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Die Geschichte des legendären Sullivan O'Neil 3

Vom Gejagten zum Jäger
von

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Die Spuren der Zeit

Ihre kurzen, hohen Rufe ertönten so kurz und hastig, dass man nicht sicher war, ob sie überhaupt von ihr stammten. Immer wieder aufs Neue hörte man das knappe ‚Tschie-tschiep’. Es verklang ebenso schnell, wie es kam und hätte die Bachstelze den Schnabel nicht kurz geöffnet, hätte man es auch für Einbildung halten können. Dennoch war es irgendwie schön.

Sie stand auf einem Stein, grau, mit weißem Gesicht und schwarzem Kopf, ebenso dunkel wie ihre Brust. Fast wirkte sie stolz durch die graziöse, weißgraue Maserung ihres Gefieders und die dunklen, tiefen Augen.

Ich sah zu, wie sie vom Stein ins Wasser hüpfte, das sich nach dem letzten Regen gesammelt hatte und dann, wie der Vogel anmutig und in weiten Schritten durch die Pfütze stolzierte. Ihre langen, schlanken Beine erinnerten an kleine Stöckchen und ihr Schwanz, der fast permanent auf und ab wippte, bewegte sich synchron zu den rhythmischen Bewegungen ihres Kopfes. Ein paar mal drehte sie ihn, pfiff erneut ihre hohen Laute, dann ging sie weiter. Auf festem Boden angekommen beschleunigte das Tier, nur, um wieder stehen zu bleiben und letzten Endes auf einem niedrigen Ast auszuruhen.

Mehrere Wochen waren nun bereits vergangen, seit ich abermals mit O’Hagan aneinander geraten war. Ich saß am Arthur, jener Fluss, der in seiner Biegung durch Annonce verlief und spielte gedankenverloren mit einem Grasbüschel herum. An das Knurren meines Magens hatte ich mich schon gewöhnt, gleiches galt für meinen Geruch. Ich beneidete die Bachstelze. Sie pflegte ihr Gefieder, drehte zwischendrin immer wieder den Kopf und suchte letzten Endes das Weite. Sie musste sich keine Sorgen um Essen oder einen Schlafplatz machen. Das, was sie brauchte, fand sie hier, in der Natur.

Da ich das Sitzen irgendwann leid war stand ich auf, griff flache Steine und versuchte, sie springen zu lassen. Es funktionierte, aber auch das hatte ich schon viel zu oft getan. Hier war der Fluss noch sauber und rein, aber später verlief er in direktem Weg durch das Kloster, anschließend durch die Stadt und letzten Endes dann ins Meer. Spätestens in Annonce wurde aus dem klaren Wasser eine bräunliche Suppe voller Unrat und Schmutz. Schon mehrmals war ich mit bloßen Füßen durch das kühle Nass gelaufen, hatte kleine Krebse beobachtet, Insekten oder anderes Getier. Ein grünes Blatt hatte von hier eine Reise zu den entfernten Klostermauern begonnen und mein Spiegelbild kannte mein Gesicht mittlerweile wohl in- und auswendig.

Wie lange musste ich noch warten?

Slade hatte einen seiner langen Spaziergänge unternommen und nun war ich bereits ganze zwei Stunden allein und wartete auf seine Rückkehr. Ob er das Weite gesucht hatte?

Obwohl unsere Freundschaft, wenn man es so nennen konnte, in den letzten zwei Wochen enger geworden war, hatte ich noch immer nicht gelernt, ihm vollends zu vertrauen. Der Streuner hatte mich kein einziges Mal enttäuscht, seit wir Brehms verlassen hatten. Dennoch schwebte in meinem Hinterkopf stets die Erinnerung daran, dass er mich im brennenden Haus zurückließ. Gut, er hatte Robin und den anderen sofort erklärt, dass ich mich noch im Innern befand und es stimmte auch, dass er es war, der mich von O’Hagan weg zog. Das änderte aber nichts daran, dass es nichts gab, was uns dem anderen etwas schulden ließ.

Seufzend stellte ich fest, worüber ich schon wieder nachdachte und mein Stein versank ohne den geringsten Hüpfer. Meine Zeit in Brehms war vorbei. Ich hatte die Samariter, aber auch die Deo Volente, einfach hinter mir gelassen. Da Robin es mir verdankte, dass Mona noch lebte, hatte er mir geholfen das Weite zu suchen, aber ich schätze, er war auch froh, mich los zu sein. Ich erinnerte mich daran, wie ich O’Hagan anschrie und auch daran, wie er alles und jeden auf mich hetzte. Wären die Samariter nicht gewesen, wäre ich nun wohl tot. Aber auch die Menschenmasse, die schlichtweg den Weg zu mir blockierte, war nicht ganz unschuldig am Versagen der Soldaten. Ich hatte O’Hagan den Kampf erklärt, ohne darüber nachzudenken und selbst jetzt, am Fluss kurz vor Annonce, bereute ich es nicht. Natürlich trauerte ich um mein gutes Leben in der wunderbaren Stadt Brehms, aber wenn man es realistisch sah, wäre dieses ohnehin bald vorbei gewesen. Die Inquisition hatte einen förmlichen Kreuzzug gestartet und ich konnte nur vermuten, wie viele Tote dies gefordert hatte.

Nein, es war gut so, dass ich gegangen war. Zudem war es an der Zeit, etwas zu verändern. Etwas Grundlegendes.

Von meinen eigenen Gedanken müde ließ ich mich ins Gras fallen, mit den Füßen im Fluss und so starrte ich hoch zu den Wolken. Man hatte mich lange genug verfolgt. Ich war auf dem Meer gewesen, in Annonce, in Brehms, ein Pirat, ein Kopist, ein Spion, ja, sogar ein Diener der Inquisition, ein Samariter – und trotzdem, jedes Mal, hatte O’Hagan mein Leben einfach so zerstört. Egal, was ich anfing – er würde es beenden, früher oder später, bis er mich zwischen die Finger bekam. Es hatte keinen Sinn zu fliehen und sich zu verstecken, das hatte ich eingesehen. Statt immer wieder neu anzufangen, pfiff ich nun auf meine Absolution. Ich pfiff auf Domenico, auf die Kirche und ich pfiff auf mein Leben ohne Sünden. Sullivan O’Neil war ein Frauenmörder. Es war eine Lüge, ja, aber ich konnte diese Lüge nicht aufheben. Alles, was ich konnte, war, damit zu leben. Damit und mit der Tatsache, dass ich Sullivan O’Neil war. Es war mein Name, auch, wenn er besudelt und belastet war und ich würde O’Hagan nicht den Gefallen tun, diesen Namen einfach zu vergessen.

Irgendwann hörte ich etwas im Gras knacken, also setzte ich mich wieder auf und sah zu, wie Slade über ein paar Steine hinweg den Fluss überquerte, um zu mir zurück zu gelangen. Ich muss zugeben, dass ich irgendwie froh über seine Rückkehr war. Ich mochte ihn als Weggefährten, auch, wenn uns kaum etwas verband. Es war angenehmer zu zweit zu sein.

Bei mir angekommen schnaufte er demonstrativ und erklärte: „Ich habe mich verlaufen – ich fürchtete schon, wenn ich zurückkehre, seid Ihr weg.“

„Ihr verlauft Euch oft.“, nun erhob auch ich mich wieder, wenn auch eher träge und klopfte meine Sachen vom Gras sauber.

Der Dieb schnaubte abermals. „Das ist doch kein Wunder. Bäume, Wiesen, etwas anderes gibt es hier nicht! Da wird man wahnsinnig!“

Das brachte mich zum Lachen. „Ihr seid Brehms gewohnt, schätze ich.“

„Ich hätte nie geglaubt, das mal zu sagen – aber ich kann es kaum erwarten, in Annonce zu sein. Jede Stadt voller Unrat und Pest ist mir lieber, als das hier!“

Ich schulterte meinen Stoffbeutel und gemeinsam schlenderten wir über die Graslandschaft Richtung Stadt. Es war nicht mehr weit, das wusste ich. Zwar hatte ich Annonce niemals selbst verlassen, aber wir trafen oft Händler, die uns den Weg genau beschreiben konnten. Insgeheim fragte ich mich, wie lange es der Streuner wohl in Annonce aushalten würde. Einen Tag? Einen halben? Eine Stunde? Ich verstand ohnehin nicht, wieso er mich begleiten wollte. Jetzt sehnte er sich nach Häusern und Menschen, aber spätestens, wenn wir da waren, würde er diese Sehnsucht wohl bereuen. Die Stadt war so viel anders, als seine Heimat.

Das wurde uns besonders dort wieder bewusst, als wir die Hauptstraße passierten, die durch eines der Stadttore führte. Noch auf dem Weg dorthin begegneten uns Armut und Schmutz. Am Wegesrand lag ein Mann zwischen alten Lumpen, tot und zwei Kinder durchsuchten mit feindseligen Blicken seine Sachen. Wahrscheinlich überfallen oder durch die Hitze gestorben, vermutete ich. Nur wenig weiter dann sahen wir die gigantische Mauer.

Es war das erste Mal, dass ich den Stadtwall von außen sah. Er wirkte gigantisch, gebaut aus etlichen Findlingen. Oben gab es einen zinnenbedachten Gang, an denen die Soldaten St. Katherines patrouillierten und rechts und links endeten diese dann in riesigen Türmen, an deren Spitze natürlich die Flaggend es Landes. Es gab sechs Stück dieser Kolosse, an sämtlichen Punkten um die Stadt herum. Zwei von ihnen kannte ich bereits, rechts und links an der Hafenbucht, aber diese hier, an Land und so unglaublich nahe, wirkten fast gefährlich. Ich hielt kurz inne, um hinauf zu starren, zum Wappen unserer Königin und der Inschrift darunter, dass Gesindel hier nicht erwünscht war. Eine Stadt Gottes, so hieß es. Aber Gott hatte sie bereits vor Jahrzehnten verlassen, das war landesweit bekannt. Daran konnte weder das große Jesuskreuz etwas ändern, noch die etlichen bunten, schillernden Farben.

Anschließend warf ich meinen Blick nach rechts zu den Aushängekäfigen. In ihnen klagten jämmerliche Gestalten ihr Lied, Verbrecher wie ich einer war, gefoltert und halb verhungert, undeutlich ob Mann oder Weib. An den Mauern hockten Menschen aller Arten, Frauen, wie auch Kinder und warteten darauf, Einlass gewährt zu bekommen. Manche lungerten hier bereits seit Tagen herum und bettelten, in der Hoffnung, das Geld irgendwann zu besitzen, um hinein zu dürfen. Andere ruhten sich aus, um später Jagd auf unvorsichtige Wanderer zu machen. Slade zischte irgendetwas ächatisches, das klang, wie ein Fluch. Er hatte jetzt schon genug, dabei hatten wir die Stadt nicht einmal betreten. Trotzdem meinte ich den Gestank meiner Heimat bereits in der Nase zu haben. Wir sahen zu, wie eine abgemagerte Frau ohne Zähne gebeugt umher schlurfte und jeden ansprach, den sie fand, nur, um gereizt weg gescheucht zu werden. Sogar auf die Wachen murmelte sie lange ein, zupfte sogar an dessen Ärmeln, ehe sie sich auf dem Boden im Staub wieder fand, hoch rappelte und woanders ihr Glück versuchte.

Zwei Uniformierte starrten uns prüfend an und beobachteten jeden Schritt von uns, machten allerdings keine Anstalten, uns zu kontrollieren. Hier wurden täglich dutzende Bettler vor das Tor geworfen und etliche Händlerkarren fuhren stadtein- und auswärts, um mit den Schiffen im Hafen zu handeln. Da fielen zwei Wanderer wie Slade und ich wenig auf. Alles, was zählte, waren der Wegzoll und den konnten wir bezahlen: Der Rest interessierte hier niemanden.

Dennoch meinte ich, Slade seine Nervosität deutlich anzusehen.

„Wollt Ihr umkehren? Noch könnt Ihr.“, obwohl ich es nicht wollte, klang ich etwas spöttisch, doch der Dieb schüttelte nur den Kopf.

„Denkt Ihr etwa, ich habe Angst vor ein paar verlausten Menschen in Lumpen? Die gibt es in Brehms genauso gut, wie überall anders auch.“, sein Blick allerdings war unruhig, als hätte er eine Art leichte Furcht. Fast, als könnte das Stadttor nach ihm greifen und ihn verschlingen.

„Nun, wenn das so ist?“, ich warf ihm ein Schmunzeln zu, ehe ich weiterging.

Kaum hatten wir das Tor passiert, zog sich mein Magen schmerzhaft zusammen. Ich versuchte, es mir nicht anmerken zu lassen und ging einfach weiter. Dennoch spürte ich deutlich, dass etwas in meinem Innern sich weigerte, die Heimkehr zu genießen. Ich sah die gepflasterten, dreckigen Straßen, die Menschen um mich herum, die uns Reisende nach Geld anflehten, ich sah Kinder, die Ausschau nach greifbaren Geldbeuteln hielten. Es roch nach Tod und Leid, ein Geruch, der in mir unglaublich viele, verdrängte Gefühle hoch holte.

Slade nuschelte irgendetwas davon, dass er mich hassen würde, dafür, dass ich ihn auf diese Idee gebracht hatte – aber ich hasste mich gerade selbst genug. Nie mehr wollte ich einen Schritt in diese Stadt wagen und dennoch hatte ich es wieder getan, sogar dafür bezahlt.

Der Fluss plätscherte noch immer munter zwischen den Gebäuden und bildete die einzige Möglichkeit, den Unrat in die Welt hinaus zu spülen. Es war ein Wunder, dass wir beim Überqueren der Brücke Fische darin schwimmen sahen. Wie damals auch sah man weit hinten die Mauern zum Kloster und wenn man, wie wir, etwas abwärts lief, kam man deutlich dem Hafengeruch näher. Salz, Fisch und Schweiß, Exkremente und andere Gerüche vermengten sich hier zu einem dichten, wirbelnden Nebel, der einem den Atem zu rauben schien. Selbst ich, der es eigentlich seit klein auf gewohnt war, kam nicht drum herum, eine Zeit lang durch den Mund zu atmen. Hier gab es keine Verzierungen, keine Statuen, keine Gottesbilder oder Dekorationen. Hier gab es nur alte Häuser, die ihren Zweck erfüllten – gerade so.

Umso näher wir dem Hafen kamen, desto mehr Menschen drängten sich an uns vorüber. Es war Sommer, die Hauptzeit des Handels und es fiel uns schwer, vorwärts zu kommen. Die Menschen rempelten uns an, schoben sich dicht aneinander vorbei und hier und da spürte man Hände oder Ellenbogen, die sich ihren Weg bahnen wollten. Als wir dann die Bucht erreichten, hatten wir kaum Gelegenheit den Blick aufs Meer zu genießen. Händler lieferten ein uns aus, Marktleute boten schreiend ihre Waren an und überall dazwischen gab es Diebe, Betrunkene und den einen oder anderen Matrosen – manchmal auch alles drei auf einmal. Wir waren da, in Annonce und das bekamen wir mit jeder noch so kleinen Pore, mit jedem Atemzug, mit jedem Blick zu spüren.

Slade und ich blieben kurz stehen, um durchzuatmen und Orientierung zu gewinnen, dann kämpften wir uns weiter. Ich gebe zu, dass ich erst nicht ganz wusste, wo wir lang mussten. Es war lange her, dass ich diesen Weg gegangen war und bereits damals hatte ich mich verlaufen. Als wir dann das Gasthaus erreichten, das ich gesucht hatte, hielt Slade sich gequält die Stirn. Er hatte es die letzte gute, halbe Stunde geschafft, keinen Ton von sich zu geben, ganz gleich, ob wir an Strafkäfigen vorbei kamen, Scheiterhaufen, Müllbergen oder Bettler-Gruppen. Nun aber konnte er nicht anders:

„Bitte sagt mir, dass wir falsch sind.“

Es klang so unglaublich leidend und verzweifelt, förmlich jammernd, dass er mir fast leid tat. Zu seinem Bedauernd waren wir allerdings nicht falsch. Ich musterte den schwarzen Kater und dachte zurück an das, was ich erlebt hatte. Hier hatte ich Nevar kennen gelernt. Hier hatte ich mein Lebens als Sullivan O’Neil beendet, nur, um es jetzt wieder zu beginnen. Hier hatte ich beschlossen, etwas zu verändern. Hier war ich zum Frauenmörder geworden.

Zu meiner Verwunderung wirkte das Gebäude noch heruntergekommener, als ich es in Erinnerung hatte. Ich muss ehrlich sagen, dass es wahrscheinlich Gasthäuser in Annonce gab, die sogar noch besser aussahen, als dieses. Nur noch wenige Fensterläden waren vorhanden, im oberen Stockwerk gab es kaum noch Fensterscheiben und das Dach wirkte löchrig und an manchen Stellen kaputt. Zudem sah eine der Wände fast so aus, als hätte es vor langer Zeit gebrannt.

„Wir sind richtig.“, gab ich ruhig zu und blickte die Straße hinunter. Einige Rotröcke sahen sich mürrisch nach Leuten um, an denen sie ihre Unlust auslassen konnten, aber Kunden schien es nicht zu geben. Die Straße war so gut wie leer. „Es ist nicht das Paradies, aber zumindest gibt es billige Betten.“, wenigstens hoffte ich das. Ich würde es Philipp nicht verübeln, wenn er mich im hohen Bogen raus warf, sobald er mich erkannte. Ich konnte mich noch gut an das Chaos erinnern, das ich vor meiner Flucht veranstaltet hatte. Etliche Rotröcke, die das Haus stürmten und meine Klettereien draußen auf dem Fenstersims.

„Ich verstehe nicht, wieso wir hier rasten müssen. Ihr habt genug Geld für ein angesehenes Gasthaus.“, brummte der Dieb direkt neben mir und zeigte mir deutlich seinen Unmut.

Kopfschütteln meinerseits, dann flüsterte ich: „Ich brauche das Geld für andere Dinge. Tut nicht so, als wärt ihr Luxus gewöhnt.“

Gemeinsam traten wir ein und als würde mir erst dort die Realität wirklich bewusst werden, überfiel mich eine unglaubliche Gänsehaut, als ich das Wehklagen der Katze über der Tür hörte. Innen dann blieben wir stehen und warteten, dass unsere Augen sich an das Dämmern gewöhnten.

Es war traurig.

Von den damals gut zwanzig Tischen waren nur noch etwa fünf Stück übrig, überall lag Staub, es gab viel zu wenig Stühle und auch hier hatte sich mittlerweile der Schimmel in die Wände gefressen. Ich ließ meine Blicke schweifen und erinnerte mich an alte Zeiten. Vor mir lag die Treppe ins Obergeschoss, die auf halbem Wege eine Biegung machte, die Vase allerdings fehlte. Links von mir dann war die Tür zur Küche, direkt hinter dem Tresen. In Erwartung Philipp dort zu sehen ging ich auf diesen zu, doch es war nicht der übliche Wirt, der den Schrei der Katze gehört hatte. Der dickliche Kerl mit den dunklen Augen, der zynischen Art und den breiten Händen.

Stattdessen war es ein hoch gewachsener, junger Mann mit blonder, wilder Kurzhaar-Frisur, fast so groß wie ich, stattlich und ziemlich ungepflegt. Man sah deutlich die Verwirrung in seinem Blick, obwohl er sich über Kundschaft eigentlich freuen sollte.

„Ähm... Ihr wünscht?“, fragte er direkt heraus.

„Ich suche den Wirt dieses Hauses.“, auch ich musste etwas verdattert gewirkt haben, doch als der Junge sich kurz über die Nase rieb, während er antwortete, begann ich zu grinsen.

„Ich bin der Wirt dieses Hauses, Herr – aber wir bewirten nicht mehr, der schwarze Kater ist geschlossen.“

„Aye, ist das so?“, mein Grinsen wurde breiter, denn meine Sicherheit wuchs. Natürlich verunsicherte es den armen Kerl vor mir noch mehr, doch als ich mich vorbeugte, auf den Tresen stützte und so etwas mehr ins Licht der Kerzen kam, blitzte auch in seinen hellblauen Augen Erkenntnis auf. „Bewirtet ihr auch nicht einen alten Freund?“

Es dauerte, doch dann machte es ‚Klick’.

„O’Neil, Ihr?!“, Jack, denn das war dieser mittlerweile ausgewachsene Mann, lachte. „Ich habe Euch nicht wieder erkannt! Eure Haare, euer Bart-... Es ist so lange her!“

Ehe Slade sich versah, umarmten wir uns freundschaftlich und klopften uns auf den Rücken, über den Tresen hinweg. Er freute sich, mich wieder zu sehen und das wiederum beruhigte mich. „Ich dachte, die Rotröcke hätten Euch geschnappt und hingerichtet.“, gab er dann offen zu. „Damals ging eine richtige Hetzjagd los und sie haben hier alles auseinander genommen. Wieso seid Ihr hier? Nevar ist nicht da, falls er es ist, den Ihr sucht.“

„Wir sind hier, weil wir Unterkunft suchen.“, erklärte ich. „Dringend.“, doch Jack schüttelte nur den Kopf.

„Der schwarze Kater bewirtet nicht mehr, er schließt bald, da ich Ende der Woche in die Kaserne umziehe. Ich habe weder Bier da, noch genug Essen. Genau genommen habe ich gar nichts mehr da – sogar die meisten Laken haben die Rotröcke mitgenommen oder verbrannt.“, ein leichtes Seufzen, dann hob Jack die Hand und deutete in den Schankraum. „Ihr seht ja, was aus dem Kater geworden ist. Nach Phils Tod haben sie sich hier regelrecht bedient und die Kundschaft bleibt mehr aus, als zuvor.“

Ich stockte kurz. „Phils Tod?“, hatte ich mich verhört? Der Wirt war gestorben?

Doch nun nickte der Junge. „Sie haben ihn gehängt, etwa eine Woche nach dem Chaos. O’Hagan persönlich hat das veranlasst. Meine Mutter haben sie verbrannt.“, das musste erst einmal sacken. Ich starrte ihn an, dann vor mich und ließ mich auf einen der Stühle sinken. Verbrannt? Durch O’Hagan persönlich? Mir war nicht bewusst gewesen, was ich mit meinem Aufenthalt, geschweige denn mit meiner Flucht verursacht hatte. Ich hatte mir die Gedanken zu diesem Thema förmlich selbst verboten und mich geweigert, mich damit zu befassen. Nun holte mich die Tatsache ein, dass mein Leben hier seine Spuren hinterlassen hatte – ob ich wollte oder nicht. Slade ging währenddessen etwas im Raum umher, er interessierte sich nicht für unser Gespräch. Als er einen Platz etwas abseits fand, setzte er sich, nahm sein Messer und spielte gelangweilt damit herum.

„Das wusste ich nicht.“, ich sprach bewusst leise und gab mir auch keine Mühe, mein ehrliches Bedauern zu verstecken. Der Wirtssohn setzte sich mir gegenüber und lehnte sich ein Stück zurück. „Mein Beileid.“

„Es war klar, dass das früher oder später passiert. Wir galten lange genug als Jakobitenhändler und es war auch kein Geheimnis, was mein Vater von den Katholiken hielt.“, es erstaunte mich, wie locker Jack mit diesem Thema umging. Zeitgleich fragte ich mich, ob es an seiner Reife lag oder ob er es nur spielte. Er war erwachsener geworden, ja, aber auch im Geiste? Nun, wo der junge Mann nicht mehr hinter dem Tresen stand, konnte ich ihn genauer mustern. Er trug wie damals schon die alte Hose seines Vaters, wenn er nicht uniformiert war und noch immer tat sein strohblondes Haar, was es wollte. Einige Pickel und schwarzer Dreck an Hals und Gesicht zeichneten ihn unmissverständlich als Annoncer aus, genauso wie seine verdreckten Nägel. Ich erinnerte mich noch gut an den unsicheren Soldaten, der mir scheu Fragen in meiner Gefängniszelle stellte und versuchte, mich in seine rebellischen Gedanken einzuweihen. Diese Unsicherheit war gewichen und hatte Selbstbewusstsein und Stärke Platz gemacht. Nicht nur den schwarzen Kater hatte die Macht O’Hagans verändert, sondern auch mich und Jack.

Ich fragte leise: „Und du wirst jetzt ganz zur Armee gehen? Und dein Leben hier aufgeben?“, der Junge vor mir nickte. Wie schon damals erklärte er mir:

„Ich habe nicht genug Geld für eine Auslösung und für mein Leben hier reicht es auch nicht. Ich will den schwarzen Kater hinter mir lassen, so lange es noch geht.“

Das klang nur logisch. Wahrscheinlich würde er, würde Jack versuchen den Kater wiederzubeleben, nur im Schuldnerturm landen oder gleich auf dem Schafott. Hier bleiben ging allerdings auch nicht, denn irgendwann würde das Haus ihn wohl unter sich begraben.

„Aber was tut Ihr denn hier?“, unterbrach er irgendwann meine Gedankengänge und schüttelte leicht den Kopf. „Ich verstehe nicht, wieso Ihr nach Annonce zurückkehrt. Wisst Ihr denn nicht, dass O’Hagan Euch überall gesucht hat? Er wird Euch ohne zu zögern hinrichten, wenn er Euch findet, Herr.“

„Genau deswegen bin ich zurück.“, ein leichtes Grinsen meinerseits ließ Jack verwirrt blinzeln. Auch ich beugte mich nun vor, schob die Kerze etwas beiseite und zischte: „Ich habe mein Glück woanders versucht und kläglich versagt. Ich bin es leid, vor ihm davon zu rennen! Ich bin nach Annonce zurückgekehrt, um mich endlich von dieser Hetzjagd zu befreien!“

„Ihr wollt Euch gegen O’Hagan auflehnen?!“, Jacks Augen weiteten sich ungläubig, doch ich erwiderte nur:

„Ich muss es tun, sonst hat das alles nie ein Ende...! Und ich bin hier her gekommen, um dich zu bitten, mir zu helfen!“

Der Wirtssohn zuckte zusammen. „Euch helfen? Seid Ihr verrückt?“

„Ja, das bin ich! Und ich weiß, dass du es auch bist! Ich habe dein Buch gelesen Jack...!“, meine Stimme wurde leiser und verheißungsvoller. Ernst wechselte ich zwischen seinen Pupillen hin und her und griff ihn am Arm, um sicher zu sein, dass er mir auch wirklich zuhörte. „Ich weiß, wie du denkst, wie du fühlst! Und ich weiß, nein, ich hoffe, dass sich das in den letzten fast zwei Jahren nicht geändert hat. Sag mir, dass du nicht tot bist, Jack! Sag mir, dass du noch keine Marionette geworden bist und dass du mir helfen wirst, etwas zu verändern!“

Als könnten sie uns hören, waren wir ganz still, während zwei Passanten draußen vor den Fenstern lachten. Bis sie vollends vorübergegangen waren, starrten wir uns nur an und warteten auf die Reaktion des anderen. Mein Griff wurde fester, als ich merkte, dass von Jack nichts kam. Ich konnte förmlich spüren, dass er zögerte, aber ich spürte auch, dass ich mich nicht irrte. Er hatte sich nicht verändert, was seinen Freiheitsdrang anging.

Leise versuchte ich ihn zu überzeugen: „Du hast mir damals bei Mary-Ann geholfen! Und du wirst mir erneut helfen, nicht wahr? Das wirst du doch? Jack? Das wirst du doch?“

„Ich bin ein Soldat der Krone.“, hauchte der Junge sehr leise und ruhig zurück. „Wenn ich erwischt werde, hängt man mich auf. Ich bin Euch keine Hilfe, wenn ich den Kater verlassen habe! Das wäre viel zu riskant!“

„Dann verlass die Rotröcke!“

„Ich habe kein Geld, Herr! Das wisst Ihr! Ich-...“

Er verstummte abrupt, als ich meinen tiefroten Geldbeutel auf den Tisch fallen ließ. Er rasselte leise und war hörbar schwer. Dabei erklärte ich gelassen: „In diesem Beutel ist genug drin, um dich von der Armee freizukaufen und eine Zeit lang davon zu leben. Wenn du mir hilfst, kannst du es haben und bist frei. Du kannst dir eine anständige Arbeit suchen und ein hübsches Mädchen noch gleich mit dazu.“, der Junge setzte sich aufrecht und nahm so ein wenig Abstand. Verständlich. Bei unserem letzten Zusammensein, war ich so arm gewesen, dass ich auf dem Küchenboden schlafen musste, doch dank Robin hatte sich das geändert. Für meine Pläne brauchte ich Geld und dieses hatte ich jetzt. Zwar nicht endlos und im Übermaß, aber für meine Zwecke würde es reichen – wenn Jack mitspielte.

Er wollte leise wissen: „Und was soll ich dafür tun?“

Die Antwort war einfach. Eine fast gleichgültige Handbewegung meinerseits, ehe ich erklärte: „Du nutzt deine Vorteile als Soldat der roten Armee und findest für mich einen alten... ’Freund’, wenn man so will. Ich brauche seine Unterstützung. Wenn ich Glück habe, ist er hier in Annonce oder zumindest hier im Gefängnis. Wenn er gehängt wurde, will ich das wissen. Hast du ihn gefunden, sagst du mir bescheid und bekommst das Geld für den Freikauf – und natürlich hilfst du mir auch weiterhin.“

„Und wobei helfen?“, Jacks Misstrauen wuchs zwar, aber trotzdem vertraute er mir. Er hatte die kindliche Verehrung, die er mir damals entgegen brachte, nicht vergessen, so schien es. „Was folgt danach?“

„Wir schenken O’Hagan ein paar schlaflose Nächte, zusammen mit ein paar Schweißperlen. Er hat lange genug getan, was er wollte. Und seien wir ehrlich: Was haben wir zu verlieren? Wir müssen nur ein Stück Brot stehlen und sind tote Männer. Warum nicht mit dem Gefühl sterben, gelebt zu haben?“

„Also schön?“, Jack zögerte, ehe er leise hauchte: „Ich habe keine Ahnung, was genau Ihr vorhabt, aber ich bin einverstanden. Ich suche den Mann für Euch und Ihr kauft mich frei. Aber ich kann aussteigen, wann immer es mir recht ist.“, wir gaben uns die Hände und damit war die Sache besiegelt. „Ich werde Euch nicht ewig folgen. Nur, so lange ich es möchte.“

„Einverstanden.“

Slade seufzte im Hintergrund leise, er langweilte sich. Wir sahen zu, wie er aufstand und erklärte, er wolle sich die Stadt ansehen, schon war er verschwunden. Mich störte das nicht. Der junge Soldat vor mir allerdings wirkte noch immer sehr skeptisch ihm gegenüber. Ich fragte mich, ob er das Schlitzohr meines Begleiters bemerkt hatte oder ob es generell an Slades sämtlicher Erscheinung lag, die eher an einen Herumstreicher erinnerte.

Nachdem der Schrei der Katze verklungen war und wir wieder allein, sah Jack erneut mich an und wollte wissen: „Und wen soll ich suchen? Wie heißt der ‚alte Freund’, den Ihr für Euch gewinnen wollt?“

Abermals musste ich grinsen, jedoch deutlich breiter. Es war ewig her, dass ich diesen Namen ausgesprochen hatte. Ich lehnte mich zurück, faltete geduldig die Finger auf meinem Schoß ineinander und flüsterte, ganz langsam:

„Sein Name ist... Mathew Hullingtan Black.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Pataya
2012-06-15T05:55:32+00:00 15.06.2012 07:55
uiuiuiuiui... jetzt passiert wieder was =)
Ich musste echt erst einmal überlegen, wer denn Jack war =P, aber als du dann geschrieben hast, er sei Soldat, wusste ichs wieder.

hmmm, ich glaube ja kaum, dass Black noch lebt. Der war doch im ersten Buch schon alt. Oder wenn er noch leben sollte, dann ist er auf jedenfall abgemagert und hat nichts mehr von seiner Autorität übrig.

Naja, ich werds ja, hoffentlich bald, lesen können.

Ansonsten... es sind ein, zwei kleine Rechtschreibfehler drin, aber die beeinflussen den Lesefluss nicht. Die kommen wahrscheinlich einfach nur vom schnellen tippen =)

Alsoooo.... dann mach mal weiter so.

HDL, PAT =)


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