Grenzgänger von whitePhobia (change between light an dark) ================================================================================ Kapitel 1: Schattendasein ------------------------- 1. Schattendasein Es war zehn Minuten vor Mitternacht. Die Lichter der Stadt, die durch die geöffneten Vorhänge in die ansonsten unbeleuchtete Wohnung fielen, reichten für ihn aus um sich im Halbdunkel zu orientieren. Erst jetzt, als er alle Lichter ausgeschaltet hatte, fiel ihm auf wie hell die Stadt nachts noch strahlte. So hell, dass man die Sterne am Himmel kaum wahrnehmen konnte, weil sie von einer Straßenlaterne, einem Autoscheinwerfer oder einer Leuchtreklame überstrahlt wurden. In der Stadt hatte man gar nichts von der Dunkelheit der Nacht. Die Menschen hatten hier die Finsternis ausgesperrt und unter die Erde in ihre Keller und Abwasserleitungen verbannt. Sie hatten das Gefühl vergessen wie es war, wenn die vollkommene Schwärze einen trostspendend einhüllte, man von ihr verschlungen wurde und nichts Sichtbares mehr zu existieren schien. Ray sehnte sich nach dieser allumfassenden Dunkelheit. Sie war ja schließlich bereits in ihm und es kam ihm paradox vor, dass seine Umgebung nicht das wiederspiegelte, was er fühlte. Schwarze Leere. Ray saß im dunklen Badezimmer im heißen Wasser der Wanne und betrachtete durch das Fenster die Dächer der Stadt. All das da draußen schien ihm schrecklich fern zu sein. Eine einzelne Feuerwerksrakete zischte in einiger Entfernung in den Himmel und verteilte mit leisen Ploppen grüne Funken über den Dächern. Ray griff nach dem Glas, das auf dem Wannenrand stand und genehmigte sich einen großen Schluck. Weder der Alkohol noch die Hitze des Badewassers hatten das Nichts in seinem Inneren wirklich gefüllt. Beide hatten ihn für einige Minuten vergessen lassen, dass das Nichts existierte, doch nicht so lange wie er es sich gewünscht hätte. Ray beobachtete wie die Schaumkronen auf der Wasseroberfläche leise knisternd dahin schmolzen. Das Badewasser dampfte leicht an den Stellen, an denen es kein Schaum mehr bedeckte. Er seufzte und sein Blick glitt wieder zum Fenster. Wie auf ein unsichtbares Signal hin war der Himmel von einem bunten Funkenregen erfüllt. Begleitet von gedämpftem Knallen und langgezogenem Pfeifen schossen Raketen überall ihr Feuerwerk rosetten- oder kaskadenartig in die Nacht. Rauchschwaden wurden vom Wind fortgeweht wo ein Feuerwerk verglüht war. „Frohes neues Jahr.“, sagte Ray mit gespielter Fröhlichkeit und prostete einem unsichtbaren Gegenüber zu. Eigentlich sollte er auch dort draußen sein. Mit seinen Freunden feiern, auf das neue Jahr anstoßen, lachen, Spaß haben. Doch nicht heute, nicht nachdem, was passiert war. Ray hörte wie sein Handy dumpf ein paar Mal vibrierte. Er langte über den Wannenrand und fingerte es aus der Tasche seiner achtlos auf die Fliesen geworfenen Hose. Mariah hatte ihm eine SMS geschrieben, in der sie ihm ein paar Neujahrsgrüße schickte. Ohne eine Antwort zu senden warf er das Handy zurück auf seine Sachen. Das Feuerwerk vor seinem Fenster wurde seltener. Tropfen kondensierten Wassers sammelten sich auf der Fensterscheibe. Ray hob seinen Fuß aus dem Wasser und drehte mit seinen Zehen den Hahn für das heiße Wasser auf. Eine angenehm betäubende Hitze kroch von seinen Zehenspitzen seine Beine hinauf. Ray stellte den Wasserhahn erst ab, als die Hitze von dem stechenden Schmerz kochenden Wassers verdrängt wurde. Erneut griff er zu seinem Glas und musste feststellen, dass es leer war. Das durchdringende Geräusch der Türklingel ließ Ray erschreckt zusammenfahren. Er stellte das Glas nachlässig auf dem Wannenrand ab, worauf es abrutschte und ins Badewasser fiel. Es klingelte erneut. Ray stöhnte genervt auf. Welcher betrunkene Idiot konnte da die Namen auf den Klingelschildern nicht richtig lesen? Er erwartete heute keinen Besuch, erst recht nicht um diese Uhrzeit. Ray fischte sein Glas aus dem Wasser und goss langsam das Badewasser daraus aus. Wieder schrillte der langgezogene Ton seiner Türklingel durch die Wohnung. Ray knirschte mit dem Zähnen. „Gib doch endlich auf!“, flüsterte er eindringlich. Und wirklich vergingen einige Momente in völliger Stille, in denen Ray angestrengt lauschte. Er zuckte zusammen, als die Stille dann durch ein Klopfen an der Haustür durchbrochen wurde. Ein Funken Panik flammte plötzlich durch das Klopfen, wie ein angerissenes Streichholz auf. In Filmen klopften immer nur Verbrecher oder die Polizei. Jeder Normale begnügte sich damit dem Klingelknopf solange zu malträtieren bis ihm geöffnet wurde, oder auch nicht. Ray dachte nach. Wer war da an seiner Haustür, der ihn so dringend zu erreichen versuchte? Es war ruhig und dunkel in seiner Wohnung, nichts deutete auf seine Anwesenheit hin, wenn er sich weiter still verhielt … Rays Handy vibrierte. Der Vibrationsalarm ließ das Handy rhythmisch auf den Fliesen klappern. Ein ohrenbetäubendes Geräusch in der Stille, fand Ray. Er griff hektisch über den Wannenrand und schaltete mit einem langen Tastendruck sein Telefon aus ohne auf die Displayanzeige zu achten. „Ray, mach auf!“, erneut hämmerte jemand stakkatoartig gegen die Haustür. „Ich weiß dass du da bist. Lass mich rein!“ Ray hörte die Stimme gedämpft, konnte sie aber niemanden zuordnen den er kannte. Er verhielt sich weiterhin mucksmäuschenstill und hoffte dass die Vibration seines Handys nicht gehört worden war. Es klopfte noch zwei Mal, dann blieb es still. Ray seufzte erleichtert auf. Das letzte was er jetzt hätte gebrauchen können war Gesellschaft. Er ließ sich langsam komplett unter Wasser gleiten. Hier, gleich unter der Wasseroberfläche hatte er das Gefühl von allen anderen Problemen isoliert zu sein. Er allein mit dem Rauschen seines Pulsschlages in seinen Ohren, allein mit dem Geschmack des Badewassers auf seinen Lippen. Ray hielt die Luft an bis seine Lungen brannten. Erst dann tauchte er wieder auf. Sofort war der Zauber des Augenblicks vorbei. Rays Blick fiel auf das leere, mit Badewasser gespülte Glas. Mit einem Seufzer erhob er sich aus dem Wasser und verließ die Wanne. Er schenkte seinen auf den Fußboden geworfenen Sachen keine Beachtung und tapste nackt nur mit dem Glas in der Hand in den Flur. Er hinterließ nasse Fußabdrücke auf den hellen Holzdielen, doch er achtete nicht darauf. Ray brauchte das Licht nicht einzuschalten um sich zu orientieren, seine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, die ihn schon den ganzen Tag begleitete. Der Fliesenboden erschien ihm unnatürlich kalt unter seinen Füßen, als er die Küche betrat. Ray angelte sich eine Flasche aus dem Kühlschrank, schraubte sie an Ort und Stelle auf und nahm einige Schlucke. Angewidert verzog er das Gesicht, als er die Flasche wieder absetzte. Bitter und brennend lief der Alkohol seine Kehle hinab und hinterließ ein trockenes Gefühl in seinem Mund. Ray schloss den Kühlschrank wieder und betrachtete die Wasserlache zu seinen Füßen, die sich durch seine ständig tropfenden Haare gebildet hatte. Er zuckte mit der Schulter und tapste wieder hinaus in den Flur, die Flasche in der einen, das Glas in der anderen Hand. Ray wandte sich wieder in Richtung Badezimmer, doch bevor er einen Schritt tun konnte fiel sein Blick auf die Haustür. Er hielt inne. Dunkel und drohend ragte sie am Ende des Flures auf. Eine Mauer, die ihn vor all dem schützte, was auch immer da draußen lauern mochte. Ray presste die Lippen aufeinander. Vielleicht sollte er einen Blick nach draußen wagen. Nur um sich zu vergewissern, dass da draußen niemand mehr war. Ray schwankte leicht und stützte sich instinktiv mit den Fingerknöcheln an der Wand ab. Der Alkohol oder das Badewasser hatte seinen Gleichgewichtssinn getrübt. Sehr gut. Es würde nur noch wenig Nachhilfe bedürfen um seinen Geist in einen angenehmen Dämmerzustand des Vergessens zu überführen. Ray machte ein paar unsichere Schritte in Richtung Haustür. Er stellte die Flasche und sein Glas am Eingang zum Badezimmer ab. Er ging weiter zur Haustür und schloss sie zögerlich auf. Ray öffnete die Tür erst einen Spalt breit, dann ruckartig weit genug, dass er in den Flur hinaus blicken konnte. Dunkel und leer lag der Flur vor ihm. Ihm stieg der süßlich-herbe Geruch von verbranntem Feuerwerk in die Nase. Einer seiner Nachbarn hatte wohl schon im Treppenhaus ein paar harmlose Knaller gezündet, auch wenn sich Ray nicht an irgendwelchen Lärm erinnern konnte. Etwas Schweres fiel von ihm ab. Niemand war hier. Das Haus war vollkommen still. Er öffnete die Haustür ganz, wie um sich zu beweisen, dass es nichts gab vor dem man sich fürchten brauchte. „Dachte ich´s mir doch, dass du da bist.“ Ray fuhr zusammen. Er wandte seinen Blick zur Seite, wo auf halber Treppe zum nächsten Stockwerk jemand reglos in der Dunkelheit gesessen hatte. Der Schatten stand auf und löste sich somit von der ihn umgebenen Finsternis. Die Sohlen von Turnschuhen quietschten auf dem blankpolierten Holz der Treppe. Ein Geräusch, das bei Ray eine Gänsehaut verursachte. Mit leisem Tappen schritt die Gestalt die Stufen zu Ray hinab. Ray brauchte gar nicht erst zu sehen wer da aus den schwarzen Schatten ins Halbdunkel trat, um zu erkennen, wer auf ihn gewartet hatte. Er hatte die Stimme bereits erkannt. Kenny. „Du hättest dir ruhig etwas überziehen können, bevor du mir die Tür aufmachst.“, Kennys Stimme triefte vor Sarkasmus. Ein Tonfall der fremdartig klang und gar nicht zu ihm passte. Warum hatte er nur die Tür aufgemacht, fragte Ray sich? Er hätte einfach zurück ins Badezimmer gehen sollen, sich betrinken sollen in der Hoffnung, dass er seinen angenehmen Dämmerzustand erreichte bevor seine Finger schrumpelig wurden. „Bittest du mich gar nicht herein?“ Kennys Blick fiel auf die Pfütze, die Rays tropfende Haare nun auf der Türschwelle hinterließen. „Doch.“, Ray trat beiseite um seinen `Gast` einzulassen und schloss die Haustür hinter ihnen wieder ab. *** „Mister D. hat mich angerufen und ich konnte heute weder alleine sein, noch irgendwo feiern gehen.“, sagte Kenny, als er den Flur entlang ging. Ray wollte verständnisvoll nicken, doch als er seinen Kopf bewegte drehte sich der Flur um ihn. Er stützte sich abermals an der Wand ab und blinzelte ein paar Mal heftig bis die Welt wieder still stand. Kenny war bereits ein paar Schritte den Flur entlang gegangen und stellte nun seine Reisetasche an der Wand gegenüber dem Badezimmer ab, den Blick starr auf die Flasche und das Glas auf der Türschwelle gerichtet. „Darf ich?“, fragte er Ray, der nur eine wegwerfende Handbewegung machte um zu zeigen, dass er sein Einverständnis gab. Er wollte keine unüberlegten Bewegungen machen, damit die Welt nicht wieder in Rotation geriet. „Geh schon ins Wohnzimmer und fühl dich wie Zuhause.“, murmelte Ray zu Kenny „Ich zieh mir nur was über.“ Ray torkelte, sich halb an der Wand stützend, ins Badezimmer. Er hatte einen sauren Geschmack im Mund und wusste was gleich kommen würde. Ray würgte und spürte wie sein Mageninhalt, der aus nichts außer Alkohol bestand, sich langsam seine Speiseröhre hoch schob. Er kniete sich vor die Toilette und klappte den Deckel hoch. Seine Knie schlugen schmerzhaft auf die Fliesen. Doch diesen Schmerz spürte er kaum. Die Kälte des Porzellans der Toilettenschüssel kroch in seine Finger, als er sich daran abstützte. Schon erbrach er die erste Welle klarer Flüssigkeit. *** Er presste die Finger seiner rechten Hand gegen die geschlossenen Augenlider und wartete bis er die Kontrolle über seinen Körper halbwegs wieder zurück erlangt hatte. Als das taube Gefühl in seinen Armen und Beinen langsam nachließ öffnete er die Augen wieder. Das Badezimmer um ihn drehte sich nicht mehr, schwankte aber noch, wie ein Schiff in starkem Seegang. Weiße und schwarze Flecken tanzten vor seinen Augen, so stark hatte er die Finger gegen die Lider gepresst. Ray atmete tief durch, richtete sich wieder auf und stützte sich dabei auf dem Wannenrand ab. Er hangelte sich zum Waschbecken und spülte sich den Mund mit klarem Wasser aus um den sauren Geschmack loszuwerden. Ray ließ das Wasser des Wasserhahns noch eine Weile laufen, nachdem mit dem Ausspülen fertig war. Das stetige Rauschen beruhigte ihn ein wenig. Seine Hände, die so unnatürlich weiß in der Dunkelheit leuchteten, zitterten leicht. Ray griff nach seinen Bademantel, der an einem Haken an der Wand hing. Er wickelte sich darin ein und ging vorsichtig, auf jeden Schritt achtend, zu Kenny ins Wohnzimmer. Er fühlte sich noch elender als vorher. Das pelzige Gefühl im Mund und das Loch in seinem Magen kamen jetzt nicht nur von seinen Gefühlen, nein jetzt ging es ihm auch körperlich genauso schlecht wie seelisch. Das Alles machte die Situation keinen Deut besser. Ray betrat das Wohnzimmer. Kenny hatte sich auch nicht darum bemüht das Licht anzuschalten. Er lag auf der Couch, den Kopf auf ein Kissen gelegt, die Augen geschlossen. Er atmete tief und ruhig. Kenny schien eingeschlafen zu sein. Die Flasche stand scheinbar unberührt auf dem Tisch vor ihm. Ray lachte kurz und freudlos auf, dann breitete sich ein trauriger Ausdruck auf seinem Gesicht aus. Kenny war doch noch der Alte, keiner wie er selbst, der alle seine Moralvorstellung und Gewohnheiten so einfach über Bord warf. Ray nahm Kenny vorsichtig die Brille ab und deckte ihn mit einer dünnen Decke zu. Dann griff er nach der Flasche und betrachtete sie kurz. Der klare Inhalt glitzerte im Licht, das eine Straßenlaterne durch das Fenster warf. Die Flasche war immer noch halb voll … If you don´t believe in anything, you can still pray to the porcelain god. Kapitel 2: Heliozentrik ----------------------- 2. Heliozentrik Eigentlich war die Welt ja beschissen, zumindest heute. Wolken glitten an dem viereckigen Fenster mit den abgerundeten Ecken vorbei. Weiße Gebilde aus gasförmigem Wasser, die eine unwirkliche Landschaft vor dem strahlend blauen Himmel bildeten. Berge und Täler, flache Ebenen und zerklüftete Klippen, all das aus einem Weiß, das so strahlend und rein war, dass man seine Augen vor der Helligkeit schützen musste. Und über allem stand die Sonne, gleisend wie geschmolzenes Metall überstrahlte sie diese sterile Landschaft. Ray hätte sich genauso gut in einem Raumschiff über einem fremden Planten und nicht in einem normalen Flugzeug befinden können. Zumindest fühlte er sich so, wie ein Fremdkörper. Die Tragflächen des Flugzeugs durchschnitten gerade einen unnatürlichen hohen Wolkenberg und ließen die weiße Masse in Strudeln umher wirbeln. Ray wandte seinen Blick vom Fenster ab, es war zu viel für ihn. Seine Augen tränten schon, geblendet durch das helle Licht. Er sah sich stattdessen in der Kabine um. Die hellen Beigetöne und das sanfte Summen der Klimaanlage sollten wohl eine entspannte Atmosphäre vermitteln und einen davon ablenken dass man sich 10.000 Meter über dem Meer befand, mit nichts weiter als ein paar Schichten Metall zwischen sich und dem freien Fall. Er mochte das Fliegen nicht. Nicht dass er Angst davor gehabt hätte, aber er empfand es einfach als unnatürliche Art des Reisens, auch wenn sie der einzige Weg war nicht wochenlang unterwegs zu sein, um von A nach B zu kommen. Das sie jetzt in einem Privatflugzeug saßen und nicht wie Geflügel in der Massentierhaltung, auf eine bestimmte Sitzplatzgröße mit hunderten Anderen zusammengepfercht waren, machte die Situation kaum besser. Wenigstens ließen die Kopfschmerzen langsam nach. Während Kenny gestern geschlafen hatte, hatte Ray weiter dem Alkohol gefrönt, ohne sich allerdings noch ein weiteres Mal der Anbetung der Toilette zu widmen. Ein schwerer Fehler, wie sich am Morgen heraus gestellt hatte. Viel zu früh hatte ein Fahrer sie abgeholt und zum Flughafen gefahren und zu Rays Ärger auch noch darauf bestanden, dass Ray sich einen Koffer packte und sich etwas Anständiges anzog. Nach der Meinung des Fahrers war ein Bademantel scheinbar nicht die richtige Bekleidung für einen 18-Stunden-Flug. Ray war sich nicht sicher ob er sich dafür verfluchen sollte Kenny in der Nacht hereingebeten zu haben - schließlich hatte Kenny dem Fahrer die Tür geöffnet - oder dankbar für Kennys Anwesenheit sein sollte, der dafür gesorgt hatte, dass Ray überhaupt etwas Brauchbares in seinen Koffer tat. Ray nahm einen großen Schluck aus seinem Wasserglas und fuhr sich dann prüfend über Wangen und Kinn. Sie fühlten sich rau und stoppelig an. Eigentlich sollte er sich dringend rasieren bevor sie landeten, sicherlich sah er furchtbar aus. Genauso wie er sich auch fühlte. Ray drückte den Knopf um das Servicepersonal zu rufen und ließ sich von der Stewardess eine Zahnbürste und einen Kamm geben. Wenn er schon keine Lust hatte sich zu rasieren konnte er wenigsten einen ansonsten gepflegten Eindruck vortäuschen. Ray ging in die winzige Toilettenkabine. Trotz ausladender Sitze, genügend Beinfreiheit und einem individuellen Laptoparbeitsplatz, die Kabine, die man hier als „Bad“ bezeichnete, unterschied sich in nichts von den Toiletten an Board einer Chartermaschine. Ray betrachtete sein Abbild im Spiegel. Dunkle Schatten auf den Wangen, rot geränderte Augen, zerzaustes Haar; jede dahergelaufene Straßenkatze sah ansehnlicher aus. Er fasste sich an die Stirn, wenn nur seine Kopfschmerzen endlich verschwinden würden, wenn sie nur endlich landen würden, dann würde er sicher wieder klarer denken. *** Als hätte man den stufenlos verstellbaren Dimmschalter einer Lampe noch eine halbe Umdrehung in die Höhe gedreht, strahlte die Sonne vom Himmel herab, als Ray das Flugzeug verließ. Seine stechenden Kopfschmerzen hatten sich mit dem Aufsetzen des Fahrwerks auf der Landebahn verflüchtigt, und einem dumpfen Dröhnen Platz gemacht, das seine Laune kaum bessern konnte. Ray schob sich die Sonnenbrille die Nase hinauf und betrachte die Welt durch seine abgedunkelten Gläser. Sie schien ihm so viel verträglicher, weniger real zu sein. Wie ein stark vergilbtes Schwarz-Weiß-Foto stand das beige Flugzeug auf einer graubraunen Landebahn vor einem ungesund wirkenden, schwefelgelben Himmel. Die Luft war beißend kalt. Ray seufzte und zog den Mantel enger um sich. Er wäre am liebsten sofort wieder umgekehrt, als er den dunklen Van sah, der wenige Meter vom Flugzeug entfernt, auf dem Rollfeld schon auf sie wartete. Doch das Kabinenpersonal, das gerade die Koffer entlud, versperrte ihm den Rückweg ins Flugzeug. Mr. Dickenson wartete neben dem Wagen auf ihn und Kenny, der vor Ray aus dem Flugzeug gestiegen war. Der kleine rundliche Mann mit dem schwarzen Bowler und dem dunklen Anzug, der Ray immer wie ein jeder Brandung trotzenden Fels vorgekommen war, machte einen geknickten Eindruck. Der ausladende weiße Schnurrbart hing schlaff herab und Mr. D. warf immer wieder einen gehetzt wirkenden Blick auf seine Armbanduhr, sodass sich das Sonnenlicht auf den Gläsern seines Zwickers spiegelte. „Wie geht es ihm?“, fragte Kenny, ohne jede Begrüßung, als sie den Van erreicht hatten. Mr. Dickenson schüttelte leicht den Kopf. „Sein Zustand ist stabil, aber er liegt immer noch im Koma.“ An Ray rauschte diese Antwort vorbei. Er hörte sie zwar, doch etwas in seinem Kopf hinderte ihn daran den Inhalt zu verstehen. Er nickte Mr. D zu und glitt auf den Rücksitz des Vans. Im Wagen war es angenehm düster, die getönten Scheiben ließen nur wenig Licht ins Wageninnere. Ray nahm seine Sonnenbrille wieder ab. Er lehnte seinen Kopf seitlich gegen die Fensterscheibe und starrte lethargisch auf das Flughafengelände hinaus. Sein Körper sehnte sich nach Schlaf. Seit er diesen verfluchten Anruf vor zwei Tagen bekommen hatte, hatte er kein Auge mehr zugetan. Etwas in Ray schrie förmlich danach, seine Augen doch nur für einen Moment zu schließen und sich zu entspannen und …. Ray schreckte hoch, er war für eine Sekunde weggedöst. Er presste sich seine Fingernägel in den linken Unterarm bis der Schmerz ihm einen kleinen Adrenalinschub verschaffte und setzte sich dann übertrieben gerade hin. Er wollte nicht schlafen, noch nicht. Der Kofferraum des Vans wurde zugeschlagen und Kenny und Mr. D stiegen zu ihm ins Auto. „Ihr werdet vorerst abgeschirmt.“, sagte Mr. D. und sah sie beide durchdringend an, während sich der Wagen langsam in Bewegung setzte. „Irgendwie hat die Presse zum Teil bereits von Tysons Unfall erfahren und ich möchte nicht, dass ihr von Journalisten bedrängt werdet. Die Situation ist schon schlimm genug.“ Ray wandte seinen Blick von dem alten Mann ab und sah aus dem Fenster. Er konnte diesen Blick nicht mehr ertragen, in dem so viel Trauer und Mitleid lag, genauso wie er Mr. Dicksensons Stimme nicht mehr ertragen hatte, an diesem beschissenem Morgen vor zwei Tagen. Eigentlich hatte Ray an diesem 31. Dezember lange ausschlafen wollen und den Plan gehabt, sich am frühen Abend mit dem White Tigers zu treffen, um mit ihnen ins neue Jahr zu feiern. Stattdessen hatte ihn das Klingeln seines Handys viel zu früh aus dem Schlaf gerissen. Ray grauste es immer noch, als er sich an das darauf folgende Telefongespräch erinnerte, das sich in sein Gehirn gebrannt hatte, wie eine achtlos umgestoßene Kerze in einen teuren Teppich. *** „Ja, was gibt´s?“, gähnte Ray in sein Telefon und rieb sich verschlafen die Augen. „Guten Morgen Raymond, hier ist Mr. Dickenson.“ Ray runzelte verwirrt die Stirn, als er mit seinem vollen Vornamen angesprochen wurde. Was sollte diese ungewohnte Förmlichkeit? „Mr. D. ist alles in Ordnung?“, fragte Ray mit einem mulmigen Gefühl im Magen, als nach der Begrüßung am anderen Ende der Leitung Schweigen herrschte. „Nein.“, der alte Mann atmete einmal tief durch. „Es tut mir leid Ray. Tyson hatte einen Autounfall, einen ziemlich schweren. Er liegt im Koma.“ „WAS?“Ray nahm kaum wahr wie schrill seine Stimme klang. Er war sich sicher, dass das nur ein schlechter Scherz sein konnte. „Er wollte doch Silvester bei Max in Amerika feiern. Er hat in der Nacht ein Taxi vom Flughafen genommen und es gab wohl Blitzeis auf dem Interstate Highway. Auf jeden Fall ist der Wagen ins Schleudern geraten und in die Leitplanke gerast. Das Auto hat sich nach dem Zusammenprall ein paar Mal überschlagen. Dem Taxifahrer ist kaum etwas passiert, aber Tyson wurde schwer verletzt und im Krankenhaus in ein künstliches Koma versetzt.“ Mr. Dickenson hatte die ganze Geschichte so schnell herunter gerattert, als hätte er sie von einem Zettel abgelesen. „Ich bin gerade auf dem Weg zu ihm. Kenny und du, ihr werdet morgen abgeholt und fliegt hierher. Ich habe schon alles arrangiert. Ray ? …. Ray?“ Rays Gedanken schweiften ab, die letzten Worte seines Gesprächspartners drangen nur noch wie durch einen dicken Nebel zu ihm. Das alles konnte nicht wahr sein. *** Ray wusste gar nicht mehr, ob er noch irgendetwas gesagt, oder einfach aufgelegt hatte, weil er Mr. D. Stimme die wieder und wieder seinen Namen wiederholte nicht mehr ertragen hatte. Es war ihm Moment auch egal. Das leichte Vibrieren des Wagens beim Beschleunigen potenzierte seine Kopfschmerzen jetzt so stark, dass er sich fast zurück in das Flugzeug wünschte. Ray hoffte, dass die Autofahrt nicht allzu lange dauern würde, weil es für ihn ansonsten nur wahrscheinlich war, dass sein Kopf explodieren würde. Er sah förmlich schon wie hellrote Blutspritzer und weiße Hirnmasse die Innenraumverkleidung aus grauem Velours bedeckten und das Gemisch wie stückige Marmelade von der Decke tropfte, als der Wagen anhielt. Der Kopfschmerz ließ schlagartig nach, nachdem der Motor abgestellt worden war und verwandelte sich erneut in das dumpfe Dröhnen, das am Rand seines Bewusstseins lauerte. Mr. D und Kenny stiegen aus dem Wagen. Ray folgte ihnen nur zögerlich. Es kam ihm vor als wären sie keine zehn Minuten unterwegs gewesen. War er etwa während der Fahrt eingenickt ohne dass er es bemerkt hatte? „Wann können wir zu ihm?“, fragte Kenny, während der Fahrer ihre Koffer aus dem Auto entlud. „Morgen vielleicht. Ich muss noch einmal mit den Ärzten sprechen.“, meinte Mr. Dickenson etwas schleppend. „Ihr seid keine Angehörigen und ähm … es gibt da gewissen Vorschriften was Besucher angeht.“ Kenny nickte müde und schulterte seine Reisetasche. Scheinbar schien es ihm genauso egal wie Ray zu sein, welche bürokratischen Hürden für Nicht-Angehörige zu überwinden waren um zu Tyson durchgelassen zu werden. „Kai ist schon da… und Max ja sowieso. Ich rufe euch an, sobald es etwas Neues gibt.“, sagte Mr. Dickenson und stieg nach einem matten Winken zurück in den Wagen. Sobald er eingestiegen war fuhr das Auto langsam davon. Ray nahm seinen Koffer und schlurfte Kenny hinterher. Er nahm gar nichts von seiner Umgebung wahr. Weder das hohe Holztor, das sich automatisch hinter dem davonfahrenden Wagen schloss, noch den von hohen Hecken umstanden Garten, der sie vor neugierigen Blicken abschirmte. Auch hatte er keinen Blick für das dreigeschossige, mit roten Ziegel gedeckte, Haus übrig, das er gerade betrat; oder realisierte den Temperaturunterschied, der angenehmen Wärme im Inneren des Hauses und der frostigen schneefreien Kälte des Winters draußen. Stattdessen verfolgte er mit morbidem Interesse, wie sein Kopfschmerz durch die leichte Erschütterung, die das Aufsetzen seiner Füße auf das Pflaster verursachten, abrupt anschwoll um sofort wieder in dem unterschwelligen dumpfen Dröhnen zu versinken. Er fühlte sich wie ein außenstehender Arzt, der den Schmerz seines Patienten auf einem Monitor verfolgte. Fasziniert. Kai erwartete ihn und Kenny im Flur des Hauses. Ray entschied, nach einem kurzen Blick auf ihr Begrüßungskomitee, dass der Russe genauso miesepetrig wie immer aussah. Scheinbar schien ihn nie etwas wirklich zu berühren. Wahrscheinlich würde er sogar am Tag seiner eigenen Hochzeit diese Maske der emotionslosen Kälte zur Schau stellen. „Ihr seid sicher erschöpft. Ich zeige euch, wo ihr schlaft.“, meinte Kai tonlos und stieg schon die Treppe in den ersten Stock hinauf, ehe Ray realisierte, dass überhaupt etwas gesagt worden war. *** Als die Zimmertür ins Schloss fiel war Ray froh endlich wieder allein zu sein. Sein Zimmer war klein, schien aber recht gemütlich. Er war erleichtert darüber es sich mit niemandem teilen zu müssen. Die Dachschräge, unter der das Bett stand, schien ihm allerding prädestiniert dafür, sich morgens nach dem Aufwachen als allerstes den Kopf zu stoßen. Ray warf den Koffer auf sein Bett. Er fühlte sich auf einmal unendlich müde. Ein leises schwappendes Geräusch hielt ihn davon ab erschöpft zu Boden zu sinken und bündelte seinen Gedankenstrom wieder. Da waren drei oder vier Flaschen Alkohol in seinem Koffer. Ray erinnerte sich plötzlich wieder genau an das Streitgespräch, das er mit Kenny geführt hatte, der ihn davon abhalten wollte sie am Morgen in den Koffer einzupacken. Ray zog den Reißverschluss seines Koffers auf und klappte den Deckel nach hinten. Er stockte kurz, als er sah, was oben auf den, mehr oder weniger sorgsam in den Koffer geworfenen, Klamotten lag. Seine Nachttischlampe. Die Lampe, die normalerweise in seiner Wohnung auf einem Beistelltisch neben dem Bett stand … Wann hatte er die denn eingepackt, und warum? Ray konnte sich gar nicht daran erinnern sie überhaupt in der Hand gehabt zu haben. Leicht irritiert nahm er die Lampe aus dem Koffer und stellte sie auf das Tischchen neben seinem Bett um sich dem restlichen Kofferinhalt zu widmen. Ray hätte sich am liebsten selbst anerkennend auf die Schulter geklopft. Keine der vier Flaschen war zerbrochen. In betrunkenem Automatismus hatte er sie alle in einen seiner Wollpullover gewickelt: Noch so eine Aktion, an die er sich nicht erinnern konnte. Aber vielleicht endete der Tag doch nicht so beschissen, wie er begonnen hatte. It´s a light ray. Kapitel 3: Schattierungen des Schwarzen --------------------------------------- 3. Schattierungen des Schwarzen Ray zog die Vorhänge vor dem Fenster zu. Das kalte, klare Licht dieses Januartages war unerträglich. Dieser klare kühle Schein, der einem zu vermitteln schien, dass da draußen ein zwar frostiger aber sonniger Wintertag herrschte machte Ray nur noch bewusster, wie unrein er sich selbst im Moment fühlte. Schmutz, der mit keinem Wasser der Welt abzuwaschen war, klebte an ihm und diese Kruste aus imaginärem Morast erschwerte ihm das Atmen. Im Moment schmerzte es am Leben zu sein. Kein Schmerz, der mit dem dumpfen Pochen in seinem Kopf vergleichbar gewesen wäre. Die Welt an sich tat weh, immer, jederzeit. Selbst wenn man glaubte Momente des Glücks und vollkommener Zufriedenheit zu erleben, der Schmerz war da. Er wurde nur von diesen schönen Momenten überlagert und man vergaß ihn für eine gewisse Zeit. Doch der Schmerz selbst vergaß einen nie. Er erinnerte sich immer und wartete, geduldig, denn er hatte ja alle Zeit der Welt, um einen zu quälen, während man selbst nur eine gewisse Anzahl von Jahren hatte, die man mit glücklichen Momenten füllen konnte. Glückliche Momente waren wie Aspirin, die man nahm um Zahnschmerzen zu unterdrücken. Sie bekämpften Symptome, keinesfalls Ursachen. Und selbst wenn man dann doch zum Zahnarzt ging, um den faulen Zahn behandeln zu lassen, unter neuen Schmerzen, die man mit noch mehr Analgetika und Opiaten zu ertränken versuchte und der Zahnschmerz sich verflüchtigte, die Angst vor neuem Schmerz blieb. Ursachen für Schmerz gab es genug, denn die Welt tat weh. Immer. Jederzeit. Ray setzte sich mit angewinkelten Beinen auf den Boden und lehnte sich gegen sein Bett. Er atmete erleichtert aus und genoss die Dunkelheit. Nur durch einen schmalen Spalt zwischen den Vorhängen fiel das weiße Licht noch in den Raum. Diese helle scharfe Linie teilte das Zimmer genau zu Rays Füßen in zwei Hälften, zerschnitt die Dunkelheit. Finsternis war sein Aspirin im Moment und er brauchte es rund um die Uhr. Ray griff hinter sich und fingerte eine der Flaschen aus seinem Koffer. Er hielt sie in den Lichtstrahl hinein und betrachtete, wie das Licht durch die klare Flüssigkeit in seine Spektralfarben gebrochen wurde und ein blasses Regenbogenmuster auf den Teppich warf. Langsam drehte er die Flasche zwischen den Finger und betrachtete wie sich das Farbenspiel veränderte. Nach einigen Minuten sah er sich im Zimmer um und sein Blick fiel auf die mitgebrachte Lampe, die auf dem Nachttisch stand. Er griff nach ihrem Kabel und ließ es durch seine Finger gleiten, bis er den Stecker in der Hand hatte und wollte ihn gerade in die Steckdose neben dem Nachttisch stecken, als seine Bewegungen beim Anblick der Steckdose ins Stocken gerieten. Ray knurrte und warf seiner mitgebrachten Nachttischlampe einen aufgebrachten Blick zu. Dieses beschissene Ding! Da hatte er sie nun in seinem Koffer um den halben Globus geschleppt, nur um festzustellen, dass der Stecker der Lampe nicht in die Steckdose passte. Der Lampenstecker sah ja den in der Steckdose vorhandenen Öffnungen noch nicht einmal ähnlich. Ray ließ den Stecker zu Boden fallen und überlegte ob er einen Reiseadapter in seinem Koffer hatte. Er stemmte sich mühsam hoch und zog die Vorhänge ein wenig weiter auf, sodass sich der Lichtstrahl, der zwischen ihnen hindurch fiel, ein wenig verbreiterte und Ray besser sehen konnte. Dann sah er sich seinen Kofferinhalt an. Ordentlich legte er die restlichen Flaschen auf das Kopfkissen seines Bettes, dann nahm er ein Kleidungsstück nach dem anderen aus seinem Koffer und warf es achtlos hinter sich, immer auf der Suche nach einem Adapter. Nach einer halben Stunde hatte er seinen Koffer komplett geleert, doch von einem Adapter war keine Spur zu sehen. Er würde die Anderen fragen müssen, später irgendwann. Ray gefiel das Alleinsein im Moment noch zu gut, um es jetzt schon aufzugeben. Er setzte sich wieder gegen sein Bett gelehnt auf den Boden und legte erschöpft den Kopf auf die Knie. Er beschloss auf jeden Fall erst einmal eine Kopfschmerztablette zu nehmen, bevor er heute noch irgendetwas anderes tat. Es klopfte leise und eine Sekunde später öffnete Kai die Zimmertür. Ray sah auf und bemerkte wie Kais Blick durch das Zimmer glitt. Von den halb geschlossenen Vorhängen, über die achtlos auf dem Boden verteilten Kleidungsstücke, zu seinem leeren Koffer auf dem Bett und dann zu ihm selbst. Kai sah leicht irritiert aus, was Ray in gewissem Maße amüsierte. „Hau ab! Ich bin beschäftigt.“, sagte Ray erschöpft und sah Kai böse an, bevor der überhaupt den Mund aufmachen konnte. „Womit denn?“, fragte Kai argwöhnisch und ließ seinen Blick erneut über das Chaos schweifen, das Ray in der letzten halben Stunden mit großem Eifer angerichtet hatte. „Was geht dich das an?“ Rays Stimme mochte müde sein, doch stille Ablehnung funkelte gefährlich aus den goldgelben Augen. Er hatte keine Lust darauf, dass Kai ihm sagte, dass er doch mal wieder aufräumen konnte. Der Russe sollte ihn nur in Ruhe lassen. Kai runzelte die Stirn und schüttelte dann den Kopf. „Ich komm später wieder.“, sagte er in einem Tonfall, der vermuten ließ, dass „später“ nur allzu bald sein würde, und schloss die Tür wieder hinter sich. Ray saß noch einige Minuten bewegungslos auf dem Boden, dann er erhob er sich schwerfällig und schlurfte zur Zimmertür. Lauschend lehnte er ein Ohr gegen die Tür. Es war totenstill. Kai schien weg zu sein. Die Luft war rein. Vorsichtig drückte er die Klinke nach unten und spähte in den Flur. Auch hier war niemand mehr. Ray entspannte sich etwas, als er realisierte das er wieder allein war. Erschöpft seufzte er auf. Er wollte sich erst einmal auf die Suche nach Aspirin begeben, bevor er nach einem Adapter für die Lampe Ausschau hielt. Vielleicht würde er in der Hausapotheke neben einem Kopfschmerzmittel auch ein paar Koffeintabletten finden, um die Müdigkeit zu vertreiben. Ansonsten würde er sich wohl ganz klassisch einen Kaffee kochen müssen. *** Koffeintabletten fehlten leider in der Hausapotheke. Dafür fand Ray aber eine noch ungeöffnete Schachtel mit Schmerztabletten, deren Haltbarkeitsdatum erst kürzlich überschritten worden war. Ray spülte zwei kleine weiße Kapseln mit einem Glas Wasser hinunter und ging dann in die Küche um sich einen Kaffee zu kochen. Er zögerte kurz, als er die Küche betrat. Nicht nur, das zu helle Sonnenlicht, das durch das Fenster fiel, sondern auch die am Küchentisch sitzende Person bremste sein Handeln. Max saß am Tisch und blätterte mit merkwürdig glasigem Blick und atemberaubender Geschwindigkeit wahllos durch einen Stapel Zeitschriften. Ray konnte Nachrichtenmagazine, Sportzeitschriften und andere Illustrierte erkennen. Jeder Zeitungskiosk wäre Stolz auf ein solch umfangreiches Angebot gewesen. „Stört es dich wenn ich die Jalousie etwas herunterlasse?“, fragte Ray vorsichtig. Er war sich nicht sicher, ob Max ihn bereits bemerkt hatte. „Nein. Ist mir egal.“, sagte Max und zuckte mit den Schultern. Als er aufsah, bemerkte Ray wie merkwürdig trüb und verschleiert seine blauen Augen waren. Ein stummes Flehen schrie aus ihnen heraus Ray an. Verlust schmerzte einen Wimpernschlag lang wie eine heiße Nadel in Rays Brust . Dann senkte Max seinen Blick wieder auf die Zeitschrift und blätterte weiter. Ray ging wie in Trance zum Fenster und ließ den Rollladen zur Hälfte hinab. Er überlegte, dass die neu entwickelte Überempfindlichkeit gegenüber Tageslicht schon fast vampirische Züge bei ihm annahm. Wie automatische wanderte sein Blick zu Max Hals. Er konnte allerdings kein Bedürfnis seine Zähne in Menschenfleisch zu versenken bei sich feststellen. Die einzige Flüssigkeit, die er jetzt zu sich nehmen wollte war Kaffee. So füllte er die Kaffeemaschine und schaltete sie an. Ray war dankbar dafür, dass Max nicht noch einmal aufsah oder Anstalten machte ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Der Amerikaner wollte genauso allein sein, wie er selbst und schien Rays Anwesenheit schon wieder komplett ausgeblendet zu haben. Das beruhigende Glucksen der Kaffemaschine erfüllte die Stille während Ray wartete. Er nahm sich eine Tasse aus dem Schrank und löffelte sich mehrere gehäufte Teelöffel Zucker hinein. Kaffee schmeckte ihm erst, wenn man die Flüssigkeit in einem gefühlten Verhältnis 1:1 mit Zucker mischte. *** Die pharmakologisch aktiven Substanzen in Verbindung mit Alkohol und Zucker im Blut machten Ray aktiv. Sie unterdrückten das aufkeimende Hungergefühl, die Müdigkeit und in gewissem Maße sogar den Selbstekel. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Ray in seinem gesamten Leben noch nie zu aufputschenden Substanzen gegriffen, damit sein Körper so funktionierte, wie er es wollte. Es war neu für ihn und in gewissem Maße fand er es faszinierend, wie weit er gehen konnte, auch wenn eine kleine Stimme in seinem Hinterkopf ihm zuflüsterte, dass er früher oder später einen Preis dafür zahlen würde, wie er gerade mit sich selbst umging. Im Moment war es allerding nur allzu leicht diese Stimme, die ihr leises Lied von zukünftigem Schmerz sang, auszublenden. Ray nutzte seinen neu gewonnenen Elan und machte sich auf die Suche einen passenden Adapterstecker für seine Nachttischlampe zu finden. In einem der Wohnzimmerschränke fand er auch eine vielversprechende Schublade, in der sich scheinbar über die Jahre verschiedenster elektronischer Krimskrams angesammelt hatte, den die Vormieter des Hauses zurückgelassen hatten. Handyladekabel, Rasierapparate, Wecker, fand Ray; von einem Adapter fehlte allerdings jede Spur. Ray seufzte enttäuscht auf und schob das Schubfach wieder zu, er hatte sich mehr versprochen. Er richtete sich auf und ließ den Blick durch das Zimmer schweifen. Die Melodie eines Ray sehr gut bekannten Musikstückes zerriss die Stille. Der Schwarzhaarige fuhr zusammen. Das war Kais Handyklingelton und wo Kais Handy war, konnte der Russe nicht weit entfernt sein. „Ja.“, hörte Ray, wie sich Kai am Telefon meldete. Schritte näherte sich vom Flur her in raschem Tempo dem Wohnzimmer. Ray sah sich schnell nach einem geeigneten Ort um, an dem er sich vor Kai verbergen konnte. Keinesfalls wollte er erneut mit ihm zusammentreffen. Der Fluchtweg in den Flur war allerdings versperrt. Gerade noch rechtzeitig duckte Ray sich hinter die Couch. Einen Augenblick später betrat Kai das Wohnzimmer. „Hallo Mariah…“, sagte Kai und Ray spitzte die Ohren. Das Mariah und Kai miteinander telefonierten, damit hätte er nicht gerechnet. Ray hörte wie Kai durch das Zimmer ging und sich auf der Couch niederließ, hinter der er sich verbarg. Ray setzte sich leise auf den Boden und lehnte sich an die Rückwand des Sofas. Kai hatte von seiner Anwesenheit zum Glück nichts mitbekommen. „…Ja, Ray ist hier. Aber ich habe keine Ahnung, warum er nicht an sein Handy geht….“ Ray zog die Beine so nah wie möglich an den Körper und versuchte sich sehr klein zu machen. Er selbst wusste genau, warum er nicht an sein Handy ging. Denn sein Handy lag ausgeschaltet auf den Fliesen des Badezimmerbodens seiner Wohnung in Shanghai. Unerreichbar für ihn. Besser Kai entdeckte ihn jetzt auf keinen Fall, denn der Russe schien keineswegs glücklich zu sein, dass Mariah gerade ihn anrief. „…Nein, es geht ihm gut ... Nein, ich kann ihn dir im Moment leider nicht geben. Ich weiß nicht wo er ist...“ Kais Stimme klang gereizt. Ray grinste verschlagen, in gewissem Maße freute es ihn, dass Kai sich so sehr über Mariahs Anruf ärgerte. Gleichzeitig fühlte er sich aber auch schuldig Mariah nichts von Tysons Unfall erzählt zu haben. Er hatte Mariah damals fadenscheinig erklärt, dass er sich erkältet hätte und deshalb nicht mit ihr und den White Tigers Silvester feiern könnte. Später hatte er einfach vergessen ihr in irgendeiner Weise Bescheid zu geben. Ray hoffte, sie hatte nicht aus den Medien von Tysons Unfall erfahren. „…Ja, sag ich ihm….“, sagte Kai dann nachdem er Mariah geraume Zeit nur gehört hatte und Ray spitzte erneut die Ohren. Was Kai ihm wohl ausrichten sollte? Doch der Russe machte keine Anstalten das von Mariah Gesagte zu wiederholen. „…Nein, ich weiß auch nicht mehr über Tysons Zustand…“, hörte Ray ihn nach einer Weile sagen und ihm wurde klar, dass Mariah das Thema gewechselt hatte. Ray legte den Kopf auf die Knie und hörte dem Gespräch nur noch mit halbem Ohr zu, da er dessen Inhalt nicht mit verfolgen konnte. „… Nein …“ „…Ja, morgen…“ „… Nein… ja, tschüss.“, beendete Kai nach einer gefühlten Ewigkeit das Telefonat und Ray hätte am liebsten laut aufgeseufzt, als Kai sich wieder vom Sofa erhob und das Wohnzimmer verließ. Verstohlen warf er einen Blick über den Rand der Couch und verließ dann sein provisorisches Versteck. *** Kai beendete das Telefonat und grollte. Wie er es hasste, wenn Menschen ihn anriefen, mit denen er kaum etwas zu tun hatte und deren Gesellschaft er freiwillig niemals suchen würde. Doch keiner der anderen schien es für nötig zu halten sein Handy einzuschalten, oder auch nur ranzugehen wenn es klingelte. So riefen alle möglichen Leute schlussendlich bei ihm an. Erst Max Mutter, dann Hillary und jetzt auch noch Mariah. Wo hatte die nur seine Telefonnummer her gehabt? Er würde unbedingt mit Ray reden müssen, sobald der wieder auftauchte. Wo immer er auch hin verschwunden war, in seinem Zimmer hatte er nicht mehr gesteckt, als Kai vorhin noch einmal nachgesehen hatte. Nur das blanke Chaos hatte noch geherrscht. Es war absurd, wie sich alle verhielten. Max, dem alles egal zu sein schien und der in eine lethargische Starre verfallen war. Kenny, der sich einfach hingelegt hatte und schon den ganzen Tag schlief. Kai hatte das dumpfe Gefühl, dass Kenny wohl auch die nächsten Tage kaum mal etwas anderes tun würde. Und dann kam auch noch Ray dazu, der ihn anfauchte sich nicht in seine Angelegenheiten einzumischen. Ray musste auf jeden Fall im Auge behalten werden. Kai hatte eine merkwürdige Vorahnung, dass sein Freund vielleicht etwas Dummes anstellen würde, wenn er nicht aufpasste. He´s in the dark at nightfall. Kapitel 4: Lichtspielhausmonologe --------------------------------- Musikempfehlungen: - A perfect circle - Passive - Ghost Brigade - In the woods - John Frusciante - With no one 4. Lichtspielhausmonologe Krankenhäuser waren ihm unheimlich. Sie waren für ihn keine Orte der Genesung, sondern Anstalten in denen man auf den Tod wartete. Gehätschelt bis zuletzt, von Pflegepersonal, dem man schon ansah, dass es bereits wusste, dass man sterben würde. Leidgezeichnete Menschen schlurften überall, die wie Dauergäste in einem drittklassigen Hotel, in Bademänteln über die Flure. Und dann war da noch der ständig präsente Geruch nach Desinfektionsmittel, der einem in der Nase brannte und an den man sich so schwer gewöhnte. Kai ging langsam hinter der kleinen Gruppe her, die angeführt von Mr. Dickenson den Krankenhausflur entlang lief. Schweigend und mit gesenkten Köpfen wagte es keiner dem Anderen in die Augen zu sehen. Der Flur streckte sich in seiner sterilen Funktionalität in die Unendlichkeit. Seit geraumer Zeit liefen sie nun schon den Gang entlang, ohne dass eine Tür von den nackten Wänden in einen angrenzenden Raum abzweigte. Nur ab und an eine Schleuse die man passieren musste. Die weißen Wände und der üble Grünton des Fußbodens sorgten auch nicht eben für Abwechslung auf dem langen Marsch. Wer sich auch immer für diese Farbe entschieden hatte, musste den Inhaber des Krankenhauses oder die Patienten gehasst haben. Die Farbe des Fußbodens erinnerte einen an erbrochenen Spinat oder Schlimmeres und wiederholte sich, in einer auf halber Höhe an der Wand angebrachten, Bordüre. Zu allem Übel verursachte sie auch noch ein unangenehmes Flimmern vor den Augen, wenn man zu lange zu Boden starrte. Schritte hallten hier laut in diesen nackten Fluren und nur das Ausbleiben dieser Geräusche machte ihn darauf aufmerksam, dass sie scheinbar das Ziel ihrer Wanderung erreicht hatten. Ein Mann Mitte vierzig, in weißem Kittel erwartete sie am Ende des Flures. Er hatte dunkles Haar und eine gebräunte Hautfarbe, wie man sie von Menschen aus dem südasiatischen Raum kannte, doch sein Englisch hatte so einen starken amerikanischen Akzent, dass er wohl in den USA aufgewachsen war. Der Arzt begrüßte sie alle mit einem Händedruck und führte sie in einen angrenzenden Raum hinein. Es war eine Art von Konferenzraum. Mehrere Stühle standen um einen großen weißen Tisch herum. Eine Kaffeemaschine stand auf einem Kühlschrank in der Ecke. Der Arzt bedeutete ihnen, dass sie sich setzen sollten und Kai ließ sich auf einen der Plastikstühle fallen. Einen Moment lang war es so still, dass das Summen des Kühlschranks ungewöhnlich laut erschien, alle Blicke ruhten auf dem Arzt. Der Mann räusperte sich und fing dann an zu sprechen. „Mr. Grangers Zustand ist im Moment kritisch, aber stabil. Durch den Unfall hat er einige schwere Verletzung erlitten.“, erneut räusperte sich der Arzt, während er einen Blick in Tysons Patientenakte warf. „ Neben einer Rippenserienfraktur links, einer Unterschenkelfraktur und einigen leichteren Abschürfungen, hatte Mr. Granger auch eine Platzwunde am Kopf durch den Unfall davon getragen. Um den Organismus zu entlasten und weil die Gefahr einer möglichen Hirnschwellung noch nicht ausgeschlossen werden kann wurde Mr. Granger vorläufig in ein künstliches Koma versetzt…“ Kai versuchte sich angestrengt auf die Stimme des Arztes zu konzentrieren, aber je intensiver er es versuchte, desto stärker verschwamm sie. Der Geruch des Desinfektionsmittels brannte auf einmal unerträglich in seiner Lunge und der Wärmetauscher des Kühlschranks dröhnte mit seinem monotonen Summen in seinen Ohren. Kai schluckte schwer und konzentrierte sich darauf gleichmäßig ein und aus zu atmen. Unendlich langsam normalisierten sich Geräusche und Gerüche seiner Umgebung wieder. „ … mehr kann ich ihnen im Moment leider nicht sagen. Wenn sie mir dann bitte folgen würde, ich begleite sie zum Zimmer von Mr. Granger.“, hörte Kai den Arzt seine Erläuterungen beenden. Irgendwie war er froh nicht alles so genau mitbekommen zu haben. Die bleichen Gesichter seiner Freunde verrieten ihm, dass auch ihnen der Vortrag auf den Magen geschlagen war. „Wo ist Tysons Familie?“, fragte Kenny plötzlich, als die Anderen sich schon wieder halb erhoben hatten. Alle Blicke richteten sich nun auf Mr. Dickenson, der plötzlich seine gesamte Aufmerksamkeit darauf verwandte seine Brille zu putzen. „Besser ich sage es euch gleich.“, sagte er nachdem er sich den Zwicker wieder auf die Nase geklemmt hatte. „Tysons Großvater hatte einen leichten Herzinfarkt. Hiro und Hillary sind bei ihm geblieben. Es ist nichts allzu Ernstes, aber er darf noch nicht fliegen, obwohl er seinen Arzt davon überzeugen wollte, dass er schon wieder fit genug war um persönlich nach seinem Enkel zu sehen.“ Mr. D. sah sie alle der Reihe nach an, als wartete er auf eine bestimmte Reaktion. Als ihm nichts als Schweigen entgegen schlug nickte er nachdenklich und folgte dem Arzt dann auf den Gang hinaus. Ein paar Meter weiter den grünen Krankenhausflur entlang teilte sich der Gang und sie betraten den Stationsbereich. Die Schwestern am Tresen kontrollierten ihre Besucherausweise und deuteten dann auf eines der Zimmer. Kenny, Max und Ray schlurften mit hängenden Schultern in die angedeutete Richtung. „Mr. D.“, sagte Kai und der Angesprochene hielt einen Moment inne. „Ich kann da jetzt nicht reingehen. Kann ich später wieder kommen?“ Der alte Mann musterte Kai, der versuchte eine möglichst nichts-sagende Miene zu machen. Es war nicht so, dass Kai im Moment nicht die Kraft besaß Tysons Krankenzimmer zu betreten. Es war eher so, dass er es nicht mit ihnen betreten wollte. Mit Kenny, Max und Ray jetzt ein paar Minuten schweigend um das Krankenbett zu stehen, dass war es, das Kai vermeiden wollte. Mr. D. nickte nach kurzem Zögern. „In Ordnung. Das muss aber noch mit den Schwestern abgesprochen werden.“, fügte er dann hinzu und schaute zum Tresen. „Ich mach das selbst, gehen sie ruhig rein zu den Anderen.“, sagte Kai schnell. „In Ordnung. Lass dir ruhig Zeit. Ich setze die Anderen Drei, dann am Haus ab. Du kannst ja dann mit dem Wagen nachkommen. Kai? Versprich mir, dass du dir ein Taxi nimmst, falls es dir zu viel wird.“ Kai nickte. Er hatte gehofft, dass Mr. Dickenson genauso reagieren würde. *** Kai atmete tief ein als er Tysons Zimmer betrat. Er hatte sich vorgestellt, wie es sein würde und das Gespräch mit dem Arzt hatte ihn gewisser Weise darauf vorbereitet, dennoch war es ein Schock. Irgendwie hatte sich die Vorstellung in seinen Kopf gebrannt, das Tyson aufwachen würde sobald er das Zimmer betrat und irgendeinen schlechten Witz über das Essen im Krankenhaus machen würde. Kai war klar wie lächerlich die Vorstellung gewesen war. Es stand überhaupt nicht in Tysons Macht allein aufzuwachen. Die Medikamente hielten ihn im Zustand dieses künstlichen Schlafes. Tyson lag mit geschlossenen Augen in weißer, gestärkter Bettwäsche, das gebrochene Bein hing in einer Schlaufe. Auf einer Seite seines Kopfes verschwand sein blaues Haar unter einem dicken weißen Verband. Sein rechter Arm war bandagiert. Der Arzt hatte auch von einigen leichten Abschürfungen gesprochen, erinnerte sich Kai. Bunte Kabel führten von Elektroden auf Tysons Körper zu einem Monitor auf einem Rolltisch neben dem Bett. Auf ihm konnte man die Herzfrequenz und einige andere Werte verfolgen, deren Abkürzungen Kai nicht geläufig waren. Doch mit all dem hatte er gerechnet, was Kai wirklich schockte war, das Tyson auch künstlich beatmet wurde. Das hatte ihm niemand gesagt. Dieser milchig weiße Schlauch, dessen Ende aus Tysons Mund ragte, war ein weiterer Schlag in das Gesicht der Hoffnung. Kai ging näher zum Bett und stützte sich mit beiden Händen auf das verchromte Bettgestell am Fußende. „Hey.“, sagte er und seine Kehle fühlte sich auf einmal furchtbar trocken an. Das war auch ein Grund gewesen, warum er allein hier sein wollte und die anderen vorhin bereits mit Mr. Dickenson zurück gefahren waren, während er noch geblieben war. Wenn er schon die Fassung verlor, dann zumindest irgendwo, wo es keiner mitbekam. „Weißt du was mir als erstes eingefallen ist, als ich den Anruf von Mr. Dickenson bekam und er mir von deinem Unfall berichtete?“, fragte Kai mit krächzender Stimme und bemerkte plötzlich wie eine Träne ihm aus dem Augenwinkel rann und auf die weiße Bettdecke fiel. Der Tropfen hinterließ einen dunkleren Fleck auf dem reinen Weiß. „Ich hab mich gar nicht für dein Weihnachtsgeschenk bedankt. Ich hab dir ja noch nicht einmal was geschenkt. Ich meine, ich wusste ja noch nicht einmal dass wir uns dieses Jahr etwas schenken, sonst hätte ich dir sicherlich auch ein Päckchen geschickt. Ich meine… Was wünschst du dir überhaupt? Ich hoffe nichts Selbstgemachtes oder so. Du isst zwar alles Mögliche, das ich nicht mal anrühren würde, aber wenn ich zum Beispiel für dich backen müsste … das würde ich dir nicht empfehlen zu essen.“ Kai machte eine Pause und strich sich impulsiv eine weitere Träne aus dem Augenwinkel. Er richtete sich auf und ging zum Fenster, um einen Blick in den krankenhauseigenen Park zu werfen. Auf den breiten betonierten Wegen zwischen den gefrorenen Rasenflächen befand sich keine Menschenseele. Wahrscheinlich durften die Patienten bei solchen Temperaturen das Gebäude nicht verlassen. Er drehte sich wieder zu Tyson. „Wag es ja nicht zu sterben! Hörst du.“, knurrte Kai plötzlich. „Ich könnte es nicht ertragen wenn du mich mit den Anderen allein zurück lässt. Ohne dich sind die Drei noch unerträglicher, als mit dir. Ich kann die Sätze: „Ist mir egal“, „Ich bin müde, lass mich in Ruhe“ und „Was geht dich das an?“ schon nicht mehr hören. Doch Schlimmste ist ich kann verstehen, dass sie so reagieren. Du bist ihnen wichtig, uns allen. Wag es also nicht zu sterben! Vor allem nicht, weil Max sich die Schuld an deinem Unfall gibt, weil er dich eingeladen hat. Er sagt es zwar nicht, aber man kann dieses Schuldbekenntnis in seinen Augen lesen. Ich würde dir es auch niemals verzeihen, wenn du jetzt stirbst und dich darum um die Entscheidung drückst, wer von uns beiden schlussendlich der bessere Blader ist.“ Wieder machte Kai eine Pause und ging zurück zum Bett. Nachlässig strich er ein paar Falten in der Bettdecke glatt. „Ich könnte nicht damit umgehen, wenn du nicht wieder gesund wirst.“, murmelte er. „Ich denke nicht, dass sie genauso reagiert hätte, wenn ich jetzt hier liegen würde. Ich bin mir nicht sicher ob unsere Freundschaft ohne dich hält. Bitte werde wieder gesund… Bitte!“ Kai war immer leiser geworden, die letzten Worte hatte er nur noch geflüstert. Kapitel 5: Nachtwanderung ------------------------- 5. Nachtwanderung Ray starrte hinaus in die Dämmerung und sehnte sich die Nacht herbei. Er hatte den kleinen Schreibtisch vor das Dachfester gezerrt und sich darauf gesetzt um einen guten Blick über den Garten zu haben. Notdürftig hatte er seine im Zimmer verstreuten Sachen zusammen gesammelt und in den Koffer zurückgeworfen, sich seine Bettdecke um die Schultern gelegt und saß vor dem geöffneten Dachfester. Dieser Tag sollte endlich enden, denn es war einer der Tage gewesen, den er besser zusammengekauert in einer dunklen Ecke des Kleiderschrankes verbracht hätte. In Rays Leben hatte es bis jetzt sehr wenige solcher Tage gegeben und alle hatten in seiner Kindheit stattgefunden und so war er sich nicht sicher ob er heutzutage noch das Privileg – sich einfach im Schrank zu verstecken und die ganze Welt auszusperren – in Anspruch nehmen konnte. Die Hecken im Garten, die trotz der kalten Jahreszeit noch dicht und dunkelgrün waren, warfen lange Schatten im Abendlicht. Die schwarzen Schatten wurden dünner und verschwammen, als die Sonne hinter dem Horizont versank. Der Himmel zeigte ein Farbenspiel, das von einem blassen Azur bis zu dem dunklen Schwarz von eingetrockneter Tinte reichte, und auf dem sich bereits die funkelnden Lichtpunkte der Sterne abzeichneten. Nachtfrost wurde von einer leichten Windböe getragen und spielte in Rays Haar. Er zitterte leicht und wickelte die Decke fester um sich. Die eiskalte Luft klärte seine Gedanken, schaffte genau wie der Alkohol eine gewisse Distanz zwischen ihm und der Realität. Klar, genau das waren seine Gedanken. Glasklar, durchsichtig, fast unsichtbar. Ray atmete tief ein und genoss das heiße Brennen, das die eisige Luft in seinen Lungen hinterließ. Er öffnete seinen Pferdeschwanz und fuhr sich mit den Fingern wie mit einem groben Kamm durch das Haar. Kühl und glatt flossen einzelne Strähnen durch seine Finger, während ein Großteil seines Haares ungekämmt ineinander verfilzt blieb, weil er sich einige Tage nicht darum gekümmert hatte. Träge wiegte Ray seinen Oberkörper vor und zurück, während er in die Dämmerung hinaus starrte. Auch diese Nacht gehörte ihm, wie jede Nacht diese neuen Jahres. Nur wusste er nicht recht, was er mit ihr anfangen sollte. Die Welt außerhalb dieses heckenumzäunten Gartens lockte ihn. Nicht weil er sich nach Gesellschaft sehnte, sondern einfach weil Mr. Dickenson ihnen gesagt hatte, dass es besser war, wenn sie da Haus nicht verließen. Noch wusste die Presse nicht, wo das Team der Bladebreakers untergebracht war. Doch genau diese Beschränkung weckte die Begierde auf die Welt da draußen. Ray hatte das Bedürfnis durch die von der Nacht leer gefegten Straßen zu laufen. Ziellos, einfach nur um die Welt an sich vorbei gleiten zu sehen. „Das Auto.“, schoss es Ray plötzlich durch den Kopf und er erinnerte sich, dass Kai sie alle mit einem Auto ins Krankenhaus gefahren hatte. Mr. D. hatte zwar Max, Kenny und ihn in seinem Van später zurück zum Haus gefahren, doch auch Kai war irgendwann wieder aufgetaucht. Folglich musste der Wagen auch wieder in der Garage stehen. Ray hatte die Existenz dieses Auto schon komplett vergessen gehabt. Wenn er irgendwie an den Autoschlüssel kommen könnte … Er konnte sich im Moment nicht mal mehr an die Farbe des Wagens erinnern. Wage meinte er sich daran zu erinnern, dass es sich um einen weinroten Ford handelte. Das Einzige, was er noch wusste war, dass es im Innenraum nach kaltem Zigarettenrauch gerochen hatte und dass Kais rabiate Fahrweise ein flaues Gefühl in seinem Magen hinterlassen hatte. Kopfschüttelnd verdrängte er die Erinnerung an die Autofahrt und versuchte sich stattdessen die Ereignisse des Nachmittags ins Gedächtnis zu rufen. Schemenhaft glaubte sich Ray daran zu erinnern auf der Treppe gesessen zu haben, als Kai nach Hause gekommen war. Hatte er nicht irgendetwas zu Kai gesagt? Angestrengt versuchte er sich an die Situation zu erinnern, doch seine Gedankenfetzen waren schlüpfrig wie Quecksilber und entglitten ihm immer wieder. Ray schien keinen Funken Konzentration mehr zu besitzen. Hatte Kai den Schlüssel in seine Jackentasche gesteckt? Vielleicht. Ray war sich nicht sicher. Zumindest konnte er den Versuch wagen und nachsehen. Erleichtert stellte Ray fest dass, im Haus bereits alles ruhig war. Die Anderen schienen schon zu schlafen oder sich in ihre Zimmer zurückgezogen zu haben. Es war eine Erleichterung allein zu sein. Ray konnte nicht genau einordnen warum er sich so stark von den anderen zurückgezogen hatte, seit er von Tysons Unfall erfahren hatte. Er war immer ein sehr geselliger Mensch gewesen und selbst als sein eigener Großvater gestorben war hatte nicht auf die gleiche Weise reagiert. Im Gegenteil, er war zu dieser Zeit eine große Unterstützung für seine Eltern gewesen, obwohl er kaum mehr als zehn Jahre alt gewesen war. Er hatte damals sofort verstanden, dass sein Großvater nie wieder kommen würde. Doch jetzt … alles war so anderes. Plötzlich ging ihm die ganze Sache viel näher, obwohl Tyson nicht gestorben war, sondern immer noch die Chance bestand, dass er wieder ganz gesund werden würde. Die Chance … mit Gewissheiten konnte er besser umgehen, als mit Obskuritäten, auch wenn sie ihn weniger glücklich machten. Ohne ein Geräusch zu verursachen schlich Ray hinab in den dunklen Flur. Natürlich war Ray sich bewusst, dass das Überlegenheitsgefühl, welches er im Augenblick verspürte, nur eine Nebenwirkung seines Alkoholkonsums war und es in Wirklichkeit gar keine gute Entscheidung war in seinem alkoholisierten Zustand noch Auto zu fahren, dennoch zog es ihn vorwärts. Ray erreichte den Flur und huschte zu den Haken an der Wand, an denen sie ihre Mäntel aufgehängt hatten. Da die Mäntel in der Dunkelheit alle gleich aussahen, tastete er nacheinander die Taschen jedes einzelnen ab. Er hoffte, dass Kai den Autoschlüssel einfach nur in seine Manteltasche gesteckte hatte, andernfalls würde er sich sicherlich im Zimmer des Russen befinden und ihn dort in die Finger zu bekommen war eine schiere Unmöglichkeit. Kai würde sicherlich alles andere als erfreut sein, wenn er von Rays Ausflugsplänen erfuhr. Ray grinste, als er plötzlich etwas Hartes unter seinen Fingern fühlte. Er griff in die Tasche, die er gerade untersuchte und förderte einen Schlüssel samt ledernem Anhänger, auf dem das Symbol der Automarke eingeprägt, war zutage. Er warf den Schlüssel in die Höhe und fing ihn geschickt wieder auf. Rays Grinsen verbreiterte sich noch ein wenig mehr. Er war wirklich gerissen und hatte auch noch das Glück auf seiner Seite. Er nahm sich den Mantel von dem Haken, von dem er glaubte, dass es sein eigener war und schlich den Flur weiter Richtung Haustür. Die Nacht war stockfinster und erbärmlich kalt. Ray wickelte seinen Mantel eng um sich, um das letzte bisschen Restwärme besser zu halten. Irgendwie schien es ihm, als wäre er neuerdings empfindlicher gegenüber der Kälte, als er es früher gewesen war. Sein Atem stieg in weißen Wolken auf. Die gefrorene Rasenfläche floss zu der soliden wie eine hohe Mauer aufragenden Hecke, die das Grundstück umgab. Alle Fenster des Hauses waren dunkel. Ray ging über die Rasenfläche zu der kleiner Garage, in der das Auto stand. Er hatte sich kaum drei Meter vom Haus entfernt, als plötzlich die Laterne neben dem Eingang aufleuchtete und er sich in ihrem hellen Lichtkegel wieder fand. Ray fühlte sich ertappt und erstarrte augenblicklich. Er war gestellt, bevor er überhaupt das Auto erreicht hatte. Wie ein Gefängnisinsasse bei einem Fluchtversuch ertappt. Er stand sozusagen im Lichtkegel der Suchscheinwerfer, fehlte nur noch das Sirenengeheul. Ray verharrte in seiner Position und wartete darauf abgeführt zu werden … und wartete … und wartete … und plötzlich ging das Licht der Lampe wieder aus. Die erneute Dunkelheit irritierte ihn. Eigentlich hatte Ray ja erwartet, dass Kai jeden Moment auftauchen und ihn zur Rede stellen würde… Doch dann begriff er. Ray machte zwei Schritte auf die Garage zu, und das Licht der Lampe neben dem Eingang ging wieder an. Ein Bewegungsmelder, nur ein Bewegungsmelder. Ray lachte vor Erleichterung auf. *** Kai lag vollständig angezogen auf seinem Bett und starrte zur Decke. Die Vorhänge vor seinem Fenster waren weit geöffnet und gaben den Blick auf den nächtlichen Garten frei. Kai lag mindestens schon eine Stunde lang lag er reglos in der Dunkelheit. Er konnte einfach nicht schlafen. Sobald er die Augen schloss, tauchte Tyson, der an die vielen Maschinen angeschlossen, im Krankenhaus lag, vor seinem inneren Auge auf. Der Besuch bei Tyson hatte Kai stärker aufgewühlt, als er es erwartet hatte. Ein Licht vor seinem Fenster flammte auf. Kai drehte noch nicht einmal seinen Kopf. Es war nichts Ungewöhnliches das nachts Katzen oder Waschbären um das Haus schlichen und die Bewegungssensoren der Lampen aktivierten. Eine Minute später ging das Licht automatisch wieder aus und die Finsternis kehrte übergangslos zurück. Kai mochte die Dunkelheit. Sie war wie ein Mantel, den man überwarf und der einen an kalten Tagen wärmte oder zu mindestens so tat als ob. Immerhin verschwand in ihr alles um einen herum, sodass man nicht nur geistig alles ausblenden konnte, was einen störte. Das Licht vor seinem Fenster ging erneut an und Kai seufzte. Er schwang sich aus dem Bett und ging zum Fenster. Er schüttelte resignierend den Kopf, als er die schmale dunkle Gestalt über die gefrorene Rasenfläche zur Garage huschen sah. Also hatte er Rays Blicke heute Nachmittag richtig gedeutet. Glaubte der Schwarzhaarige, dass es Kai nicht aufgefallen war, dass Ray den Autoschlüssel mit verhohlener Neugier aus den Augenwinkeln die ganze Zeit angestarrt hatte? Vielleicht war es von Kai ein wenig paranoid gewesen Ray zu dem Zeitpunkt schon zu unterstellen, dass er Pläne in Bezug auf den Wagen gehabt hatte. Doch jetzt beglückwünschte Kai sich dafür eine kleine Vorkehrung für den Fall getroffen zu haben, dass Ray sich den Schlüssel ausborgte. *** Ray schlug eine klamme Kälte entgegen als er die Garage durch die Seitentür betrat. Der Beton der Fertigbauwände strömte einen feuchten und moderigen Geruch aus. Die kleine Lampe am Sensor für den fernsteuerbaren Mechanismus des Garagentors tauchte das Innere des Raumes in gespenstisches blaues Licht. Ray ging um den Wagen herum öffnete die Fahrertür, die Innenraumbeleuchtung des Wagens ging an und er ließ sich auf den Sitz gleiten. Im Auto roch es nach Lederpolitur, Zigaretten und frisch gesaugten Polstern. Ray schien es im Wagen noch kälter als draußen zu sein, er fröstelte. Er schaltete die Innenraumbeleuchtung auf Dauerbetrieb um und begann erst im Handschuhfach, dann hinter der Sonnenblende nach der Fernsteuerung für das Garagentor zu suchen. Seine kalten Finger fanden endlich was sie suchten. Mit einem langen Tastendruck glitt schließlich das Tor geräuschlos vor ihm auf. Freudige Erregung durchfuhr ihn. Er war so gut wie unterwegs. Ray zog den Autoschlüssel hervor und wollte ihn ins Zündschloss stecken. Doch er stockte. Der Schlüssel ließ sich nicht in das Zündschloss schieben. Ray probierte es erneut, jedoch ohne Erfolg. Er hielt den Schlüssel in das trübe Licht der Innenraumbeleuchtung. Wenn Ray ihn richtig betrachtete, sah er gar nicht wie ein normaler Autoschlüssel aus. Eher wie die Art von Schlüssel, die man auch zum Öffnen von Haustüren verwendete. Aber er hing am selben Schlüsselring, wie der lederne Anhänger mit dem aufgedruckten Symbol des Automobilherstellers. Ray runzelte die Stirn und wollte gerade zu einem erneuten Versuch, den Schlüssel ins Zündschloss zu stecken, ansetzen als die Beifahrertür aufging und Kai schwungvoll auf den Sitz neben ihm glitt. „Du bist so leicht zu durchschauen.“, sein Tonfall klang eindeutig verärgert, aber Ray war als huschte einen Augenblick lang ein amüsiertes Lächeln über die Lippen seines Freundes. Kai beugte sich zu Ray hinüber und griff nach der Fernbedienung für das Garagentor. Im nächsten Augenblick schloss sich das Tor geräuschlos wieder und ihm wurde der Blick auf die menschenleeren Straße vor ihm und die damit verbundenen Abenteuer der heutigen Nacht versperrt. Vielleicht hatte Kais Lächeln doch eher überheblich als amüsiert gewirkt. „Ray, es würde dir wirklich gut tun mal wieder eine Nacht durch zu schlafen. Hast du überhaupt länger als zwanzig Minuten am Stück geschlafen seit du hier bist?“ Ray blinzelte. Wann sollte er zwanzig Minuten am Stück geschlafen haben? Natürlich gab es da Lücken in seiner Erinnerung, aber Ray hatte gedacht, dass das einfach daran lag, dass er übermüdet gewesen war und sein Gehirn es einfach nicht mehr schaffte, sich irgendetwas zu merken. „Gib mir den Schlüssel und geh wieder ins Haus.“, sagte Kai, als Ray keine Anstalten machte zu antworten. Kai lehnte sich hinüber, zog Ray mit sanfter Gewalt den Schlüssel aus der Hand und hielt inne. „Willst du darüber reden?“, fragte er und sah den Schwarzhaarigen nachdenklich an. Ray überlegte einige Augenblicke, bevor er den Kopf schüttelte. Er war sich nicht sicher, ob es überhaupt etwas gab, über das er hätte sprechen können. Er zitterte trotz seines Wintermantels leicht und fragte sich auf einmal, wie Kai es ohne zu frieren in dem kalten Auto aushielt, wo er doch noch nicht einmal eine Jacke trug. Gänzlich von den tiefen Temperaturen unberührt saß der Russe da, und sah Ray ruhig an. Eine eigenartige Art von Wärme schien stattdessen von Kai auszugehen und den Innenraum des Wagens zu füllen. Wärme, die ihm so gegenständlich erschien, dass sie ihm fast die Illusion einer Berührung vermittelte. Fröstelnd lehnte sich Ray einen Augenblick auf Kai zu, bevor er realisierte, was er da vorhatte und blinzelnd zurück zuckte. Er war eindeutig übermüdet. Kapitel 6: Ein Flackern ----------------------- Kennt ihr das auch, dass ihr nicht an den Sachen weiter schreibt, bei denen ihr es eigentlich vorgehabt habt? 6. Ein Flackern Kurz vor Mitternacht begab sich das Flugzeug in den Landeanflug. Als Tyson aus dem Fenster sah, tauchten langsam die winzigen Lichter der Stadt wie ferne Lichtpunkte vor ihm auf. Der ältere Japaner auf dem Sitz neben Tyson schreckte erst aus seinem Schlaf auf, als sie mit einem Ruck auf die Landebahn aufsetzten. Tyson streckte sich und gähnte. Die langen Jahre, die er durch seine Beyblade Karriere auf Reisen verbracht hatte, hatten ihn an lange Flugzeiten gewöhnt und er schaffte es fast immer zu schlafen. An den Jetlag allerdings würde er sich aber nie gewöhnen können. Diesmal hatte er zumindest soweit den Vorteil, dass er Morgen Nacht hellwach sein würde, wenn er den Silvesterabend mit Max verbrachte. Er stellte seine Armbanduhr auf die Ortszeit um und reihte sich in die Schlange der Personen, die das Flugzeug verließen. Als er das Flughafengebäude verließ, winkte er ein Taxi zu sich heran, das ihn zu Max fahren sollte. Er zog sein Handy aus der Hosentasche und tippte schnell eine SMS für Max ein, während der Fahrer seine Reisetasche im Kofferraum verstaute. Bin grad gelandet und mach mich jetzt auf den Weg zu dir. Bis gleich. Lächelnd drückte Tyson auf senden und wartete einige Sekunden um sicher zu gehen, dass seine Nachricht auch verschickt wurde, bevor er das Telefon wieder in der Hosentasche verschwinden ließ. Voller Vorfreude auf die kommenden Feiertage mit Max setzte er sich auf den Rücksitz. Die leise Musik aus dem Autoradio untermalte die vorbeirauschende Landschaft, die sich in nächtliche Dunkelheit hüllte. Tyson starrte gedankenverloren aus dem Fenster in die Nacht. Das Handy in seiner Hosentasche vibrierte kurz. Max hatte auf seine SMS geantwortet. Okay, bis gleich! Hab gerade Pizza für uns bestellt ^^ Tyson grinste und wollte das Handy gerade wieder in der Hosentasche verschwinden lassen, als alles auf einmal zu passieren schien. Ein Ruck ging durch den Wagen. Reifen quietschten auf Asphalt. Der Taxifahrer fluchte und Tyson wurde mit einem Mal heftig gegen die Seitentür geschleudert. Farben tanzten vor seinen Augen, als er mit dem Kopf gegen die Fensterscheibe stieß. Tysons Bein verdrehte sich und sein Unterschenkel fühlte sich an, als würde er von einem heißen Eisen durchbohrt. Das Telefon glitt ihm aus der Hand und verschwand irgendwo im Dunkeln des Wagens. Der Japaner wollte fluchen, biss sich jedoch stattdessen auf die Zunge und schmeckte Blut, als der Wagen plötzlich in die andere Richtung ausbrach. Dann gab es einen weiteren Aufprall und Tyson wurde in die Gurte des Sitzes gedrückt. Die Schwerkraft schien zu versagen. Außerhalb des Taxis drehte sich die Welt wie in Zeitlupe an ihm vorbei. Einmal. Dann ein zweites Mal, dann schlug der Wagen auf den Boden auf und Tysons Kopf schlug hart gegen die Metallverkleidung. Die Welt um ihn herum versank in Schmerz, Blut und Dunkelheit. *** Es klingelte an der Haustür und Max sprang fast augenblicklich von der Couch auf, auf der er die letzten paar Stunden gemütlich herumgelungert hatte und sich das Abendprogramm im Fernsehen angesehen hatte. Mit einem Lächeln auf den Lippen stürmte er zur Tür und öffnete. „Du kommst ganz schön spät, ich dachte schon …“, sprudelte es schon aus ihm heraus, bevor er peinlich berührt inne hielt. Es war nur der Pizzabote. Natürlich, den hatte er schon wieder ganz vergessen. Max bezahlte den Lieferanten, nahm die zwei großen Pappkartons entgegen und schloss Stirnrunzelnd die Tür. „Eigenartig.“ , dachte er und sah auf sein Handy um zu überprüfen, wann der die SMS von Tyson bekommen hatte. Die Nachricht hatte ihn vor etwas mehr als einer halben Stunde erreicht. Tyson brauchte ganz schön lange um vom Flughafen bis hier her zu kommen. Ob er vielleicht kein Taxi mehr bekommen hatte? Oder irgendwo im Stau stand? So kurz vor dem Jahreswechsel konnte man sich nie sicher sein, wie gut man durch den Verkehr kam. Irgendwie hatte er dennoch ein merkwürdiges Gefühl. Sein Freund hätte ja zumindest eine weitere SMS schicken können, um ihm mitzuteilen, dass er sich verspätete. Max versuchte Tyson zu erreichen, doch der Japaner hatte sein Handy ausgeschaltet. Äußerst eigenartig. Max setzte sich mit den Pizzen zurück auf die Couch und nahm sich ein Stück aus der Schachtel. Nachdenklich biss er ab während er erneut versuchte Tyson zu erreichen. Aber das Handy des Japaners blieb aus. Er zappte durch das Spätprogramm, fand einen Horrorfilm, den er schon einmal gesehen hatte und den er für gut befand und wartete. Ein Uhr morgens kam und ging, die Pizzen kühlten aus, ohne das viel von ihnen gegessen wurden. Der Mann im Fernsehen schlug gerade mit einer Axt die Tür zum Badezimmer ein, in dem sich seine Frau versteckte und sich vor Angst erstarrt mit einem Küchenmesser in der Hand ihrem baldigen Ende entgegen schrie. Max döste langsam auf der Couch ein. Alarmiert schreckte er hoch. Wie viel Uhr war es? Draußen war es noch dunkel und ein Blick auf sein Handy verriet ihm, das es bereits vier Uhr morgens war. Warum war er aufgewacht? Max Blick blieb an den Pizzakarton hängen. Tyson, natürlich, wo steckte er nur? Hatte er vielleicht gerade an der Tür geklingelt und Max war deswegen aufgeschreckt? Sicherheitshalber rappelte sich der blonde Amerikaner auf und ging zur Haustür. Er öffnete die Tür und spähte hinaus, aber davor wartete niemand. Dann sah er erneut auf sein Handy. Keine Anrufe, keine Nachrichten. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Erneut wählte er Tysons Nummer. Doch noch immer war das Handy ausgeschaltet. Nervös lief Max in der Wohnung auf und ab, warf immer wieder Blick auf sein Handy, doch vergebens. Was sollte er nun tun? Wen anrufen? Max Blick blieb auf einmal an dem noch eingeschalteten Fernseher hängen. Der Ton war auf ein Minimum herunter gestellt, sodass nur ein Murmeln zu verstehen war. Die Frühnachrichten wurden soeben von einer Sondermeldung unterbrochen. Ein Foto von Tyson, das nach der letzten Weltmeisterschaft aufgenommen wurde, wurde eingeblendet. Max schluckte hart und stürzte sich dann auf die Fernbedienung um den Ton herauf zu drehen. „ …verursacht. Dabei wurden vier Menschen schwer, zwei weitere leicht verletzt. Unter den Schwerverletzten befindet sich auch der Beybladestar und Weltmeister Tyson Granger. Nähere Hinweise zur Unfallursache sind noch nicht bekannt. Wir werden sie über weitere Informationen in dieser Sache auf dem Laufenden halten. Nun zurück zu unserer Sendung …“ Max war wie betäubt. Wie hatte das denn passieren können? Hätte er nicht schon längst etwas merken müssen, als Tyson nicht gekommen war und sich auch nicht gemeldet hatte? Was sollte er jetzt tun? Was war eigentlich genau passiert? Auf der Suche nach einer weiteren Nachrichtensendung, die über den Unfall berichtete, zappte er ziellos durch das Programm. Sein Handy klingelte plötzlich und Max zuckte erschrocken zusammen. Vielleicht hatte er nur geträumt, dass er eben einen solchen Bericht im Fernsehen gesehen zu haben und nun meldete sich Tyson beim ihm und hatte für seine Verspätung eine lächerlich einfach Erklärung. Panisch stürzte sich Max auf sein Telefon. Mr. Dickenson versuchte ihn zu erreichen. Augenblicke starrte Max auf sein Handy ohne den Anruf anzunehmen. Mr. D., nicht Tyson, das konnte nur eins bedeuten. Er war wahr. Alles. Mit zitternden Fingern ging er an sein Telefon. *** Kai sah auf seine Uhr. Es war kurz nach eins. Tala verspätete sich mal wieder. Eigentlich wusste Kai nicht mal warum er sich überhaupt noch die Mühe machte pünktlich zu den gemeinsamen Treffen mit Tala zu kommen. Er wurde jedes Mal um eine halbe Stunde versetzt. Wenigstens danach konnte man die Uhr stellen. Tala kam immer minuziös eine halbe Stunde zu spät. Eigentlich ärgerte er sich auch nicht über Talas Unpünktlichkeit, nur darüber, dass er sie wieder einmal nicht in seine Zeitplanung mit eingerechnet hatte. Seufzend winkte er einen Kellner zu sich heran und gab schon mal seine eigene Bestellung auf. Mit dem Mittagessen würde er ganz sicher nicht auf Tala warten. Wenigstens hatten sie sich in einem Cafe verabredet, so musste er diesmal nicht in der Kälte herumstehen. Kais Handy klingelte, als der Kellner gerade wieder mit seiner Bestellung den Tisch verlassen hatte. Mr. Dickenson. Kai knurrte. Er hatte gehofft ein paar freie Tage verbringen zu können, ohne von der BBA belästigt zu werden. Er stellte sein Handy auf lautlos um und ließ es zurück in seine Manteltasche gleiten, ohne den Anruf anzunehmen. Wenn es sich um etwas Wichtiges handelte würde Mr. Dickenson sicherlich später noch einmal anrufen. Er überlegte kurz ob es bei Mr. Dickson vielleicht schon Neujahr war und schüttelte dann irritiert den Kopf. Er wusste ja nicht mal wo der Leiter der BBA seine Feiertage verbrachte. Das Mädchen am Nebentisch, das schon die ganze Zeit über mit ihrem Smartphone herum gespielt hatte. Fing plötzlich an aufgeregt mit ihrer Tischnachbarin zu diskutieren und deutet dann mit dem Finger auf ihn. Kai seufzte. Sie hatte ihn scheinbar erkannt und nun die Entdeckung eines Beybladestars am Nebentisch ihrer Freundin mitgeteilt. Aber musste sie denn unbedingt mit dem Finger auf ihn zeigen? Besaßen die Leute denn heutzutage denn gar keinen Anstand mehr? Kais Suppe wurde gerade serviert als Tala völlig atemlos in das Cafe stürzte. Kai blinzelte und sah dann auf seine Armbanduhr. Tala hatte sich nicht so sehr verspätet wie sonst – ein Umstand der Kai sichtlich irritierte. „Ich hab´s gerade erst gehört.“, keuchte Tala, während er sich erschöpft auf den Stuhl gegenüber Kai sinken ließ. Mit einer abweisenden Geste winkte er den Kellner vom ihrem Tisch weg. „Was gehört?“ „Du weißt es noch nicht?“, fragte Tala verzog mitfühlend das Gesicht. „Tyson hatte einen Autounfall und liegt schwer verletzt auf der Intensivstation.“ Kai entglitt der Löffel, landete klappernd auf dem Tellerrand und verspritzte die Suppe über die Tischdecke. *** Kenny defragmentierte gerade seine Festplatte und betrachtete gelangweilt, wie die Anzeige auf seinem Bildschirm viele rote Striche in einen dicken blauen Balken verwandelte. Er brachte vor dem Jahreswechsel immer seinen Rechner auf Vordermann, so wie andere die Wohnung aufräumten oder sich noch von ein paar alten Sachen trennten, mistet er eben seine Festplatte aus. Er war eben etwas eigen, was seinen Computer anging, der ihm manchmal viel menschlicher in seinen Macken und Verhaltensweisen vorkam, als so manch lebendige Person. Kennys Blick glitt zu dem Hotelbett hinüber, auf dem sein Kostüm für heute Abend lag und er grinste. Er hatte es über einige Kontakte geschafft eine Einladung zu einer ziemlich exklusiven – exklusiv, wenn man Kreise betrachte die die meisten Menschen wohl als Computernerds betrachtet hätten – Silvesterparty zu bekommen. Er war eigentlich halbwegs froh, dass seine Freunde nicht wussten, dass er heute Abend auf eine Kostümparty gehen würde. Sie hätten ihn sicherlich damit aufgezogen. Allen voran Tyson und Max. Es war gut ab und an seine Geheimnisse zu haben. Die vertraute Melodie seines klingelnden Mobiltelefons holte Kenny aus seinen Gedanken. Irritiert sah er sich und versuchte die Quelle des Geräusches zu ermitteln, vermutete es in seiner Reisetasche und begann damit sein Gepäck zu durchwühlen. Er brauchte eine gefühlte Ewigkeit bevor er sein Telefon aus dem Ärmel eines seiner Pullovers gefummelt hatte. Wobei er nicht wusste, wie es dahin gekommen war. Zumindest hatte der Anrufer noch nicht aufgelegt. Kenny ging an sein Telefon. Kenny war zu Boden gesunken. Seine eigenen Füße hatten ihn einfach nicht mehr getragen. Er sah zu seinem Computer, der noch immer dünne rote Striche in blaue Balken verwandelte, als wäre überhaupt gar nichts geschehen. Er brauchte Informationen. Mr. D. hatte nicht viel über Tysons Unfall gesagt, oder nicht viel am Telefon darüber sagen wollen. Völlig entgegen seiner Gewohnheiten brach Kenny den Defragmentierungsvorgang seines Computers vorzeitig ab und begann damit das Internet nach Information über den Unfall zu durchsuchen, was sich als ziemlich erfolglos herausstellte, da die Medien selbst noch nicht sehr viele Informationen gesammelt hatten. Er musste mit jemandem reden. Kenny wusste dass Ray nicht mal zwei Stunden von ihm entfernt mit den White Tigers feiern wollte. Sicherlich war ihm genauso wenig nach Sekt und Feuerwerk zumute wie Kenny selbst und so würde er den Abend wenigstens nicht allein verbringen. Kenny suchte sich eine Zugverbindung heraus und schaltete dann seinen Laptop aus, um ihn zu seinen übrigen Sachen in die Reisetasche zu stecken. Dann zog er den Reisverschluss zu und schulterte seine Reisetasche. Er hatte nicht viel Zeit um seinen Zug zu Ray zu erreichen. Das Kostüm, das er heute Abend zu der Silvesterparty hatte tragen wollte, ließ er im Hotelzimmer zurück. Kapitel 7: Monolge im Schattentheater ------------------------------------- 7. Monologe im Schattentheater „Eine Dusche könnte dir auch nicht schaden.“, sagte Kai und ließ den Autoschlüssel in seiner geschlossenen Faust verschwinden. Er zögerte einen Augenblick, dann nahm er auch die Fernbedienung für das Garagentor an sich und stieg wieder aus dem Auto aus. Ray wartete einige Augenblick, bis er sicher war, dass Kai die Garage verlassen hatte und ließ dann erschöpft seinen Kopf auf das Lenkrad sinken. Das glatte Leder des Lenkrads kühlte seine Wange. Warum war er auf einmal so müde? Kais Zurechtweisung war eigentlich noch nicht mal eine gewesen, wenn man es mit den Schimpftiraden verglich, die Kai manchmal vom Stapel ließ, wenn er sich nur einen kleinen Fehler geleistet hatte. Trotzdem fühlte er sich gedemütigt. Erschöpft und gedemütigt. Ray schloss die Augen. Einige Ereignisse flammten gestochen scharf vor seinem inneren Auge auf. Tyson, der ihm zu einem Sieg in der Beyarena gratulierte. Tyson, der ihm lachend zum Abschied zuwinkte. Tyson, wie er im Krankenhaus, an diese vielen Maschinen angeschlossen, reglos da lag. Tyson, der freudestrahlend auf ein All-you-can-eat-Buffet zulief. Tyson, der nach einem gewonnen Kampf, dem geschlagenen Gegner Mut zusprach. Tyson, wie er im Krankenhaus, an diese vielen Maschinen angeschlossen, reglos da lag. Rays Gedanken drifteten ab… „Ray, wach auf. Ray!“ Etwas rüttelte sanft an seiner Schulter und holte Ray aus seinen Träumen. Er musste kurz eingenickt sein. Mühsam öffnete er die Augen und sah ein etwas verschwommenes Abbild von Kai wieder neben sich auf dem Beifahrersitz sitzen. Hatte der Russe die Garage nicht eben erst verlassen? Ray rieb sich die Augen und wischte Feuchtigkeit von seinem Wangen. Er hatte gar nicht gemerkt, dass er geweint hatte. Hastig wischte er die Tränen weg, obwohl er sich sicher war, dass Kai sie längst bemerkt haben musste. „Na endlich. Ich dachte schon, ich bekomm dich gar nicht mehr wach.“, sagte Kai und machte eine strenge Miene, klang aber irgendwie erleichtert. Kai beugte sich über Ray hinweg um die Autotür auf der Fahrerseite zu öffnen und schob Ray förmlich aus dem Auto. Kais Hand streifte seine eigene und es war als hätte etwas glühend heißes ihn berührt. Ray zuckte kurz zusammen und bemerkt dann dass ihm eiskalt war. „Wie lange warst du weg?“, fragte er und schlang die Arme eng um seinen Körper. Ray fühlte sich steif und ungelenk dabei. Er war völlig ausgekühlt. „Ich bin mir nicht ganz sicher. Ein halbe Stunde vielleicht.“, sagte Kai und kam um das Auto herum um Ray endlich zurück ins Haus zu bringen. Dem Schwarzhaarigen war das nur recht, er hatte das Gefühl im Moment keinen Schritt aus eigenem Antrieb heraus gehen zu können. Wiederstandlos ließ er sich von Kai zum Haus befördern. Allerdings achtete er darauf seinen Kopf gesenkt zu halten, weil er wieder zu weinen begonnen hatte. Dabei wusste er noch nicht einmal genau warum. Aus Erschöpfung. Wegen Tysons Zustand. Aufgrund der Tatsache, dass er sich nicht mehr im Griff hatte. Sicherlich war es alles irgendwie zusammen. Rays Atmung verflachte sich bei jedem Atemzug, den er tat. Seine Tränen verschlimmerten diesen Zustand nur noch. Plötzlich hatte er das Gefühl nicht mehr genügend Luft zu bekommen. Er konnte sein Schluchzen nicht mehr unterdrücken und ließ sich erschöpft in das gefrorene Gras sinken. „Scheiße Ray, steh wieder auf.“, fluchte Kai und versuchte Ray sofort wieder auf die Beine zu bringen, der jedoch verharrte wie festgefroren an Ort und Stelle. „Ich kann nicht.“, hauchte er und versuchte die quälende Wahrheit, die er in den letzten paar Tagen so gut verdrängt hatte, wieder einmal von sich wegzuschieben. „Ich will nicht. Ich will es nicht wahrhaben.“, murmelte Ray kaum hörbar und Tränen rannen aus seinen Augen. Ray blinzelte angestrengt, doch er konnte nicht verhindern, dass sich seine Augen erneut mit Tränen füllten. Er schluchzte, er hatte sich nicht mehr unter Kontrolle. Ray spürte wie sich Kais Arme um ihn legten und ihn in eine safte Umarmung zogen. Es war ihm nur recht sich im Moment bei einem Freund anlehnen zu können. „Es ist okay.“, murmelte Kai und tätschelte Ray etwas unbeholfen den Kopf, der sich nun wie ein Kind an ihn schmiegte und hemmungslos weinte. Kai mochte solche Art von Situationen eigentlich nicht. Es war ihm immer unangenehm wenn Menschen solche Emotionen vor ihm zeigten und dabei derart die Selbstbeherrschung verloren. Er machte sich gerne vorher schon aus dem Staub. Doch irgendetwas sagte ihm, wenn er den alten Ray zurück haben wollte, musste er dieses Mal wohl oder über eine Ausnahme machen. *** Kai wachte am nächsten Morgen schon sehr früh auf. Er hatte schlecht geschlafen, weil sich Ray in der Nacht immer wieder unruhig umher gewälzt hatte. Schlechte Träume hatten den Chinesen verfolgt. Dennoch war es gut, dass Ray überhaupt einmal für längere Zeit geschlafen hatte. Kai hatte Ray am Abend zuvor in dessen Bett gelegt, nachdem Rays Beine vor Erschöpfung einfach unter ihm nachgegeben hatten. Kai war geblieben, da er Ray in diesem Zustand nicht allein lassen wollte und konnte. Ray hatte sich an ihn gekuschelt, als ob es das normalste der Welt gewesen wäre. Kai war das unangenehm gewesen. Normalerweise zog er eine strickte Grenze, was solchen emotionalen körperlichen Kontakt betraf. Diese Grenze sagte bereits, dass er normalerweise Umarmungen nur in Notfällen in Betracht zog. Rays Verhalten hatte diese Grenze nicht nur überschritten. Sie hatte sie in einem weiten Sprung hinter sich gelassen. Normalerweise. Aber was war jetzt schon normal? Kai setzte sich im Bett auf und fluchte heftig als er sich den Kopf an der Dachschräge über dem Bett stieß. Murrend rieb er sich den Schädel. Er sah zu Ray, der neben ihm, den Kopf in eine Armbeuge gelegt, schlief. Zumindest war Ray nicht aufgewacht. Kai schwang sich vorsichtig aus dem Bett und betrachtete sich im Spiegel. Er sah ein wenig übernächtig aus und seine Kleidung war zerknittert, weil er darin geschlafen hatte. Er betrachtet seine Stirn konnte jedoch keine Beule erkennen. Kai entschied dass er sich auch duschen und umziehen konnte, nachdem er aus dem Krankenhaus zurück gekehrt war. *** „Guten Morgen Kai. Der Zustand deines Stiefbruders ist leider immer noch unverändert. “, grüßte ihn die Schwester am Stationstresen, als er an ihr vorüber ging. Das war die Lüge gewesen, die er den Schwestern gestern aufgetischt hatte, damit er kommen und gehen konnte, wann immer er wollte. Tyson und er waren Stiefgeschwister. Seltsam wie schnell die Tatsache von den Schwestern ohne Nachfragen akzeptiert wurde. Mit einigen gezielten Nachforschungen hätten sie seine Täuschung allzu schnell durchschauen können, doch sie machten sich keineswegs die Mühe. Vielleicht erschien die Lüge auch plausibler, als er glauben mochte. Niemand hielt sich so lange in der Nähe von jemand auf, mit dem er ständig aneinander geriet, wenn er nicht mit ihm verwandt war. Kai murmelte einen guten Morgen und ging dann in Tysons Zimmer. Irgendjemand hatte einen neuen Blumenstrauß geschickt, der sich jetzt neben den anderen auf dem viel zu kleinen Nachttisch drängte. Ansonsten hatte sich nichts verändert. Kai zog seinen Mantel aus und hängte ihn an einen Haken an der Wand. Dann ließ er sich in den Sessel neben dem Krankenbett sinken und seufzte. „Du fragst dich sicherlich, warum ich so abgerissen aussehe.“, begann Kai und zog demonstrativ sein T-Shirt zurecht. „Du würdest auch so aussehen, wenn du in deinen Klamotten geschlafen hättest. Ich weiß, ich wie, ich hätte mich ja umziehen können bevor ich her gefahren bin. Aber es interessiert dich wahrscheinlich eh nicht, was ich anhabe, sonst hättest du ja zur Begrüßung die Augen öffnen können.“ Kai machte eine kurze Pause und fuhr sich mit den Händen durch das Haar. „Ray hatte gestern einen Zusammenbruch. Er hat sich endlich selbst eingestanden, dass du im Koma liegst und wir nichts für dich tun können ... Ich habe noch nie jemanden so weinen sehen.“ Kai schüttelte nachdenklich den Kopf und stand auf um im Zimmer auf und ab zu gehen. Er fühlte sich als hätte sich zu viel Energie in ihm aufgestaut, die er auf irgendeine Weise abbauen musste. „Ich denke Ray vermisst dich schrecklich und kann mit der ganzen Situation nicht umgehen. Ich habe mich so hilflos gefühlt als er sich an meiner Schulter ausgeheult hat. Normalerweise bin ich doch nicht der Mensch, der für andere da ist. Eigentlich könnte ich ja jetzt sagen, dass du daran schuld bist, oder Ray daran schuld ist, dass ich in eine solche Situation geraten bin, die ich sonst immer meide. Aber ich hätte ja Ray nicht so weit bringen müssen. Ich hätte ja Rays was-geht-dich-das-an-?-Einstellung noch ein paar Tage mit ansehen können….“ Kai brach ab und durchquerte zweimal das Zimmer bevor er weitersprach. „ … aber Ray hat mir Angst gemacht.“ Kai schwieg. Er war selbst davon überrascht von dem, was er gerade gesagt hatte. „Ich hoffe er wird jetzt wieder annähernd der Alte sein. Er hat noch geschlafen als ich gegangen bin. Es würde mich nicht wundern, wenn er den ganzen Tag verschläft so fertig wie er war. Deshalb bin ich auch in zerknitterten Klamotten hier. Ray wollte mich gestern nicht gehen lassen. Hat sich an mich geklammert, wie ein Ertrinkender an einen Rettungsring. Ray ist praktisch in meinen Armen eingeschlafen. Und ihn in sein Bett zu legen war nicht gerade leicht. Ray mag zwar schmächtig aussehen, aber er ist auch nicht gerade eine Elfe …“ Kai hielt an Tysons Bett inne und strich abwesend eine Falte in der Bettdecke glatt. „Mariah hätte gestern für ihn da sein sollen. Schließlich sind die beiden sowas wie ein Paar. Aber Ray bekommt es ja nicht mal auf die Reihe fünf Minuten mit ihr zu telefonieren. Ich hoffe wirklich, dass er sich wieder fängt. Ich bin für so etwas nicht geschaffen. Du bist der, der das ganze Team zusammen hält.“ Die Tür zu Tysons Krankenzimmer ging auf und die Stationsschwester kam mit einem Infusionsbeutel in der Hand herein. Das war Kais Zeichen zu gehen. „Bis Morgen, alter Freund.“, sagte Kai bevor das Zimmer verließ. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)