Glühwürmchen (Oder: Ich glaube, ich muss kotzen!)
Ich habe keine Ahnung, wie es weiter geht.
Meine Eltern waren ja zu sehr mit Heulen beschäftigt, als damit, mich aufzuklären, was in London auf mich zukommt.
Nun sitze ich also am Londoner Flughafen und warte auf mein Gepäck. Als dieses endlich kommt, trete ich ein wenig hilflos aus dem Gebäude.
Ich habe kein Hotel und keine Wohnung. Also gehe ich davon aus, dass ich wohl bei Dyllans Familie unterkomme.
Was wunderbare wäre.
Wäre da nicht ein kleiner Haken. Nämlich: Wo ist dann Dyllans Familie?
Als ich gerade überlege, mal zu Hause anzurufen, entdecke ich tatsächlich Reid und bin erst Mal erleichtert.
Er lehnt am Auto und hält Ausschau nach mir. Zumindest hoffe ich, dass er nach mir Ausschau hält.
„REID!“
Ich renne zu ihm, so schnell ich mit dem Gepäck eben kann.
„Hello Adrian!“, begrüßt er mich und umarmt mich fast brüderlich.
„Wie war Flug?“
„Gut.“ Eigentlich weiß ich gar nicht, wie der Flug war. Ich habe die ganze Zeit geschlafen. Theoretisch hätten wir auch zwischendrin abgestürzt sein können. Aber dann stände ich jetzt wohl nicht hier.
„Komm, lass fahren.“
Irgendjemand hat ihm wohl offensichtlich ein wenig Deutsch beigebracht. Kevin? Wohl eher nicht. Dyllan? Wahrscheinlich.
Auf der Fahrt erfahre ich alles von Reid, was mir meine Eltern verschwiegen haben.
Nämlich, dass meine Eltern sich für mich an der Schule beworben haben und ich angenommen wurde. Dann hat Kevin (ich meine, Kevin!!!!) wohl ein wenig mit Dyllans Familie verhandelt, die aber letztlich fast sofort einverstanden waren, mich das Jahr über bei sich aufzunehmen. Und wenn nötig, auch ein wenig länger.
Und so bin ich nun also wahrhaftig hier.
„Wenn ihr alle das wusstet. Warum hat Dyllan dann nie was gesagt?“, frage ich, als mir klar wird, wie lange das Ganze schon gehen muss.
Gleichzeitig wird mir klar, dass auch Matze es hat wissen müssen. Deshalb dieser seltsame Abschied und dieses sentimentale Geschenk. Ich blicke auf das Lederbändchen, dass ich natürlich trage. Dieser Arsch hat einfach nichts gesagt!
„They wanted to make an suprise!“
Die Überraschung ist ihnen allerdings gelungen.
Wir fahren in die Innenstadt.
„Und Dyllan weiß gar nicht.“
Aus großen Augen sehe ich ihn an. Dann wird es wohl auch eine Überraschung für ihn.
„Ihr wohnt also downtown.“ Oder ist Downtown amerikanisches Englisch?
Reid versteht jedenfalls.
„No. Wir leben außer London.“
„Wo fahren wir dann hin?“, frage ich verwirrt.
„Zu deine neue Schule. Zu Dyllan.“
Meine Augen beginnen zu strahlen. Zu Dyllan!!!
Wenig später parkt Dyllan gegenüber einer großen Schule und wir gehen auf den Pausenhof.
Es hat bereits geklingelt und die Schülermassen stürmen in die Pause.
Ich sehe mich und versuche, Dyllan in dem Getümmel zu finden. Mittlerweile ich mir so schlecht, dass ich glaube, gleich kotzen zu müssen.
Dann entdecke ich ihn. Er steht bei ein paar Freunden, die alle sehr hübsch sind, aber nicht mit ihm mithalten können.
„DYLLAN!“ ruft Reid laut und dieser blickt zu uns und blickt seinen Bruder verwirrt an. Dann fällt sein Blick auf mich und kurz sieht er aus, als wenn er tot umfällt. Dann rennt er aber doch zu uns und ich laufe ihm hastig entgegen.
Fast ist es, als wären wir in so einem kitschigen Film. Fehlt nur noch die Blumenwiese.
Ganz so kitschig ist es dann doch nicht. Wir fallen einander einfach in die Arme und ich presse ihn an mich und unterdrücke die Tränen, während Dyllan bereits heult.
„Ich habe dich so vermisst,“ meint er leise.
„Ich dich auch, Honey.“
„Was tust du hier?“, will er wissen und so erkläre ich ihn knappen Sätzen das Wesentliche. Daraufhin strahlt er und presst sich wieder an mich.
Ich lächle und streiche ihm durchs Haar.
Mittlerweile kann ich gar nicht mehr in Worte fassen, wie glücklich ich bin. Das alles kommt mir vor, wie ein unglaublicher Traum. Wie ein Wunder.
Sanft küsse ich seine weichen Lippen.
Lächelnd blicke ich dann auf Dyllans Hals, an dem meine Glühwürmchenkette schimmert. Vielleicht hatte Dyllans Mum ja doch Recht und Wünsche werden wirklich wahr, wenn man sie nur den Glühwürmchen anvertraut.
Ich nicke leicht. Ja, so muss es sein. Ganz sicher.