Grenzgänger von whitePhobia (change between light an dark) ================================================================================ Kapitel 1: Schattendasein ------------------------- 1. Schattendasein Es war zehn Minuten vor Mitternacht. Die Lichter der Stadt, die durch die geöffneten Vorhänge in die ansonsten unbeleuchtete Wohnung fielen, reichten für ihn aus um sich im Halbdunkel zu orientieren. Erst jetzt, als er alle Lichter ausgeschaltet hatte, fiel ihm auf wie hell die Stadt nachts noch strahlte. So hell, dass man die Sterne am Himmel kaum wahrnehmen konnte, weil sie von einer Straßenlaterne, einem Autoscheinwerfer oder einer Leuchtreklame überstrahlt wurden. In der Stadt hatte man gar nichts von der Dunkelheit der Nacht. Die Menschen hatten hier die Finsternis ausgesperrt und unter die Erde in ihre Keller und Abwasserleitungen verbannt. Sie hatten das Gefühl vergessen wie es war, wenn die vollkommene Schwärze einen trostspendend einhüllte, man von ihr verschlungen wurde und nichts Sichtbares mehr zu existieren schien. Ray sehnte sich nach dieser allumfassenden Dunkelheit. Sie war ja schließlich bereits in ihm und es kam ihm paradox vor, dass seine Umgebung nicht das wiederspiegelte, was er fühlte. Schwarze Leere. Ray saß im dunklen Badezimmer im heißen Wasser der Wanne und betrachtete durch das Fenster die Dächer der Stadt. All das da draußen schien ihm schrecklich fern zu sein. Eine einzelne Feuerwerksrakete zischte in einiger Entfernung in den Himmel und verteilte mit leisen Ploppen grüne Funken über den Dächern. Ray griff nach dem Glas, das auf dem Wannenrand stand und genehmigte sich einen großen Schluck. Weder der Alkohol noch die Hitze des Badewassers hatten das Nichts in seinem Inneren wirklich gefüllt. Beide hatten ihn für einige Minuten vergessen lassen, dass das Nichts existierte, doch nicht so lange wie er es sich gewünscht hätte. Ray beobachtete wie die Schaumkronen auf der Wasseroberfläche leise knisternd dahin schmolzen. Das Badewasser dampfte leicht an den Stellen, an denen es kein Schaum mehr bedeckte. Er seufzte und sein Blick glitt wieder zum Fenster. Wie auf ein unsichtbares Signal hin war der Himmel von einem bunten Funkenregen erfüllt. Begleitet von gedämpftem Knallen und langgezogenem Pfeifen schossen Raketen überall ihr Feuerwerk rosetten- oder kaskadenartig in die Nacht. Rauchschwaden wurden vom Wind fortgeweht wo ein Feuerwerk verglüht war. „Frohes neues Jahr.“, sagte Ray mit gespielter Fröhlichkeit und prostete einem unsichtbaren Gegenüber zu. Eigentlich sollte er auch dort draußen sein. Mit seinen Freunden feiern, auf das neue Jahr anstoßen, lachen, Spaß haben. Doch nicht heute, nicht nachdem, was passiert war. Ray hörte wie sein Handy dumpf ein paar Mal vibrierte. Er langte über den Wannenrand und fingerte es aus der Tasche seiner achtlos auf die Fliesen geworfenen Hose. Mariah hatte ihm eine SMS geschrieben, in der sie ihm ein paar Neujahrsgrüße schickte. Ohne eine Antwort zu senden warf er das Handy zurück auf seine Sachen. Das Feuerwerk vor seinem Fenster wurde seltener. Tropfen kondensierten Wassers sammelten sich auf der Fensterscheibe. Ray hob seinen Fuß aus dem Wasser und drehte mit seinen Zehen den Hahn für das heiße Wasser auf. Eine angenehm betäubende Hitze kroch von seinen Zehenspitzen seine Beine hinauf. Ray stellte den Wasserhahn erst ab, als die Hitze von dem stechenden Schmerz kochenden Wassers verdrängt wurde. Erneut griff er zu seinem Glas und musste feststellen, dass es leer war. Das durchdringende Geräusch der Türklingel ließ Ray erschreckt zusammenfahren. Er stellte das Glas nachlässig auf dem Wannenrand ab, worauf es abrutschte und ins Badewasser fiel. Es klingelte erneut. Ray stöhnte genervt auf. Welcher betrunkene Idiot konnte da die Namen auf den Klingelschildern nicht richtig lesen? Er erwartete heute keinen Besuch, erst recht nicht um diese Uhrzeit. Ray fischte sein Glas aus dem Wasser und goss langsam das Badewasser daraus aus. Wieder schrillte der langgezogene Ton seiner Türklingel durch die Wohnung. Ray knirschte mit dem Zähnen. „Gib doch endlich auf!“, flüsterte er eindringlich. Und wirklich vergingen einige Momente in völliger Stille, in denen Ray angestrengt lauschte. Er zuckte zusammen, als die Stille dann durch ein Klopfen an der Haustür durchbrochen wurde. Ein Funken Panik flammte plötzlich durch das Klopfen, wie ein angerissenes Streichholz auf. In Filmen klopften immer nur Verbrecher oder die Polizei. Jeder Normale begnügte sich damit dem Klingelknopf solange zu malträtieren bis ihm geöffnet wurde, oder auch nicht. Ray dachte nach. Wer war da an seiner Haustür, der ihn so dringend zu erreichen versuchte? Es war ruhig und dunkel in seiner Wohnung, nichts deutete auf seine Anwesenheit hin, wenn er sich weiter still verhielt … Rays Handy vibrierte. Der Vibrationsalarm ließ das Handy rhythmisch auf den Fliesen klappern. Ein ohrenbetäubendes Geräusch in der Stille, fand Ray. Er griff hektisch über den Wannenrand und schaltete mit einem langen Tastendruck sein Telefon aus ohne auf die Displayanzeige zu achten. „Ray, mach auf!“, erneut hämmerte jemand stakkatoartig gegen die Haustür. „Ich weiß dass du da bist. Lass mich rein!“ Ray hörte die Stimme gedämpft, konnte sie aber niemanden zuordnen den er kannte. Er verhielt sich weiterhin mucksmäuschenstill und hoffte dass die Vibration seines Handys nicht gehört worden war. Es klopfte noch zwei Mal, dann blieb es still. Ray seufzte erleichtert auf. Das letzte was er jetzt hätte gebrauchen können war Gesellschaft. Er ließ sich langsam komplett unter Wasser gleiten. Hier, gleich unter der Wasseroberfläche hatte er das Gefühl von allen anderen Problemen isoliert zu sein. Er allein mit dem Rauschen seines Pulsschlages in seinen Ohren, allein mit dem Geschmack des Badewassers auf seinen Lippen. Ray hielt die Luft an bis seine Lungen brannten. Erst dann tauchte er wieder auf. Sofort war der Zauber des Augenblicks vorbei. Rays Blick fiel auf das leere, mit Badewasser gespülte Glas. Mit einem Seufzer erhob er sich aus dem Wasser und verließ die Wanne. Er schenkte seinen auf den Fußboden geworfenen Sachen keine Beachtung und tapste nackt nur mit dem Glas in der Hand in den Flur. Er hinterließ nasse Fußabdrücke auf den hellen Holzdielen, doch er achtete nicht darauf. Ray brauchte das Licht nicht einzuschalten um sich zu orientieren, seine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, die ihn schon den ganzen Tag begleitete. Der Fliesenboden erschien ihm unnatürlich kalt unter seinen Füßen, als er die Küche betrat. Ray angelte sich eine Flasche aus dem Kühlschrank, schraubte sie an Ort und Stelle auf und nahm einige Schlucke. Angewidert verzog er das Gesicht, als er die Flasche wieder absetzte. Bitter und brennend lief der Alkohol seine Kehle hinab und hinterließ ein trockenes Gefühl in seinem Mund. Ray schloss den Kühlschrank wieder und betrachtete die Wasserlache zu seinen Füßen, die sich durch seine ständig tropfenden Haare gebildet hatte. Er zuckte mit der Schulter und tapste wieder hinaus in den Flur, die Flasche in der einen, das Glas in der anderen Hand. Ray wandte sich wieder in Richtung Badezimmer, doch bevor er einen Schritt tun konnte fiel sein Blick auf die Haustür. Er hielt inne. Dunkel und drohend ragte sie am Ende des Flures auf. Eine Mauer, die ihn vor all dem schützte, was auch immer da draußen lauern mochte. Ray presste die Lippen aufeinander. Vielleicht sollte er einen Blick nach draußen wagen. Nur um sich zu vergewissern, dass da draußen niemand mehr war. Ray schwankte leicht und stützte sich instinktiv mit den Fingerknöcheln an der Wand ab. Der Alkohol oder das Badewasser hatte seinen Gleichgewichtssinn getrübt. Sehr gut. Es würde nur noch wenig Nachhilfe bedürfen um seinen Geist in einen angenehmen Dämmerzustand des Vergessens zu überführen. Ray machte ein paar unsichere Schritte in Richtung Haustür. Er stellte die Flasche und sein Glas am Eingang zum Badezimmer ab. Er ging weiter zur Haustür und schloss sie zögerlich auf. Ray öffnete die Tür erst einen Spalt breit, dann ruckartig weit genug, dass er in den Flur hinaus blicken konnte. Dunkel und leer lag der Flur vor ihm. Ihm stieg der süßlich-herbe Geruch von verbranntem Feuerwerk in die Nase. Einer seiner Nachbarn hatte wohl schon im Treppenhaus ein paar harmlose Knaller gezündet, auch wenn sich Ray nicht an irgendwelchen Lärm erinnern konnte. Etwas Schweres fiel von ihm ab. Niemand war hier. Das Haus war vollkommen still. Er öffnete die Haustür ganz, wie um sich zu beweisen, dass es nichts gab vor dem man sich fürchten brauchte. „Dachte ich´s mir doch, dass du da bist.“ Ray fuhr zusammen. Er wandte seinen Blick zur Seite, wo auf halber Treppe zum nächsten Stockwerk jemand reglos in der Dunkelheit gesessen hatte. Der Schatten stand auf und löste sich somit von der ihn umgebenen Finsternis. Die Sohlen von Turnschuhen quietschten auf dem blankpolierten Holz der Treppe. Ein Geräusch, das bei Ray eine Gänsehaut verursachte. Mit leisem Tappen schritt die Gestalt die Stufen zu Ray hinab. Ray brauchte gar nicht erst zu sehen wer da aus den schwarzen Schatten ins Halbdunkel trat, um zu erkennen, wer auf ihn gewartet hatte. Er hatte die Stimme bereits erkannt. Kenny. „Du hättest dir ruhig etwas überziehen können, bevor du mir die Tür aufmachst.“, Kennys Stimme triefte vor Sarkasmus. Ein Tonfall der fremdartig klang und gar nicht zu ihm passte. Warum hatte er nur die Tür aufgemacht, fragte Ray sich? Er hätte einfach zurück ins Badezimmer gehen sollen, sich betrinken sollen in der Hoffnung, dass er seinen angenehmen Dämmerzustand erreichte bevor seine Finger schrumpelig wurden. „Bittest du mich gar nicht herein?“ Kennys Blick fiel auf die Pfütze, die Rays tropfende Haare nun auf der Türschwelle hinterließen. „Doch.“, Ray trat beiseite um seinen `Gast` einzulassen und schloss die Haustür hinter ihnen wieder ab. *** „Mister D. hat mich angerufen und ich konnte heute weder alleine sein, noch irgendwo feiern gehen.“, sagte Kenny, als er den Flur entlang ging. Ray wollte verständnisvoll nicken, doch als er seinen Kopf bewegte drehte sich der Flur um ihn. Er stützte sich abermals an der Wand ab und blinzelte ein paar Mal heftig bis die Welt wieder still stand. Kenny war bereits ein paar Schritte den Flur entlang gegangen und stellte nun seine Reisetasche an der Wand gegenüber dem Badezimmer ab, den Blick starr auf die Flasche und das Glas auf der Türschwelle gerichtet. „Darf ich?“, fragte er Ray, der nur eine wegwerfende Handbewegung machte um zu zeigen, dass er sein Einverständnis gab. Er wollte keine unüberlegten Bewegungen machen, damit die Welt nicht wieder in Rotation geriet. „Geh schon ins Wohnzimmer und fühl dich wie Zuhause.“, murmelte Ray zu Kenny „Ich zieh mir nur was über.“ Ray torkelte, sich halb an der Wand stützend, ins Badezimmer. Er hatte einen sauren Geschmack im Mund und wusste was gleich kommen würde. Ray würgte und spürte wie sein Mageninhalt, der aus nichts außer Alkohol bestand, sich langsam seine Speiseröhre hoch schob. Er kniete sich vor die Toilette und klappte den Deckel hoch. Seine Knie schlugen schmerzhaft auf die Fliesen. Doch diesen Schmerz spürte er kaum. Die Kälte des Porzellans der Toilettenschüssel kroch in seine Finger, als er sich daran abstützte. Schon erbrach er die erste Welle klarer Flüssigkeit. *** Er presste die Finger seiner rechten Hand gegen die geschlossenen Augenlider und wartete bis er die Kontrolle über seinen Körper halbwegs wieder zurück erlangt hatte. Als das taube Gefühl in seinen Armen und Beinen langsam nachließ öffnete er die Augen wieder. Das Badezimmer um ihn drehte sich nicht mehr, schwankte aber noch, wie ein Schiff in starkem Seegang. Weiße und schwarze Flecken tanzten vor seinen Augen, so stark hatte er die Finger gegen die Lider gepresst. Ray atmete tief durch, richtete sich wieder auf und stützte sich dabei auf dem Wannenrand ab. Er hangelte sich zum Waschbecken und spülte sich den Mund mit klarem Wasser aus um den sauren Geschmack loszuwerden. Ray ließ das Wasser des Wasserhahns noch eine Weile laufen, nachdem mit dem Ausspülen fertig war. Das stetige Rauschen beruhigte ihn ein wenig. Seine Hände, die so unnatürlich weiß in der Dunkelheit leuchteten, zitterten leicht. Ray griff nach seinen Bademantel, der an einem Haken an der Wand hing. Er wickelte sich darin ein und ging vorsichtig, auf jeden Schritt achtend, zu Kenny ins Wohnzimmer. Er fühlte sich noch elender als vorher. Das pelzige Gefühl im Mund und das Loch in seinem Magen kamen jetzt nicht nur von seinen Gefühlen, nein jetzt ging es ihm auch körperlich genauso schlecht wie seelisch. Das Alles machte die Situation keinen Deut besser. Ray betrat das Wohnzimmer. Kenny hatte sich auch nicht darum bemüht das Licht anzuschalten. Er lag auf der Couch, den Kopf auf ein Kissen gelegt, die Augen geschlossen. Er atmete tief und ruhig. Kenny schien eingeschlafen zu sein. Die Flasche stand scheinbar unberührt auf dem Tisch vor ihm. Ray lachte kurz und freudlos auf, dann breitete sich ein trauriger Ausdruck auf seinem Gesicht aus. Kenny war doch noch der Alte, keiner wie er selbst, der alle seine Moralvorstellung und Gewohnheiten so einfach über Bord warf. Ray nahm Kenny vorsichtig die Brille ab und deckte ihn mit einer dünnen Decke zu. Dann griff er nach der Flasche und betrachtete sie kurz. Der klare Inhalt glitzerte im Licht, das eine Straßenlaterne durch das Fenster warf. Die Flasche war immer noch halb voll … If you don´t believe in anything, you can still pray to the porcelain god. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)