Grenzgänger von whitePhobia (change between light an dark) ================================================================================ Kapitel 2: Heliozentrik ----------------------- 2. Heliozentrik Eigentlich war die Welt ja beschissen, zumindest heute. Wolken glitten an dem viereckigen Fenster mit den abgerundeten Ecken vorbei. Weiße Gebilde aus gasförmigem Wasser, die eine unwirkliche Landschaft vor dem strahlend blauen Himmel bildeten. Berge und Täler, flache Ebenen und zerklüftete Klippen, all das aus einem Weiß, das so strahlend und rein war, dass man seine Augen vor der Helligkeit schützen musste. Und über allem stand die Sonne, gleisend wie geschmolzenes Metall überstrahlte sie diese sterile Landschaft. Ray hätte sich genauso gut in einem Raumschiff über einem fremden Planten und nicht in einem normalen Flugzeug befinden können. Zumindest fühlte er sich so, wie ein Fremdkörper. Die Tragflächen des Flugzeugs durchschnitten gerade einen unnatürlichen hohen Wolkenberg und ließen die weiße Masse in Strudeln umher wirbeln. Ray wandte seinen Blick vom Fenster ab, es war zu viel für ihn. Seine Augen tränten schon, geblendet durch das helle Licht. Er sah sich stattdessen in der Kabine um. Die hellen Beigetöne und das sanfte Summen der Klimaanlage sollten wohl eine entspannte Atmosphäre vermitteln und einen davon ablenken dass man sich 10.000 Meter über dem Meer befand, mit nichts weiter als ein paar Schichten Metall zwischen sich und dem freien Fall. Er mochte das Fliegen nicht. Nicht dass er Angst davor gehabt hätte, aber er empfand es einfach als unnatürliche Art des Reisens, auch wenn sie der einzige Weg war nicht wochenlang unterwegs zu sein, um von A nach B zu kommen. Das sie jetzt in einem Privatflugzeug saßen und nicht wie Geflügel in der Massentierhaltung, auf eine bestimmte Sitzplatzgröße mit hunderten Anderen zusammengepfercht waren, machte die Situation kaum besser. Wenigstens ließen die Kopfschmerzen langsam nach. Während Kenny gestern geschlafen hatte, hatte Ray weiter dem Alkohol gefrönt, ohne sich allerdings noch ein weiteres Mal der Anbetung der Toilette zu widmen. Ein schwerer Fehler, wie sich am Morgen heraus gestellt hatte. Viel zu früh hatte ein Fahrer sie abgeholt und zum Flughafen gefahren und zu Rays Ärger auch noch darauf bestanden, dass Ray sich einen Koffer packte und sich etwas Anständiges anzog. Nach der Meinung des Fahrers war ein Bademantel scheinbar nicht die richtige Bekleidung für einen 18-Stunden-Flug. Ray war sich nicht sicher ob er sich dafür verfluchen sollte Kenny in der Nacht hereingebeten zu haben - schließlich hatte Kenny dem Fahrer die Tür geöffnet - oder dankbar für Kennys Anwesenheit sein sollte, der dafür gesorgt hatte, dass Ray überhaupt etwas Brauchbares in seinen Koffer tat. Ray nahm einen großen Schluck aus seinem Wasserglas und fuhr sich dann prüfend über Wangen und Kinn. Sie fühlten sich rau und stoppelig an. Eigentlich sollte er sich dringend rasieren bevor sie landeten, sicherlich sah er furchtbar aus. Genauso wie er sich auch fühlte. Ray drückte den Knopf um das Servicepersonal zu rufen und ließ sich von der Stewardess eine Zahnbürste und einen Kamm geben. Wenn er schon keine Lust hatte sich zu rasieren konnte er wenigsten einen ansonsten gepflegten Eindruck vortäuschen. Ray ging in die winzige Toilettenkabine. Trotz ausladender Sitze, genügend Beinfreiheit und einem individuellen Laptoparbeitsplatz, die Kabine, die man hier als „Bad“ bezeichnete, unterschied sich in nichts von den Toiletten an Board einer Chartermaschine. Ray betrachtete sein Abbild im Spiegel. Dunkle Schatten auf den Wangen, rot geränderte Augen, zerzaustes Haar; jede dahergelaufene Straßenkatze sah ansehnlicher aus. Er fasste sich an die Stirn, wenn nur seine Kopfschmerzen endlich verschwinden würden, wenn sie nur endlich landen würden, dann würde er sicher wieder klarer denken. *** Als hätte man den stufenlos verstellbaren Dimmschalter einer Lampe noch eine halbe Umdrehung in die Höhe gedreht, strahlte die Sonne vom Himmel herab, als Ray das Flugzeug verließ. Seine stechenden Kopfschmerzen hatten sich mit dem Aufsetzen des Fahrwerks auf der Landebahn verflüchtigt, und einem dumpfen Dröhnen Platz gemacht, das seine Laune kaum bessern konnte. Ray schob sich die Sonnenbrille die Nase hinauf und betrachte die Welt durch seine abgedunkelten Gläser. Sie schien ihm so viel verträglicher, weniger real zu sein. Wie ein stark vergilbtes Schwarz-Weiß-Foto stand das beige Flugzeug auf einer graubraunen Landebahn vor einem ungesund wirkenden, schwefelgelben Himmel. Die Luft war beißend kalt. Ray seufzte und zog den Mantel enger um sich. Er wäre am liebsten sofort wieder umgekehrt, als er den dunklen Van sah, der wenige Meter vom Flugzeug entfernt, auf dem Rollfeld schon auf sie wartete. Doch das Kabinenpersonal, das gerade die Koffer entlud, versperrte ihm den Rückweg ins Flugzeug. Mr. Dickenson wartete neben dem Wagen auf ihn und Kenny, der vor Ray aus dem Flugzeug gestiegen war. Der kleine rundliche Mann mit dem schwarzen Bowler und dem dunklen Anzug, der Ray immer wie ein jeder Brandung trotzenden Fels vorgekommen war, machte einen geknickten Eindruck. Der ausladende weiße Schnurrbart hing schlaff herab und Mr. D. warf immer wieder einen gehetzt wirkenden Blick auf seine Armbanduhr, sodass sich das Sonnenlicht auf den Gläsern seines Zwickers spiegelte. „Wie geht es ihm?“, fragte Kenny, ohne jede Begrüßung, als sie den Van erreicht hatten. Mr. Dickenson schüttelte leicht den Kopf. „Sein Zustand ist stabil, aber er liegt immer noch im Koma.“ An Ray rauschte diese Antwort vorbei. Er hörte sie zwar, doch etwas in seinem Kopf hinderte ihn daran den Inhalt zu verstehen. Er nickte Mr. D zu und glitt auf den Rücksitz des Vans. Im Wagen war es angenehm düster, die getönten Scheiben ließen nur wenig Licht ins Wageninnere. Ray nahm seine Sonnenbrille wieder ab. Er lehnte seinen Kopf seitlich gegen die Fensterscheibe und starrte lethargisch auf das Flughafengelände hinaus. Sein Körper sehnte sich nach Schlaf. Seit er diesen verfluchten Anruf vor zwei Tagen bekommen hatte, hatte er kein Auge mehr zugetan. Etwas in Ray schrie förmlich danach, seine Augen doch nur für einen Moment zu schließen und sich zu entspannen und …. Ray schreckte hoch, er war für eine Sekunde weggedöst. Er presste sich seine Fingernägel in den linken Unterarm bis der Schmerz ihm einen kleinen Adrenalinschub verschaffte und setzte sich dann übertrieben gerade hin. Er wollte nicht schlafen, noch nicht. Der Kofferraum des Vans wurde zugeschlagen und Kenny und Mr. D stiegen zu ihm ins Auto. „Ihr werdet vorerst abgeschirmt.“, sagte Mr. D. und sah sie beide durchdringend an, während sich der Wagen langsam in Bewegung setzte. „Irgendwie hat die Presse zum Teil bereits von Tysons Unfall erfahren und ich möchte nicht, dass ihr von Journalisten bedrängt werdet. Die Situation ist schon schlimm genug.“ Ray wandte seinen Blick von dem alten Mann ab und sah aus dem Fenster. Er konnte diesen Blick nicht mehr ertragen, in dem so viel Trauer und Mitleid lag, genauso wie er Mr. Dicksensons Stimme nicht mehr ertragen hatte, an diesem beschissenem Morgen vor zwei Tagen. Eigentlich hatte Ray an diesem 31. Dezember lange ausschlafen wollen und den Plan gehabt, sich am frühen Abend mit dem White Tigers zu treffen, um mit ihnen ins neue Jahr zu feiern. Stattdessen hatte ihn das Klingeln seines Handys viel zu früh aus dem Schlaf gerissen. Ray grauste es immer noch, als er sich an das darauf folgende Telefongespräch erinnerte, das sich in sein Gehirn gebrannt hatte, wie eine achtlos umgestoßene Kerze in einen teuren Teppich. *** „Ja, was gibt´s?“, gähnte Ray in sein Telefon und rieb sich verschlafen die Augen. „Guten Morgen Raymond, hier ist Mr. Dickenson.“ Ray runzelte verwirrt die Stirn, als er mit seinem vollen Vornamen angesprochen wurde. Was sollte diese ungewohnte Förmlichkeit? „Mr. D. ist alles in Ordnung?“, fragte Ray mit einem mulmigen Gefühl im Magen, als nach der Begrüßung am anderen Ende der Leitung Schweigen herrschte. „Nein.“, der alte Mann atmete einmal tief durch. „Es tut mir leid Ray. Tyson hatte einen Autounfall, einen ziemlich schweren. Er liegt im Koma.“ „WAS?“Ray nahm kaum wahr wie schrill seine Stimme klang. Er war sich sicher, dass das nur ein schlechter Scherz sein konnte. „Er wollte doch Silvester bei Max in Amerika feiern. Er hat in der Nacht ein Taxi vom Flughafen genommen und es gab wohl Blitzeis auf dem Interstate Highway. Auf jeden Fall ist der Wagen ins Schleudern geraten und in die Leitplanke gerast. Das Auto hat sich nach dem Zusammenprall ein paar Mal überschlagen. Dem Taxifahrer ist kaum etwas passiert, aber Tyson wurde schwer verletzt und im Krankenhaus in ein künstliches Koma versetzt.“ Mr. Dickenson hatte die ganze Geschichte so schnell herunter gerattert, als hätte er sie von einem Zettel abgelesen. „Ich bin gerade auf dem Weg zu ihm. Kenny und du, ihr werdet morgen abgeholt und fliegt hierher. Ich habe schon alles arrangiert. Ray ? …. Ray?“ Rays Gedanken schweiften ab, die letzten Worte seines Gesprächspartners drangen nur noch wie durch einen dicken Nebel zu ihm. Das alles konnte nicht wahr sein. *** Ray wusste gar nicht mehr, ob er noch irgendetwas gesagt, oder einfach aufgelegt hatte, weil er Mr. D. Stimme die wieder und wieder seinen Namen wiederholte nicht mehr ertragen hatte. Es war ihm Moment auch egal. Das leichte Vibrieren des Wagens beim Beschleunigen potenzierte seine Kopfschmerzen jetzt so stark, dass er sich fast zurück in das Flugzeug wünschte. Ray hoffte, dass die Autofahrt nicht allzu lange dauern würde, weil es für ihn ansonsten nur wahrscheinlich war, dass sein Kopf explodieren würde. Er sah förmlich schon wie hellrote Blutspritzer und weiße Hirnmasse die Innenraumverkleidung aus grauem Velours bedeckten und das Gemisch wie stückige Marmelade von der Decke tropfte, als der Wagen anhielt. Der Kopfschmerz ließ schlagartig nach, nachdem der Motor abgestellt worden war und verwandelte sich erneut in das dumpfe Dröhnen, das am Rand seines Bewusstseins lauerte. Mr. D und Kenny stiegen aus dem Wagen. Ray folgte ihnen nur zögerlich. Es kam ihm vor als wären sie keine zehn Minuten unterwegs gewesen. War er etwa während der Fahrt eingenickt ohne dass er es bemerkt hatte? „Wann können wir zu ihm?“, fragte Kenny, während der Fahrer ihre Koffer aus dem Auto entlud. „Morgen vielleicht. Ich muss noch einmal mit den Ärzten sprechen.“, meinte Mr. Dickenson etwas schleppend. „Ihr seid keine Angehörigen und ähm … es gibt da gewissen Vorschriften was Besucher angeht.“ Kenny nickte müde und schulterte seine Reisetasche. Scheinbar schien es ihm genauso egal wie Ray zu sein, welche bürokratischen Hürden für Nicht-Angehörige zu überwinden waren um zu Tyson durchgelassen zu werden. „Kai ist schon da… und Max ja sowieso. Ich rufe euch an, sobald es etwas Neues gibt.“, sagte Mr. Dickenson und stieg nach einem matten Winken zurück in den Wagen. Sobald er eingestiegen war fuhr das Auto langsam davon. Ray nahm seinen Koffer und schlurfte Kenny hinterher. Er nahm gar nichts von seiner Umgebung wahr. Weder das hohe Holztor, das sich automatisch hinter dem davonfahrenden Wagen schloss, noch den von hohen Hecken umstanden Garten, der sie vor neugierigen Blicken abschirmte. Auch hatte er keinen Blick für das dreigeschossige, mit roten Ziegel gedeckte, Haus übrig, das er gerade betrat; oder realisierte den Temperaturunterschied, der angenehmen Wärme im Inneren des Hauses und der frostigen schneefreien Kälte des Winters draußen. Stattdessen verfolgte er mit morbidem Interesse, wie sein Kopfschmerz durch die leichte Erschütterung, die das Aufsetzen seiner Füße auf das Pflaster verursachten, abrupt anschwoll um sofort wieder in dem unterschwelligen dumpfen Dröhnen zu versinken. Er fühlte sich wie ein außenstehender Arzt, der den Schmerz seines Patienten auf einem Monitor verfolgte. Fasziniert. Kai erwartete ihn und Kenny im Flur des Hauses. Ray entschied, nach einem kurzen Blick auf ihr Begrüßungskomitee, dass der Russe genauso miesepetrig wie immer aussah. Scheinbar schien ihn nie etwas wirklich zu berühren. Wahrscheinlich würde er sogar am Tag seiner eigenen Hochzeit diese Maske der emotionslosen Kälte zur Schau stellen. „Ihr seid sicher erschöpft. Ich zeige euch, wo ihr schlaft.“, meinte Kai tonlos und stieg schon die Treppe in den ersten Stock hinauf, ehe Ray realisierte, dass überhaupt etwas gesagt worden war. *** Als die Zimmertür ins Schloss fiel war Ray froh endlich wieder allein zu sein. Sein Zimmer war klein, schien aber recht gemütlich. Er war erleichtert darüber es sich mit niemandem teilen zu müssen. Die Dachschräge, unter der das Bett stand, schien ihm allerding prädestiniert dafür, sich morgens nach dem Aufwachen als allerstes den Kopf zu stoßen. Ray warf den Koffer auf sein Bett. Er fühlte sich auf einmal unendlich müde. Ein leises schwappendes Geräusch hielt ihn davon ab erschöpft zu Boden zu sinken und bündelte seinen Gedankenstrom wieder. Da waren drei oder vier Flaschen Alkohol in seinem Koffer. Ray erinnerte sich plötzlich wieder genau an das Streitgespräch, das er mit Kenny geführt hatte, der ihn davon abhalten wollte sie am Morgen in den Koffer einzupacken. Ray zog den Reißverschluss seines Koffers auf und klappte den Deckel nach hinten. Er stockte kurz, als er sah, was oben auf den, mehr oder weniger sorgsam in den Koffer geworfenen, Klamotten lag. Seine Nachttischlampe. Die Lampe, die normalerweise in seiner Wohnung auf einem Beistelltisch neben dem Bett stand … Wann hatte er die denn eingepackt, und warum? Ray konnte sich gar nicht daran erinnern sie überhaupt in der Hand gehabt zu haben. Leicht irritiert nahm er die Lampe aus dem Koffer und stellte sie auf das Tischchen neben seinem Bett um sich dem restlichen Kofferinhalt zu widmen. Ray hätte sich am liebsten selbst anerkennend auf die Schulter geklopft. Keine der vier Flaschen war zerbrochen. In betrunkenem Automatismus hatte er sie alle in einen seiner Wollpullover gewickelt: Noch so eine Aktion, an die er sich nicht erinnern konnte. Aber vielleicht endete der Tag doch nicht so beschissen, wie er begonnen hatte. It´s a light ray. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)