Verschollen! von ScarletEye (Tamaki x Kyoya) ================================================================================ Kapitel 2: Hänsel und Gretel ---------------------------- 43 Minuten später ... „Kyoya, wir werden das schaffen!“ Tamakis mädchenhaft hübsches Gesicht war zur Maske wilder Entschlossenheit gefroren. „Wir werden aus diesem Wald herausfinden, keine Sorge! Ich bin ganz sicher, das Hotel ist hier gleich in der Nähe. Du musst wirklich keine Angst haben, mit mir an deiner Seite kann dir überhaupt nichts passieren ...“ Außer vielleicht dass ihm von Tamakis nicht enden wollendem Geschwätz die Gerhinwindungen durchbrannten ... Kyoya verzichtete mittlerweile auf eine Antwort, sparte sich seinen Atem lieber für den anstrengenden Weg durch das immer dichter werdende Gestrüpp. Seine Unterarme waren bereits zerkratzt, eine Dornenranke hatte ein hässliches Loch in seine Jeans gerissen, und er war sicher, eine ganze Kolonie von Blasen müsste sich auf seinen Füßen ausgebreitet haben – jedenfalls schmerzte inzwischen jeder Schritt. Tamakis Augen jedoch glänzten noch immer so vergnügt, als schwebe er, in eine pastellfarbene Wolke gehüllt, durch seine eigene kleine Regenbogen-Traumwelt. „Wenigstens haben wir gutes Wetter“, bemerkte er in einem weiteren, sinnlosen Versuch, Kyoyas Laune zu bessern. Kyoya grummelte nur als Antwort. 37 Minuten später ... Lautlos vor sich hin fluchend wischte Kyoya sich die esige Nässe vom Gesicht. Binnen kürzester Zeit hatte ein urplötzlich einsetzender Wolkenbruch seine Kleider vollständig durchweicht. Schwer klebten sie an seinem Körper, während der Regen wie mit winzigen Nadeln auf ihn einstach, hartnäckig versuchte, sogar noch unter seine Haut zu kriechen. Bei jedem Schritt versanken seine Schuhe zentimetertief im Schlamm, der sich schmatzend an seinen Füßen festsaugte, als wolle er ihn mit schmierigen Fingern unter die Erde zerren. Seine Brille war vom Regen so beschlagen, dass er kaum mehr etwas erkennen konnte, und so stolperte er halb blind neben Tamaki her, der sich von dem Unwetter in keinster Weise entmutigen ließ. „Du solltest die Autoren dieser Geschichte nicht immer dermaßen provozieren“, murrte Kyoya halblaut. „Du weißt, dass man sie nicht auf dumme Ideen bringen soll.“ Tamaki, dessen Grinsen aus unerklärlichen Gründen noch immer nicht von seinem Gesicht gewaschen war, strahlte ihn an. „Das haben sie sicher nur gemacht, weil ich so unglaublich gut aussehe im Regen!“, quietschte er entzückt. „Regen ist übrigens sehr gut für den Teint. Solltest du nutzen, Kyoya, du machst in letzter Zeit einen etwas blassen Eindruck, mein Freund ...“ Kyoya presste fest die Kiefer aufeinander, um Tamakis Seidenteint nicht noch durch ein blaues Auge hervorzuheben – und hielt mitten in der Bewegung inne, als Tamaki so abrupt stehenblieb, dass Kyoya fast in ihn hineingelaufen wäre. „V-vielleicht sollten wir lieber nicht hier langgehen“, stammelte der Trottel mit einem Gesichtsausdruck, aus dem plötzlich jeglicher Optimismus geflohen war. „Was?“ Kyoya starrte ihn ungläubig an. „Wieso denn nicht?“ Tamaki war blass geworden. Er zitterte ein wenig, und Kyoya war nicht sicher, ob es nur von der Kälte kam. „Da ... da vorne ist eine Hütte, siehst du?“ Verstohlen blickte er zur Seite und sofort wieder weg, als stünde hinter den Bäumen ein besonders unliebsamer Bekannter, dem er nicht begegnen wollte. Kyoya kniff die Augen zusammen und starrte stirnrunzelnd in die angegebene Richtung. Tatsächlich: Nur wenige Meter entfernt, mitten zwischen den Baumständen, war ein winziges Holzhäuschen zu erkennen. „Ist doch perfekt, da können wir uns unterstellen!“ Hastig setzte sich Kyoya in Bewegung und stapfte zielsicher auf die Hütte zu. Zugegebenermaßen, überlegte er seufzend, es war ein wenig klischeehaft: zwei verirrte Wanderer im Wald, der Regen ... ein wie aus dem Nichts auftauchender Unterstand ... Diese Shoujo-Manga-Autoren könnten sich wirklich mal etwas Neues einfallen lassen! Aber egal ... Ihm war alles recht, wenn sie nur endlich aus diesem verdammten Regen herauskamen ... „Kyoaaaa, warteeeee!“ Mit gedämpfter Stimme hielt Tamaki ihn zurück, zaghaft an seinem Ärmel zupfend. „Was ist?“ Unwillig drehte sich Kyoya um. „Mit solchen Hütten muss man wirklich vorsichtig sein“, zischte Tamaki, immer noch flüsternd. „Mein Vater hat mir da mal so eine Geschichte erzählt ... Von einem gutaussehenden, blonden, französischen Prinzen, der sich auf der Suche nach der Burg des Froschkönigs im Wald verirrt hat ... und weil er dabei aus Versehen auf die Rapunzel der Hexe getreten ist, hat sie ihn in ihr Lebkuchenhaus entführt ... und dort muss er nun in einem gläsernen Sarg schlafen, bis die Prinzessin ihn wachküsst!“ Er schauderte heftig. „In einem gläsernen Sarg, Kyoya ... ist das nicht schrecklich?“ Tief durchatmend schloss Kyoya für einige Sekunden die Augen, bis er sicher sein konnte, seine Reaktion wenigstens halbwegs unter Kontrolle zu haben. „Siehst du hier irgendwelche Rapunzeln?“, erkundigte er sich dann, mit einer Kaltblütigkeit, die ihn selbst erstaunte. „Hmmm ...“ Leichte Verunsicherung schlich sich auf Tamakis Gesicht. „Ich glaube nicht ...“ „Dann komm endlich!“ Kyoyas Geduld war am Limit, unsanft packte er den Freund am Arm und zerrte ihn grob vorwärts. Zumindest ein paar Meter weit. Dann verfing sich sein Fuß in einer Wurzel, strauchelnd suchte er mit der freien Hand nach Halt – und wäre der Länge nach im Schlamm gelandet, hätte Tamaki ihn nicht instinktiv aufgefangen. Geschockt starrten sie einander für die Dauer mehrerer, hektischer Herzschläge lang an. „Hoppla“, murmelte Tamaki, ein wenig nervös kichernd. „So etwas passiert dir doch sonst nie ...“ Kyoya antwortete nicht, halb erstarrt vor Verlegenheit. Heiß brannten Tamakis Hände auf seinen Schultern, trotz der Kälte, die der Regen unter seine Haut getrieben hatte. Dumpf schlug sein Puls dieser Berührung entgegen, unregelmäßig und flatternd wie die Flügel eines aus dem Nest gefallenen Vogeljungen. Richtig ... So etwas passierte ihm sonst nie ... Was war nur los mit ihm? Es war nicht seine Art, unvorbereitet eine Wanderung zu unternehmen ... Es war nicht seine Art zu stolpern, hinzufallen oder sich in irgendeiner Form ungeschickt zu benehmen ... Und schon gar nicht war es seine Art, sich hilflos im Wald zu verirren! Jawohl, das musste es sein ... Es war dieser verfluchte Wald! Kyoya Otori lebte in einer geordneten Welt der technischen und kulturellen Errungenschaften. Diese ganze chaotische, ungezügelte Natur um ihn herum machte ihn noch ganz irre! Apropos irre ... „Du kannst mich jetzt loslassen, Tamaki“, nuschelte er mit einem schwachen Lächeln. „Oh! Okay ... Entschuldige ...“ Eine sanfte Röte kletterte anmutig Tamakis porzellanfarbene Wangen empor, während er langsam, als wären sie festgeklebt, seine Finger von Kyoyas Schultern nahm. Einen winzigen Moment lang wünschte sich Kyoya fast, er hätte es nicht getan. Sie waren so warm gewesen, diese Hände, fest hatten sie ihn gepackt, und doch ... gewiss waren sie weich ... und sanft ... Hart schluckend würgte er das aufkeimende Herzklopfen in seiner Kehle hinunter. „Komm, beeilen wir uns!“ Innerhalb weniger Minuten hatten sie die Hütte erreicht. Aus der Nähe betrachtet wirkte sie einladender als man hätte annehmen können, mit adretten, rot-weiß gemusterten Vorhängen an den Fenstern und bunten, ordentlich gepflegten Blumenbeeten außenherum. „Siehst du“, bemerkte Kyoya beruhigend. „Keine Rapunzeln, keine Lebkuchen ...“ Tamaki schien nicht ganz überzeugt. Misstrauisch lugte er durchs Fenster, so vorsichtig, als könne die kleine Hütte unter seinem Blick jeden Moment explodieren. „Ob hier wohl jemand wohnt?“, fragte er skeptisch. „Scheint jedenfalls niemand zu Hause zu sein“, stellte Kyoya nüchtern fest. Obwohl es mittlerweile fast dunkel war, brannte kein Licht im Inneren der winzigen Behausung. Niemand war zu sehen, und als er, sich selbst ein wenig albern vorkommend, an die mit Herzchenschnitzereien verzierte Tür klopfte, bekam er keine Antwort. Probeweise drückte er die in Form einer Rose gehaltene Klinke herunter – abgeschlossen, natürlich. Wäre ja auch zu schön gewesen ... „Tritt mal ein Stück zurück“, warnte er Tamaki, während er kurzentschlossen einen großen Stein vom Boden aufhob. Er hatte genug von diesem Regen! Genug von diesem Wald! Genug davon, mit schmerzenden Sohlen durch Schlamm und Erdlöcher zu marschieren! „KYYYAAAAAHHHH!“, quietschte Tamaki entsetzt, als der Freund den Stein beherzt durch die Scheibe warf, und eine Explosion winziger Splitter ins Innere der Hütte regnete. „Kyoya, bist du wahnsinnig?“ „Willst du lieber hier draußen erfrieren?“, gab der Japaner ungerührt zurück. „Wir haben keine andere Wahl.“ Kaltblütig zuckte er mit den Schultern. „Ich lasse dem Besitzer einen Scheck da. Keine Sorge ...“ Tamakis Augen waren vor Schreck so geweitet, dass sie nahezu aus den Höhlen zu quellen drohten. „A-a-aber, aber ... aber der Fluch!“, ächzte er mit sich überschlagender Stimme. „Der Fluch der Hexe!“ Kyoya, der bereits damit beschäftigt war, die verbliebenen Splitter mit einem Ast aus dem Fensterrahmen zu fegen, warf ihm ein gehässiges Grinsen zu. „Sagtest du nicht, du siehst so gut aus, wenn es regnet?“, gab er in seinem liebenswürdigsten Tonfall zurück. „Wir werden gewiss eine Prinzessin finden, die dich wachküsst.“ Und im Notfall, fügte ein irrer, durch dieses ganze Abenteuer benebelter Teil seiner Gedanken hinzu, tue ich es eben selbst ... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)