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Nachtgestein

Grau in Grau
von

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Die verwelkte Lilie

Gesittet und mit geradem Rücken schritt Angelique Mors durch die Flure des Anwesens. Auch wenn niemand weit und breit sehen konnte, dass sie sich anständig und wohlerzogen verhielt, war ihr dieses Verhalten über die Jahrzehnte hinweg in Fleisch und Blut übergegangen und sie bewahrte immer ihre Haltung. Selbst wenn Loretta, die Haushälterin, sich ein Stockwerk unter ihr befand, ihr Mann arbeiten und all ihre Kinder in der Schule waren.

So wie gerade.

Aber sie konnte sich keine Blöße geben.

Sie kam am Ende des Korridors zum Stillstand, in dem sich ein großer Erker befand und richtete die auf einem kleinen Tischchen angerichteten Blumen wieder her. Sie nahm die nicht mehr frischen Pflanzen aus der Vase, aber ehe sie eine bestimmte trockene Blüte in ihrer Hand zerdrücken konnte, hielt sie inne.

Es war eine blassrosa Lilie.

An für sich war eine verwelkte Lilie eine verwelkte Lilie, die auch Angelique nicht wieder beleben konnte und sie hatte in ihrem Leben sicherlich schon unzählige von ihnen aus Blumensträußen gezogen, doch als sie die Blume so in der Hand hielt, drangen Erinnerungen in ihr nach oben, von denen sie eigentlich geglaubt hatte, dass sie schon lange unerreichbar tief vergraben waren.

Damals, als sie geheiratet hatte, hatte ihr Hochzeitsstrauß auch rosafarbene Lilien beinhaltet.

Lange Zeit hatten für Angelique Blumen keine weitere Bedeutung gehabt, außer dass sie gelegentlich besonders wunderbar rochen und manchmal außerordentlich schön aussahen.

Ehe sie Wilfried Mors begegnet war.

Ihre Ehe war arrangiert gewesen, um die Verbindung zwischen Wilfrieds deutschen Clan und ihren französischen zu stärken und zu festigen, wie es alle paar Generationen zwischen ihren Clans üblich war. Angelique hatte sich auch nie etwas vorgemacht; sie hatte immer gewusst, dass sie aus politischen Gründen würde heiraten müssen, und so war es keine große Überraschung gewesen, dass irgendwann entsprechende Gesuche für sie und ihre Schwestern eintrafen. Sie war vielleicht nicht glücklich darüber gewesen und hätte die Zeit lieber damit verbracht zu reiten oder Bogen zu schießen, aber es war nun einmal, wie es war.

Unerwartet war jedoch gewesen, von wem ein gewisses Gesuch gesandt worden war.

Der Ténèbres-Clan, der Clan, in den Angelique hineingeboren wurde, war zwar ein beständiger Clan, aber überquerte ständig die unsichtbare Grenze zwischen unterer Oberschicht und oberer Mittelschicht. Daher war es umso überraschender für alle Beteiligten gewesen, als ein Gesuch vom Mors-Clan, einer der angeseheneren deutschen Clans, der während der Offenbarung eine ausschlaggebende Rolle innegehabt hatte, eingetroffen war und um ein Treffen mit Angeliques älterer Schwester Clarisse gebeten hatte. Doch offenbar war Wilfried Mors, der letzte lebende Sohn einer der Clanführer, tatsächlich auf der Suche nach einer Frau und durchzog das Land, das vor dem Krieg einmal Frankreich gewesen war.

Sie konnte sich noch bildhaft daran erinnern, dass ihre jüngere Schwester Giselle viel aufgeregter gewesen war, als Clarisse oder sie selbst. Sie hatte irgendwelche Seancen abgehalten und meinte herausgefunden zu haben, dass Clarisses damaliger noch Verehrer schon bei beiden Offenbarungen zugegen gewesen war. Angelique hatte dies stets als Humbug abgetan; Wilfried war zwar ein Stück älter als sie, aber so alt war er nun auch wieder nicht. Und sie glaubte, dass er ihr nach Jahrzehnten der Ehe doch schon so etwas Wichtiges mitgeteilt hätte. Dennoch musste sie bei dem Gedanken an ihre jüngere, quirlige Schwester lächeln.

In Erinnerungen vertieft, musste sie an ihre erste Begegnung denken und ließ sich auf einen der Stühle neben dem Tischchen nieder.

Eigentlich war ihr allererstes Treffen abgelaufen, wie all jene davor auch. Angelique hatte mit Giselle als Geleit für Clarisse neben ihren Eltern auf der einen Seite des Tisches und Wilfried mit seinem Vater und zwei wie sie mittlerweile wusste Cousins auf der anderen gesessen. Ja, gewiss, Angelique war aufgeregter gewesen, da ihnen dieses Mal ein angesehener Clan mit langer Geschichte gegenübersaß, aber sie hatte sich dennoch zu Tode gelangweilt und ihre Mutter hatte sie ständig mit strengen Blicken ermahnen müssen, sich vernünftig zu benehmen. Doch auch Clarisses vermeintlicher Verehrer hatte ganz so ausgesehen, als wäre er lieber ganz woanders gewesen, als dort an diesem Tisch. Angelique hatte damals vermutet, dass sein Vater ihn zu diesem Treffen gezwungen hatte und hatte Mitleid mit ihm gehabt.

Irgendwann hatten sie eine Pause eingelegt und Angelique war in den Garten gegangen, um sich nach dem langen Sitzen die Beine zu vertreten. Der Innenhofgarten war stets ihr Lieblingsort gewesen, nicht weil dort etwa Blumen waren, sondern weil sie dort immer ungestört war.

Heute hatte sie keinen blassen Schimmer mehr, wie sie auf die Idee gekommen war, aber damals muss für sie wohl einen Sinn ergeben haben, denn sie hatte sich eine der dort wachsenden Lilien, die ohnehin abgeknickt gewesen war, in die Haare gesteckt und hatte einfach im Garten getanzt.

Tanzen hatte sie nie so sehr gemocht wie Bogenschießen, aber es musste wohl für den Moment ausgereicht haben, um sich zu bewegen und ihre starren Muskeln etwas zu nutzen, ehe sie sich wieder stundenlang hatte in den großen Saal setzen und steif dasitzen müssen.

Sie wusste auch nicht mehr, wie lange sie getanzt hatte, aber was sie noch wusste, war, dass ihr während einer Umdrehung auf einmal aufgefallen war, dass jemand im Eingang zum Garten gestanden und ihr beim Tanzen zugesehen hatte. Schlagartig hatte sie innegehalten und die Blume war ihr aus dem Haar gefallen. Sie hatte sie nicht unbedingt grazil aufgefangen und unsicher aufgeschaut.

Natürlich war das Glück nicht auf ihrer Seite gewesen und es war ausgerechnet Wilfried gewesen, der dort gestanden und sie gesehen hatte.

Sie hatte sich augenblicklich die horrendsten Szenarien ausgemalt und schreckliche Angst gehabt, alles gründlich vermasselt zu haben, indem sie nicht nur sich, sondern wahrscheinlich gleich ihre ganze Familie bloßgestellt hatte.

Aber Wilfried schien nur amüsiert gewesen zu sein.

„Oh, stör dich nicht an mir. Es hat sehr… frei ausgesehen“, hatte er auf Französisch mit verschwindend wenig Akzent gesagt.

„Ähm, meine Mutter mag es nicht, wenn ich mich so verhalte…“, hatte sie verlegen gestammelt.

„Ah, mach dir darum keine Gedanken, ich werde es ihr nicht sagen“, hatte er mit einem Zwinkern erwidert und sich von der Wand abgestoßen. Er hatte ihr den Rücken gekehrt und sie war fast versucht gewesen, erleichtert durchzuatmen, als er noch einmal innegehalten und sie über seine Schulter hinweg angesehen hatte. „Du solltest öfter Lilien tragen, sie stehen dir.“

Danach war er ohne ein weiteres Wort gegangen.

Er hatte nicht weniger interessiert an ihrer Schwester gewirkt, als es vorher ohnehin schon der Fall gewesen war, aber auch nicht irgendwie mehr. Aber was für Angelique an dem Tag überraschenderweise unglaublich wichtig gewesen war, war die Tatsache, dass er ihrer Mutter nicht gesagt hatte, dass sie im Garten getanzt hatte.

Soweit Angelique es heute wusste, hatte er es ihr niemals gesagt. Damals nicht und auch heute nicht.

Als Wilfried am nächsten Morgen mit seinem Vater und seinen Begleitern abgereist war, war für Angeliques Familie seine Gleichgültigkeit Clarisse gegenüber schon ein sicheres Zeichen gewesen, dass er an keiner Verbindung mit ihr interessiert gewesen sein musste.

War er auch wirklich nicht.

Allerdings war es umso überraschender und ihr bis heute umso schleierhafter, warum er sie, Angelique, erwählt hatte und nicht ihre ältere Schwester oder generell jemanden aus einem angesehenerem Clan. Ihm hatten alle Türen offen gestanden.

Sie hatte nie eine romantische Liebesbeziehung erwartet. Sie hatte immer erwartet, für den Clan heiraten zu müssen, obgleich sie es eigentlich nicht unbedingt gewollt hatte.

Ihre Mutter war unglaublich aufgeregt gewesen, als unerwarteter Weise ein offizieller und formeller Heiratsantrag an Angelique adressiert eingetroffen war. Fast augenblicklich hatte sie damit begonnen, in Angelique das Benehmen einer feinen Dame fest zu verankern und ihr das Bogenschießen und Jagen zu verbieten. Sie war der Meinung gewesen, wenn Angelique in einen höheren Clan einheiratete, hatte sie sich auch wie eine höhere Dame zu benehmen und die jagten nun einmal nicht oder schossen wie wild Pfeile mit dem Bogen durch die Gegend.

Dennoch hatte Angelique darauf bestanden, dass zumindest ihr Brautstrauß unkonventionell aus Lilien bestand.

Seit dem Zeitpunkt, an dem sie vor dem Altar nervös „Ja“ gesagt hatte, hatte sie darauf geachtet, sich so zu benehmen, wie es ihre Mutter beigebracht hatte. Aufrecht und wohlerzogen. Und dies hatte sie versucht, an ihre Töchter weiterzugeben.

Allerdings hatte sie die Weisheit ihrer Mutter angezweifelt, als Louise sich von ihnen abgewandt hatte. Besonders da sie immer sehr viel von sich selbst in Louise wiedererkannt hatte. Aber sie hatte nicht nur an der Weisheit ihrer Mutter gezweifelt, sondern auch an ihren eigenen Fähigkeiten, auch wenn Wilfried nie etwas dergleichen geäußert hatte.

Wilfried hatte damals nichts zu ihrem Brautstrauß gesagt.

Angelique hatte nie eine romantische Liebesbeziehung erwartet.

Und sie hatte auch keine gehabt.

Sie wusste, dass Wilfried sie schätze und sie respektierte, selbst wenn es als Mutter seiner Kinder war, aber sie waren eher Partner denn ein Paar. Sie kannte ihn nun schon über dreißig Jahre und in all der Zeit hatte es nur einen einzigen Menschen gegeben, dem er näher als allen anderen um sich herum zu stehen schien.

Und das war Jonathan gewesen.

Jonathan Eldred Senior.

Dieser Mann hatte ihm so nahe gestanden, dass Wilfried nur bei ihm etwas tat, was er sonst niemals tat, da er zu allen anderen eine gewisse Distanz wahrte.

Er hatte ihn mit einem Spitznamen angesprochen.

Wilfried hatte ihn bis zu seinem Tod immer mit „Johnny“ angesprochen.

Angelique hatte nie erfahren, wie die beiden Männer sich kennengelernt hatten, aber sie wusste, dass sie eine sehr enge Freundschaft verband, die Wilfried mit sonst niemandem zu teilen schien.

Auch nicht mit ihr, seiner Frau.

In all den Jahren, in denen sie sich nun kannten und miteinander verheiratet waren, wusste sie, dass sie ihren eigenen Platz in seinem Leben hatte, aber niemals, auch nicht nur ein einziges Mal hatte er ihr gesagt, dass er sie liebte.

Gedankenverloren drehte sie die verwelkte Lilie weiterhin zwischen ihren Fingern hin und her und fragte sich unwillkürlich, ob sie damals vor dreißig Jahren die richtige Entscheidung getroffen hatte, in dem sie vor dem Altar „Ja“ gesagt hatte oder ob damals bereits alles verwittert gewesen war.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Irgendwie ist es recht unfluffig, aber ich wollte es dennoch schreiben, weil mir der Gedanke dazu schon seit einer Weile im Kopf herumgeschwirrt ist.
Ich überlege einen weiteren One-Shot zu schreiben, der dies hier nicht ganz so... deprimierend stehen lässt. ;) Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Flordelis
2013-02-19T19:32:39+00:00 19.02.2013 20:32
So, nachdem ich alles andere für heute erledigt habe, kann ich endlich hier weiterlesen. <3
Das Interessante an diesem OS für mich ist, dass meine Oma meine Mutter Angelique nennen wollte - aber mein Opa war dagegen. =X

Jetzt will ich auch rosafarbene Lilien... ._.

> auf der Suche eine Frau
"nach einer" vielleicht?

Awwww Wilfried ist irgendwie süß. So verständnisvoll und locker. =)

Aber irgendwie schon traurig, wenn man in dem Glauben festhängt, nur eine Zweckehe zu führen.
(Erinnert mich an Dario und Claudia und ein wenig an Asti und Richard... traurig. D;)

Wilfried und Johnny...
*hegt spezielle Gedanken*
XDDD

War ein schöner OS, sprachlich gesehen. Und auch inhaltlich, wenngleich auch ein wenig bedrückend.
Arme Angelique. =/
Antwort von:  Lianait
19.02.2013 21:26
Vielen lieben Dank für deinen Kommentar! *fausch*
Ich geh mal wieder eine Antwort in dein GB spammen. >:D
Von: Futuhiro
2013-02-19T18:50:56+00:00 19.02.2013 19:50
Okay, ich kenne die Charaktere nicht, aber die Story ist hübsch, sie wird nicht langweilig. ^^
Vielleicht hätte es ja geholfen, wenn sie wieder getanzt hätte. XD
Antwort von:  Lianait
19.02.2013 21:17
Danke für deinen Kommentar. :D
Ja, die Charaktere sind auch eher Randfiguren in Knochenschmetterling, weil sie Claires Eltern sind. Viel machen sie leider nicht. ._.
Naja, soviel kann ich doch sagen: Er liebt sie, aber es gibt da Komplikationen mit seinen eigenen Gedankengängen, wenn man so will. xD


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