Bad Hair Day
Tiefe Furchen zeichneten sich auf seiner Stirn ab, als Kommissar Thorn das Wohnzimmer des Anwesens betrat. Routiniert verharrte er für einen kurzen Augenblick auf der Schwelle und ließ seinen Blick durch den Raum wandern. Edle Möbelstücke, hochmoderne, technische Ausstattung und weißer Marmorboden hatten den Kommissar bereits in der Eingangshalle der Villa begrüßt und schienen sich allem Anschein nach durch das gesamte Gebäude zu ziehen. Ein Luxus, den sich Ralph Wilders durchaus leisten konnte oder besser gesagt: hatte leisten können.
Mit weit ausgreifendem Schritt umrundete Thorn die Wohnlandschaft und trat an den zerbrochenen Glastisch heran, in dessen Mitte der Hauseigentümer lag. Mit der rechten Hand fuhr sich der Kommissar nachdenklich über das Kinn, während er sich über den mit unzähligen Stichwunden übersäten Leichnam Ralph Wilders beugte. Dem Promiarzt aus Oklahoma war übel mitgespielt worden, wohingegen das nobel eingerichtete Wohnhaus allem Anschein nach nicht angerührt worden war.
„Bericht?“, richtet sich Thorn, noch ehe er sich wieder zu seiner vollen, imposanten Größe aufgerichtet hatte, an einen nebenstehenden Kollegen.
„Ralph Wilders, sechsundfünfzig Jahre, Hauseigentümer und alleiniger Bewohner. Geschieden, zwei erwachsene Kinder. Die Angehörigen wurden noch nicht benachrichtigt. Gefunden hat ihn die Haushälterin, Marianne Jackson, so gegen acht Uhr heute Morgen. Sie wartet mit einer Kollegin in der Küche.“ Mit einem Kopfnicken deutete der junge Mann in Richtung des Raumes, aus dem leise Stimmen und gedämpfte Schluchzer zu ihnen herüber drangen. Thorns Blick folgte der Geste kurz zur Küchentür, ehe er erneut einen großen Bogen durch das penibel aufgeräumte Zimmer beschrieb und schließlich am Gesicht des Rechtsmediziners ihm gegenüber haften blieb.
„Kannst du schon was zur Todeszeit und -ursache sagen, Doc?“
Der Angesprochene, ein langjähriger Freund des Kommissars, begegnete seinem Blick stirnrunzelnd. „Ich denke, damit kann ich dienen. Der Todeszeitpunkt liegt etwa zwischen vier und fünf Uhr heute Morgen. Vermutlich war eine der Stiche in die Brust (mit dem behandschuhten Finger deutete er auf die Einstiche) todesursächlich, aber genaueres kann ich dir erst nach der Obduktion sagen.“
Thorn nahm die Informationen mit einem ungerührten Nicken zur Kenntnis und wandte sich wortlos in Richtung Küche, vorbei an seinen in weiße Anzüge gekleideten Kollegen von der Spurensicherung, die bereits damit begonnen hatten, das gesamte Anwesen auf ihrer Suche nach Spuren und Hinweisen auf den Kopf zu stellen.
In der Küche angekommen, machte Thorn mit einem lauten Klopfen am Türrahmen auf sich aufmerksam, die forschenden Augen fest auf das bleiche Gesicht von Marianne Jackson gerichtet. Mit einem kurzen Kopfnicken in Richtung seiner Kollegin griff er nach einem der Stühle und ließ sich gegenüber der Haushälterin nieder.
„Guten Morgen. Ich bin Kommissar Thorn, Kripo. Sie haben Mister Wilder heute Morgen aufgefunden, ist das richtig?“
Marianne, eine hübsche junge Frau von höchstens dreißig Jahren, nickte zögerlich. Ihre Augen waren stark gerötet und ihr Gesicht so blass wie die helle Bluse, die sie trug. Unruhig knetete sie ihre Hände im Schoß, zerknüllte dabei das Taschentuch, mit dem sie sich noch kurz zuvor die Tränen weggewischt hatte, nur noch mehr. „Ja, ich...“, entwich es ihr schluchzend. „Ich bin seine Haushälterin und … (wieder musste sie sich kurz selbst unterbrechen) … und ich komme jeden Mittwoch und Sonntag. Als ich heute Morgen hier ankam, war alles wie immer. Ich dachte zunächst, Herr Wilder sei schon an der Arbeit, aber dann -
Ein schrilles Klingeln ließ Emma in ihrer Bewegung, einem herzhaften Biss in ihre Pizza Salami, innehalten und verärgert die Augenbrauen zusammenziehen. Es war Sonntagabend um kurz nach einundzwanzig Uhr, Krimizeit, und es gab eigentlich nur eine einzige Person, die um diese um diese Zeit etwas von ihr wollen könnte– und das nur, um nach ein bisschen Mehl oder Eiern für einen Kuchen zu fragen, der unbedingt noch an diesem Abend gebacken werden wollte. Debbys Leidenschaft für Kuchen und süßes Gebäck spiegelte sich allmählich auf ihren Hüften wieder und dennoch erfüllte alle paar Tage der Duft von frischgebackenem Kuchen den Flur und bahnte sich auch einen Weg unter Emmas Wohnungstür hindurch.
Für einen kurzen Moment zog sie es in Erwägung einfach so zu tun, als sei sie nicht zu Hause. Da ihr Krimi aber just in diesem Moment von der Werbung unterbrochen wurde, schob sie ihren Teller beiseite und erhob sich, ein resigniertes Seufzen auf den Lippen, vom gemütlichen Sofa, auf das sie sich in weiten Jogginghosen gekuschelt hatte. Rasch schlug Emma die Decke von ihren Beinen und schlüpfte in ihre flauschigen Hausschuhe. Wenn sie sich beeilte, würde sie zumindest nicht allzu viel von der Serie verpassen.
Das geräumige Wohnzimmer, der größte Raum der Dreizimmerwohnung, die sie noch vor kurzem mit ihrer besten Freundin geteilt hatte, war mit schnellen Schritten durchquert. Im angrenzenden, schmalen Flur warf sie im Vorbeigehen einen kurzen Blick in den Spiegel und begegnete einem blassen Gesicht, das sie spöttisch musterte. In ihrem Schlabberlook mit dem durch ein Haarband zurückgehaltenem Pony und dem verwuschelten Pferdeschwanz sah sie so aus, als sei sie nach einem durchgemachten Wochenende eben erst aus dem Bett gefallen.
Wenn es ja wenigstens so gewesen wäre, huschte es zynisch durch ihre Gedanken, denn anstatt feiern zu gehen, hatte sie sich die ganze Woche mit den verhassten Erdbeertagen, wie sie immer zu sagen pflegte, rumschlagen dürfen.
Wieder klingelte es an der Tür, länger und ungeduldiger wie es schien. Anscheinend hatte Debby es an diesem Abend besonders eilig. „Ich komm' ja schon, kleinen Moment noch!“, rief Emma daher der verschlossenen Tür entgegen, während sie sich von ihrem Spiegelbild löste und sich beim Umdrehen das Knie am Schuhschrank anschlug, für den im ohnehin schon engen Flur eigentlich gar kein Platz mehr war.
Einen leisen Fluch auf den Lippen, rieb sie sich das schmerzende Knie und warf dem Möbelstück einen bösen Blick zu. Dabei konnte der Schrank genauso wenig etwas für Emmas Tollpatschigkeit wie auch Debby, die vermutlich bereits mit verschränkten Armen und ungeduldig mit dem Fuß wippend vor der Tür stand. Dennoch schimpfte sie insgeheim über Debbys Angewohnheit zu allen Tages- und Uhrzeiten backen zu wollen.
Leicht humpelnd überbrückte Emma schließlich die letzten zwei Meter zur Tür, die sie hastig aufschloss. Ausnahmsweise verzichtete sie auf einen Blick durch den Türspion – immerhin konnte es sich bei dem abendlichen Störenfried nur um Debby handeln – und betete nur Sekunden später es doch getan zu haben.
Eine breite, unter dunkelblauem Stoff verborgene Brust versperrte ihr die Sicht. Irritiert zogen sich Emmas Augenbrauen in die Höhe, während sie ihren Blick an dem jungen, gut gebauten Mann höher gleiten ließ. Nach und nach schoben sich ein markantes Gesicht, zu einem amüsierten Lächeln verzogene Lippen und verwuschelte, tiefschwarze Haare in ihr Blickfeld. Sturmgraue Augen blitzten ihr belustigt entgegen, als sich Emma, aus einem Reflex heraus, noch immer zum Teil hinter ihrer Wohnungstür zu verstecken versuchte.
„L – Lewis?“, entwich es ihr überrascht. Von all ihren Freunden und Bekannten war er einer der letzten, mit denen sie an diesem Abend gerechnet hätte. Dennoch stand er nun live und in Farbe vor ihr, eine Hand lässig in der Hosentasche vergraben, mit der anderen den Gurt einer über die Schulter geworfenen Reisetasche haltend. Einer viel zu großen Reisetasche.
„Ich dachte schon, du willst mich hier versauern lassen. Kann ich reinkommen?“ Ohne eine Antwort abzuwarten und noch immer ein amüsiertes Lächeln auf den Lippen, schob er sich an Emma vorbei in die Wohnung und steuerte geradewegs das Wohnzimmer an. Kurz darauf war gedämpft ein dumpfer Aufprall zu hören – vermutlich hatte er seine Reisetasche mitten im Raum fallen lassen – sowie ein genervtes „Guckst du schon wieder diesen Krimischeiß?! Nicht zu fassen, dass du dir das antust!“
„Hallo Lewis, freut mich auch dich zu sehen. Klar kannst du reinkommen“, brummelte Emma auf den leeren Gang hinaus. Hätte er sich nicht wenigstens vorher ankündigen können? An jedem anderen Tag hätte sie ihn mit offenen Armen empfangen, aber nein, er musste unbedingt dann aufkreuzen, wenn sie sich in ihrem Erdbeertagen-Schlabberlook befand. Es war zum aus der Haut fahren!
Tief atmend schloss Emma die Tür und drehte routiniert den Schlüssel im Schloss, ehe sie ihrem Gast folgte. Mit vor der Brust verschränkten Armen blieb sie jedoch im Türrahmen stehen und beobachtet einen ihrer besten Freunde dabei, wie er es sich mit ihrer Pizza auf ihrem Sofa gemütlich machte und dabei durchs Abendprogramm zappte. Einige Minuten lang musterte sie schweigend Lewis' Profil, doch da er sich nicht weiter erklärte, ergriff sie schließlich das Wort.
„Nicht, dass es mich stören würde, aber was machst du hier? Ich dachte, du wärst auf Fortbildung und kommst erst heute oder morgen nach Hause?“
„War ich auch, bis heute Nachmittag“, entgegnete er murrend und begnügte sich damit noch immer stur geradeaus in den Flimmerkasten zu starren. Erneut verfiel er ins Schweigen und für eine Weile waren nur die Stimmen aus dem Fernseher zu hören, in dem mittlerweile irgendeine Doku über die Tierwelt in Afrika lief. Lewis hatte die Hand mit der Fernbedienung sinken lassen und fuhr sich mit der anderen unwirsch durchs Haar. Tiefe Furchen zeichneten sich mit einem Mal auf seiner Stirn ab, während sich seine Lippen zu einem dünnen Strich verzogen.
Mit besorgter Miene stieß sich Emma vom Türrahmen ab, ging um das Sofa herum und ließ sich neben Lewis auf dem Polster nieder. Vorsichtig berührte sie ihn am Arm und fuhr fast schon erschrocken zusammen, als er ihr ruckartig den Kopf zuwandte. Erst jetzt fielen ihr die dunklen Ringe unter seinen Augen auf und als er aufsah schien tatsächlich ein Sturm in seinen Augen zu toben. Wut und Schmerz waren für den Bruchteil einer Sekunde darin zu lesen, ehe Lewis sich zu einem Lächeln durchrang. „Du suchst doch einen neuen Mitbewohner und tja, hier bin ich! Da weißt du wenigstens, wen du dir in die Wohnung holst.“ Ein keckes Lächeln huschte über seine Lippen, während er sich ins Polster lehnte und seine Arme auf der Rückenlehne platzierte. „Heute Nacht kann ich ja auf dem Sofa schlafen und meine Möbel hol' ich dann die Woche nach der Arbeit, sieht ohnehin ein bisschen leer und einsam aus hier, seit Nicki ausgezogen ist. Ich hab' noch einen großen Wohnzimmertisch, der würde sich hier sicher gut machen und -“
Ungläubig machte Emma den Mund auf, um wenigstens irgendetwas zu sagen, doch alles was ihr über die Lippen kam, war ein irritiertes und völlig überfordertes „.... Was?!“