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Verschollen!

Tamaki x Kyoya
von

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Zurück zur Natur!

Hallo zusammen ^^ Schön, dass ihr hierher gefunden habt! Ich hoffe, meine kleine, etwas alberne Story über Tamaki und Kyoya gefällt euch ... Über Kommis würde ich mich jedenfalls sehr freuen ^^
 

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„Tamaki“, bemerkte Kyoya wie beiläufig und gab sich Mühe, seine Stimme dabei so ruhig und freundlich wie nur irgend möglich klingen zu lassen, ohne einen Hauch seiner wahren Entnervtheit zu offenbaren. „Bist du dir auch wirklich sicher, dass das hier der richtige Weg zurück zum Hotel ist?“
 

Skeptisch ließ er den Blick durch seine Umgebung schweifen. Der Sommer neigte sich bereits seinem Ende zu, ein langsam einziehender Herbst hatte das dichte Laubdach über ihren Köpfen in strahlende Rot- und Brauntöne getaucht, so dass die Blätter zwischen Waldboden und Himmel leuchteten, als tanzten lodernde Flammen über sie hinweg. Nur mühsam bahnten sich vereinzelte Sonnenstrahlen ihren Weg bis zum moosbewachsenen Erdboden, zeichneten goldene Lichtflecke auf die mit raschelndem Laub bedeckten Wege.
 

Ein durchaus reizvoller Anblick für jeden, der auch nur ein wenig empfänglich war für derartige Naturschönheiten – was auf Kyoya Otori eindeutig nicht zutraf. Ungeduldig musterte er seinen weitaus enthusiastischeren Begleiter, während der eifrig das bunt bedruckte Büchlein in seiner Hand studierte: „Japans schönste Wanderwege. Mit ausführlichem Kartenmaterial.“

„Aber natürlich bin ich sicher“, bemerkte Tamaki überzeugt und warf Kyoya einen selbstbewussten Blick zu. „Wir müssten in einer halben Stunde da sein, vertrau mir.“
 

„Ja“, murmelte Kyoya und unterdrückte mühsam ein Augenrollen. „Das hast du vor exakt 48 Minuten auch schon gesagt ...“ Seufzend löste er den Blick von seiner Armbanduhr. „Wir sollten uns besser beeilen. Es wird bald dunkel.“

Und das Letzte, was er wollte, war, allein mit diesem Spinner durch die Gegend zu irren ... nachts ... mitten im Wald ... in der Finsternis ...

Allein die Vorstellung ließ ihn schaudern.

„Nun sei doch nicht so ungeduldig, Kyo-chan“, entgegnete Tamaki, ein wenig schmollend. „Sieh doch nur, wie schön es hier ist!“
 

Mit einem verklärten Lächeln legte er den Kopf in den Nacken, ein paar honigfarben glitzernde Sonnenstrahlen regneten flirrend durch das bunte Blätterdach, streiften sein Haar und ließen es fast so leuchten wie sein Gesicht, auf dem sich eine kindliche Form von Begeisterung ausgebreitet hatte.

„Die Luft ist so rein ... und dann dieser Geruch ... nach Moos und Laub und Erde ...!“ Er lachte leise. „Und es ist ganz still ... nur das Rascheln des Windes zwischen den Blättern ... das Zwitschern der Vögel ...“

Ein Trottel, der durch den ganzen Wald brüllt, dass selbst die Borkenkäfer Ohrenschmerzen kriegen ...

Kyoya verzog seufzend das Gesicht.
 

Tamaki bemerkte es nicht. „Ist das nicht wuuuuunderschön, Kyoya?“, säuselte er und wandte sich endlich wieder dem Freund zu. Funkelnd strahlten seine Augen ihn an, rein und klar wie zwei Bergseen, in denen sich silbrig der Mond spiegelte.

Kyoya schluckte hart. „Ja“, nuschelte er tonlos, einen Moment lang gefangen in der schwindelerregenden Intensität dieses allzu durchdringenden, allzu blauen Blickes. „Wunderschön...“
 

Hastig schüttelte er den Kopf, rückte akkurat seine Brille zurecht, wie immer, wenn er sich verunsichert fühlte. „Wo also geht es zum Hotel?“, erkundigte er sich, schon wieder ernüchtert.

„Hier lang!“ Tamakis ausgestreckte Hand deutete zielsicher nach Norden – in die exakt entgegengesetzte Richtung, die sie bisher eingeschlagen hatten.

„Tamaki“, ächzte Kyoya, und diesmal gelang es ihm nicht mehr ganz, seine Stimme unter Kontrolle zu halten. „Du hast nicht die geringste Ahnung wo wir sind, oder?“
 

„Was soll das denn heißen?“, empörte sich der blonde Halbfranzose. „Ich habe einen ausgezeichneten Orientierungssinn, und überhaupt –“

„Aber natürlich“, unterbrach Kyoya ihn beschwichtigend – und schnappte blitzschnell nach dem Buch in Tamakis Händen, bevor der andere auch nur protestierend blinzeln konnte.
 

Zwei Sekunden später erkannte er, dass er einen Fehler begangen hatte.

Einen gravierenden Fehler, wie er ihn sich üblicherweise niemals erlauben würde.

Wie hatte ausgerechnet ihm eine solche Gedankenlosigkeit nur passieren können?, fragte er sich entgeistert, während er fassungslos, aus weit aufgerissenen Augen, die Karte anstarrte, die Tamaki die ganze Zeit über aufgeschlagen hatte.

„Tamaki“, bemerkte er mit einem leichten Zittern in der Stimme, seine eigenen, sinnlosen Gedanken zerstreuend.

„Das hier“, nur noch halb beherrscht hielt er dem Freund die aufgeschlagene Seite unter die Nase, „ist ein Plan von Okinawa. Und wir ...“ Das Zittern in seiner Stimme verstärkte sich. „Wir sind in Hokkaido, verdammt!“

„Oh!“ Die Augen des Idioten weiteten sich vor Bestürzung, eine hitzige Röte stieg in seinem Gesicht empor.
 

Üblicherweise hätte dieser Anblick Kyoya vielleicht amüsiert – aber nicht heute. Verzweifelt ein Ventil für seinen Zorn suchend, klappte er mit einem brutalen Ruck das Buch zu. Er war ja selbst schuld! Wieso hatte er sich nicht gleich selbst um die verdammte Wanderroute gekümmert? Doch Tamaki hatte ihn mit der Idee dieses Spaziergangs wieder einmal derart überfallen, dass er nicht einmal den Hauch einer Chance gehabt hatte, irgendeine Art von Vorkehrung zu treffen.

Dabei war er mit Wissen über Hokkaido so vollgestopft, dass er als Touristenführer hätte arbeiten können, wäre das nicht meilenweit unter seiner Würde gewesen. Über alles hatte er sich erkundigt, die traditionsreichsten Restaurants, die wichtigsten Kulturdenkmäler, die schönsten Souvenirshops ...

Jeden einzelnen Wanderweg in jedem einzelnen Naturpark dieser verdammten Insel auswendig zu lernen, überstieg jedoch selbst seine Fähigkeiten ...
 

Trotzdem: Er hatte einen Fehler gemacht. Und er wusste nicht, was ihn in diesem Augenblick mehr aus der Bahn warf: Diese Tatsache – oder dass sie sich hoffnungslos mitten im Wald verirrt hatten.

Was war das überhaupt für eine völlig schwachsinnige Idee gewesen! Ziellos durch die Natur zu stapfen war nun wirklich eine der am wenigsten sinnvollen Beschäftigungen, die Kyoya sich vorstellen konnte. Und dann auch noch an der Seite dieses Vollidioten ...
 

„Ist doch egal, wo wir sind!“, rief Tamaki, der sich längst von seiner Bestürzung erholt hatte, wie auf ein Stichwort. „Hauptsache, wir sind zusammen! Es ist so schön, dass wir endlich mal wieder ein wenig Zeit miteinander verbringen!“ Seine Augen begannen wieder zu funkeln. „Kyoya, mein Freund! Mein allerbester Freund!“

Kyoya hätte nun einwenden können, dass sie sich jeden Tag in der Schule sahen, und der Trottel auch nicht müde wurde, ihn an den Wochenenden heimzusuchen, doch er kam nicht dazu, auch nur den Mund aufzumachen. Stürmisch warf sich Tamaki seinem völlig überrumpelten Begleiter um den Hals und zwang ihn in eine erstickend heftige Umarmung.
 

Kyoya schnappte nach Luft – und fing dabei, fast gegen seinen Willen, einen Hauch eines seltsam süßen, schwindelerregend betörenden Dufts auf. Ein Duft von tausend unterschiedlichen Blüten ... von trägen, sonnengeküßten Sommertagen am Strand ... von der würzigen Morgenluft nach durchtanzten Nächten in glitzernden, funkelnden Ballsälen ...

Er blinzelte, um die seltsamen, wie ein Kaleidoskop in seinem Kopf explodierenden Bilder zu vertreiben, gleichzeitig ertappte er sich dabei, tief und genüsslich einzuatmen. Was war das nur? Irgendein exquisites Parfum aus Paris? Ein neuartiges Shampoo aus dem Ausland? Oder gar ... der Duft von Tamakis Haut?
 

Hitze schoss in seine Wangen. Hastig schob er den Freund von sich, doch seine Hände wollten dabei noch einen verräterischen Moment auf dessen Schultern verweilen, ehe es ihm gelang, ihn vollends wegzustoßen.

„Tamaki ... was habe ich dir über diese überfallartigen Umarmungen gesagt?“, fragte er betont kühl, eine Braue missbilligend nach oben gezogen.

Der Klang seiner eigenen, gewohnt emotionslosen Stimme vertrieb das Schwindelgefühl, das sich in seinem Kopf hatte ausbreiten wollen.

Tamaki biss sich auf die Unterlippe und tat, als müsse er erst einen Moment lang überlegen. „Ja, ja ich weiß ...“, seufzte er und senkte zerknirscht den Blick. „Es ist Teil deiner Kultur, dich in Sachen Körperkontakt äußerst zurückhaltend zu verhalten ... Und als überaus toleranter und einfühlsamer Mensch respektiere ich das natürlich ... Aber Kyoya ...“
 

Als er den Blick hob und Kyoya aus halb geöffneten Lidern anstarrte, hatten sich Tränen in seinen langen, goldenen Wimpern verfangen. „Niemand kann ganz ohne menschliche Wärme leben!“, verkündete er schluchzend. „Und wer soll dir die Zuneigung geben, die du brauchst, wenn nicht ich, dein bester – dein allerbester Freund?“

Ein irres Strahlen erfasste seine Augen, ließ die Tränen darin verpuffen wie Regentropfen auf glühenden Kohlestücken. Auf den Schwingen seiner eigenen, emotionalen Großzügigkeit getragen wollte er sich erneut in Kyoyas Arme werfen, doch der hielt ihn mit einem eisigen Blick zurück.
 

„Halt einfach die Klappe, okay?“, knurrte er übellaunig. „Übertreib es nicht, ja?“

Tamaki riss erschrocken die Augen auf – und verschwand im Bruchteil einer Sekunde hinter dem nächsten Baum, um sich schluchzend unter dem Stamm zusammenzukauern – seine übliche Reaktion auf jegliche Form von Zurückweisung.

Kyoya seufzte tief. Eigentlich hatte er geglaubt, den merkwürdigen Suo-Jungen längst durchschaut zu haben, aber manchmal, da war er sich selbst nicht ganz sicher. War dieses ganze gefühlsduselige Gelaber nur Show – oder meinte der Spinner es am Ende tatsächlich ernst?
 

Egal, entschied Kyoya brüsk. Sie hatten dringendere Probleme als Tamakis verquere Psyche! Diesen verdammten Wald zum Beispiel ...

Aber das würden sie gleich haben! Wozu gab es schließlich Ortungssysteme? Verächtlich warf er das nutzlose Buch mit den Wanderkarten zu Boden. Wer brauchte schon so einen lächerlichen Kram? Nur ein naiver Träumer wie Tamaki konnte sich auf solch altmodischen Schwachsinn verlassen ...

Fast triumphierend griff Kyoya in die Gesäßtasche seiner Designerjeans, um sein Handy hervorzufischen. Aber er spürte ... nichts.
 

Richtig ... Das Telefon war in der Jacke, der Jacke, die Tamaki trug. Nur dunkel und bruchstückhaft erinnerte sich Kyoya an die Szene, die sich heute Morgen – oder sollte er besser sagen heute Nacht? – abgespielt hatte:
 

*~*~*
 

„Kyoyaaaaa!“

Stöhnend öffnete Kyoya die von viel zu wenig Schlaf bleischweren Augenlider, als ein grinsender, brüllender Tornado polternd seine Hotelsuite enterte.

„Kyoya, kannst du mir vielleicht deine Jacke leihen, die mintgrüne mit dem Kunstpelzkragen von Burberry? Du weißt schon, die du gestern Abend getragen hast? Bitteee ...“
 

Ein unwilliges Ächzen entwich Kyoyas Lippen, während er blinzelnd gegen die dumpfe Müdigkeit in seinem Kopf ankämpfte. Wie immer, wenn man ihn abrupt aus dem Schlaf riss, bewegten sich seine Gedanken langsam und träge – was seine Laune nicht gerade hob. „Tamaki“, murmelte er benommen und drückte fahrig die Hand gegen die Stirn. „Wie spät ist es?“
 

„Schon fast halb sechs“, verkündete strahlend der Freund, den er nur verschwommen erkennen konnte, da seine Brille noch auf dem antiken Nachtkästchen lag. „Ich war so aufgeregt wegen unseres Ausflugs und weil es hier so schön ist, dass ich schon um vier Uhr aufgewacht bin, und dann war mir langweilig, aber wusstest du, dass die Läden hier genau wie in Tokyo fast durchgehend offen haben? Einfach toll! Und gerade gab es übrigens einen wunderschönen Sonnenaufgang, den du leider verpasst hast, Kyoya, weil du ja so ein Langschläfer bist, aber na ja ... jedenfalls war ich vorhin shoppen ...und dann habe ich diese Sneakers entdeckt, in Mintgrün mit total coolen, zitronengelben Streifen, und ... Kyoya, hörst du mir eigentlich zu?“
 

Tatsächlich war der Angesprochene nicht sicher, ob er zwischendurch eingenickt oder unter der Wucht dieses atemlos hervorgestoßenen Wortschwalls schlicht das Bewusstsein verloren hatte. „Aber natürlich“, bemerkte er laut und zwang eine Art Lächeln auf sein Gesicht, während er verzweifelt versuchte, die aufkeimende Mordlust in seinem Inneren zu ersticken. „Was ist nun mit meiner Jacke? Hast du keine eigene in den 23 Koffern, die du mitgebracht hast?“
 

„Schon, aber ...“ Tamaki zögerte einen Moment lang. „Deine würde einfach perfekt zu meinen neuen Sneakers passen!“ Plötzlich sonderbar verlegen starrte er zu Boden. „Und außerdem ...“, murmelte er, ein wenig errötend. „Außerdem machen gute Freunde das doch so! Sie tauschen ihre Klamotten aus! Weißt du, wenn ich etwas trage, das du kurz zuvor noch angehabt hast, dann ist das, als würdest du mich die ganze Zeit über umarmen! Ist das nicht total romantisch, Kyoya!“
 

Kyoya hatte keine Ahnung, was er auf diesen komplett irren Schwachsinn noch antworten sollte – und keine Lust, darüber nachzudenken. Also gab er nur ein bewusst unverständliches Grummeln von sich und zog seine Bettdecke demonstrativ bis zu den Augen hoch. „Kauf dir eine eigene Jacke, okay?“, knurrte er unerbittlich.
 

„Aber, Kyoya, dafür haben wir nun wirklich keine Zeit!“ Tamaki seufzte ungeduldig, als habe er es hier mit einem besonders begriffsstutzigen Kleinkind zu tun. „Wir müssen los! Ich will unbedingt meine neuen Turnschuhe ausprobieren!“

„Probier sie draußen aus, okay?“ Am Ende seiner Kräfte verkroch sich Kyoya noch tiefer unter der Bettdecke.
 

„Aber sicher! Ich hatte sowieso eine ganz brilliante Idee, mein Freund! Warum unternehmen wir beide nicht eine kleine Wanderung? Nur du und ich und meine neuen Schuhe ... mitten in der freien Natur ... in einer Oase von Ruhe und Entspannung! Das wird super, ich weiß es einfach!“

Entspannung war so ziemlich der letzte Begriff, den Kyoya mit dem durchgedrehten Halbfranzosen in Verbindung brachte, doch er wusste aus Erfahrung, dass man den Irren oftmals am leichtesten los wurde, indem man ihm einfach seinen Willen ließ.

„Also schön“, murmelte er also, schon fast wieder im Halbschlaf. „Ich rufe dich an, wenn ich fertig bin, okay?“
 

„Okay!“ Trällernd vor Begeisterung hüpfte der Freund zur Garderobe, pflückte Kyoyas Jacke vom Haken, bewunderte sich darin einige Minuten lang im Spiegel, und tat Kyoya dann endlich den Gefallen zu verschwinden – aber erst, nachdem dieser kraftlos sein Kissen nach ihm geworfen hatte.

Der vereinbarte Anruf war dann doch nicht notwendig gewesen, weil Tamaki schon eine halbe Stunde später erneut in Kyoyas Suite geplatzt war – und so war Kyoya wohl entgangen, dass sich sein Handy noch immer in der Jacke befand, die Tamaki ihm entführt hatte.
 

Und die tatsächlich – das musste er widerwillig zugeben – perfekt zu seinen neuen Sneakers passte.
 


 

*~*~*
 


 

„Tamaki, gib mir mal mein Handy“, verlangte Kyoya nun mit ausgestreckter Hand. „Es ist noch in der Jacke.“

Ein großes, blinzelndes Augenpaar lugte hinter dem Baumstamm hervor, der zu Tamakis Schmollecke mutiert war. „Das hab ich auf deinen Schreibtisch gelegt, kurz bevor wir gegangen sind“, murmelte er, in einem ungnädigen Tonfall, der mehr als deutlich machte, dass er noch immer beleidigt war.
 

Tief einatmend erwiderte Kyoya mit erzwungener Geduld: „Gut, dann gib mir deins.“

Mit einem triumphierenden Gesichtsausdruck, der eindeutig nichts Gutes verhieß, schoss der blonde Volltrottel aus seiner Ecke hervor. „Kyoya, Liebes, du scheinst den Sinn dieses Ausflugs nicht ganz begriffen zu haben“, dozierte er, ernster als gewöhnlich. „Wir sind hierher gekommen, um die unverbrauchte Reinheit der Natur zu genießen ... die Einsamkeit, fern aller Zivilisation ... ganz auf uns allein gestellt ... die ...“
 

„Soll das heißen, du hast es nicht dabei?!“, unterbrach Kyoya ihn entgeistert, bevor der Freund sich vollends in seinen Vortrag hineinsteigern konnte.

Tamaki schüttelte, ein wenig errötend, den Kopf.

Kyoya schnappte nach Luft. Eine Karte, die sinnlos war, weil sie nicht wussten, wo sie sich befanden ... kein Handy ... nur Wald ... Moos ... Himmel ... Bäume, die alle gleich aussahen ...

Einen Moment lang wurde ihm schwindelig.
 

Nur langsam sickerte die Erkenntnis in sein von zu viel frischer Luft, zu viel Natur und zu viel Tamaki ohnehin schon benebeltes Bewusstsein:

Er würde in diesem bescheuerten Wald verrotten, wenn ihm nicht bald etwas einfiel!

„Verdammte Scheiße!“, brüllte Kyoya in einem völlig untypischen Anfall hilflosen Zorns und schleuderte die verfluchte Wanderkarte wütend gegen den nächsten Felsen.
 

Tamaki, der vor Schreck aufgesprungen war, starrte ihn aus entsetzt geweiteten Augen an. „Kyoya ...“, murmelte er fassungslos, blass im Gesicht. „Hast du ... hast du etwa gerade die Beherrschung verloren?“

Zitternd biss Kyoya die Kiefer aufeinander, doch Tamakis völlig verstörte Miene war von einer derart absurden Komik, dass er sich nicht entscheiden konnte, ob er loslachen oder ihm einen Kinnhaken verpassen sollte – und so senkte er nur den Blick, atmete zweimal tief durch und beruhigte sich wieder. Er musste jetzt die Nerven bewahren ... durfte nicht in Panik geraten ... Er musste ...
 

Sein sinnloser Zorn zerplatzte wie eine Seifenblase in einer Kakteenkolonie, als Tamakis schwungvolle Umarmung seine Gedanken unterbrach. Es war nicht leicht, genug Energie für Wut aufzubringen, wenn man gerade fast am Ersticken war.

„Oh, Kyoya ...“, seufzte der Franzose glücklich. „Du bist also doch ein Mensch! Kyoya, mein Freund, ich bin ja so froh ... Endlich zeigst du deine wahren Gefühle!“

Fest drückte er den überrumpelten Japaner an sich.
 

Kyoya verdrehte innerlich die Augen – und tätschelte unbeholfen Tamakis Rücken, in der Hoffnung, der Spinner würde vielleicht von selbst loslassen, wenn er wenigstens so tat, als würde er die Umarmung erwidern.
 

Seine Hoffnung wurde nicht erfüllt.

Hänsel und Gretel

43 Minuten später ...
 


 

„Kyoya, wir werden das schaffen!“ Tamakis mädchenhaft hübsches Gesicht war zur Maske wilder Entschlossenheit gefroren. „Wir werden aus diesem Wald herausfinden, keine Sorge! Ich bin ganz sicher, das Hotel ist hier gleich in der Nähe. Du musst wirklich keine Angst haben, mit mir an deiner Seite kann dir überhaupt nichts passieren ...“

Außer vielleicht dass ihm von Tamakis nicht enden wollendem Geschwätz die Gerhinwindungen durchbrannten ...
 

Kyoya verzichtete mittlerweile auf eine Antwort, sparte sich seinen Atem lieber für den anstrengenden Weg durch das immer dichter werdende Gestrüpp. Seine Unterarme waren bereits zerkratzt, eine Dornenranke hatte ein hässliches Loch in seine Jeans gerissen, und er war sicher, eine ganze Kolonie von Blasen müsste sich auf seinen Füßen ausgebreitet haben – jedenfalls schmerzte inzwischen jeder Schritt.

Tamakis Augen jedoch glänzten noch immer so vergnügt, als schwebe er, in eine pastellfarbene Wolke gehüllt, durch seine eigene kleine Regenbogen-Traumwelt.

„Wenigstens haben wir gutes Wetter“, bemerkte er in einem weiteren, sinnlosen Versuch, Kyoyas Laune zu bessern.

Kyoya grummelte nur als Antwort.
 


 

37 Minuten später ...
 

Lautlos vor sich hin fluchend wischte Kyoya sich die esige Nässe vom Gesicht. Binnen kürzester Zeit hatte ein urplötzlich einsetzender Wolkenbruch seine Kleider vollständig durchweicht. Schwer klebten sie an seinem Körper, während der Regen wie mit winzigen Nadeln auf ihn einstach, hartnäckig versuchte, sogar noch unter seine Haut zu kriechen.

Bei jedem Schritt versanken seine Schuhe zentimetertief im Schlamm, der sich schmatzend an seinen Füßen festsaugte, als wolle er ihn mit schmierigen Fingern unter die Erde zerren.
 

Seine Brille war vom Regen so beschlagen, dass er kaum mehr etwas erkennen konnte, und so stolperte er halb blind neben Tamaki her, der sich von dem Unwetter in keinster Weise entmutigen ließ.

„Du solltest die Autoren dieser Geschichte nicht immer dermaßen provozieren“, murrte Kyoya halblaut. „Du weißt, dass man sie nicht auf dumme Ideen bringen soll.“
 

Tamaki, dessen Grinsen aus unerklärlichen Gründen noch immer nicht von seinem Gesicht gewaschen war, strahlte ihn an. „Das haben sie sicher nur gemacht, weil ich so unglaublich gut aussehe im Regen!“, quietschte er entzückt. „Regen ist übrigens sehr gut für den Teint. Solltest du nutzen, Kyoya, du machst in letzter Zeit einen etwas blassen Eindruck, mein Freund ...“

Kyoya presste fest die Kiefer aufeinander, um Tamakis Seidenteint nicht noch durch ein blaues Auge hervorzuheben – und hielt mitten in der Bewegung inne, als Tamaki so abrupt stehenblieb, dass Kyoya fast in ihn hineingelaufen wäre.

„V-vielleicht sollten wir lieber nicht hier langgehen“, stammelte der Trottel mit einem Gesichtsausdruck, aus dem plötzlich jeglicher Optimismus geflohen war.

„Was?“ Kyoya starrte ihn ungläubig an. „Wieso denn nicht?“
 

Tamaki war blass geworden. Er zitterte ein wenig, und Kyoya war nicht sicher, ob es nur von der Kälte kam. „Da ... da vorne ist eine Hütte, siehst du?“

Verstohlen blickte er zur Seite und sofort wieder weg, als stünde hinter den Bäumen ein besonders unliebsamer Bekannter, dem er nicht begegnen wollte.

Kyoya kniff die Augen zusammen und starrte stirnrunzelnd in die angegebene Richtung. Tatsächlich: Nur wenige Meter entfernt, mitten zwischen den Baumständen, war ein winziges Holzhäuschen zu erkennen.

„Ist doch perfekt, da können wir uns unterstellen!“ Hastig setzte sich Kyoya in Bewegung und stapfte zielsicher auf die Hütte zu. Zugegebenermaßen, überlegte er seufzend, es war ein wenig klischeehaft: zwei verirrte Wanderer im Wald, der Regen ... ein wie aus dem Nichts auftauchender Unterstand ...

Diese Shoujo-Manga-Autoren könnten sich wirklich mal etwas Neues einfallen lassen!
 

Aber egal ... Ihm war alles recht, wenn sie nur endlich aus diesem verdammten Regen herauskamen ...

„Kyoaaaa, warteeeee!“ Mit gedämpfter Stimme hielt Tamaki ihn zurück, zaghaft an seinem Ärmel zupfend.

„Was ist?“ Unwillig drehte sich Kyoya um.

„Mit solchen Hütten muss man wirklich vorsichtig sein“, zischte Tamaki, immer noch flüsternd. „Mein Vater hat mir da mal so eine Geschichte erzählt ... Von einem gutaussehenden, blonden, französischen Prinzen, der sich auf der Suche nach der Burg des Froschkönigs im Wald verirrt hat ... und weil er dabei aus Versehen auf die Rapunzel der Hexe getreten ist, hat sie ihn in ihr Lebkuchenhaus entführt ... und dort muss er nun in einem gläsernen Sarg schlafen, bis die Prinzessin ihn wachküsst!“ Er schauderte heftig. „In einem gläsernen Sarg, Kyoya ... ist das nicht schrecklich?“
 

Tief durchatmend schloss Kyoya für einige Sekunden die Augen, bis er sicher sein konnte, seine Reaktion wenigstens halbwegs unter Kontrolle zu haben. „Siehst du hier irgendwelche Rapunzeln?“, erkundigte er sich dann, mit einer Kaltblütigkeit, die ihn selbst erstaunte.

„Hmmm ...“ Leichte Verunsicherung schlich sich auf Tamakis Gesicht. „Ich glaube nicht ...“

„Dann komm endlich!“ Kyoyas Geduld war am Limit, unsanft packte er den Freund am Arm und zerrte ihn grob vorwärts.
 

Zumindest ein paar Meter weit. Dann verfing sich sein Fuß in einer Wurzel, strauchelnd suchte er mit der freien Hand nach Halt – und wäre der Länge nach im Schlamm gelandet, hätte Tamaki ihn nicht instinktiv aufgefangen.

Geschockt starrten sie einander für die Dauer mehrerer, hektischer Herzschläge lang an.

„Hoppla“, murmelte Tamaki, ein wenig nervös kichernd. „So etwas passiert dir doch sonst nie ...“

Kyoya antwortete nicht, halb erstarrt vor Verlegenheit. Heiß brannten Tamakis Hände auf seinen Schultern, trotz der Kälte, die der Regen unter seine Haut getrieben hatte. Dumpf schlug sein Puls dieser Berührung entgegen, unregelmäßig und flatternd wie die Flügel eines aus dem Nest gefallenen Vogeljungen.

Richtig ... So etwas passierte ihm sonst nie ...
 

Was war nur los mit ihm? Es war nicht seine Art, unvorbereitet eine Wanderung zu unternehmen ... Es war nicht seine Art zu stolpern, hinzufallen oder sich in irgendeiner Form ungeschickt zu benehmen ... Und schon gar nicht war es seine Art, sich hilflos im Wald zu verirren!

Jawohl, das musste es sein ... Es war dieser verfluchte Wald! Kyoya Otori lebte in einer geordneten Welt der technischen und kulturellen Errungenschaften. Diese ganze chaotische, ungezügelte Natur um ihn herum machte ihn noch ganz irre!

Apropos irre ...

„Du kannst mich jetzt loslassen, Tamaki“, nuschelte er mit einem schwachen Lächeln.
 

„Oh! Okay ... Entschuldige ...“ Eine sanfte Röte kletterte anmutig Tamakis porzellanfarbene Wangen empor, während er langsam, als wären sie festgeklebt, seine Finger von Kyoyas Schultern nahm.

Einen winzigen Moment lang wünschte sich Kyoya fast, er hätte es nicht getan. Sie waren so warm gewesen, diese Hände, fest hatten sie ihn gepackt, und doch ... gewiss waren sie weich ... und sanft ...

Hart schluckend würgte er das aufkeimende Herzklopfen in seiner Kehle hinunter.

„Komm, beeilen wir uns!“

Innerhalb weniger Minuten hatten sie die Hütte erreicht. Aus der Nähe betrachtet wirkte sie einladender als man hätte annehmen können, mit adretten, rot-weiß gemusterten Vorhängen an den Fenstern und bunten, ordentlich gepflegten Blumenbeeten außenherum.
 

„Siehst du“, bemerkte Kyoya beruhigend. „Keine Rapunzeln, keine Lebkuchen ...“

Tamaki schien nicht ganz überzeugt. Misstrauisch lugte er durchs Fenster, so vorsichtig, als könne die kleine Hütte unter seinem Blick jeden Moment explodieren. „Ob hier wohl jemand wohnt?“, fragte er skeptisch.

„Scheint jedenfalls niemand zu Hause zu sein“, stellte Kyoya nüchtern fest. Obwohl es mittlerweile fast dunkel war, brannte kein Licht im Inneren der winzigen Behausung. Niemand war zu sehen, und als er, sich selbst ein wenig albern vorkommend, an die mit Herzchenschnitzereien verzierte Tür klopfte, bekam er keine Antwort. Probeweise drückte er die in Form einer Rose gehaltene Klinke herunter – abgeschlossen, natürlich.

Wäre ja auch zu schön gewesen ...
 

„Tritt mal ein Stück zurück“, warnte er Tamaki, während er kurzentschlossen einen großen Stein vom Boden aufhob.

Er hatte genug von diesem Regen! Genug von diesem Wald! Genug davon, mit schmerzenden Sohlen durch Schlamm und Erdlöcher zu marschieren!

„KYYYAAAAAHHHH!“, quietschte Tamaki entsetzt, als der Freund den Stein beherzt durch die Scheibe warf, und eine Explosion winziger Splitter ins Innere der Hütte regnete. „Kyoya, bist du wahnsinnig?“
 

„Willst du lieber hier draußen erfrieren?“, gab der Japaner ungerührt zurück. „Wir haben keine andere Wahl.“ Kaltblütig zuckte er mit den Schultern. „Ich lasse dem Besitzer einen Scheck da. Keine Sorge ...“

Tamakis Augen waren vor Schreck so geweitet, dass sie nahezu aus den Höhlen zu quellen drohten. „A-a-aber, aber ... aber der Fluch!“, ächzte er mit sich überschlagender Stimme. „Der Fluch der Hexe!“

Kyoya, der bereits damit beschäftigt war, die verbliebenen Splitter mit einem Ast aus dem Fensterrahmen zu fegen, warf ihm ein gehässiges Grinsen zu.

„Sagtest du nicht, du siehst so gut aus, wenn es regnet?“, gab er in seinem liebenswürdigsten Tonfall zurück. „Wir werden gewiss eine Prinzessin finden, die dich wachküsst.“
 

Und im Notfall, fügte ein irrer, durch dieses ganze Abenteuer benebelter Teil seiner Gedanken hinzu, tue ich es eben selbst ...

Das Hexenhäuschen

Sooo, neues Kapitel xD Danke für eure Kommis und die Favoriteneinträge! Das bedeutet mir echt viel ^^

Und ich hoffe, ihr habt Spaß an diesem Kappi, auch wenn sich (noch) nicht so wahnsinnig viel tut ...
 

**********
 

Das Innere der Hütte war erstaunlich sauber und behaglich eingerichtet. Schlicht, aber einladend.

Verwundert blickte Kyoya sich um. Fast der gesamte Raum wurde von einem großen, europäischen Bett eingenommen, an der Wand gab es noch einen Schrank und eine altmodische Kommode. Gegenüber einen rustikalen Kamin und ein winziges Holztischchen mit zwei Stühlen.

Alles wirkte gepflegt, ordentlich und rein, aber verlassen. Das Bett war nicht bezogen, es lag keine Asche im Kamin.
 

Wenn hier tatsächlich jemand wohnte, dann musste er schon länger nicht mehr hier gewesen sein. Wer aber kümmerte sich dann um die Blumenbeete draußen?

Eigenartig ... Was war das nur für eine Hütte? Die Unterkunft eines Jägers? Ein Forsthaus?

Kopfschüttelnd drängte Kyoya die Fragen beiseite. Egal ... Wichtig war nur, dass sie endlich ein trockenes Plätzchen gefunden hatten.
 

Apropos trocken ... Suchend öffnete er die Schubladen der Kommode, und tatsächlich: Schon in der zweiten wurde er fündig und zerrte mit vor Kälte klammen Fingern ein flauschiges, nach Lavendel und Rosen duftendes Handtuch heraus.

Eine heiße Dusche wäre ihm zwar eindeutig lieber gewesen, aber immerhin ...

Sich das pitschnasse Haar rubbelnd wandte er sich endlich wieder zu Tamaki um, der noch immer draußen im Regen stand und den er – wie er sich schuldbewusst eingestehen musste – während der letzten Sekunden beinahe vergessen hatte.

Wollte der Trottel etwa ewig dort draußen stehen bleiben? Fürchtete er sich wirklich so sehr oder drückte er damit nur seine Missbilligung über Kyoyas rabiates Verhalten aus?
 

Einen Moment lang spielte Kyoya ernsthaft mit dem Gedanken, es herauszufinden, dann jedoch regte sich etwas in seinem Inneren, das andere vielleicht als Mitgefühl bezeichnet hätten, das ihm selbst jedoch verdächtig nach einer Schwäche aussah.
 

„Tamaki“, bemerkte er in seinem liebenswürdigsten Tonfall und beugte sich lächelnd durch das zerstörte Fenster hinaus. „Habe ich dir eigentlich schon gesagt, dass dir meine Jacke viel besser steht als mir? Wirklich, du siehst ganz phantastisch darin aus!“

Er hatte gesehen, wie der Idiot derlei Sprüche bei den Mädchen anwandte – und er war sicher, Tamaki selbst war keineswegs immun dagegen.

Die Rechnung ging auf.
 

Wie erwartet breitete sich ein Strahlen in Tamakis Augen aus, als hätte irgendjemand in seinem Kopf die Weihnachtsbeleuchtung angestellt – dort, wo sich bei anderen Menschen üblicherweise das Großhirn befand.

„Wirklich?“, vergewisserte er sich aufgeregt. „Ja, das habe ich mir auch schon gedacht!“ Er lachte begeistert, ohne jede Spur von Verlegenheit.

„Aber weißt du ...“, meinte Kyoya gedehnt. „Deine blau gefrorenen Lippen passen nicht ganz dazu. Du solltest besser reinkommen, findest du nicht?“
 

„Hmmm ...“ Tamaki schien allen Ernstes darüber nachdenken zu müssen, doch immerhin hatte Kyoya sein Ziel erreicht: Der Schwachsinn mit der Hexe schien vergessen, ebenso der Groll auf den Freund.

„Komm schon“, grummelte Kyoya, ein wenig ungeduldig. „Du holst dir noch eine Erkältung, und mit fiebrigen Augen und Triefnase siehst selbst du nicht mehr gut aus!“

Das saß.
 

Hastig, wenn auch mit einem Blick, der eine Eisskulptur zum Weinen hätte bringen können, kletterte der Trottel durch das Fenster in die Hütte hinein.

Kyoya ließ sich sogar dazu herab, ihm freundlich die Hand hinzustrecken, um ihm zu helfen, doch der eingeschnappte Franzose ignorierte sie geflissentlich.

Mit einer Eleganz, die Kyoya ihm kaum zugetraut hätte, sprang er vom Fensterbrett ins Innere der kleinen Behausung – und verzog schmerzhaft das Gesicht.

„Was ist?“, fragte Kyoya hastig, undbewusst zusammenzuckend. „Hast du dich geschnitten?“
 

„Nein.“ Ein mattes Lächeln huschte über Tamakis Züge, vielleicht war es auch eine Grimasse. „Ich... ich habe nur Blasen an den Füßen, das ist alles.“

„Hmmm ...“ Kyoya grinste boshaft. „Weißt du, normalerweise zieht man zu einer Wanderung auch keine neuen Schuhe an“, bemerkte er gehässig, obwohl ihm selbst die Sohlen brannten. „Hier!“ Lässig warf er dem Freund ein Handtuch über den Kopf, und weil der nur traurig aus der Wäsche guckte, begann er vorsichtig, die tropfnassen Strähnen trocken zu reiben, die nun wirr über Tamakis blasse Stirn hingen.
 

Nass wirkten sie ein wenig dunkler als sonst, doch sie hatten ihren Glanz nicht verloren. Gedankenverloren wickelte Kyoya sich eine davon um den Finger. Glatt und seidig war sie, bestimmt fühlte sie sich weich an, wenn sie trocken war, diesen eigenartigen Geruch verströmend, den er schon vorher an Tamaki wahrgenommen hatte.

Nach Frühling und Sonne und Blüten und Meer ...

Unwillkürlkich hielt er inne.

Was zum Teufel tat er da überhaupt?

Hastig zuckte er zurück.

Konnte der Idiot sich nicht selbst abtrocknen?
 

Mit vor Verlegenheit heftig pochendem Herzen wandte er sich ab, durchsuchte, nur um Tamaki nicht sein glühend heißes Gesicht zeigen zu müssen, den Schrank und holte triumphierend einen Stapel von Decken heraus.

Wunderbar! Zumindest würden sie heute Nacht nicht erfrieren ...
 

Langsam setzte sein umnebelter Verstand wieder ein. Die Kälte, genau ... Er musste irgendetwas tun, um die Kälte draußen zu halten! Eifrig wandte er sich dem zerbrochenen Fenster zu, vor dem noch immer der Regen prasselte. Schnell, seine Hände in krampfhafter Bewegung haltend, damit sie sich nur ja nicht wieder in Tamakis Nähe verirrten, befestigte er eine der Decken vor dem Fensterrahmen und schloss die Läden. Eine etwas improvisierte Lösung, aber wenigstens würde es den Wind abhalten und ...
 

Mit einem unterdrückten Aufschrei zog er die Hand zurück. Autsch! Ein kleiner, reißender Schmerz schoss durch seinen Finger, gleich darauf spürte er es warm über seine Haut rinnen. Blut tropfte rhythmisch trippelnd auf den hölzernen Fußboden.

„Oh, Kyoya, du hast dich ja verletzt!“ Erschrocken riss Tamaki die Augen auf. „Zeig mal!“
 

„Ist nicht so schlimm, nur ein kleiner Schnitt ...“ Abwehrend wollte Kyoya die Hand wegziehen, doch der Freund war schneller.

Besorgt packte er den Japaner am Gelenk, betrachtete einen Moment lang bekümmert die blutende Schnittwunde – und steckte sich kurzerhand Kyoyas Finger in den Mund.

Der Freund erstarrte vor Schreck.
 

Warm und weich schlossen sich Tamakis Lippen um seinen Zeigefinger, sanft saugte er an dem blutenden Schnitt, behutsam leckte seine feuchte Zunge über die Wunde.

Kyoyas Herz begann zu pochen, dann zu rasen. Ein kalter Schauder jagte über seinen Rücken, während ihm gleichzeitig Hitze in die Wangen stieg.

„Bist du ... bist du bescheuert?“, flüsterte er schwach und fühlte, wie eine unerklärliche Schwäche sich vom Herzen aus in seinem Körper ausbreitete.

Schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen. Seine Füße schienen den Kontakt zum Boden verloren zu haben.
 

„Das macht man so, um die Blutung zu stoppen“, erklärte Tamaki ungerührt, tat Kyoya aber immerhin den Gefallen, seine Lippen von dessen Finger zu nehmen. „Meine Mutter hat das bei mir auch immer getan, wenn ich mich geschnitten habe.“ Er lächelte wehmütig. „Siehst du!“ Triumphierend führte er dem Freund dessen eigene Hand vors Gesicht. Kyoya fand noch nicht einmal die Kraft, sein Handgelenk loszureißen. „Es blutet schon nicht mehr ...“

Kyoya schnaubte verächtlich, hatte sich endlich genug gesammelt, um sich zu befreien und knurrte böse: „Was bist du? Ein Vampir oder was?“ Ärgerlich funkelte er den Freund an. „Lass diesen Unsinn bloß sein, du perverser Irrer!“
 

„Per...verser?!“ Schlagartig wich jeder Hauch von Farbe aus Tamakis Gesicht. „Du bist so gemein, Kyoya!“ Mit zitternden Lippen und glitzernden Tränen in den Augen verschwand er in der einzigen freien Ecke, die die winzige Hütte zu bieten hatte.

Leise mischte sich ein unterdrücktes Schluchzen in das trommelnde Geräusch des Regens vor der Tür.
 

Verdammt! Vielleicht war er diesmal wirklich ein wenig zu hart gewesen? Seufzend biss sich Kyoya auf die Lippen. Aber er brachte es nicht über sich, sich jetzt zu entschuldigen, schaffte es nicht einmal, das heulende Elend in der Ecke auch nur anzublicken.

Was war nur los mit ihm? Wieso brachten ihn die Verrücktheiten dieses Spinners nur derart aus dem Konzept?

Er hatte keine Lust, darüber nachzudenken. Sie hatten sowieso dringendere Probleme!
 

Tief durchatmend rückte er seine Brille zurecht und wandte sich mit erzwungener Ruhe dem Kamin zu. Ein Feuer ... Sie brauchten ein Feuer, damit es warm wurde in der Hütte, und sie ihre Kleidung trocknen konnten.

Fahrig begann er, erneut in der Kommode zu wühlen und den Schrank zu durchsuchen, aber erst in einer Schublade unter dem Tisch wurde er fündig und förderte erleichtert eine Schachtel Streichhölzer und eine Handvoll Kerzen zu Tage. Die Kerzen entzündete er gleich, und sie erfüllten die Hütte augenblicklich mit einer behaglichen, orangefarbenen Helligkeit.
 

Mit dem Kamin hatte er größere Probleme.

Mehr oder weniger wahllos stapelte er Brennholz in die Öffnung und stopfte das Zeitungspapier dazu, das er praktischerweise gleich neben der Kiste mit dem Holz fand.

Das Papier entflammte schnell, die Holzscheite jedoch wollten und wollten einfach kein Feuer fangen.
 

Na toll, dachte Kyoya genervt, während er angestrengt einen Fluch auf den Lippen zerbiss. Er war schließlich auch kein Pfadfinder, verdammt nochmal!

„Du darfst am Anfang nicht so große Stücke nehmen“, kam es da aus der hintersten Ecke der Hütte, gedämpft und ein wenig wackelig. „Du musst die Flamme erst mit schmalen Spänen füttern.“
 

Langsam, zögerlich, wie ein neugierig aus der Höhle hervorschnupperndes Kaninchen kroch Tamaki aus seiner Ecke, griff nach einigen kleineren Holzstückchen und begann eifrig, das Brennmaterial im Kamin neu zu arrangieren.

Innerhalb kürzester Zeit hatte er ein passables Feuer entfacht, das munter im Kamin vor sich hinknisterte.

Kyoya starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an. „Woher ... woher kannst du sowas?“, fragte er verblüfft.
 

Mit einem leichten Schulterzucken erwiderte Tamaki seinen Blick. Noch immer waren seine veilchenfarbenen Augen von glitzernden Tränenperlen umkränzt, die im Feuerschein leicht silbrig schimmerten.

Kyoya musste den Blick abwenden, um nicht schon wieder diese seltsame, unerklärliche Hitze in seinen Wangen spüren zu müssen.
 

„Meine Mutter hatte einen Kamin in ihrem Schlafzimmer in Frankreich“, erklärte Tamaki leise, nun selbst die Lider senkend. Abwesend starrte er in die Flammen.

Er sprach nicht oft über seine Mutter. Dass er es jetzt dennoch tat, hinterließ ein seltsam krampfendes Gefühl in Kyoyas Brust, und um es zu vertreiben fragte er bewusst grob: „Und hattet ihr keine Dienstboten, die so etwas erledigt haben?“

„Doch, sicher ...“ Tamaki wandte den Blick nicht vom Feuer ab. Seine Augen waren leer und entrückt, das Gesicht ernster als sonst. „Aber manchmal ist es schön, wenn man auch mal etwas selbst tun kann, weißt du?“ Seine Stimme klang rau und fremd. „Wenn es jemanden gibt, für den man es tun kann.“
 

Kyoya war nicht sicher, ob er verstand, was er meinte. Sich kümmern ... sich um jemanden sorgen ... für jemanden sorgen ...

Das waren Dinge, die ihm fremd waren, die außerhalb seiner Welt lagen.

Er wusste nur, in jenem Moment, da Tamaki mit diesem ungewohnt melancholischen Ausdruck neben ihm saß, da hatte er zum ersten Mal das Bedürfnis, dem Freund die Hand auf die Schulter zu legen, ihn in die Arme zu nehmen, ihn zu trösten.

Aber natürlich tat er es nicht.
 

So saßen sie eine Zeitlang schweigend vorm Kamin, während draußen die Nacht voranschritt und ihre Kleider langsam am Körper trockneten.

„Glaubst du, es gibt Wölfe in diesem Wald?“, meinte Tamaki plötzlich, in die Stille hinein. „Oder Bären?“
 

Kyoya war beinahe dankbar, dass er endlich das Schweigen brach. „Keine Ahnung“, gestand er schulterzuckend. „Aber keine Sorge: Das Feuer wird sie schon abhalten.“ Fast gegen seinen Willen schlich sich ein Lächeln auf seine Lippen.

„Hmmm ...“ Tamaki starrte wieder in die Flammen, deren flackernder Widerschein auf seinem blassen Gesicht tanzte. „Und was, wenn wir nie wieder hier herausfinden werden?“, murmelte er angstvoll. „Was dann, Kyoya?“

Plötzlich hellte sich seine Miene auf. „Oh, ich weiß!“ Von einer Sekunde auf die nächste war da wieder der übliche, irre Enthusiasmus. „Dann sammeln wir Pilze und Beeren und züchten wilde Tiere und ...“
 

Kyoya lachte leise, ausnahmsweise einmal froh über Tamakis Launenhaftigkeit. „Das wird nicht passieren“, erklärte er, mühsam beherrscht. „Bestimmt sucht schon jemand nach uns. Und irgendwem muss diese Hütte hier ja auch gehören. Sicher wird er uns bald finden. Um die Blumen draußen muss sich ja auch jemand kümmern.“

Wem wollte er damit eigentlich Mut machen?, fragte er sich unwillkürlich. Tamaki – oder vielleicht doch sich selbst?
 

Eine Nacht allein im Wald ... Leise schlich sich ein Schauder über seinen Rücken. Ein wenig fürchtete er sich, das musste er zugeben. Doch natürlich hätte er es niemals laut ausgesprochen.

„Schade“, murmelte Tamaki gegen jede Vernunft ein wenig enttäuscht. „Eigentlich ist es recht hübsch hier, nicht?“

Strahlend blickte er sich um – in der Hütte, die er vor nicht allzu langer Zeit noch nicht einmal hatte betreten wollen.
 

Launisch wie das Wetter im April ... und von einem Optimismus erfüllt, der nahezu an Idiotie grenzte ... ja, das war typisch Tamaki, eindeutig. Kyoya lächelte versonnen. Vielleicht war es gar nicht so schlecht, in einer Situation wie dieser ausgerechnet einen Verrückten wie Tamaki an seiner Seite zu haben ...

Aber natürlich hätte er auch das niemals laut ausgesprochen.
 

„Hmmmm“, machte er stattdessen unschlüssig. „Es gibt nur ein Problem, weißt du?“

„Ach ja?“ Fragend rutschte eine von Tamakis weizenfarbenen Brauen ein Stück weit nach oben.

Kyoya ließ den Blick demonstrativ durch den Raum schweifen. „Wir haben nur ein Bett“, erklärte er dann nüchtern.
 

„Oh.“ Beinahe augenblicklich wurde die Bestürzung auf Tamakis Gesicht von einem erneuten Strahlen abgelöst. „Das macht nichts!“, zwitscherte er übermütig. „Zu Hause schlafe ich auch immer mit Antoinette in einem Bett, das geht schon, wenn man ein bisschen zusammenrückt!“
 

Kyoya erstarrte ein wenig. Das war es nicht, was er gemeint hatte. Aber er verzichtete vorsichtshalber darauf, den Idioten darüber aufzuklären ...
 

**********
 

Vielen Dank an alle, die noch dabei sind ^^

Und über Kommis würd ich mich natürlich riesig freuen ... xDDD

Eine unruhige Nacht

Oh je, oh je, sorry, das letzte Update ist ja wirklich eeeewig her *schäm* Ich hoffe, ihr habt diese kleine Story hier noch nicht ganz vergessen >.< Aber wenigstens hab ich eine gute Entschuldigung ^^ Ich hab in der Zwischenzeit eine meiner Geschichten bei einem Verlag veröffentlicht und das war zwar ziemlich toll, aber auch mega viel Arbeit.

Vielleicht habt ihr ja Lust, euch das Buch mal anzugucken? Hat nichts mit dem Host Club zu tun, aber ich würd mich riesig freuen, wenn ihr mal vorbeischaun würdet:
 

http://www.julia-kathrin-knoll.de/DieKinderLiliths.html
 

Danke euch xD So, jetzt aber genug gelabert, hier kommt das nächste Kappi ... Ich hoffe, ihr habt Spaß daran ^^
 

*********
 


 

„Kyoyaaaa“, wisperte Tamaki gedämpft in das vom tanzenden Feuerschein nur spärlich zersetzte Dunkel hinein und stellte zum wiederholten Mal eine der dämlichsten Fragen in der Geschichte der menschlichen Kommunikation: „Schläfst du schon?“
 

„Nein“, gab Kyoya mit einer Engelsgeduld, von der er gar nicht gewusst hatte, dass er sie überhaupt besaß, halblaut zurück. „Und wenn du alle dreißig Sekunden fragst, wird das wohl auch nicht passieren.“ Ein wenig unterkühlt fügte er hinzu: „Davon abgesehen: Du respektierst die Grenze nicht.“

Demonstrativ rückte er das Kissen zurecht, das er in der Mitte des Bettes platziert hatte, um ihrer beider Hälften deutlich voneinander abzutrennen.

„Tschuldigung“, murmelte Tamaki kleinlaut, rutschte umständlich ein Stück Richtung Bettkante und rollte sich dort zusammen, Kyoya den Rücken zuwendend. Dass er dabei einen Großteil ihrer einzigen, noch verbliebenen Decke mit sich zerrte, schien er nicht zu bemerken.
 

Kyoya biss genervt die Kiefer aufeinander. „Schlaf jetzt“, zischte er grob, durch die Zähne hindurch. „Und halt endlich die Klappe!“

„Okay ...“ Ein leises Schniefen folgte, das noch kein Schluchzen war, aber vielleicht eines werden wollte, dann jedoch war es tatsächlich still.

Beinahe zumindest.

Aus weit aufgerissenen Augen starrte Kyoya ins flackernde Halbdunkel über sich. Regentropfen klopften rhythmisch gegen das Dach, ihre eigene Melodie trommelnd, während der Wind heulend dazu sang. Irgendwo scharrte ein Ast gegen die dünnen Wände der Hütte. Ein Nachtvogel schrie trotz des Unwetters in die Dunkelheit hinein.
 

Wer je behauptet hatte, mitten in der Natur sei es ruhig und friedlich, musste ein Volltrottel gewesen sein – oder schwerhörig, überlegte Kyoya seufzend.

Irgendwie schon ein wenig unheimlich ... Wer vermochte schon zu sagen, was sich dort draußen in der Nacht verbarg?

Was war das überhaupt für ein seltsames Geräusch, das sich da unter das Knacken des Feuers mischte, zitternd wie aneinanderschlagendes Porzellan, wenn ein Erdbeben den Küchenschrank wanken ließ?
 

„Klapperst du ... mit den Zähnen?“, fragte Kyoya verblüfft, obwohl er gerade selbst noch Schweigen geboten hatte.

„Hmmmm ...“

„Fürchtest du dich wirklich so sehr?“ Ungläubig wandte er sich dem schlotternden Elend zu, das da eingerollt neben ihm lag.

„Nein, das ist es nicht ...“, kam es halblaut zurück, ein wenig erstickt und gedämpft. Heulte der Kerl etwa schon wieder? „Es ist nur ... ich vermisse Antoinette und Kuma-chan und ... und mir ist so ka-a-a-alt ...“

Tatsächlich zitterte er jetzt so heftig, dass das ganze Bett in schaukelnde Bewegung zu geraten drohte.
 

Na großartig, seufzte Kyoya in sich hinein. Wenn das so weiterging, würde er hier auch noch seekrank werden ...

Kurzentschlossen zerrte er das Kissen zwischen ihnen beiden beiseite, legte, nicht eben sanft, einen Arm um den bebenden Körper neben sich – und drückte ihn fest an sich.

Er spürte, wie Tamaki unter dieser überraschenden Nähe erstarrte, das Zittern jedoch hörte fast augenblicklich auf.

„K-Kyoaaaa, was ...?“
 

„Bild dir ja nichts drauf ein“, knurrte Kyoya schroff, noch bevor der Freund etwas Dummes sagen konnte. „Das ist nur wegen der Kälte, verstanden?“

„Verstanden.“ Das kam leise und zögerlich, trotzdem konnte Kyoya spüren, wie sich Tamakis Körper entspannte, ja, er schien sich sogar ein wenig an ihn zu schmiegen, ganz ohne Bewegung, wie zwei getrennte Teile eines Ganzen, die sich völlig natürlich, ohne jedes Zutun, wieder ineinander fügten.

Unwillkürlich spürte Kyoya eine Woge erstickender Hitze durch seine Adern jagen. Was waren das nur für Gedanken?
 

Sie tauschten nichts als ein wenig Körperwärme aus, in einer Situation wie dieser war das ja wohl nur verständlich. Besser als zu erfrieren ... Eine Überlebensmaßnahme, nichts weiter. Es war nur logisch.

Und trotzdem bereute er es sofort wieder.

Tamaki neben ihm war ganz still geworden, gab keinen Laut mehr von sich. Ob er schon eingeschlafen war? Konnte man dermaßen schnell, von einer Sekunde auf die nächste, von Schlaf übermannt werden?

Und überhaupt: Wie konnte der Idiot nur so schlafen?
 

Kyoya selbst wusste mit absoluter Gewissheit, dass er in dieser Nacht kein Auge mehr zutun würde.

Wild hämmerte ihm das Herz gegen die Rippen, unruhig wie ein eingesperrter Tiger, der sich immer wieder gegen die Gitterstäbe seines Käfigs warf – ohne sie je durchbrechen zu können. In seinem Kopf drehte sich alles, jeder einzelne Muskel in seinem Körper schien angespannt, kurz davor zu zerbersten. Er wagte nicht, sich zu rühren, nicht um einen Millimeter.

Krampfhaft lauschte er auf Tamakis Atemzüge, den eigenen Atem in den Lungen gefangenhaltend.
 

Sie kamen kurz und abgehackt, stoßweise.

Nein, er schlief nicht, der Idiot, er ... er schluchzte.

Geschockt zuckte Kyoya zusammen. Dieses Weinen war anders als Tamakis übliches Geheule, an das Kyoya sich beinahe schon gewöhnt hatte. Fast lautlos schien es, unterdrückt. Er wollte nicht, dass der Freund es bemerkte.

Die Erkenntnis traf Kyoya wie ein Eiszapfen in die Brust.
 

Was habe ich nur getan? Was ist nur an mir, dass ich ihn ständig zum Weinen bringe wie ein beständiger Nieselregen, der ein allzu enges Glasgefäß ganz langsam, aber unaufhaltsam zum Überlaufen zwingt?

Hastig wollte er zurückweichen, doch er war unfähig, sich zu bewegen, und so fragte er nur leise, angstvoll: „Tamaki, was hast du denn?“

„Nichts“, schniefte der Freund.
 

Kyoya schnaubte verächtlich, machte sich nicht einmal die Mühe, diese allzu offensichtliche Lüge auch nur einer Antwort zu würdigen.

„Ich ...“ Tamaki schien zu zögern, nach Worten zu suchen. Umständlich wandte er sich zu Kyoya um, eine Bewegung, die diesen endlich dazu veranlasste, seinen Arm zurückzuziehen. Verlegen setzte er sich im Bett auf und zog die Knie an den Körper wie um sie als Schutzwall zwischen sich und Tamaki aufzubauen.

Seine Wangen glühten noch immer, diesmal jedoch eindeutig vor Scham.

Tamaki blickte aus Augen, die im Widerschein des Kaminfeuers übernatürlich groß und dunkel wirkten, zu ihm auf, dann endlich platzte es aus ihm heraus: „Kyoya, ich bin einfach so glücklich!“
 

Mit einem Satz sprang er auf und warf sich dem völlig überrumpelten Japaner an den Hals. „Weißt du, als wir uns kennen gelernt haben, da dachte ich immer du ... du magst mich vielleicht gar nicht. Ich weiß, das ist ein völlig absurder Gedanke ...“, er kicherte leise vor sich hin, „schließlich mag mich einfach jeder, aber ... na ja, du warst immer so zurückhaltend, und manchmal dachte ich, du findest mich wohl irgendwie komisch ...“ Wieder so ein kleines, fast ungläubiges Lachen. „Aber jetzt ...“ Strahlend vor Freude blinzelte er den Freund an. „Du magst mich also doch!“

Triumphierend drückte er Kyoya noch fester an sich.
 

Ächzend nach Luft schnappend ließ dieser sich einfach nach hinten fallen, was keine gute Idee war, denn statt loszulassen landete Tamaki nun über ihm, sein warmer Körper schwer gegen Kyoyas gepresst, sein Gesicht so nah über dem seinen, dass die blonden Haarsträhnen sacht Kyoyas Stirn kitzelten.

Sanft streichelnd wehte sein Atem über Kyoyas Haut hinweg, süßer als von Blütenduft schwerer Frühlingswind. Seine Lippen zitterten ein wenig, leicht geöffnet wie bei einem staunenden Kind, die Augen weit aufgerissen, als wolle das tiefe Blau Kyoya einfach verschlingen.
 

Und Kyoya wollte in diesem Moment nichts mehr als sich verschlingen zu lassen, wollte eintauchen in diesen Blick, sich ganz tief hineinstürzen in dieses schwindelerregende Meer von Azur und Violett.

Gleichzeitig zuckte er fast angstvoll davor zurück.

Geh von mir runter, du Idiot!, kreischte jede einzelne Faser seines Verstandes. Haub ab! Lass mich endlich in Ruhe!

Doch sein Körper hatte den Verstand längst verraten. Instinktiv reagierte er auf die Nähe des Freundes, gierte mit jedem pochenden Herzschlag danach, endlich die Kontrolle zu übernehmen.

Und so geschah es.
 

Grob, fast wütend, stieß er Tamaki von sich, nur um ihn seinerseits nach unten zu drücken, tief in die Matratze hinein. Keuchend neigte er sich über ihn, zögerte einen winzigen Augenblick lang – und presste dann wild seine Lippen auf die des Freundes.

Er hätte damit gerechnet, dass der Franzose protestierte, ihn anschrie, weinte, irgendetwas ...
 

Aber stattdessen erwiderte er den Kuss nur, erst zögernd, nach Atem ringend, dann immer heftiger, fordernder.

Vielleicht war es das, was Kyoya mit einem Schlag wieder zur Besinnung brachte.

Ruckartig löste er sich von dem Freund, den Blick gesenkt, sein Pulsschlag bis in die Fingerspitzen klopfend.

„Ich ... es tut mir leid ...“, flüsterte er lautlos, und seine eigene Stimme klang fremd in seinen Ohren.

Was geschah bloß mit ihm? Was hatte er getan?
 

„Wofür entschuldigst du dich?“, fragte Tamaki sanft. Behutsam strichen seine Finger über Kyoyas Rücken, sachte, als wolle er ihn trösten. Oder ermutigen.

„Hör auf“, zischte Kyoya schwach, obwohl jede einzelne dieser Berührungen heiße Schauder durch seinen Körper jagte, jeder einzelne Quadratzentimeter seiner Haut bebend danach verlangte.

Tamaki richtete sich auf, ohne die Hände von seinem Rücken zu nehmen, und plötzlich war er wieder so gefährlich nahe, so nahe, dass Kyoya fast seinen Herzschlag zu spüren glaubte, hektisch und unregelmäßig und laut.

Oder war es sein eigener?
 

Plötzlich begann Kyoya heftig zu zittern. Wild schüttelte es seinen ganzen Körper, etwas wie ein Schluchzen keimte in seiner Brust auf – und erstickte stolpernd in seiner Kehle.

„Warum tust du das?“, fragte er mit zersplitternder Stimme, und das Schluchzen entlud sich in einem fast hysterischen Lachen. „Warum tust du mir das an, du verdammter Idiot!“

Fahrig presste er die Hand gegen die Stirn, als könne er so seine wirr ineinander einstürzenden Gedanken sortieren. „Bevor ich dich traf, war mein Leben geordnet und ruhig ... und ... und jetzt?“ Er lachte wieder, unsicher, ob er nicht eigentlich schreien wollte. „Was hast du nur aus mir gemacht?“
 

Anklagend starrte er seine eigenen Hände an, die Hände, die sich so sehr danach sehnten, über Tamakis weiche Haut zu streichen, seinen Körper zu erkunden, Dinge zu tun, die Kyoya vor Scham das Blut in den Adern stocken ließen.

„Niemand kann etwas aus dir machen, das du nicht selbst bist“, erklärte Tamaki leise, ernster als gewöhnlich und mit einem sanften, fast traurigen Lächeln. „Nicht solange du es nicht zulässt. Also wogegen kämpfst du an? Wovor hast du Angst?“
 

Er hörte auf, Kyoyas Rücken zu streicheln, ließ stattdessen die Finger langsam über seine Brust wandern, spielte mit den Knöpfen an seinem Hemd – und öffnete sie, einen nach dem anderen.

„Lass das“, flüsterte Kyoya, nicht wirklich überzeugend.

Tamaki hörte nicht auf ihn. Seine Finger zitterten, seine Augen blickten fragend, aber er hielt nicht inne, zögerte nicht.

Er hat auch Angst, begriff Kyoya plötzlich und machte einen halbherzigen Versuch, Tamakis Hände von seinem Körper zu pflücken. Aber er ist viel stärker als ich. Er ist es immer gewesen ...
 

„Hör auf“, bat er, beinahe verzweifelt, während der letzte Knopf lautlos unter Tamakis Händen nachgab.

„Aber du willst es doch ...“ Tamakis Stimme war nur ein Wispern, direkt neben Kyoyas Ohr. Eigentlich spürte er mehr seinen Atem gegen seine Haut klopfen als die Laute in seinem Kopf.

„Ich kann nicht“, flüsterte Kyoya gequält. „Ich kann das einfach nicht ...“

Und doch streckten sich seine Hände fast von selbst dem Freund entgegen, wollten ihn an sich pressen, ihn nie wieder loslassen. Aber er verharrte nur Zentimeter bevor er die Bewegung zu Ende führen konnte.
 

„Ist es denn so schwer, mein Freund?“, fragte Tamaki leise. „Einfach nur das zu tun, was du willst? Und nicht das, was man von dir erwartet? Einfach nur du selbst zu sein?“

„Halt die Klappe!“, zischte Kyoya ihn an. „Sei endlich still, du Mistkerl!“

Doch es war Tamaki, der ihn zum Schweigen brachte, nicht umgekehrt. Schnell drückte er ihm einen Kuss auf den Mund, als wolle er alle Zweifel aus ihm heraussaugen.

Und diesmal wehrte Kyoya sich nicht mehr.
 

Fest presste er den Körper des Freundes an sich, ineinander verschlungen sanken sie aufs Bett, und nur Tamaki und der Wald wurden Zeuge, wie Kyoya Otori zum ersten Mal in seinem Leben den Verstand verlor und all das, was er so fest in seinem Inneren verschlossen geglaubt hatte, einfach frei ließ ...
 

*********
 

Sorry, es war ziemlich absehbar, dass so etwas passieren würde, nicht? Irgendwie enthält diese Story wohl keine großen Überraschungen *heul*

Ich hoffe natürlich, euch hat es trotzdem ein bisschen gefallen ...

Für mich selbst war das Kapitel ganz schön schwierig. Wenn ich ehrlich bin, kann ich mir gerade bei Tamaki nämlich gar nicht richtig vorstellen, dass er überhaupt mal Sex hat >.<

So unschuldig wie er immer tut ... xD Andererseits musste ich immer dran denken, wie er gegenüber Honey den Verführer gespielt hat. Da ging es natürlich nur um Süßigkeiten, aber trotzdem ...

Na ja, jedenfalls würd ich mich über Kommis total freuen ^^

Und danke für’s Lesen xD



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Kommentare zu dieser Fanfic (5)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Einzelfall
2016-06-18T20:49:01+00:00 18.06.2016 22:49
Hallö, ich bezweifle irgendwie ob dich mein Review noch erreicht, aber ich schreibe trotzdem eines.

Ich bin froh diese FF gefunden habe. Hauptsächlich lese ich nur englische, wollte aber mal wieder in die deutschen blicken.
Du hast die beiden perfekt in Charakter geschrieben und die Situation auch einfach nur unfassbar schön beschrieben *-*

Da du anscheinend ein Buch rausgebracht hast (Respekt), weißt du wohl selber das du unglaubliches Talent im schreiben hast und mein Kommi wird wohl von nicht großem Wert sein, dennoch, unter allen, die ich jetzt gelesen habe (englische vor allem) ist das meine Lieblingsfanfic.

Danke für hochladen :)

und einen wunderschönen Tag
Von:  Shunya
2012-07-01T19:34:45+00:00 01.07.2012 21:34
Hui, 50%, dann haben wir jetzt wohl Halbzeit. :D
Schicke Hütte, hauptsache es ist genug Platz für das große Bett! Muahahaha..XD lol
Kyoya weiß echt gut, wie er mit Tamaki umzugehen hat. Der Blondschopf ist aber auch leicht zu durchschauen. ;P
Ich dachte erst Tamaki ist umgeknickt beim Sprung. XD lol
Der Junge überrascht mich aber auch immer wieder!
Tja, leider bringen selbst alte Schuhe nicht viel, wenn man stundenlang durch die Gegend latschen muss. *nodnod* <.<
Nach Frühling und Sonne und Blüten und Meer ... <- nicht nach Shampoo? XD lol
Ach die Kälte, die legen sich zusammen ins Bett und kuscheln sich eng aneinander, dann geht das schon. ^.~
Würg, wenn das Blut schon auf den Boden tropft, würde ich den Finger nicht noch in den Mund nehmen. Hahahaha Vielleicht sollte er das nächste Mal doch lieber ein Tuch nehmen. Hahahaha XD
Genial! Tamaki wird wieder theatralisch! Das liebe ich so an ihm! :D
Na, da hat Tamaki sich aber wieder schnell gefangen. Er kann echt niedlich sein. >.<
Schade, dass Kyoya nicht einfach mal über seinen Schatten springt und Tamaki in die Arme nimmt. Wird ihm bestimmt gefallen. XD
Hahaha...Tamaki hat vielleicht eine Fantasie. Der kommt immer wieder auf die ulkigsten Ideen. ;P
So genial! Tamaki stört sich gar nicht daran, mit Kyoya im Bett zu schlafen. Ui, das wird noch ein Chaos im nächsten Kapitel. Bin mal gespannt, ob Kyoya sich dann mal traut, Tamaki etwas näher zu kommen. >.<
Von:  Shunya
2012-07-01T17:13:45+00:00 01.07.2012 19:13
Wow, das Kapitel fängt ja mal richtig genial an!!! XD lol *lachflash*
Gerade mit Tamaki an meiner Seite, würde ich erst recht totale Angst haben. XD
So wie Kyoya sich gerade fühlt, müssen sie eine halbe Ewigkeit durch die Wildnis geirrt sein. 45 Min. sind schon ziemlich lang. Der Ärmste. ;P
Jetzt sind sie auch noch klatschnass. Das wird wirklich immer beser. :D
Regen? Ich dachte Schlamm soll gut für den Teint sein? XD
...mitten zwischen den Baumständen... <- Baumstämmen
Ah, jetzt verstehe ich auch, warum Tamaki nicht in die Hütte wollte. Schaut wohl zu viele Horrofilme, was? ^.~
Und ich wunder mich schon, was an einer Hütte so schlimm sein soll. XD
Die Vergleiche zu den Autoren finde ich jetzt nicht ganz so passend. In einer Geschichte würde ich solche Andeutungen eher weglassen. Das macht die Story glaubwürdiger.^^
Die Märchen hat Tamaki da aber etwas durcheinander gebracht. XD
Klingt aber sehr amüsant! ;P
Hui, da fliegt Kyoya Tamaki in die Arme und siehe da eine Hütte steht in Reichweite. XD
Ich denke wieder in andere Richtungen. :D
Eine irre Natur, da sind sie ja genau in Tamakis Umgebung - passt ja perfekt zu ihm. XD
Schade, kein Lebkuchenhaus. Ist Tamaki jetzt enttäuscht? ;P
Kyoya, wie kannst du nur das Haus demolieren. Das Ende gefällt mir sehr gut. War mal wieder klasse zu lesen. *O*
Von:  chie25
2012-06-20T19:54:25+00:00 20.06.2012 21:54
schön das du es fortgesetzt hast!!! habe mich sehr über das neue Kapitel gefreut!
wird echt spannend, hoffentlich muss man nicht lange warten :DD
ich mag, wie du das qualvolle Wandern beschrieben hast. Und die Kommentare sind echt passend und lustig :))
Von:  Shunya
2012-05-19T23:54:33+00:00 20.05.2012 01:54
Schade, dass es nicht ganz so viele ffs über Kyoya gibt. Das finde ich echt toll, dass es mal wieder etwas Neues gibt. :D

„Tamaki“, bemerkte Kyoa <- würd mal sagen, da fehlt was. XD

Ich finds klasse, dass du alles so detailliert beschreibst, da macht es gleich noch mehr Spaß die Geschichte zu lesen.

So genial, da haben die auch noch die völlig falsche Karte zu fassen und Tamaki hat es nicht mal bemerkt. XD lol

Ich finds auch total süß, wie Kyoya ständig versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Es ist auch klasse, dass du den Charakter der beiden Jungs beibehalten hast. Tamakis theatralischer Charakter ist echt genial!

Funktionieren Handys überhaupt im Wald? XD lol
Ich denke, das würde ihnen herzlich wenig bringen.

Herrlich, das Gespräch über die Jacke war echt klasse. Armer Kyoya. Kommt mir bekannt vor, bin auch eine Langschläferin. XD
Ich ertrags auch nicht, wenn ich mit total fröhlicher Stimmung überrumpelt werde. ;P

Das Ende des Kapis finde ich toll. Kyoya kann ruhig mal zugeben, dass es ihm gefällt. *hüstel* ;P
Bin schon gespannt, wie es weitergehen wird. :D


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