuld ist. Raivis sieht mich an, macht den Mund einmal auf und schließt ihn wieder. „Wieso immer noch nicht?“ „Wie lange kümmert ihr euch denn schon um ihn?“ „Keine fünf Tage“, flüstert er und starrt mich noch immer auf eine Art an, die mir immer weniger gefällt. „Er war so lange hier unten. Ivan hat uns nicht erlaubt, dir Essen zu bringen, weil er verhindern wollte, dass wir uns zu Toris schleichen.“ „Also war es seine Schuld, dass ich nichts gekriegt habe“, sage ich stirnrunzelnd. „Nein“, sagt Raivis mit großen Augen und schüttelt den Kopf. „Es war deine Schuld, was passiert ist. Deine und meine.“ „Deine?“ „Ich habe Ivan gesagt, Toris hätte was Böses gemacht... dabei... Ich wusste doch, was Ivan tut, wenn Toris was Böses macht. Aber ich dachte... ich dachte, ich müsste... und ich konnte doch nicht wissen, dass es so schlimm wird! Dass er ihn so... Ich konnte nicht wissen, was passieren würde, wirklich! Es ist nicht meine Schuld, dass Toris jetzt im Bett liegt und irgendwelche Knochen gebrochen hat, obwohl Eduard mir nicht sagen will, was genau los ist. Es ist nicht meine Schuld! Ich habe nichts gemacht!“ Er heult auf und bricht in Tränen aus. Ich starre ihn an und weiß nicht, was ich sagen soll. „Es ist nicht deine Schuld.“ „Du hast mich angelogen! Du hast gesagt, Toris hätte dir geholfen, dabei hat er das gar nicht! Es war alles deine Schuld!“ „Ja, das war es.“ Raivis blinzelt einige Male und wischt sich mit dem Handrücken über die Augen. Seine Unterlippe zittert noch. „Wie geht es Toris?“, frage ich, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob ich es wissen will. „Nicht gut“, murmelt Raivis. „Ich... ich habe ihn nicht oft gesehen. Er ist in einem anderen Zimmer, irgendeinem Gästezimmer, weil Ivan ihn nicht sehen will. Er will auch nicht, dass wir zu lange bei ihm sind, Eduard und ich. Wir dürfen ihm Essen bringen und Eduard wechselt den Verband, aber sonst dürfen wir nicht zu ihm. Ich möchte ihn trösten, Toris, aber ich habe Angst, dass er wütend auf mich ist. Er hat ja nicht einmal gelächelt, als ich das letzte Mal da war. Er sah so müde aus. So t... t...“ „Traurig?“, schlage ich vor. „Tot“, flüstert Raivis. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Raivis sieht mich einen Moment lang an, bis sein Gesicht sich wieder verzerrt. „Ich wollte das doch nicht! Toris... Toris hasst mich. Ganz bestimmt! Es ist alles meine Schuld, dass...“ „Er hasst dich nicht“, unterbreche ich ihn schroff. „Erstens würde es mich schwer wundern, wenn er überhaupt dazu in der Lage wäre, irgendjemanden ernsthaft zu hassen.“ „Und zweitens?“, fragt Raivis zaghaft. „Zweitens war es meine Schuld“, sage ich knapp. „Und Lorinaitis ist klug genug, um das zu wissen. Er hasst dich nicht, Galante. Und wenn doch, soll er zu mir kommen und ich werde ihm sagen, dass ich es war. Es war meine Schuld.“ Raivis zieht die Nase hoch und wischt sie mit dem Ärmel ab. „Wirklich?“, flüstert er. „Wirklich“, sage ich und versuche, zu grinsen. „Und jetzt wäre es toll, wenn du mir das Essen geben könntest.“ „Wirst du mich wieder in komische böse Pläne verwickeln?“ „Heute nicht“, erwidere ich großzügig. „Ich habe einen guten Tag.“ „Ich finde dein Verhalten... interessant, gelinde gesagt.“ „Lutz? Halt dieses Mal einfach die Klappe.“ „Wie du willst.“ „Mit Raivis magst du dich ja versöhnt haben“, sagt Eduard mit zu Schlitzen verengten Augen, „aber glaub ja nicht, dass die Sache damit erledigt wäre.“ Das hat man nun davon, ein guter Mensch zu sein – gib ihnen den kleinen Finger, und schon glauben sie, du hättest den ganzen Arm zu verschenken. Ich weiß jedenfalls, wieso ich bisher so sparsam mit guten Taten war. „Was soll ich denn noch tun? Ich werde Galante vor Lorinaitis in Schutz nehmen, sobald es geht. Ich werde seinen Namen reinwaschen. Was soll ich noch tun?“ „Wie wäre es damit, Toris' Namen reinzuwaschen?“ „Und wie soll ich das deiner Meinung nach anstellen?“ „Indem du Ivan sagst, dass alles eine Finte von dir war und Toris nie etwas Verbotenes getan hat.“ Ich verziehe das Gesicht. „Was soll das denn bringen? Was passiert ist, ist passiert. Irgendwann beruhigt Braginsky sich wieder, also warum...“ „Er beruhigt sich?“, unterbricht Eduard mich fassungslos. „Du hast keine Ahnung, was hier vor sich geht, oder?“ „Nein, stell dir vor, ich sitze in einem Kellerloch. Wenn du mir nicht sagst, was vor sich geht, woher sollte ich dann...“ „Toris liegt oben mit mehreren gebrochenen Rippen, und Ivan hat mir strikt verboten, ihm irgendetwas gegen die Schmerzen zu geben.“ Ich blinzele einige Male. „Warum?“ „Warum? Er hat gesagt, damit die Lektion sich gründlich einprägt!“ Er lässt mich nicht aus den Augen, und er macht mich nervös damit. Ich starre an ihm vorbei die Wand an. „Himmel. Wenn er so hart mit Lorinaitis ist... was wird Braginsky mit mir anstellen, wenn ich ihm sage, dass ich es allein war?“ „Das hättest du dir früher überlegen können“, murmelt Eduard. „Bevor du diese absolut unnötige Aktion gestartet hast. Überleg dir, was du tun willst. Ich muss wieder weg.“ Er steht auf und nimmt die erst halb geleerte Schüssel mit Haferbrei wieder mit. „Wo musst du hin? Ich denke, du darfst Lorinaitis nicht einmal Schmerzmittel geben.“ „Den Verband wechseln kann ich ja wenigstens“, erwidert er und sieht sich noch einmal zu mir um. „Ich wünschte, du könntest nachfühlen, was er durchmacht.“ Ich wüsste nicht, was ich dazu sollte sagen wollen. „Himmel, Lutz. Was soll ich tun?“ Er sitzt mit dem Rücken zur Wand und antwortet nicht. „Damit die Lektion sich einprägt. Was für kranke Methoden sind das? Und das für jemanden wie Lorinaitis, der immer gesprungen ist, wenn Braginsky gepfiffen hat? Nennt sich das etwa Dankbarkeit?“ Schweigend sieht er mich an. „Ich kann doch... mehrere gebrochene Rippen. Himmel, Braginsky reißt mir den Kopf ab! Ich kann das nicht tun!“ „Du wolltest doch unbedingt mit ihm reden“, sagt Ludwig. „Schon“, murmele ich. „Schon.“ „Deswegen habe ich es getan, von Bock.“ „Nur, weil du mit Ivan sprechen wolltest?“ „Na ja... und wegen Toris' Zwangsfütterung, an der du als Statist mitgewirkt hast.“ „Also war es Rache.“ „Nein“, sage ich schnell und weiß, dass ich lüge. „Nein. Lorinaitis war ein... ein Mittel zum Zweck. Zwei Fliegen mit einer Klappe und so, du verstehst.“ Bedächtig schiebt Eduard seine Brille zurecht. „Und?“ „Wenn du es schaffst, Braginsky hier herunter zu lotsen, sodass ich noch einmal mit ihm sprechen kann... dann werde ich tun, was ich kann, um Toris zu beschützen.“ „Versprochen?“, fragt Eduard leise, aber eindringlich. „Hoch und heilig.“ Er nickt, erst langsam, dann kräftiger. „Ich werde sehen, was ich tun kann. Ich kann dir nichts versprechen, aber es wird nicht lange dauern, bis Ivan hier herunter kommt.“ „Sehr gut“, sage ich, obwohl ich nicht weiß, wie gut ich das finden soll. „Wie willst du es ihm sagen?“, fragt Ludwig. „Nun... wie wäre es, wenn ich einfach sage, April, April?“ „Ich weiß nicht, ob er verstehen wird, worauf du hinaus willst.“ „Dann kann er nachfragen, und ich werde es ihm erklären.“ „Ich kann mir nicht vorstellen, dass er den Witz sehr lustig finden wird.“ „Tragisch, oder? Niemand weiß mein Genie zu schätzen.“ Er sagt nichts und betrachtet seine Finger. „Wenn er kommt, sage ich ihm einfach... wie es war. Dass ich Lorinaitis in die Pfanne gehauen habe, weil...“ „Weil?“, fragt Ludwig, nachdem ich eine ganze Weile lang geschwiegen habe. „Weil ich ein destruktives Arschloch bin, vielleicht?“ „Ich dachte, du wolltest ihm die Wahrheit sagen.“ „Wollte ich? Habe ich das je behauptet?“ „Diese Geschichte nimmt kein Ende, wenn du dich weiter mit Lügen durchschlägst, Gilbert.“ „Und?“, frage ich bissig. „Nenn mir einen guten Grund, warum ich ein Interesse daran haben sollte, dass diese Geschichte ein Ende nimmt.“ Darauf fällt ihm nichts mehr ein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)