Wingless von Elena_Jenkins (Leseprobe) ================================================================================ Kapitel 1: Der erste Schritt ... -------------------------------- Titel: Schreiendes Schweigen Untertitel: Flügellos am Himmel Autor: Sassa Destiny Beta: Disclaimer: Die Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten zu existierenden Personen sind nicht gewollt und somit unbeabsichtigt. Die Handlung hat so niemals stattgefunden und ist frei erfunden. Die Personen als auch die Story an sich gehören MIR, also habe ich das Copyright hier drauf. Es handelt sich bei dieser Story um eine Art zweiten Teil von Marzipanschweinchen – Do you want me. Ist aber unabhängig von diesem lesbar, da die Personen, die im Fokus liegen, ganz andere sind. Ansonsten wünsche ich an dieser Stelle sehr viel Freude am Lesen und joar. --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- The first Step You wanna see me cry? You wanna see me on the ground? Don’t waste your time to imagine something you’ll never see. I’m not that one, who cry infront of you. My secrets are inside and you’ll never know them. Try to break my wall, but I promise you, you wont make it. Because I am who I am und you couldn’t sort me in your fuckin’ scenes. You aren’t able to look into me and you’ll never know me. So stop thinkin’, I’m your puppet. I’m not your toy and if you want me by your side – as a friend- so start bein’ a friend and not my enemy. Harte Beats drangen aus den offen stehenden Fenstern einer Sporthalle. Der Parkplatz war leer, der Trainer schon längst gegangen. Angesichts der Tatsache, dass es bereits halb elf am Abend war, nichts Ungewöhnliches. Im Inneren jedoch befand sich eine einzige männliche Person. Er befand sich in dem mit Judo-Matten ausgelegten Teil der Halle. Schnelle, präzise ausgeführte Tritte und Schläge folgten in scheinbarer Perfektion. Schweiß rann ihm über die Stirn, das schwarze Tanktop, welches er trug, war bereits ganz feucht und die violette Sporthose, klebte an seinen Beinen. Lose, pechschwarze Strähnen, die sich aus seinem Zopf gelöst hatten, klebten an seiner Haut, rutschten in die blauen Augen. Nathan Jester, derzeit noch achtzehn Jahre jung, war einer der besten Kämpfer, die dieser Verein zu bieten hatte. Mit 1,90m war er nicht klein und gewiss nicht langsam. Bei jeder Bewegung, die er ausführte, bewegten sich die recht ausgeprägten Muskeln unter der natürlich braunen Haut. Jede Bewegung, welche er ausführte, wirkte wie bei einer Raubkatze. Elegant und geschmeidig. Der Song wechselte, die Boxen wummerten den Bass durch die leere Halle und ließen sein Inneres beben. Er mochte es. Das alles. Die Anstrengung. Die Müdigkeit, die seine Glieder nachher heimsuchte und ihn einfach nur noch ins Bett fallen ließ. Das Wissen, dass man mit jedem Tag, den man trainierte, dem Ziel näher rückte. Nämlich einer der Besten unter den wirklich Besten zu werden. Vor allem aber konnte er hier vergessen. Einfach alles vergessen… Sein Kopf drehte sich leicht über die Schulter, seine Augen fassten den Sandsack in den Fokus und er holte zu einem gekonnten Tritt aus. Geschätzte hundert Kilo wurden einige Meter auf der Schiene, auf welcher dieses Trainingsgerät eingehängt war, von ihm entfernt und kam pendelnd zum Stehen. Nathan kam zur Ruhe. Seine Arme hingen entspannt an seinem Körper herunter, seine Atmung beruhigte sich langsam aber stetig. Seine Augen verengten sich jedoch zu schmalen Schlitzen und die unterdrückte Aggression in ihm kam langsam wieder hoch. Knackend ballten sich seine Hände zu Fäusten, ehe er auf den Sandsack zustürzte und auf das Ding einschlug, als wäre er von Sinnen. Je härter und aggressiver der Beat aus den Boxen wurde, desto härter schlug Nathan zu, ehe er auf die Knie sank. Schwer atmend begann er, einfach nur auf eine Stelle zu starren und seine rechte Hand in die linke legte und über die Knöchel fuhr, welche trotz der Bandagen begannen zu pochen. „Fuck“, murmelte er vor sich hin, immer und immer wieder. „Fuck!“ Seine Stimme übertönte die Musik, verklang aber sofort wieder. Hart kollidierten seine Fäuste mit dem harten Hallenboden. Ein heftiger Schmerz durchfuhr seine Arme, kroch seinen Rücken hinunter. Aber es störte ihn nicht. Körperlicher Schmerz war nichts im Gegensatz zu dem, was er innerlich spürte. Was er innerlich aushalten musste. Seine Hände bedeckten zitternd sein Gesicht und ein verzweifeltes ‚Warum’ kam über seine Lippen. Und so kniete er eine ganze Weile dort. Stumme Tränen der Verzweiflung, der Angst und des Frustes liefen über seine Wangen, wuschen den Schweiß gleich mit weg und perlten an seinem Kinn ab. Die Musik war schon längst verstummt und Nathans Zeitgefühl war verloren gegangen. Erst die Hallentür, welche hart gegen die Wand schlug, riss ihn aus seinem tranceähnlichen Zustand und setzte ihn im Hier und Jetzt ab. „Nathan!“, hörte er die Stimme seiner jüngeren Schwester, welche auf ihn zugeeilt kam. Er sah sie nicht wirklich, obwohl er sie direkt ansah. Er hörte nur die Absätze ihrer Highheels auf dem Boden, hörte, wie ihre Knie auf dem Boden aufschlugen, als sie sich einfach vor ihn fallen ließ. Ihre Hände fassten seine Schultern und zogen ihn an sich. „Hey“, flüsterte sie. Ihre Stimme klang in seinen Ohren brüchig und zitternd. „Alles wird wieder gut, Nath. Alles kommt in Ordnung, ok?“, wisperte sie ihm zu, strich über seinen Rücken und Nathan legte seine Arme nur um seine jüngere Schwester, vergrub sein Gesicht in ihrer Halsbeuge. „Es bringt nichts, wenn du dich hier fertig machst. Komm nach Hause. Blake hätte nicht gewollt, dass du so in Trauer zerfließt, hm?“ Sie versuchte stark zu sein, das merkte er sofort. Sie war schon immer so viel stärker gewesen, als er es war. Sie steckte alles einfach immer so weg, zumindest vor anderen. Abends weinte sie sich in den Schlaf. Aber sie war dennoch stärker als er es jemals sein würde. „Er ist mein Zwillingsbruder, Lindsay. Er wird nie wieder so sein, wie früher. Nie wieder. Er hat das hier geliebt. Ich bin es ihm schuldig, ok?“ Seine Stimme überschlug sich, als er sich von ihr löste und aufstand. „Er war der Kämpfer von uns beiden. Er war der Starke, der Selbstbewusste. Er war der bessere von uns beiden. Er hat mich immer dazu ermutigt, auch mal etwas anzufangen. Ich habe es getan. Er hat mich unterstützt. Es ist nur richtig, dass ich weiter mache, wozu er nicht mehr die Chance haben wird!“ „Nathan.“ Lindsay kam auf ihn zu, fasste sein Handgelenk und blickte ihrem großen Bruder in die Augen. „Mach dich nicht fertig. Es war nicht deine Schuld. Hörst du? Es war nicht deine Schuld.“ „Ich hätte mit ihm gehen müssen. Ich hätte nicht noch dort bleiben sollen. Wäre ich mitgegangen, wäre er nicht von zwölf Typen zusammengeprügelt worden. Ich hätte da sein müssen! Es ist meine Schuld. Weil ich ihn allein gelassen habe. Verstehst du?“ „Ihr hättet zu zweit auch keine Chance gehabt. Dann wärt ihr jetzt beide dort, wo er ist. Und das wäre auch nicht besser gewesen“, hielt sie dagegen und legte ihm eine Hand auf die Wange. „Blake wird wieder. Er wird irgendwann wieder.“ „Ja. Mit Hirnschäden, Knochenfehlstellungen und was nicht noch alles. Er wird nie wieder werden, Lindsay. Er wird ein Pflegefall und das nur, weil ich nicht da war! Es ist meine Schuld…“, wiederholte Nathan. In seinen Augen war er der Schuldige an dieser ganzen Sache. Er war schuld daran, dass Blake nach der Hausparty von einer Bekannten zusammengeschlagen wurde. Er war schuld daran, dass er nun seit einem halben Jahr im Koma lag. Er war schuld daran, dass das alles so gekommen war. Er. Nur er. „Nathan. Sei vernünftig. Komm nach Hause, leg dich erst einmal hin. Mum macht sich Sorgen um dich und Dad ist dich suchen gefahren. Komm, wir fahren.“ Sie versuchte ihn anzulächeln, aber es missglückte ihr. Es sah eher gequält und falsch aus. Und dennoch nickte er, wurde von ihr losgelassen und sammelte seine Sachen zusammen, ehe er die Anlage ausschaltete und mit ihr die Halle verließ. Warm schlug ihm die Luft entgegen, als er mit Lindsay zusammen auf den Parkplatz trat. Es war beinahe immer warm im Florida. Nie gingen die Temperaturen wirklich unter zehn Grad und auch an und für sich war es eher so, dass man immer schwitzte. Nathan hatte diese Hitze schon immer gehasst. Und jetzt hasste er sie noch viel mehr, weil sein Zwillingsbruder sie geliebt hatte… „Nathan.“ Seine Schwester schob ihn in die Richtung ihres Wagens und nahm ihm die Sporttasche ab, um sie in den Kofferraum des dunkelroten Chevrolet Spark zu werfen. „Setz dich“, meinte sie und öffnete die Tür, damit er sich endlich setzte. Sie selbst nahm dann neben Nathan platz und fuhr von dem Parkplatz. Nathans Blick glitt leer aus dem Fenster. Die Häuser zogen nur so an ihm vorbei. Alles zog an ihm vorbei. Er bekam es nicht einmal richtig mit, als sie an ihrem Wohnblock angekommen waren. Müde stieg er aus, schleppte sich neben Lindsay ins Innere ihrer kleinen Wohnung. „Nathan!“, rief ihm auch gleich seine Mutter entgegen und kam aus der kleinen Küche auf ihn zugerannt. Sie war erst vierzig. Ihr rotes Haar zeigte kein einziges graues, ihre Augen waren so blau wie die Lindsays. Allgemein war Lindsay das Abbild seiner Mutter. „Wo warst du nur?“ „In der Halle. Ich habe noch ein wenig das aufgeholt, was ich verpasst habe, durch die Abschlussprüfungen“, erklärte er ihr und wirkte normal. So, wie er immer war. Lässig und freundlich. „Du warst nicht mit bei Blake…“, meinte seine Mutter nach einigem Schweigen und blickte Nathan direkt an. „Ich weiß. Was bringt es schon, wenn ich jeden Tag bei ihm sitze? Er bekommt es doch so oder so nicht mit und ich würde mich nur noch schlechter fühlen“, antwortete er nur darauf und wendete sich ab. Er brauchte darüber nicht schon wieder diskutieren. Am Ende würde nur seine Mutter wieder anfangen zu weinen, sein Vater würde ausrasten, Lindsay würde versuchen die Eskalation zu vermeiden. Letztlich würde es darin ein Ende finden, dass sein Vater ihm eine Ohrfeige verpassen würde und der Streit wäre vergessen. Aber darauf hatte er keine Lust und wollte dem aus dem Weg gehen. „Du weißt ganz genau, dass er dich braucht, Nathan. Er wäre auch für dich da gewesen, wenn die Situation andersherum wär.“ „Ich weiß. Er ist mein Bruder, Mum!“ „Dann kümmer dich auch gefälligst!“ Er wollte gerade zu seiner Verteidigung ausholen, als die Tür ins Schloss geschlagen wurde. Laut hallte es in der ganzen Wohnung wider, ebenso wie die wütenden Schritte seines Vaters. „Nathan!“, donnerte jener ihm entgegen, als er vor Nathan stehen blieb. Gespielt neutral blickte er seinem Vater entgegen, hatte die Hand, die sich gegen ihm erhob, in Augenwinkel gesehen und spürte sie wenige Sekunden später auf seiner Wange. Früher war sein Vater nicht so gewesen. Damals war er ruhiger gewesen, liebevoller und nicht so schnell reizbar. Aber das mit Blake, das hatte die gesamte Familie verändert. Vor allem aber ihre Eltern. „Du dummes Stück Scheiße! Ich suche die halbe Stadt nach dir ab, und du Arschloch stehst hier und streitest mit deiner Mutter?“ „Dad“, ging Lindsay dazwischen, schob sich zwischen ihren Bruder und ihren Vater. „Hört doch endlich auf! Das führt doch zu nichts. Sei froh, dass er hier ist!“ „Ich wär froh, wäre Blake hier. Nathan sollte dort liegen. Du hast es doch ohnehin nie zu etwas gebracht. Du warst immer der Loser von meinen Söhnen!“, fuhr sein Dad ihn an. Ohne Lindsay wirklich zu beachten, schob er das Mädchen beiseite und fasste seinen Sohn am Kragen. „Blake wollte auf’s College, wollte studieren und ins Management gehen. Du willst eine Ausbildung zum Kfz-Mechaniker anfangen. Was kannst du deiner Familie später schon bieten?“ „Du kannst deiner Familie auch nichts bieten, Dad“, warf er ihm entgegen, löste die Finger seines Erzeugers aus seinem Top und schüttelte den Kopf. „Ich kann dieser Familie mehr bieten, als du es jemals könntest.“ „Ja? Und warum wohnen wir in dieser Bruchbude von Wohnblock?“ Wieder klatschte es und Nathans Kopf drehte sich zur Seite. Seine Wange färbte sich rot, brannte höllisch und dennoch legte sich ein Lächeln auf seine Lippen, das ihn beinahe arrogant wirken ließ. „Versuch es ruhig immer und immer wieder, Dad“, sagte er und legte eine bestimmte, abfällige Betonung auf das Wort 'Dad'. „Du wirst mich ohnehin nicht dahin bekommen, wo du mich hin haben willst. Dass du mich nie geliebt hast, das weiß ich genau. Schlag mich grün und blau, beleidige mich, zähle deine Liste mit meinen negativen Seiten herunter. Du wirst nie gegen mich gewinnen.“ Und mit einem Mal war es nicht die flache Hand, die ihn am Kiefer traf. Nein, es war die geballte Faust seines Vaters, die zuschlug und ihn ins Taumeln brachte. „Du bist der echt der Fehler meines Lebens“, warf ihm ein Vater noch vor die Füße, ehe dieser wutentbrannt den Flur verließ und ins Wohnzimmer ging. Das Letzte was man hörte, war die Tür, die heftig ins Schloss fiel. Dann herrschte absolute und alles einnehmende Stille. Lindsay sah ihren Bruder an, der sich das Blut von der Lippe wischte und die Schultern zuckte. „Schlägt auch wie eine Cheerleaderin“, murrte er nur leise vor sich hin und ging an den beiden Frauen des Hauses vorbei, direkt in sein Zimmer. Im Gegensatz zu seinem Vater schloss er die Tür leise hinter sich und ließ sich auf seinen Schreibtischstuhl sinken. Jedoch hielt seine Einsamkeit nur wenige Minuten an, denn die Tür glitt auf und Lindsay betrat das Zimmer. „Warum gibst du ihm diese Macht über dich, hm?“, fragte sie und lehnte sich an die Tür, als sie sie geschlossen hatte. „Er beleidigt dich, er schlägt dich. Warum lässt du das zu? Warum?“ „Er ist mein Vater“, folgte die sachliche Erklärung. „Ich kann meine Hand nicht gegen ihn erheben.“ Ein verlorenes Seufzen war von ihr zu hören, als sie auf ihn zuging und sich vor ihm in die Hocke sinken ließ. Ihre Hände legten sich auf seine Knie. „Du warst mal so frei. Du hast gelacht, warst so oft mit deinen Freunden unterwegs. Du hattest so viel Spaß am Leben. Wer verdammt noch mal hat dir deine Flügel ausgerissen, Nathan? Das bist nicht mehr du“, meinte sie, sah zu ihm auf. Doch es erschien nur ein gleichgültiges, gar schon kühles Lächeln auf seinen Lippen, ehe er seine Hand durch ihr Haar fahren ließ. „Zwölf Vollidioten, die meinen Bruder komareif geprügelt haben.“ „Vergiss die doch endlich, Honey. Vergiss sie. Bitte. Schau mal, du hast ein Ziel, oder nicht?“ „Blake hatte das Ziel.“ „Nein. Es ist jetzt dein Ziel, weil du es ihm versprochen hast. Die Amateurmeisterschaft. Du willst einer der Besten unter den Besten werden. Und du wirst es schaffen!“ „Werde ich?“ „Ja. Und jetzt zeig mal her.“ Ihre Hand fasste sein Kinn und drehte es zu sich, blickte die Stelle kritisch an, die langsam begann, sich bläulich zu färben. „Soll ich dir’ne Tüte gefrorene Möhren vom Eisfach holen? Dann wird’s nicht so dick?“ „Egal. Fällt schon nicht auf“, meinte er und schob ihre Hand von seinem Kinn. „Es ist ok.“ „Wirklich?“ „Ja…“ „Nathan? Ich werde da sein. Bei dem ersten Fight. Ich werde immer da sein, das verspreche ich dir jetzt“, meinte sie, nahm seine Hände und wickelte die Bandagen ab, drückte einen Kuss auf seine Fingerknöchel. „Ich will, dass du deine Flügel wieder bekommst, egal was es heißt.“ „Du bist süß“, lächelte er milde. „Nein. Ich bin heiß, sexy und erste Cheerleaderin“, hielt sie dagegen und grinste ihn breit von unten herauf an. Drei Monate später, 10 Mai 2011 „Beweg deinen Arsch, Nathan!“, rief ihm sein Trainer zu. Davis Cooper – kurz Coop – war ein Mann, Mitte dreißig. Und ausgerechnet heute musste der Gute weiße Kleidung tragen. Das hob sich immer so stechend von seiner dunklen, gar schon schwarzen Hautfarbe ab. „Ich bin schon unterwegs, Coop“, rief Nathan nur zurück, stürzte die Treppe hinunter und warf seiner Schwester im Laufen noch die Schlüssel zu seinem Wagen zu. „Wir sehen uns, Nath!“, meinte sie noch und winkte ihm hinterher, als er in den Van stieg, der ihn und zwei weitere seines eigenen Vereins zur Weltmeisterschaft der Amateure brachte. Hoch nach Jacksonville. Es dauert gute drei Stunden bis sie dort ankamen und sich einen Weg durch die Massen der Menschen bahnten, um auf dem Parkplatz einen passenden Platz zu finden, auf welchem sie ihren Van parken konnten. Coop war der Erste, der den Wagen verließ, als sie endlich hielten. Er warf den drei Jungs die Taschen zu und schloss den Van ab. „Nath“, meinte er, hielt den Schwarzhaarigen sanft an der Schulter zurück. „Du weißt, dass ich dich eigentlich gar nicht mitnehmen wollte“, begann er. „Aber ich weiß, dass du was drauf hast und mein persönlicher Favorit bist. Tu dir einen Gefallen, wenn es nicht mehr geht, gib auf. Kassier' nicht so viel, wäre unschön für dein Gesicht und mach meinem Verein keine Schande. Was würde Blake sagen, hm?“, meinte er und erhielt ein sachtes Lächeln des Schwarzhaarigen. „Keine Sorge, Coop. Das wird schon. Vor dir steht der nächste Champ“, versuchte Nathan das ein wenig herunterzuspielen. Natürlich war es klar, dass das mit Blake wieder kommen musste. Blake, das Supergenie von ihnen beiden. Blake, der alles, was er anfasste, zu Gold werden ließ. Er würde immer im Schatten seines eigenen Zwillings stehen. Jedes Mal. Aber langsam hatte er sich wohl doch daran gewöhnt. Gemeinsam mit seinem Trainer betrat er die Halle, folgte seinen beiden Vereinsmitgliedern in eine der Umkleidekabinen und tauchte die Jeans gegen die violettschwarze Sportshorts, das weiße Hemd wich dem schwarzen Tanktop, welches auf dem Rücken das Emblem des Vereins aufgedruckt hatte. Es war nichts Besonderes. Nicht wie bei all den anderen, die aus diesem Event beinahe eine Modenshow veranstalteten. Sorgfältig band er sich die langen schwarzen Haare zurück und erntete allein dafür schon ein schiefes Grinsen der anderen beiden. Aber er störte sich nicht daran. Es war nun einmal so, dass er nicht auf diese kurzgeschorenen Mähnen stand. Das war nicht sein Stil. Alles um sich herum ignorierend, drehte er die kleinen Kugeln von seinen Lippenpiercings ab, verstaute den Schmuck in einer kleinen Schachtel, ehe er seine Kleidung ordentlich zusammenlegte und in die Tasche legte. „Nathan“, sprach ihn einer der beiden anderen an. „Meinst du, du wirst es schaffen? Das soll mit Sicherheit nicht gegen dich gehen, aber bist du dafür schon weit genug?“. Nathan hätte es sich doch eigentlich denken können, oder? Es war vollkommen logisch, dass die anderen ihm nichts zutrauten und meinten, er würde es nicht packen… Dabei war es für ihn einfach nur eins: Dabei sein und zeigen, was er konnte. Mehr nicht. Vor allem sollte Lindsay stolz auf ihn sein können! „Sehe ich etwa so aus, als würde ich das nicht schaffen?“, fragte er und nahm die Bandagen aus der kleinen Tasche, ließ sich auf eine der Bänke fallen. „Na ja. Wegen deinem Bruder vielleicht und so?“, hielt der andere dagegen. „Ich bitte euch“, meinte er, schüttelte leicht den Kopf und begann, sich die schwarzen Bandagen um die Knöchel seiner rechten Hand zu wickeln. „Ihr werdet schon sehen, was passiert. Also geht mir nicht auf die Eier, ok?“ Arrogant verließen diese Worte seine Lippen. Es machte ihn einfach wahnsinnig. Wie gesagt, er stand immer Schatten seines Bruders, selbst jetzt. Und langsam – ja langsam sollte sich das doch vielleicht mal ändern, oder etwa nicht? Kopfschüttelnd verließen die beiden anderen den Raum, ließen ihn allein mit sich und seinen Gedanken. Tief seufzend hielt er in seinem Tun inne, legte den Kopf in den Nacken und schloss für einen Moment die Augen. War es Sylvester Stallone, der in Rocky 5 sagte, dass die Furcht der beste Freund eines Boxers ist? Hat er nicht gesagt, dass die Furcht einen wach hält und man nur durch sie überleben konnte? Herrje, er hatte wirklich Panik, gleich hier herauszugehen, seine paar Runden in dem leeren Trainingsraum nebenan zu drehen und sich ein wenig warm zu machen. Gegen wen hatte er schon großartig gekämpft? Gegen die Bengel in seinem Verein? Das waren keine Gegner. Die hatte er alle auf die Bretter geschickt. Einen nach dem anderen. Und Coop? Gegen den hatte er gnadenlos verloren. Nachher waren die weichen Matten so hart wie Stein gewesen – kommt halt doch darauf an, wie oft man auf die Fresse geschmissen wird… Scheiße, ihm hing der Mut da, wo er nicht dran kam. Und das war alles andere als gut. Viel eher das Gegenteil. Dennoch brachte er sich selbst dazu, die Bandagen endlich fertig um seine Knöchel zu wickeln und zu fixieren. Sich erhebend, nahm er seine Tasche und verließ die Kabine, damit er zu den anderen stoßen konnte. Es war nicht schwer, Coop unter all den anderen auszumachen. So viele dunkelhäutige Trainer liefen hier nicht herum. Oder sollte er besser sagen, nicht so viele strahlend weiß gekleidete dunkelhäutige Trainer? Nathan schmiss seine Tasche zu den anderen in ihrer Sitzreihe und verzog sich wortlos in den Trainingsraum nebenan, in welchem schon die ein oder anderen ihre Warm-Up-Programme durchzogen. Also begann er auch damit. Nur ein paar lockere Übungen, damit er sich nicht gleich falsch drehte und dieser Wettkampf hier für ihn gelaufen wäre. Denn das wäre alles andere als wünschenswert. „Nath!“, riss ihn die klare Stimme seiner Schwester aus seinen Gedanken und seinem Tun. Sie stand dort, vor der großen blauen Weichbodenmatte, die an der Wand festgemacht war. Ihr rotes Haar war geglättet und fiel ihr über die Schultern, bis es auf Bauchnabelhöhe endete. Ihr durchaus ansehnliches Oberes war nicht mit viel Stoff versteckt. Nein. Sie trug nur dieses Oberteil, das sie gemeinsam damals gekauft hatten. Blau war es, hatte Rüschen und saß einfach perfekt. Der weiße Jeansmini war gerade lang genug, dass er nicht meckern musste und die blauen Highheels ließen ihre ohnehin langen Beine noch viel länger wirken. Sie war super hübsch, beinahe wie von einem anderen Stern. Kein Wunder, dass sie erste Cheerleaderin war und – wie sollte es anders sein – mit dem Quarterback der Footballmannschaft zusammen. Wie hieß das Arschloch gleich, das seine Schwester ins Bett zog? Ach ja, Derek oder so. „Lindsay, hey.“ Er hatte später mit ihr gerechnet. Aber dass sie jetzt schon hier war, war natürlich nicht schlecht. Eher das Gegenteil. Ein Grinsen erschien auf ihrem Gesicht und sie spurtete auf Nathan zu, fiel ihm in die Arme und winkelte die Beine an, sodass sie an ihm hing. Jeder Blick glitt zu dem Geschwisterpärchen und durch jeden Kopf der Anwesenden ging wohl das Gleiche: ‚Was’n Weib!’ „Ich dachte, bevor ich dich nicht mehr sehe, wünsche ich meinen Bruder doch jetzt schon mal viel Glück“, meinte sie und drückte ihm einen Kuss auf die Wange, ehe sie sich wieder auf dem Boden absetzen ließ. „Coop hab’ ich auch schon gesehen. Ich sitze bei ihm und werde dich anfeuern! Und wenn’s nicht anders geht, den Gegner ablenken!“ Sie grinste ihm zwinkernd zu. “Ja, natürlich“, hielt er nur dagegen. „Das will ich sehen.“ „Wirst du vielleicht. Coop meinte, du bist der erste aus eurer Gruppe, der gleich auf die Fläche darf. Also mach dich fertig!“ Es folgte noch eine kurze Umarmung und schon sprintete das Mädchen auf ihren Mörderhighheels aus dem Trainingsraum und verschwand in der Masse aus Menschen, die sich vorn tummelte. „Die würd ich gern mal ficken. Geht bestimmt ab im Bett“, sprach ihn jemand an, der an ihm vorbei ging. „Nur der Hauch eines Versuches in dieser Richtung, und ich brech dir jegliche Knochen in deinem Scheißkörper, das schwör ich dir“, versprach er dem Typen, welcher jedoch nur ein höhnisches Lächeln für ihn auf Lager hatte. „Vielleicht schaffst du’s ja ins Finale. Dann sehen wir doch mal, wer wem alle Knochen bricht, Bubie.“ Die Namen der ersten Runde wurden verlesen. Jede Sekunde mehr ließ Nathans Finger kalt werden. Sein Herz schlug so schnell, dass er dachte, er würde es nicht überleben, auch nur seinen Namen zu hören. „Nathan Jester“, hörte er und stellte für eine Sekunde das Atmen ein, ehe er sich zusammenraffte und zur Kampffläche schritt, auf welcher sein Gegner schon wartete. Cooper folgte ihm, fasste ihn an der Schulter. „Pass auf. Der Kerl ist schnell, er ist klein und wendig. Seine Tritte sind hart. Lass dich nicht ausknocken in der ersten Runde, ok?“, meinte Coop belehrend und somit helfend. Nathan jedoch nickte nur, schob den Zahnschutz richtig und atmete tief durch, ehe er die Matten betrat. Er stellte sich seinem Gegner gegenüber, wartete jedoch noch, bis alle Namen verlesen worden waren. Erst dann taten sie beide einige Schritte auf einander zu, begrüßten sich respektvoll, ebenso wie den Schiedsrichter. Sofort bezog Nathan Position, einen stabilen Stand, die Deckung bereits zur Hälfte gehoben. Sein Blick lag auf seinem Gegenüber und auf der Hand des Schiedsrichters. Ein Gong, die Hand verschwand und sein Gegner begann bereits, um ihn herumzutänzeln, wartete auf den ersten Angriff. Die Schreie und Rufe des Publikums wurden leiser, immer leiser, bis sie in seinem Kopf vollkommen verstummten. Nur noch die Schritte des anderen hörte er, hörte dessen und seinen eigenen Atem. Und dann der erste Angriff. Er kam seitlich von rechts mit einem schnellen, gezielten Tritt auf Nathans Kopfhöhe. Er wich aus, blockte den Tritt und holte selbst aus. Aber auch er verfehlte den Gegner um Längen, tauchte dieser doch unter seinem Angriff weg und versuchte ihm das Standbein wegzutreten. „Nathan! Du bist nicht zur Zierde hier!“, hörte er Cooper aus dem Hintergrund schreien. „Beweg dich!“ Er versuchte es. Den Jungen vor sich im Auge behaltend, studierte er jede noch so kleine Bewegung. Brutal stürmte der andere auf Nathan zu, holte mit dem Ellenbogen aus und traf ihn an der Schulter. Nicht hart genug, aber Nathan spürte es. Langsam wurde sein Kampfgeist geweckt. Er blockte und holte kurz darauf hart aus, traf seinen Gegner am Kopf, ließ ihn somit zurücktaumeln und setzte einen Tritt hinterher. Der andere ging zu Boden, blieb aber nicht lange dort. Wie ein Stehaufmännchen sprang er zurück auf die Beine und ging wieder voll in Nathan rein. Er kassierte mehr als er wollte. Für einen Augenblick blieb ihm die Luft weg, aber nicht lang genug, als dass der andere die Chance gehabt hätte, ihn auf die Bretter zu befördern. „Nath! Nath!“, drang nun die Stimme seiner Schwester zu ihm durch. „Schlag zu, mach ihn fertig! Schlag ihm das Fressbrett raus, verdammt noch mal!“ Und so langsam ging ihm dieser kleine Wichser vor ihm tierisch auf die Eier. Dieses arrogante Grinsen auf dem leicht demolierten Gesicht. Er hasste es. Gekonnt winkelte er das rechte Bein an und führte den finalen Tritt aus. Es geschah für ihn wie in Zeitlupe. Sein Fußspann traf dem anderen am Kopf, ließ ihn sofort zu Boden gehen. Der Schiedsrichter kniete sich neben diesen, hob die Hand: Fight beendet. Mühselig richtete sich der am Boden Liegende auf, blieb aber sitzen. Mit Sicherheit hatte dieser jetzt grauenvolle Kopfschmerzen. Aber das interessierte Nathan nicht. Er hatte die erste Runde hinter sich. Auch wenn nicht unverletzt. Das hier war eine ganz andere Liga als die Sporthalle. Cooper kam auf die Matten, umarmte seinen Schützling. „Vorsichtig, Coop“, meinte Nathan jedoch nur, als Cooper ihm ein wenig zu fest drückte und schob ihn von sich. „Rippen“, kommentierte er das. Und wenn er jetzt daran dachte, dass er heute noch zwei weitere Fights vor sich hatte, insofern er die nächste Runde überstand, wurde ihm ganz anders. „Was machst du auch? Deckung oben halten, Fokus halten“, mahnte Cooper und führte den Schwarzhaarigen vom Feld. „Das üben wir noch mal, morgen.“ „Bist du dir sicher, dass ich so weit komme?“, fragte er skeptisch, wischte sich das Blut von der Augenbraue. Er hatte beschissene Schläge einstecken müssen, was den Kopf anging. Schlimm war es nun nicht wirklich – also nicht lebensbedrohlich… „Honey“, kam es von Lindsay, die auf ihren Bruder und dessen Trainer zustürzte. „Was machst du denn auch nur? Komm, wir kleben da was drüber, damit aufhört zu bluten, bis du heute das nächste Mal dran bist.“ Das hier ist noch das erste Level des ganzen. Hier gibt es nur so lange einen Fight, bis der erste auf den Brettern liegt oder aufgibt. Später gibt es Runden, bis zum Knock Out. Und da hatte er - um ehrlich zu sein – wirklich Panik vor. Seine Schwester hatte ihm sanft ein Pflaster auf die Augenbraue gedrückt. Genau wie sie für seine beiden Vereinmitglieder den guten Engel gespielt hatte und mit dem einen ins Krankenhaus gefahren war, als dieser übel getroffen worden war. Es war bereits halb zehn am Abend. Die Halle wurde immer leerer. Die Spreu war so gut wie vom Weizen getrennt und nur noch eine Runde stand an. „Schaffst du’s? Ich hab gleich euch beide auf verschiedenen Feldern. Ich werd schauen, wie ich hin und her komm“, sprach Cooper ihn an, legte dem müde wirkenden Nathan den Arm um die Schultern. „Sicher. Ins Bett jedoch denke ich, musst du mich tragen.“ „War’s doch falsch, dich mitzunehmen?“, kam die abschätzende, leicht reuevolle Frage. „Ich war bisher auf Lowlevel-Turnieren, habe gegen drittklassige Kämpfer gekämpft. Das Niveau hier ist hoch und die Gegner echt harte Brocken, wenn ich das mal so sagen kann“, seufzte Nathan und schob das Shirt auf der linken Seite ein wenig nach oben. Blau. Die ganze Seite hatte sich im Laufe des Tages so derart blau gefärbt, dass es ihm Angst machen würde, wüsste er nicht, dass er noch lebte. Bisher tat echt alles weh… Die Aussicht, dass zwischen diesen Tag und dem nächsten Wettkampfstag zwei Tage lagen, machte ihn überhaupt nicht glücklich. Immerhin war das Wissen da, dass Cooper ihn hart ins Training nehmen würde, würde Nathan diese Runde schaffen. Der Gedanke war nicht ausgedacht, da wurden die Namen verlesen, die jetzt noch gegeneinander antreten mussten. Schwer raffte Nathan sich auf, band sich den Zopf neu und schritt neben seinem Vereinskollegen und Cooper zu seiner Kampffläche. Er hatte nicht vor, sich bei diesem Menschen dort lange aufzuhalten. Entweder das ging schnell über die Bühne, oder aber es wäre Nathan selbst, der aus dem Wettkampf flog, weil er einfach nicht mehr konnte. Routinemäßig wurde die Begrüßung vollzogen, der Gong erklang. Er wartete nicht lange, ging gleich voll in den Mann hinein, bekam ihn günstig zu fassen und beförderte seinen Gegner beim ersten Versuch auf die Matten, trat zurück und ließ ihn aufstehen. Ein heftiger Schlag und Trittwechsel kam zwischen den beiden zustande, sodass der Schiedsrichter sie voneinander trennen musste. Zu lange, zu lange – werd schneller, dachte er sich selbst, passte den perfekten Moment ab, parierte einen Tritt, konterte mit einer geraden Rechten in Kombi mit einem Tritt auf Bauchhöhe. Der Mann ging zu Boden, Nathan hatte Mühe sich auf den Beinen zu halten. Sein Kopf dröhnte, seine Glieder wurden schwerer und seine Lungen waren bis zum Bersten mit Sauerstoff gefüllt, da er meinte, sonst ersticken zu müssen. Er wollte ins Hotelzimmer, ins Bett – nein, erst unter eine Dusche. Kalt und lange, damit die grauenhafte blauen Flecke und jegliche anderen Prellungen nicht so schlimm werden würden. Jedoch stand fest: Coop schickte zwei seines Vereins in die zweite Runde des Wettkampfes. Zwei Leute vom selben Verein. Die Gefahr, dass beide jedoch gegeneinander antraten im Finale, war schwindend gering… Freudig verlas der Kommentator des ganzen hier die Namen der Leute, die weitergekommen waren, während Cooper dabei behilflich war, seinen Schützlingen die Sachen zusammenzusuchen. „Morgen geht’s ans Training. Ich will eure Deckung verbessern und geht in den Mann rein. Direkt. Lieber er hat die Schmerzen, als dass ihr sie habt!“ Diese Predigt hielt den gesamten Weg von der Halle bis zum Hotel. Erst nachdem sie die Lobby betreten hatten und sie ihre Zimmerschlüssel erhalten hatten, trennten sich ihre Wege. Während Cooper mit Jeremy – so hieß sein Vereinskollege im Übrigen – den Aufzug nahm, quälte sich Nathan die Treppen bis in den zweiten Stock nach oben. An jedem Treppenabsatz machte er eine kurze Pause, um vernünftig zu Luft zu kommen, ehe er weiter ging. Das Ziel hatte er nach dem vierten Absatz beinahe erreicht, wäre da nicht auf einmal diese riesenhafte Gestalt gewesen, die wie aus dem Nichts aufgetaucht und vor ihm gewesen war. Hart rannte Nathan in diese Person, taumelte rückwärts und drohte, auf den Hintern zu fallen, hätte der andere ihn nicht schnell am Handgelenk gefasst und wieder auf die Beine gezogen. Kapitel 2: ... in die richtige Richtung ... ------------------------------------------- Thanks to: ---------------------------------------------------------------------------------------- --------- in die richtige Richtung --------- Seine Augen sahen schwarzlackierte Nägel, erblickten silberne Ringe an tätowierten Händen, die an ebenso tätowierten Armen hingen. Und je weiter er seinen Blick wandern ließ, sah er direkt in ein paar dunkelbraune, aber eiskalte Augen. Er ließ Nathan los, strich sich den fransigen braunen Pony ein wenig zur Seite und lächelte. „War das ’ne Tür vor die du gerannt bist, oder gehörst du auch zu dieser Truppe Typen, die auf Schmerzen steht?“ Verwirrt blickte Nathan den anderen nur schweigend an. „Na, da dein Wangenknochen“, erläuterte er ihm. Erst da ging ihm ein Licht auf. Ach das… „Ja, eine recht große, kräftige Tür, die einen unheimlichen Tritt drauf hat“, gab er von sich und zuckte die Schultern. „’N rohes, kaltes Steak sollte da helfen, zumindest war das zu Highschoolzeiten noch so“, wurde Nathan entgegen gebracht und der andere schob die Hände in die Taschen der schwarzen Lederjacke. Mehr ließ der Fremde aber auch nicht verlauten. Er ging an dem Schwarzhaarigen vorbei, und war bereits an der ersten Treppe angelangt, als Nathan noch ein: „Ich werde es mir merken. Und danke fürs Auffangen“, von sich gab, ehe er sich auch in sein Zimmer begab. Wie peinlich. Jetzt stand er im Achtelfinale und musste von einem absolut unbekannten Typen davor bewahrt werden, auf die Fresse zu fallen. Peinlich. Die Schlüsselkarte wurde halbherzig durch den Schlitz gezogen, als er sein Zimmer endlich erreicht hatte. Die Tür aufstoßend, schmiss er seine Tasche vor das Bett und schleppte sich in das angrenzende Bad. Seine Klamotten fielen ungeachtet auf den Boden, das Wasser wurde kalt eingestellt, als er darunter stand. Für einen Moment fühlte er sich, als wäre er wieder vollkommen wach, aber im nächsten Moment war es ihm, als würde jede Müdigkeit und Erschöpftheit sofort wieder zurück zu ihm finden. Seine Stirn lehnte sich gegen die eiskalten Fliesen während er einfach nur versuchte, für ein paar Sekunden zu entspannen. Der Tag war mehr als anstrengend gewesen. Und mehr als brutal und kräftezehrend. Ein Grund, warum er froh war, sich auf den Beinen halten zu können. Nathan griff nach einem der weißen Handtücher, stellte das Wasser ab und trocknete sich soweit ab, band das Handtuch um seine Hüfte und sah sich selbst im Spiegel gegenüber. „Scheiße“, murmelte er vor sich hin, drehte sich leicht zur Seite und begutachtete die blau-grünlich angelaufene Seite seiner selbst. Ok, auf dieser könnte er schon einmal nicht schlafen. Und sein Gesicht sah auch nicht besser aus. Hatte er doch nun wirklich einen beachtlichen blauen Fleck in der Gegend des Wangenknochens. „Ich seh echt scheiße aus…“, stellte er für sich selbst fest. Natürlich. Wie sollte es denn auch anders sein? So wie er kassiert hatte auf der Kampffläche, war das kein Wunder… Wirklich nicht. „Mach es einfach besser…“, riet er seinem Spiegelbild. „Mach es in zwei Tagen einfach besser.“ Am nächsten Morgen war er früh wach. Kurz nach sechs Uhr zeigte sein Handy als er aus dem Bett stieg, der Dusche einen kurzen Besuch abstattete und sich dann in seine Sportkleidung hüllte. Der Platz vor dem Bett wurde vom Teppich befreit und auch die Stühle wurden ein wenig beiseite geschoben, die zu dem kleinen, runden Tisch gehörten. Sich auf dem Boden niederlassend, zog er die Beine in den Schneidersitz, legte die Hände flach auf seine Knie und schloss die Augen. Cooper hatte ihm das mal beigebracht. Kurz nachdem das mit Blake geschehen war. Nathan war eigentlich eine recht ruhige und ausgeglichene Person, nur seit diesem Vorfall verlor er manchmal die Nerven und glich einem wandelnden Wrack. Etwas, das Cooper nicht ertragen hatte und ihn somit zur Meditation gezwungen hatte. Bisher hatte diese ihren Zweck auch immer erfüllt gehabt. Und so musste es auch heute Morgen so sein. Noch war es still, sodass er jede Ruhe hatte, die er brauchte. Vor allem, weil er schon damit rechnete, dass seine Schwester ins Zimmer gestürmt kommen würde, sobald sie sich fertig gemacht hätte. Es war immer so. Jeden Morgen das Gleiche. Lindsay fiel gegen kurz vor sieben aus dem Bett, machte sich eine Stunde fertig und kam dann direkt zu Nathan. Er sollte sich verbessern. Es war meistens so, wenn er Urlaub hatte. Und heute dürfte er auch mit der jungen Lady rechnen. Da war er sich sicher. Und er sollte Recht behalten. Und kurz vor acht klickte das Schloss der Tür und ein leises ‚Nathan’ wurde von der jungen Frau gehaucht, als sie sich auf die Bettkante setzte. „Ja, bitte?“ Er hielt die Augen geschlossen, bewegte sich keinen Meter. „Kommst du mit runter? Frühstücken?“ „Hm…“ „Ich hab Cooper schon getroffen. Er will gleich eine Runde laufen gehen. Ich komm mit. Bist du auch dabei?“ „Hm, bin ich.“ „Ok, sehen wir uns unten?“ „Auf jeden Fall.“ Er hörte ihr Aufglucksen, das sie immer tat, wenn sie sich freute und kurz darauf spürte er einen kurzen Kuss auf seiner Wange. Der Geruch ihres Parfums stieg ihm in die Nase. Sie benutzte davon immer etwas. Und immer eine ganz bestimmte Sorte. Es roch stehst nach Frühling, wo Lindsay war. Allein aus dem Grund würde er sie wohl immer erkennen. Selbst wenn sie nicht sprechen würde und er blind wäre. Seine Augen jedoch öffnete er erst, als er wusste, dass sie weg war. Seufzend erhob er sich, zog sich die Sachen zurecht und räumte das Zimmer wieder so, wie es sich gehörte, ehe er sich die weißen Laufschuhe anzog und ebenso runter in den Speisesaal ging. Eine laut redende Menschenmenge erwartete ihn, sobald er durch die große Tür in den Saal kam. Überall fischte man Gesprächsfetzen über den Wettkampf aus der Luft heraus und Diskussionen, wer denn in die Viertelfinalrunde kommen könnte. Unspektakulär, wie Nathan fand. Er benötigte nicht lange, bis er seine Schwester gefunden hatte. Sie saß zusammen mit Cooper und Dennis an einem Tisch, nahe der Getränkeausgabe und unterhielt sich mit den beiden. Langsam näherte er sich dem Trio, machte vorher aber einen Abstecher zum Buffet und setzte sich schließlich mit einer Tasse Kaffee in der Hand zwischen Cooper und Dennis an den Tisch. „Morgen“, brachte er hervor und spürte den musternden Blick seines Vereinskollegen auf sich. „Hast aber ganz schön auf die Fresse bekommen, was?“, spottete Dennis auch gleich drauf los und hob die viel zu buschigen Augenbrauen in die Höhe. „Halt die Fresse, Arschloch.“ Er konnte mit diesem Menschen noch nie so gut. Ihm wäre es lieber gewesen, dieser wäre ins Krankenhaus eingefahren und nicht Cevin. Der war immerhin ein fairer Fighter und ein recht umgänglicher Mensch. Nicht, wie dieses Arschloch neben ihm. „Jungs. Bekommt euch wieder ein, ok? Es ist vollkommen normal, dass man nicht so aussieht, wie man in den Ring gegangen ist“, versuchte Cooper die Angelegenheit zu schlichten. Stechend lagen seine braunen Augen auf den beiden jungen Männern. Deutlich lag die Warnung in ihnen, sie beide sollten sich doch zusammenreißen. Nathan kannte Cooper lange genug, um zu wissen, wie ihr Trainer tickte. Deswegen kam von ihm nur ein ruhiges ‚Sorry’, ehe er sich selbst seinem Kaffee widmete und die Fresse hielt. Manchmal war Schweigen halt doch mehr wert. 12. Mai 2011 - erste Runde des Achtelfinales – Nervös bewegte sich Nathan von einem Bein auf das andere, während seine Schwester ihm die Bandagen um die Hände wickelte. „Steh still, Nath“, mahnte sie ihn zum gefühlten hundertsten Mal. Doch er blieb nicht ruhig stehen. Er konnte nicht. Sein Inneres war so nervös, dass er nicht still stehen konnte. Keine Sekunde. Bestimmt nicht. Es würde immer schwerer werden und bisher hatte er sich von seinem Vorentscheid noch nicht einmal richtig erholt und sollte nun schon wieder in den Ring. Dieses Mal aber in einen richtigen Ring. Wie beim Boxen. Scheiße. Früher war er in einer Breakedancecrew, heute schlug er sich den Kopf ein. Bitte, wo war er nur gelandet? „Nath, das schaffst du schon. Es ist nur das Achtelfinale. Noch ist’s leicht“, sagte sie, schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln und drückte ihn mit Gewalt auf einen der Stühle, stellte sich dann hinter ihn. Ihre schmalen Hände begannen seine verspannten Schultern zu massieren. „Schau zu, guck dir die Techniken der anderen an und entspann dich. Du machst das. Ok? Du schaffst das, du machst sie alle fertig und stehst nachher auf der Tribüne ganz oben auf dem Plätzchen!“, versuchte Lindsay es weiter, erhielt immer nur ein schwaches Nicken und hörte, wie ihr Bruder die Knöchel knacken ließ. Auch ihre Worte schafften es nicht, ihn annähernd zur Ruhe zu bringen. Das ging einfach nicht. Er war einfach zu aufgewühlt. Runde um Runde ging vorbei. Einmal mehr musste der Notarzt einen von ihnen wegfahren. Andere mussten so versorgt werden. Die vorletzte Runde, bevor er dran war. Sein Herz schlug schneller, sodass er meinte, man könnte es sogar sehen. Der Versuch, seine eigene Atmung ruhig zu bekommen, scheiterte. Der Gong hallte so grauenhaft laut in seinem Kopf wieder, dass er meinte, Kopfschmerzen davon zu bekommen. Und erst die Stimme des Menschen, der seinen Namen nannte. „Shit“, fluchte er leise vor sich hin, erhob sich und Lindsay folgte ihm, genau wie Cooper. Die Seitenbespannungen wurden heruntergedrückt und Nathan begab sich ins Innere des Rings. „Ich bin hier, Bruderherz. Denk dran, sollte es scheiße laufen, ich rette dich.“ Sie zwinkerte ihm zu, während Coop Nathan auf die Schulter klopfte. „Enttäusch mich nicht, mein Junge“, meinte er. Nathan nickte – mal wieder – nur daraufhin, drückte den Zahnschutz zurecht und stellte sich seinem Gegner gegenüber. Ihm stand ein großer, breit und kräftig gebauter junger Mann gegenüber. Dessen Masse betrug mit Sicherheit das Doppelte von dem, was Nathan wog. Sie traten gemeinsam in die Mitte, der Schiedsrichter verlor ein paar Worte, eine typische Geste unter Kämpfern folgte, dann der Gong – die schlimmsten Minuten in Nathans Leben begannen. Er versuchte nur auszuweichen, zu blocken und darauf zu achten, keinen Schlag zu kassieren. Er selbst hatte noch keine Chance gehabt, durchzukommen. Die Schreie seines Trainers gingen ihm zwar an die Ohren, aber kamen niemals im Speicher an. Die Schreie seiner Schwester kamen niemals in seinem Speicher an. Er hatte zu viel hier zu tun, als dass er sich um die Zurufe kümmern konnte. Das Gegröle des Publikums ging ihm tierisch auf die Eier und dieser Kerl vor ihm, der ging ihm auch auf die Eier. Alles ging ihm auf die Eier. Er wollte nur noch, dass das hier zu ende war. Das Ende der erste Runde wurde angekündigt, Nathan stolperte nur zurück in seine Ecke. „Was machst du da?“ „Ich komm nicht durch“, gestand er Cooper, versuchte erst einmal zu Atem zu kommen. „Der hat eine krasse Deckung und er ist schneller als ich.“ „Quatsch nicht. Der ist nicht schneller als du. Du bewegst dich nur wie ein Reissack. Beweg dich. Du bist doch sonst so leichtfüßig!“, knurrte Cooper ihn an. „Beweg deine Scheißfüße. Bring ihn zum Fallen. Wenn der fällt, fällt er wie ein Stein. Sieh zu, mach ihn fertig!“ Schnell atmete Nathan noch zwei Mal durch, dann der nächste Gong. Die nächste Runde. Der erste Schlag des anderen saß, traf Nathan hart. Genau wie der folgende Ellenbogen. „Nathan!“ Und jener Treffer des anderen mit dem Ellenbogen schien in Nathan einen Schalter umzulegen. Auf sauber ausgeführte Schläge folgten plötzlich kaum zu parierenden Tritte. Es war, als würde Nathan einen anderen vor Augen haben. Jemanden, den er nicht leiden konnte. Ungewollt nahm das Gesicht des Mannes vor ihm das Gesicht eines der Zwölf an, die an Blakes Zustand schuld waren. Ab da dauerte es nicht mehr lange. Schwer, und nicht zum ersten Mal, fiel der andere auf den Boden, schlug auf die Matte. Dieses Mal bewegte er auch nicht noch mal die Beine. Träge blieb sein Gegner auf der Matte liegen, die Runde war gewonnen. Der Sieger der Runde stand fest. Lindsay kletterte über die Begrenzung, sprang ihrem Bruder in die Arme, kaum dass dieser sich zu ihr umgedreht hatte und auch Cooper hielt nur zufrieden die Hand nach oben. „Das müssen wir feiern!“, meinte Lindsay, wuschelte Nathan durch die Haare. „Viertelfinale, ohoho! Viertelfinale!“ Es war kaum zu übersehen, dass sich seine Schwester für ihn freute. Und es war auch nicht zu überhören, dass sie die führende Cheerleaderin war. Immerhin waren immer noch alle Blicke auf sie gerichtet und sie trällerte ihre Siegeshymne vor sich hin. Nathan hievte das Fliegengewicht seiner Schwester richtig auf seinen Arm, schlug bei Cooper ein und bekam auch gleich einen leichten Schlag in den Nacken von seinem Trainer verpasst. „Du hättest das gleich so machen müssen!“, meinte Coop ernst, aber das Grinsen auf seinen Lippen verriet ihn. „Komm, raus aus dem Ring. Wir haben da doch ein wenig zu verpflegen an dir.“ Ein Nicken kam von dem Rundensieger, während er seine Schwester über die Bänder hob und selbst drüber kletterte. Seine Rippen brachten ihn langsam um. Es war grauenhaft zu atmen und seine Schulter fühlte sich auch an, als wäre er mit hundertachtzig vor eine Wand gerannt… Er bezweifelte, dass er für eine Feier heute Abend gut genug drauf war. Aber es war immerhin ein Grund und vielleicht würde es ihm ja sogar mal wieder gut tun, auszugehen? Am nächsten Morgen war er der Routine wegen schon sehr früh auf den Beinen. Die Sonne war noch lange nicht aufgegangen, als er bereits die Treppe zum Foyer herunter lief und das Hotel verließ, in welchem sie nächtigten. Natürlich war die Nacht lang gewesen, aber Nathan konnte in fremden Betten schon immer beschissen schlafen. Die Kopfhörer fanden den Weg auf seinen Kopf, die Musik wurde eingestellt und seine Füße trugen ihn zum ersten Kiosk, der um diese Zeit schon geöffnet hatte. Er fertigte sein Frühstück mit irgendwas ungesund zuckrigem und einem Mineralwasser ab, ehe er seine Runde durch die nahe gelegenen Straßen zog. Die Zeit beachtete er gar nicht. Seine Füßen trugen ihn über den asphaltierten oder gepflasterten Gehweg, vorbei an noch geschlossenen Cafés, Restaurants, Hotels und, und, und. Erst gegen kurz vor sieben war er bereits wieder am Hotel angekommen. Sein Herz schlug angenehm heftig gegen seine Brust, denn es war nicht aus Nervosität, sondern aus Anstrengung. Kurz stützte er seine Hände auf den Knien, atmete einige Male tief durch. Er war wach, zu hundert Prozent. Sich den Schweiß mit dem Handrücken von der Stirn wischend, schob er die Kopfhörer von den Ohren, sodass sie um seinem Hals zum Liegen kamen. Immer noch hörte er das laute Wummern des Basses, welcher den Rap begleitete. Seine Hand fasste das kühle Metall der Türklinke, als er das Hotel betrat. Kühle Luft schlug ihm entgegen und schon vereinzelt konnte er Stimmen vernehmen. Hier und da sprachen die Hotelangestellten miteinander, während woanders die Stimmen von Gästen erklangen. Cooper konnte er noch nicht ausmachen, als er sich umsah. Und mit Lindsay konnte er ohnehin noch nicht rechnen. Also davon mal abgesehen. Die Treppe in das Untergeschoss nehmend, erreichte er bald den Spa- und Fitnessbereich des Hotels. Sie hausten immerhin nicht in einem dieser Luxushotels, in denen man unter sich noch ein ganzes Casino vorfand oder etwas in der Art. Sein Weg führte in den Korridor zu dem voll ausgestatteten Fitnessbereich. Er drückte die Tür auf, befand sich in einem völlig aufgeräumten und ruhigen Raum. Also war er allein. War auch ganz angenehm. Wie sollte es auch andere Menschen geben, die so bescheuert waren wie er und um diese unmenschliche Zeit aufstanden? Er glaubte nicht daran. Leise schloss er die Tür hinter sich, aber kaum dass diese ins Schloss gefallen war, hörte er irgend einen Remix des Songs ‚Beautiful Liar’ von Shakira und Beyonce gut hörbar durch den großen Raum hallen. Seine Augenbrauen hoben sich leicht an, ehe seine Füße ihn in diese Richtung brachten, aus welcher diese Musik kam. Eine Tür, die zu einem separaten Raum führte, stand offen – ein Keil war darunter gesteckt, damit sie nicht immer wieder zufiel. Leise trat Nathan in den Türrahmen und lehnte sich gegen diesen. Im Inneren des Raumes befand sich nichts weiter, als ein Regal mit kleinen Gymnastikbällen und diesen bunten Jogamatten. Die eine Wand war vollkommen verspiegelt und ein Ghettoblaster war das einzige, was vor dieser Spiegelwand stand. Und unschwer war die große, schlanke aber durchaus trainierte, männliche Person zu erkennen, welche sich gekonnt zu den Tönen bewegte. Er trug nur eine weite, schwarze Sporthose. Das Oberteil war wohl schon nervig geworden und lag wohl in irgendeiner Ecke. Zudem war er barfuss. Moment, dachte Nathan, verschränkte die Arme vor der Brust und legte den Kopf leicht schief. War das nicht der Kerl, der ihn am ersten Tag hier aufgefangen hatte? Als Nathan ihn quasi umgerannt hatte? Natürlich. Das ging gar nicht anders, dieses Tattoo an seinem rechten Arm verriet ihn. „Jo“, hörte er auf einmal diese tiefe Stimme. „Was spannst’en hier so rum?“, wurde er eiskalt gefragt. „Ich spanne nicht. Ich war nur neugierig, wer um diese Uhrzeit schon hier unten ist“, gestand Nathan. Er ließ sich nicht von dieser Person beeindrucken. Bestimmt nicht. „Ach?“ Leise bewegte sich der andere auf Nathan zu, klaubte das Handtuch vom Boden und legte sich dieses über die Schultern, ehe er vor Nathan stehen blieb. Wieder blitzten ihm die eiskalten, braunen Augen entgegen. Leicht hingen die braunen Haare vor diesen, aber diese Kälte wurde nicht verhangen. Leider. Etwas unwohl fühlte sich Nathan schon, wenn er ehrlich sein sollte. Er hasste es, so angesehen zu werden. „Und was machst du um diese Zeit hier unten?“, erhielt er die kühle Frage. „Vor meinem Bett flüchten“, folgte die einfache, als auch simple Antwort. „Vor der Rothaarigen, oder was?“ „Wie bitte?“ „Die Rothaarige. Deine Freundin?“ „Gott bewahre. Meine Schwester“, kam es leicht überrascht von Nathan zurück. Um Himmels Willen. Rothaarige waren nicht so sein Fall – und seine Schwester erst recht nicht. Allein bei dem Gedanken, dass man sie für ein Paar hielt, wurde ihm schlecht… Da kam er sich so pervers vor. „Ihr saht gestern aus, wie’n Pärchen“, kam eine nüchterne Feststellung des Unbekannten vor ihm und ein Schulterzucken folgte dieser Aussage. Aber damit war das Thema auch unter den Teppich gekehrt. „Urlaub oder Wettkampf?“, fragte Nathan weiter. Er hasste es sich mit einer anderen Person anzuschweigen und er fand es unhöflich, einfach zu gehen. Vor allem interessierte er sich selbst auch noch für diese Art von ‚Sport’. Für ihn fiel Breakdance und Hip-Hop immer noch unter die Kategorie ‚Sport’. „National-Dance-Contest und eine befreundete Band gibt demnächst ein Konzert in der Nähe.“ „Dance-Contest? Zuschauer?“ „Teilnehmer – mit meiner Crew“, wurde ihm erklärt und der Brünette drehte sich von ihm weg, ging auf den Ghettoblaster zu und stellte ihn aus. „Du tanzt also wirklich?“ „Nein, es sieht nur so aus. Natürlich, du Supergenie“, kommentierte er recht trocken. „Deine Crew besteht aus wie vielen Leuten?“ „Sieben mit mir. Zwei Mädchen, fünf Jungs. Und die andere-“ „Noch eine?“ „Ja? Ich begleite eine Crew im Alter von zehn bis zwölf hier her.“ „Choreograph?“ „Sonst wär ich arbeitslos, ja.“ „Klingt nach Spaß“, stellte Nathan für sich selbst fest und seufzte. „Macht mehr Spaß, als sich freiwillig die Fresse breitschlagen zu lassen im Ring.“ Kopfschüttelnd konnte Nathan sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Stimmt wohl. Auch wenn er es nicht gern zugab, er lebte wohl doch schon sehr gefährlich mit dem, was er sein Hobby nannte. Den anderen dabei beobachtend, wie dieser wieder zu ihm zurückkam, auf dem Weg zur Tür aber kurz aus Nathans Blickfeld verschwand. Die Augenbraue hochziehend, wollte er schon um die Ecke linsen, blickte jedoch auf die Spiegelwand und sah, dass sich der Brünette lediglich ein Shirt überzog und die Füße in Sportschuhe verschwinden ließ. Das Licht ging aus und wenige Sekunden später trat der andere neben ihm aus dem Raum, trat den Keil unter der Tür weg und tätigte eine Kopfbewegung, die Nathan andeutete, ihm zu folgen. „Ian.“ Eine Hand erschien nahe vor ihm, als sie kurz vor dem Ausgang zu diesem Bereich standen. Es dauerte eine Weile, bis Nathan kapierte, was der Brünette wollte. Klick machte es und ein: „Nathan“, verließ seine Lippen. Mehr sagte dann auch keiner. Schweigend liefen sie nebeneinander her, die Treppe hinauf, bis sie in der Lobby angelangt waren. Stimmen drangen bereits zuhauf aus dem Speisesaal und Leute kamen einem entgegen. War es jetzt schon so spät, dass es bereits Frühstück gab? „Viertelstunde hier unten.“ „Hm?“ Ein Seufzen war von Ian zu hören. „Bist wohl nicht der Hellste unter der Sonne, oder? In einer Viertelstunde wieder hier unten?“ „Ja, ja klar.“ Die mitgeklungene Beleidigung ignorierte er einfach gekonnt und nickte zur Unterstreichung seiner eigenen Worte noch einmal bekräftigen. Er sollte ja wohl in einer Viertelstunde mit Duschen und Umziehen fertig sein. Immerhin war er keine Frau und keine Tunte, die länger brauchten als zehn Männer. Wobei … Als er Ians Rückansicht betrachten durfte, da dieser sich bereits die Treppe hinauf bewegte, fragte er sich wirklich, ob er sich mit diesem Eisbrocken weiter abgeben wollte. Sie hatten ja wohl nicht viel miteinander zu reden. Jedoch von der anderen Seite betrachtet, waren die Umstände unter welchen sie sich kennengelernt hatten, auch nicht gerade so normal gewesen. Deswegen zuckte er auch nur die Schultern und stieg selbst die Treppen hinauf, um sich unter die Dusche zu stellen und die Sportklamotten gegen alltagstaugliche Kleidung zu tauschen. Letztlich kam er jedoch nicht darum herum, diesen langsam echt hässlichen, grünlichblauen Fleck auf seinem Wangenknochen zu verstecken, der sich dort gebildet hatte nach seinen ersten Fights. Ein bisschen von Lindsays Makeup drauf, das sie ihm dagelassen hatte – ok, er gab zu, er hatte es irgendwann mal heraus gefunden, dass man dann nicht ganz so beschissen wie eine Pflaume aussah – und schon fand er sich wieder unten in der Lobby ein. Warum auch immer. Immerhin war Ian alles andere als nett… Und jener wartete bereits unten. Er trug weiße Turnschuhe, eine schwarze, weite Jeans die ihm weit über der Boxershorts hing und ein weißes Bandshirt mit vier großen roten Lettern und einem Logo. „Gehen wir.“ Nathans Augenbrauen zuckten erneut in die Höhe. War er hier das Schoßhündchen oder wie? Seine Meinung bestätigte sich immer weiter. Ian war nicht nett. Und dennoch folgte er ihm. Das war krank. Sie setzten sich an einen freien Tisch, nahe dem Buffet, aber nicht so zentral, dass sie von jeglichen Menschen abgestarrt und genervt werden konnten. „Kommst du von hier?“, richtete sich Ians Frage an ihn, ohne dass der von der Speisekarte aufsah. „Von hier nicht.“ „Sondern?“ „Orlando.“ „Beschissene Stadt.“ „Ich finde sie jetzt nicht ganz so schrecklich“, gab Nathan ein wenig überfordert zu. „Zu laut, zu nervig, zu viele kleine schnieke Vororte. Grauenhaft.“ „Bist du oft da?“ „Ich bin da aufgewachsen“, erhielt er die Antwort von Ian und stützte selbst seinen Kopf auf die Hand, während er die Rückseite der Karte studierte. „Und du lebst jetzt wo?“ „Miami. Weit weg von all dieser Scheiße in Orlando.“ „Wo genau in Miami?“ „Strandnähe, reicht das?“ „Hey, ich hab nur gefragt, ok? Brauchst mir nicht gleich Eisbrocken entgegen zu werfen, Ian.“ „Hm“, kam es jedoch nur zurück und Nathan gab bereits jetzt auf, irgendwas sagen zu wollen, was dagegen hielt. Hätte ohnehin keinen Sinn, dachte er sich. „Das einzig Gute aus Orlando, ist die Musik.“ „Die da wäre?“ Also das wollte Nathan ja nun doch wissen. Er kannte nicht so wirklich viele Acts, die gute Musik machten. Vielleicht lag dies jedoch aber auch daran, dass er nicht so auf diese Metal-Rock-Bands abfuhr, die aus dem Boden sprossen, wie Pilze bei feuchtem Wetter. Ian lehnte sich ein wenig zurück, deutete auf das Logo, welches seine Brust zierte. Kein Wort, kein Nichts. „J.R.T.D?“ Irgendwoher kannte er diesen Namen. Nur irgendwie wollte es nicht klick machen, in seinem Kopf. Die dazu notwendige Datei war wohl nicht mehr aufruffähig… „Jap. Metalband aus Orlando. Richtig gute Musik. Die treten auch demnächst hier auf. Komm vorbei.“ „Ich weiß nicht, ob ich dann Zeit habe. Ich vermeide es, während Turnieren die Abende lang werden zu lassen“, erklärte Nathan sich. Sonst wäre er auch nicht zu gebrauchen. Und gerade Konzerte waren meistens lang und ausdauerend- zumindest das, was nachher kam. Aftershow und dieser ganze Scheiß. „Das ist nach dem Wettkampf. Glaub mir, du wirst es nicht bereuen.“ „Hm… Vielleicht. Wie hast du die kennengelernt?“ „Durch den Bassisten“, erhielt er die Antwort. „Weiter. Ausführlicher, ich kann nicht in deinen Kopf gucken, Ian.“ Nathan erlaubte es sich einfach, den anderen ein wenig aus der Reserve zu locken. Sie würden sonst niemals ein Gespräch zusammenbekommen, das aus mehr als drei Wörtern pro Person bestand. „Ich hab David – also den Bassisten - bei einem Skate-Contest kennengelernt. Er war mit seiner derzeitigen Freundin letztes Jahr dort gewesen. Facebook macht die Vernetzung möglich und irgendwann war ich dann bei einem Konzert dabei und hab die Truppe kennengelernt. Damals noch in der Ursprungsformation. Heute haben sie ja einen anderen Gitarristen.“ „Ok…“ „Du kennst die Band nicht, oder?“ „Nein – also ich meine doch, aber irgendwie kann ich sie gerade nicht zuordnen“, gestand er. Nein, konnte er wirklich nicht. Wie gesagt, die nötige Datei war seinem Hirn leider entfallen oder verrutscht. „Warte“, kam es kühl zurück und wenig später wurde ihm ein Paar roter Kopfhörer entgegen gehalten. Leicht zögernd nahm er diese entgegen, steckte sie sich in seine Ohren und wartete ab, was gleich auf ihn zukam. Seine Augen verfolgten, wie Ian seine Finger über das Samsung Galaxy gleiten ließ. Nur wenige Sekunden vergingen, bis er die ersten Gitarrenklänge vernahm. Zu Beginn sagte ihm dieser Song nichts. Weder die Art, wie die Gitarren klangen, noch wie die Drums eingesetzt wurden. Einzig und allein als die Sänger ihren Part einnahmen, legte sich der Schalter um und er nahm die Kopfhörer aus den Ohren, reichte sie zurück. „Kennste?“ „Mein Bruder ist begeistert von dieser Band – daher kenn ich die doch schon. Vom Hören auf jeden Fall“, erklärte er sich und nickte zusätzlich noch. „Aber dein Bruder ist nicht hier?“ „Nein.“ „Warum?“ „Persönlich“, antwortete Nathan nur. Nein, das ging Ian dann ja nun wirklich nichts an, wenn er ehrlich sein sollte. So gut kannten sie sich nach den paar Minuten nicht. Und wenn schon Ian nicht die einfachste Frage beantworten wollte, dann musste Nathan so etwas erst recht nicht beantworten. „Alles klar“, erhielt er die recht gechillte Antwort darauf und ein Schulterzucken. „Wie kommt jemand, der Hip-Hop tanzt, zu Metal?“ „Weil Musik universell ist, Junge. Ich lege mich doch nicht auf eine Richtung fest“, erklärte Ian ihm, lehnte sich zurück und faltete die Hände auf dem Tisch. „Und wie kommt jemand wie du, mit einem recht hübschen Gesicht, zum Muay Thai?“ „Indem man sich von seinem Bruder bequatschen lässt. So kommt man zum Muay Thai.“ Nathan sah, wie Ians Augenbraue in die Höhe schossen und ein fragender Blick auf ihm zu ruhen begann. „Wegen deinem Bruder?“ „Als Zwilling hat man nun mal irgendwie die gleichen Hobbys. Irgendwie.“ „Zwilling? Von dir gibt’s noch einen?“, erhielt er die leicht überraschte, aber immer noch unterkühlte, Frage. „So etwas soll es geben, Ian“, schmunzelte Nathan vor sich hin, lehnte sich leicht nach vorn und verschränkte die Arme auf dem Tisch. „Und ihr seht gleich aus?“ „Nein. Er ist blond, hat braune Augen, ist zwanzig Zentimeter kleiner als ich und ein wenig pummelig.“ Nathans Antwort triefte nur so vor Ironie und jeder, der dies nicht erkannte, musste entweder immun dagegen sein, oder aber dieser jemand war einfach nur dämlich. „Wirklich?“ Und es schien, als würde Letzteres auf Ian zutreffen. So sagte doch dessen Blick und dessen minimal veränderte Tonlage alles aus. Jedoch korrigierte Nathan seine Gedanken im selben Augenblick wieder. Ian war nicht der Typ, der so dämlich war. Auf jeden Fall wirkte er auf Nathan nicht so, als wäre er als Kind irgendwann vom Wickeltisch gefallen… „Natürlich nicht! Wir sind eineiige Zwillinge, wir sehen uns beinahe zum Verwechseln ähnlich. Nur mit dem Unterschied, dass er der Collegetyp ist, gern Beziehungen führt und später am liebsten heiraten würde.“ „Das genaue Gegenteil von dir, also“, schlussfolgerte Ian aus den Worten des Schwarzhaarigen ihm Gegenüber. „Jop“, gab Nathan bestätigend von sich und stand auf. Eine Tasse Kaffee würde seinen Tag ja jetzt perfekt machen. „Kann man den kennenlernen?“ „Was dich angeht? Ganz sicher nicht.“ Nathan würde jemanden wie Ian nicht auf Blake loslassen. Nicht einmal jetzt, wo sein Zwilling doch im Koma lag. Blake war einfach viel zu ruhig und sanft, als dass er so einen Eisklotz wie Ian auch nur in dessen Nähe bringen könnte, auch wenn man das nicht glauben wollte. Immerhin war Blake ein Meister des Muay Thai, da dachte man oft nicht, dass eine solche Person einfühlsam und sanft sein konnte. Aber Blake war es. Und jemand wie Ian war nicht gut für seinen Zwilling. Ganz sicher nicht. „Warum?“ „Hat seine Gründe.“ „Ah, schon klar.“ Über die Schulter blickend, erkannte er, dass Ian sich ebenso erhob, seine Hose etwas höher zog und ihm folgte. „Was heißt hier: ‚Schon klar’?“, äffte er übertrieben nach und sah das kühle Schmunzeln auf den Lippen des anderen. „Glaub mir, du weißt ganz genau, was ich damit meinte“, meinte Ian zu erklären, das Lächeln jedoch verschwand keine Sekunde lang. „Nein, erzähl es mir doch bitte“, drängte Nathan, nahm sich eine Tasse und goss sich etwas von dem schwarzen Gebräu ein, ehe er sich zu dem Brünetten umdrehte und ihm abwartend entgegensah. „Ich weiß nicht, was dein Problem ist, Nath.“ Doch Nathan unterbrach den ersten Satz schon, in dem er die Hand hob und sagte: „Nathan. Für dich bin ich nicht ‚Nath’.“ „Ok, Nathan“, zog Ian den Namen etwas in die Länge. „Gibt es gar keinen Zwillingsbruder oder was?“, folgte die Feststellung. „Leck mich einfach, ok?“ „Jetzt gleich?“, kam der Konterspruch nur wenige Sekunden später. Große, blaue Augen blickten gerade aus in eiskalte braune. „Was is?“, lachte Ian, zuckte die Schultern und wendete sich unberührt dem Buffet zu, nahm sich ein Tablett und lud sich erst einmal sein Frühstück auf. Es war dem Schwarzhaarigen, als hätte er nach dem Wetter gefragt und Ian hätte ihm gesagt, dass es draußen heiter sonnig war. Sein Hirn kam nicht so schnell mit der Information hinterher, welche es verarbeiten sollte. Hatte Ian das gerade aus Spaß falsch verstanden oder meinte er es ernst? „War das ernst gemeint?“, fragte er auch sogleich fassungslos nach. Er hoffte, es war nur ein Witz. Etwas, das man aus der Welt schaffen konnte, ohne weiter darüber nachdenken zu müssen. Aber allein die Aussicht auf das Gesicht des Brünetten… Wieder nur ein Lächeln. „Sicher, dass du nicht blond bist? Oder hat dein Hirn bei den Fights mehr abbekommen, als gesund wäre?“ Als jedoch keine Antwort von Nathan kam, nahm Ian eine Hand von seinem Tablett und legte die andere auf Nathans Hintern. „Doch nicht hier, dann doch lieber in meinem Zimmer.“ Die Hand des Brünetten strich über seinen Hintern und Nathan fühlte sich, als könne er sich gar nicht mehr bewegen. Ian verwirrte ihn. Er brachte ihn dazu, da zustehen, als hätte er einen Geist gesehen. Irgendwann jedoch konnte er zusehen, wie Ian seine Hand wieder zu sich nahm und zu ihrem Tisch zusteuerte. Beinahe so, als wäre nie etwas gewesen. Sprachlos blieb Nathan erst einen Augenblick stehen, ehe er ihm doch hinterher lief und sich ihm gegenüber fallen ließ. Wie vor wenigen Minuten auch. Mit was für einer Person gab er sich hier gerade ab? Hätte er das denken können, als er ihn vor ein paar Tagen vor dem Fall geschützt hatte? Oder als er ihn vor vielleicht zwanzig Minuten unten in dem Raum angetroffen hatte? Irgendwie nicht. Aber je länger er Zeit mit ihm verbrachte, desto unheimlicher wurde Ian. Doch die Erkenntnis, dass Ian nicht nett war, wurde verschlimmert. Ian war nicht nur nicht nett, nein. Ian war sogar beinahe bösartig pervers! „Ich bin nicht schwul, ok?“ „Das sagen sie alle“, lächelte Ian ihm entgegen, warf zwei Zuckerwürfel in seinen Kaffee und rührte diesen dann um, während er sein Kinn auf seiner Hand stützte und Nathan beinahe prüfend entgegen sah. „Nein, wirklich nicht. Ich kann dem nichts abgewinnen.“ „Schon probiert?“ „Mit sechzehn, ja“, gab er zu und konnte sich ein genervtes Seufzen gerade so verkneifen. „Und das ist jetzt wie lange her?“, wollte Ian wissen. „Zwei Jahre.“ Das Lächeln auf Ians Lippen schwand augenblicklich und Nathan begann sich zu fragen, was er Falsches gesagt hatte. Nicht, dass es für ihn nicht schon normal war, dass Ian aussah, als wäre ihm das Gesicht eingefroren, aber es war dennoch ein wenig merkwürdig, den Brünetten so … überrascht zu sehen. „Du bist achtzehn?“, folgte die leicht überforderte Frage. „Ja, seit bereits elf Monaten“, antwortete er ihm und war nicht minder verwirrt. Was wollte Ian von ihm? „Alter“, kam die auflachende Antwort. „Nicht ernsthaft jetzt, oder?“ „Doch“, bestätigte der Schwarzhaarige und zog die Augenbrauen fragend zusammen. „Was ist daran so schlimm?“ Kapitel 3: ... und dann? ------------------------ Thanks to: --------------------------------------------------------------------------------- --------- und dann? --------- „Du siehst nur einfach älter aus, als du es bist.“ „Danke“, knurrte Nathan leicht säuerlich. „Kommst eher wie zwanzig oder so in der Art“, führte Ian seine Anmerkung weiter aus. „Und das ist alles, was du mir sagen willst?“, fragte Nathan nach und zog seine linke Augenbraue in die Höhe. „Ich meine, du klangst schon ein wenig … sagen wir, geschockter. Da ist doch bestimmt noch ein wenig mehr, als einfach nur das Alter.“ Jedoch erwiderte Ian darauf rein gar nichts. Viel eher schlich sich dieses typische Lächeln auf seine Lippen, welches sogar den Nordpol neidisch werden ließ und Nathan seufzte innerlich. Es war mal wieder so klischeehaft für ihn, dass er sich den gefühllosesten Idioten heranzog, den er hätte finden können. Das war schon immer so. Auf der Juniorhigh hatte er nur Idioten als Kumpels, auf der Seniorhigh war es nicht anders und selbst jetzt sollte sich dies weiter fortführen? Was hatte er nur verbrochen, dass er immerzu an die gleichen Menschen geriet? Das war doch bei Gott nicht mehr normal. Blake hatte da immer wesentlich mehr Glück gehabt. Selbst jetzt besuchten ihn seine Freunde und hielten mit der Familie Kontakt. So etwas konnte Nathan von sich nicht behaupten. Bei ihm lief ständig alles aus den Fugen oder er geriet wieder an solche Wesen wie Ian es war. Undurchsichtig, kühl, lässig und ohne zu viele Worte über sich selbst verlierend. Das war lästig. Bisher war es ein Wunder, dass er sich noch kein Mädchen geangelt hatte, das genau so drauf war… Das wäre die Krönung für seinen Lebenslauf. Wirklich. „Ok, ich merk schon, du willst nicht mit mir sprechen, oder?“, fragte er halb belustig, halb ernst nach und rechnete einmal mehr damit, keine Antwort zu bekommen. Oder aber ein paar Worte, die wieder so derart ‚freundlich’ rüber kamen, dass man sich doch durchaus Gedanken darüber machen konnte, was man falsch gemacht hatte. Nathan tippte eher auf die letztere Variante. Immer mit dem Schlimmsten rechnen. Diese These hatte sich in der Vergangenheit mehrmals bestätigt. „Ich mag sehr wohl mit dir sprechen“, erhielt er die überraschend ruhige Antwort, hatte er doch wirklich damit gerechnet, dass ihm diese ruhige, samtig tiefe Stimme gleich Eisklumpen entgegen schleudern würde. „Ich mag deine Stimme“, hängte der Ältere hinterher. „Wie alt bist du, Ian?“ „Siebenundzwanzig. Neun Jahre älter als du.“ „Ihm Grunde genommen nur acht, ich werde nächsten Monat neunzehn“, erklärte Nathan. Auch wenn diese Information vielleicht überflüssig war, so wollte er es doch angemerkt haben. „Neunzehn, passt eher zu meiner Schätzung“, folgte die nüchterne Feststellung des Brünetten. Super, dachte Nathan. So alt sah er doch gar nicht aus. Oder? Darüber sollte er sich aber dann vielleicht später Sorgen machen und nicht jetzt Zeit damit verschwenden, wenn er doch die Nächte dazu nutzen konnte. „Fassen wir zusammen: Ich weiß, dass du aus Orlando kommst, dass du jetzt in Miami wohnst, dass du Choreograph bist, dass du jegliche Musik magst und mit einer Band befreundet bist. Möchtest du mir nicht noch was sagen?“ „So, wie du das gerade sagst, fehlt mir nur noch die Lampe und ein Klemmbrett und ich fühle mich wie bei CSI New York, nur dass du weniger forsch bei den Fragen bist“, erwiderte Ian jedoch nur trocken, zog nun endlich sein Frühstück heran und Nathan durfte erst einmal beobachten, wie Ian einen der Donuts in zwei Teile brach und total untypisch in den Kaffee tunkte. „Aber ich denke, ich möchte dir was sagen, ja“, kam es wenig verspätet von dem Älteren und ein Nicken begleitete diese Worte noch. Gespannt blickte Nathan den jungen Mann vor sich an. Konnte ihn eigentlich noch irgendwas schocken? Irgendwas, das Ian tun oder sagen könnte? Nun ja, so sicher war er sich da nicht. Wer weiß, was bei diesem Mann alles möglich war? „Als ich dich vor ein paar Tagen aufgefangen habe“, begann Ian, ließ den Rest des Donuts im Kaffee verschwinden, ehe er ihn aß. „Ich find dich hübsch.“ Nüchtern, total ruhig und ernst gemeint. Drei Adjektive, die diese Aussage treffend und punktgenau beschrieben. Erst mochte Ian seine Stimme. Ok, damit konnte er leben. Viele hatten ihm gesagt, dass er eine angenehme Art hatte, zu reden und auch eine angenehme Stimme. Also war das nichts Neues für ihn. Aber dass ein Typ – außer der eigene Bruder – sagte, er fände ihn hübsch, gab dem Jüngeren doch ein wenig zu denken. „Auch, wenn du ein mordsmäßiges Veilchen im Gesicht hast – und ich bin ehrlich, ich will gar nicht wissen, wie’s woanders aussieht…“, erhielt er das Geständnis. Wie jemand, der im Mathematikunterricht nur Bahnhof verstand, saß Nathan mit leicht geöffnetem Mund und fragenden Blick vor Ian und starrte ihn einfach nur an. „Du hast eine Art an dir.“ Kurz schlossen sich Nathans Augen, nur um im nächsten Augenblick umso größer wieder geöffnet zu werden. „Was für eine Art?“ „Hm, keine Ahnung. Wie beschreibt man das am besten?“ Wie unberührt dieser Kerl da saß, seinen Kaffee tot rührte und ihm allen Ernstes noch in die Augen blickte. Bei diesen Worten. „Aja. So eine Art habe ich also an mir?“ „Hm-hm.“ „Und was sollte seine Hand auf meinem Arsch?“ „Deine Reaktion war amüsant.“ „Alter“, zog Nathan das Wort lang. „Willst du mir irgendwas sagen? So in die Richtung, vielleicht?“ Warum zur Hölle geriet er immer an die größten Idioten und folglich in die beschissensten Situationen? Er kam da gerade immer noch nicht wirklich mit klar. Und jetzt blickte er auch noch in braune Augen, die ihn so halb lächelnd und halb fordernd ansahen. Was sollte er denn darauf noch sagen? Jedes Wort blieb ihm im Halse stecken oder wollte nicht einmal ausgedacht werden. „Wenn du mir versprichst, nicht gleich aufzuspringen, und das Weite zusuchen.“ „Kommt drauf an. Wenn du jetzt heraus haust, dass du schwul bist und ich ein potentielles Opfer abgebe, muss ich gehen.“ „Bi trifft es eher. Aber keine Sorge – du fällst ohnehin aus meinem Schema und ich hab es dann doch lieber mit einer hübschen jungen Frau.“ Ian grinste ihn leicht an und Nathan hob nur die Augenbraue. Warum verstand er den Zusammenhang nicht? Nennt man das dann nicht eigentlich eher hetero? Wie sollte er aus Ian schlau werden? Seine Hand kramte nach seinem Handy, er sah nach der Uhrzeit, ehe er meinte: „Ich glaub, ich muss doch langsam gehen.“ „Bleib sitzen.“ Es war bei weitem keine Bitte mehr, es war ein Befehl. Nathan verstand ihn und er wusste, dass Ian ihn nicht loslassen würde. Also lehnte er sich wieder zurück, als der Ältere ihn los gelassen hatte. „Ich muss dich aber nicht verstehen, oder?“ „Du musst gar nichts verstehen“, gestand Ian ihm dann. Trocken lachte Nathan dabei auf. Abwechslung? Bitte. Das war einfach alles nur purer Bullshit. „Aber ich fände es dennoch ganz reizend“, fing er an, fuhr sich durch die braunen Haare und begann, den Kopf leicht hin und her zu wiegen. „Wenn du nicht so verkrampft wie die meisten Typen aufstehen und gehen würdest. Ich bin nicht der Typ dafür, Leute zu etwas zu zwingen. Also ehrlich!“ Wieder wanderte Nathans Augenbraue in die Höhe. „Ist das so?“ „Ja.“ Die andere Augenbraue hob sich ebenso. „Irgendwie fällt es mir schwer, dir das zu glauben. Erstens, ich kenn dich nicht. Zweitens, werde ich aus dir ohnehin nicht schlau und drittens, wäre es für dich durchaus sehr ungesund, dich mit mir anzulegen, heißt mehr als nur ein blaues Auge abzubekommen.“ „Heißt das, du bist nicht verkrampft?“ „Lass deine Hände bei dir, und wir haben keine Probleme. Du hast keine Schmerzen und ich keine Aggressionen. Alles ist gut.“ „Keine Homophobie?“ „Warum sollte ich so etwas haben?“, hielt Nathan dagegen. „Sind doch auch alles nur Menschen, guck dich an. Und so lange mich keiner mehr anfasst, als gut für ihn ist, ist alles ok. Wie gesagt.“ „Beruhigt mich.“ „Warum?“ „Weil du der einzig normale Mensch hier zu sein scheinst. Guck dir diese Matschbirnen doch alle nur mal an“, kam es recht trocken und der Blick Ians wanderte im Speisesaal herum. „Die meisten sind wegen den Fights hier. Also folglich alle ein wenig gaga. Die anderen sind Rentner und ohnehin nicht mehr auf der Höhe und die andere Hand voll Menschen? Kannste in die Tonne treten, weil es einfach keinen Sinn macht, mit ihnen ein vernünftiges Gespräch zu führen. Meine Crew ist mehr unterwegs, als gut für sie ist und die Kleinen? Die sind irgendwo unterwegs mit ihrem zweiten Betreuer. Ich brauch Abwechslung und mal was anderes zum reden, außer meiner Wand.“ „Wie kannst du nur so derart trocken und nüchtern jedes einzelne Wort rüberbringen? Kein Wunder, dass dir niemand zuhört außer die Wand.“ „Und Idioten wie du.“ „Genau, Idioten wie ich, die sich davor drücken, ihrem Trainer gegenüber zu treten“, schmunzelte Nathan. Das Thema ‚Schwul’ war unter den Teppich gekehrt. Unglaublich, wie schnell ein Themenwechsel möglich war. Es überraschte Nathan jedes Mal auf ein Neues. Faszinierend. „Dein Trainer?“ „Er will mich vor dem Viertelfinale noch einmal richtig zusammenscheißen. Muss ich nicht haben“, kam es leicht genervt von ihm. Nein, darauf wollte und konnte er gut verzichten. Es störte ihn nur einfach, dass ausgerechnet heute eine Trainingseinheit anstand. Was auch immer – es würde nicht lustig werden. „Klingt nach Spaß.“ „Nach sehr viel Spaß…“ „Wenn du’s überlebst.“ „Was dann?“, wollte er wissen. „Hol ich dich um halb acht in acht Tagen vorne im Foyer ab.“ „Warum?“ „Konzert. Ich würd dich den Jungs gern vorstellen.“ „Mit welchem Zweck?“ „Einfach nur so.“ Gleichgültig zuckte Ian mit den Schultern. „Ich glaube einfach, dass du mit ihnen gut klar kommst“, ergänzte Ian seine Antwort und erhielt einen – mal wieder – leicht verpeilten Blick. „Sei einfach um halb acht da.“ 15. Mai 2011 -Viertelfinale- Um halb sechs kroch Nathan bereits aus seinem Bett, ging seiner morgendlichen Routine nach und verließ das Zimmer. Die Kopfhörer auf dem Kopf, fummelte er an seinem Handy herum, während er das Hotel verließ. In nur wenigen Stunden würde er sich bereits wieder in der Halle befinden. Coop würde ihm wieder etwas entgegen schreien, seine Schwester würde es Cooper gleich tun. Nur das Grausame an diesen Gedanken war eigentlich nur der Fakt, dass er nicht wusste, was im Ring auf ihn zukommen würde. Mit Sicherheit war es niemand, den man eben einfach auf den Boden schicken konnte. So ganz sicher nicht. Und er war sich sicher, dass es schwer werden würde. Es war ohnehin schon ein Wunder, dass er bis hierher gekommen war. Nicht jeder würde bei einer Amateur-Meisterschaft in dieser Sportart so weit kommen. Tief atmete er durch, blickte in den immer heller werdenden Himmel, ehe er seine Füße in Bewegung setzte und seine morgendliche Runde um die Blocks drehte. Jacksonville war einfach nicht seine Stadt. Er würde hier niemals freiwillig wohnen wollen. Zumindest nicht hier im Zentrum. Dann doch lieber etwas weiter weg, am Rand der Stadt oder so… Hauptsache weg von zu vielen Menschen, großen Ansammlungen und was nicht noch alles in einer Großstadt zu finden war. Im Grunde war er einfach nur froh, wenn er wieder zu Hause war. Auch wenn er dann sicherlich wieder Eskalationen geben würde, mit seinem Vater. So, wie es eigentlich immer war. Nur schlimmer geworden war es, seitdem Blake im Koma lag. Es war irgendwie dieser Zwiespalt. Er war gern daheim, aber irgendwie auch nicht. Es war so viel, was ihn davon abhielt, zu Hause sein zu wollen. Aber auch wieder so vieles sprach dafür. Es war grauenhaft. Einfach nur grauenhaft. Kurz nach dem Frühstück ging es in die Halle. Gut gefüllt, war es um diese Uhrzeit schon verdammt stickig und kaum auszuhalten. Seufzend folgte Nathan Dennis in eine der Umkleidekabinen, warf seine Tasche auf die freie Bank und zog sich das Shirt über den Kopf. „Wie hast du’s nur bis hierhin geschafft?“, fragte Dennis ihn und Nathan blickte ihn nur schweigend an. Was sollte er denn dazu jetzt sagen? „Ich meine, an welchen Turnieren hast du schon teilgenommen? Aber spätestens heute, denke ich mal, wirst du rausfliegen. Ins Halbfinale wirst du es nicht schaffen.“ „Wie du meinst“, kommentierte Nathan das, zog den Reisverschluss seiner Tasche auf und kramte das Oberteil heraus. „Schau, das soll nicht gegen dich gehen. Aber ich bin besser als du.“ Dennis legte seinen arroganten ‚Ich bin dir überlegen’-Blick auf und lächelte dazu auch noch so falsch, dass es Nathan beinahe zum kotzen brachte. „Sei froh, wenn du nicht das Vergnügen hast, gegen mich zu kämpfen. Ich mach dich fertig.“ „Das, Dennis, wollen wir dann erstmal sehen“, kam es ruhig von Nathan zurück, welcher inzwischen seine Hose zusammen legte und zusammen mit den restlichen Sachen in seine Tasche legte. Natürlich war Dennis besser. Der Junge machte das, seitdem er zehn war. Da war es keine Kunst, besser zu sein. Nur dass Nathan wesentlich intensiver trainierte und ein Ziel hatte. Er wollte nicht einfach nur gewinnen. Nein, darum ging es ihm gar nicht in erster Linie. Er wollte einfach nur als gut, wenn nicht sogar sehr gut anerkannt werden. Man sollte in ihm nicht immer nur den Loser sehen. Darum ging es ihm. Und vielleicht auch ein wenig darum, dass er nicht das aufgeben wollte, wofür Blake sich immer eingesetzt hatte. Auf den Bänken sitzend, sah Nathan sich die anderen Kämpfe an. Jeder Teilnehmer war auf seine ganz eigene Weise so derart präzise und perfekt, dass man eigentlich gar nicht sagen konnte, wer denn nun besser war. Mit einem Ohr hörte er zu, wie Cooper sich mit Dennis unterhielt. Es ging um den Fight, wenn Dennis dran war. Er solle doch seinen Gegner bitte schnell und hart fertig machen. Gnade sollte er nicht kennen. Das war meistens der Standardspruch, den Coop benutzte, wenn er mit Dennis sprach. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass Dennis der Beste aus dem Verein war. Und für Coop – entgegen dessen, was dieser Nathan sagte – war Dennis auch der Favorit. Eigentlich konnte ihm keiner das Wasser reichen. Keiner. „Dennis Lething“, ertönte es aus den Lautsprechern und Dennis erhob sich zusammen mit Cooper. „Nathan Jester“, folgte der andere Name und auch Nathan erhob sich, gefolgt von seiner Schwester. Leicht geschockt blickte sein Trainer zwischen beiden hin und her. Er schien nicht zu wissen, was er jetzt sagen oder tun sollte. Doch Nathan ging nur auf den Ring zu, stieg über die Begrenzung und atmete tief durch. Super, dachte er sich. Cooper stand bereits bei Dennis auf der anderen Seite. „Das ist hart“, hörte er seine Schwester sagen. „Du machst das, Nathan. Du macht das!“, sprach sie ihm gut zu. „Es sind nur drei Runden, à fünf Minuten. Das packst du. Deckung hoch, und beweg dich.“ Nathan nickte. Lindsay konnte gut seine Trainerin werden, so wie sie schon sprach. Aber gerade Dennis… War das mal wieder das Spiel seines scheiß Lebens? Wollte das Schicksal ihm mal wieder eins reindrücken? Das übliche Anfangsverfahren, dann gingen sie aufeinander zu und er brauchte nicht einmal Lippen lesen können, um zu wissen, welche Worte Dennis da tonlos sagte. Ich mach dich fertig, identifizierte er und schluckte. Aber Aufgeben kam für ihn nicht in Frage. Niemals. Diese Blöße würde er sich nicht geben. Als der Gong ertönte, brach für Nathan die Hölle los. Schlimmer als im Achtelfinale und schlimmer als die Fights für die Qualifikation… Dennis machte keinen Unterschied zwischen den anderen und Nathan. Nein, er ging voll rein und die ersten fünf Minuten bestanden für Nathan lediglich darin, seine Deckung aufrecht zu halten und dafür zu sorgen, dass Dennis sich verausgabte und in den beiden folgenden Runden nicht mehr ganz so schnell war. Er hoffte, dass die Theorie in der Praxis auch funktionieren würde. Sonst wäre er echt am Arsch und weiter als das Viertelfinale wäre er nicht gekommen… Nach der ersten Runde, kam Nathan in seiner Ecke zum stehen. Seine Atmung ging verdammt schnell und er hatte das Gefühl, bereits jetzt nicht mehr zu können. Das war unfair. Mehr als unfair… Wirklich. Warum steckte man die Vereinsmitglieder gegeneinander in den Ring? Das war scheiße. Unruhig glitt sein Blick durch die Publikumsmasse. Viele unterhielten sich untereinander, andere starrten einfach nur in ihre Richtung und andere machten sich und ihre Teilnehmer auf den nächsten anstehenden Kampf bereit. Und in der ganzen Masse der Menschen, meinte er Ian am Eingang stehen zu sehen. Erst als diese Person sich abstieß und die paar Treppen hinunter zu ihnen kam, bestätigte sich seine Annahme. Ian bahnte sich den Weg durch die Grüppchen, bis er bei Lindsay zum Stehen kam. Aber Zeit um gemütlich miteinander zu reden war nicht da. Der Gong kündigte die zweite Runde an und Nathan fühlte sich, als würde er den letzten Schritt von seiner Beerdigung entfernt sein. Nur dass er Dennis dieses Mal auch nichts schenkte. Beide mussten gegenseitig die Schläge einstecken, die der andere zielsicher landete. Aber auch die zweite Runde endete recht erfolglos für beide. Jeweils in ihre Ecken taumelnd, ließ Nathan nur den Kopf in den Nacken sinken und sah an die Decke. „Benutz ruhig weiter deinen Kopf als Punchingball, Nathan“, drang die kühle Stimme an sein Ohr und er blickte nur minimal zur Seite. Lindsay stand da ein wenig fragend und deutete mit dem Daumen auf Ian. „Wollen wir tauschen?“, murrte er nur. Solche Ratschläge brauchte er nun wirklich nicht haben. „Ich bekomm schon beim Zusehen Schmerzen. Mach ruhig weiter“, kam es nur von Ian zurück. „Ich würde dir dennoch empfehlen, nicht so stocksteif dazustehen.“ Lindsay nickte nur auf Ians Aussage. „Beweg dich“, hängte die Rothaarige hinterher. „Sonst wird das nichts mehr. Du hast noch fünf Minuten!“ Wieder ein Gong. Nathan hörte, wie Coop Dennis etwas zurief, aber er verstand nicht wirklich, was es war. Seine komplette Konzentration lag auf dem jungen Mann vor ihm. Wenn er nicht aufpasste, war dies hier seine letzte Runde vom ganzen Wettkampf und darauf hatte er nun wirklich keine Lust. Und sie gaben sich wirklich nichts. Kein Bisschen. Der Unterschied zwischen ihnen, in ihrem Können, lag schwindend gering, aber dennoch hoch genug, dass Dennis es schaffte, Nathan auf den Boden zu befördern. Und zwar so, dass der Schwarzhaarige es nicht mehr schaffte, sich aufzurichten. Die Hand auf die linke Seite pressend, versuchte er zu Atem zu kommen, aber wirklich gelingen tat es nicht. Die Runde war zu Ende und Dennis der Gewinner – noch. Lindsay stürzte über die Bänder und kam auf ihn zu. Der Schiedsrichter ging ebenso neben Nathan in die Hocke. „Alles klar?“, fragte jener, als er Nathan behilflich war, sich wenigstens in eine etwas aufrechte Position zu bringen. „Geht“, brachte er heraus, wischte sich mit den Fingern das Blut von der Nase. Aber Sitzen konnte er nicht, weswegen er sich wieder zurück sinken ließ. Es war schon peinlich genug, verloren zu haben, musste er sich jetzt auch noch was gebrochen haben? „Nath, hey.“ Das Gesicht seiner Schwester erschien in seinem Blickfeld und er quälte sich ein Lächeln auf die Lippen. „Alles klar“, meinte er nur und wirkte wenig glaubhaft. „Kommst du auf die Beine?“ „Vielleicht…“ Sie reichte ihm die Hand, doch Nathan war sich sicher, dass sie ihn niemals auf die Beine bekommen würde. Er wog ja beinahe vierzig Kilo mehr als sie. „Unser Supersportler…“, hörte er die Bemerkung Ians, welcher nun auch auf ihn zukam. „Sehr elegant, ich bin begeistert von deinem Fall, der war kinoreif.“ „Sehr lustig“, knurrte Nathan nur, nahm die angebotene Hand des Älteren und ließ sich von diesem mit Leichtigkeit auf die Beine ziehen. Kurz hielt er mit dem Atmen inne. Jeder Atemzug schmerzte und sein rechtes Bein konnte er nicht wirklich belasten, weil er recht viele und vor allem harte Tritte hatte kassieren müssen. „Bringen wir dich zum Sani“, kam es von Lindsay, die die Bänder des Rings auseinander drückte, damit Ian Nathan vernünftig darunter durch bekam. „Das ist so peinlich“, meinte er, während er – gestützt von Ian – den Weg zum Sanitäter humpelte. „Wirklich richtig peinlich. Das war Dennis!“ „Reg dich nicht auf, hast doch’n saubren Kampf hingelegt, was willst du?“ „Genau, er macht das länger als du, Nath“, bestätigte Lindsay. „Er hat doch auch leiden müssen. In zwei Jahren macht du halt wieder hier mit und schaffst es weiter!“, versuchte sie ihm Mut zu machen. „Was machst du überhaupt hier?“, richtete Nathan sich jedoch an Ian. „Wir sind ebenso rausgeflogen und ich hatte keine Lust, mir das Geheule meiner Crew anzuhören, als bin ich hier her.“ Nathan nickte leicht, obwohl er nicht verstand, warum Ian seine Crew einfach im Stich ließ. Normalweise hielt man nach einem Rausschmiss zusammen. Jedoch schüttelte er nur den Kopf über seine wirren Gedanken und ließ sich dann auf die Kante der Pritsche sinken. An der offenstehenden Tür zum Saniraum hing ein Schild mit den Worten ‚Gerade bei einem Notfall’ und das hieß, dass sie wohl noch ein wenig warten durften. So schlimm war er ja nun auch nicht dran, meinte Nathan auf jeden Fall für sich selbst. „Wer bist du überhaupt?“, wollte Lindsay dann jedoch wissen, lehnte sich neben ihren Bruder und sah Ian fordernd an. „Ian Blair“, stellte er sich vor und erntete auch gleich einen kritischen Blick. „Ian … Blair. Und weiter. Woher kennt ihr euch?“ „Ich hab ihn umgerannt.“ – „Er ist in mir in die Arme gelaufen.“ Kam es im Chor von den beiden als Antwort. Jedoch ließ es Lindsay nur noch verwirrter dreinschauen. „Am ersten Tag hier. Ich war irgendwie in Gedanken und habe ihn nicht gesehen, als ich den Gang entlang gelaufen bin, in welchem mein Zimmer lag. Und dann war er einfach da, ich renn in ihn - Bäm! Und er fängt mich auf. Klischeehafte Geschichte…“ “Ja, wärst du kleiner, hättest Titten und wärst durch und durch weiblich“, kommentierte Ian Nathans Worte und verkniff sich ein Lächeln. „Das hättest du wohl gern, Alter.“ „Aber natürlich hätte ich das gern.“ „Ihr seid wie ein altes Ehepaar. Sicher, dass ihr euch erst seit ein paar Tagen kennt?“, wollte die junge Frau wissen und nickte dem älteren Herrn zu, welcher nun endlich mal in sein kleines Kämmerchen zurückkehrte. „Ja, sind wir“, bestätigte Ian und gab dem Sanitäter die Hand, ebenso wie Nathan das tat und Lindsay ebenso. „Was haben wir denn hier?“ „Den Verlierer der letzten Runde“, meinte Ian recht trocken aber dennoch leicht belustigt. „Achso“, gab der Sannitäter von sich und kam auf Nathan zu. „Was haben wir denn?“ „Geprellte Rippen und Zerrungen im Bein. Nicht ganz so dramatisch“, gab Nathan von sich und spielte damit recht gut seine Schmerzen herunter, die er eigentlich verspürte. Sein Kopf brachte ihn beinahe um und seine Nase fühlte sich an, als hätte Dennis es geschafft, jene zu brechen. „Wollen wir doch mal sehen…“ Nathan wurde gebeten, sein Shirt auszuziehen, was jener auch ohne große Umschweife tat – vielleicht etwas langsam und unbeholfen, aber er schaffte es. Lindsay blieb, weil es halt ihr Bruder war und sie wissen wollte, was er denn nun wirklich hatte. Ian hingegen blieb einfach dreist an der - nun geschlossenen – Tür lehnen und betrachtete Nathans freigelegten Körper ausgiebig. Jeden Zentimeter… Ich weiß, ich sollte gehen, aber ich bleibe. Für Nathans Schwester scheint es merkwürdig zu sein, dass ich – ein Fremder – einfach bleibe. Aber es stört mich nicht. Nathan scheint es nicht zu stören, er ignoriert es eher. Nach dem Gespräch – wenn man es so nennen kann – vor zwei Tagen, haben wir uns mehrere Male noch auf dem Flur getroffen, sind gestern gemeinsam joggen gegangen und ich habe heraus gefunden, dass er selbst vor einigen Jahren noch Mitglied einer Streetdancecrew gewesen ist, bevor er wegen seinem Bruder Muay Thai begann. Gestern haben wir zusammen ein paar Moves probiert. Und ich muss zugeben, der Typ kann sich bewegen. Und das, obwohl er nun wirklich mehr als gut trainiert ist. Ich dachte immer, Kickboxer – und das ist Nathan ja zweifelsohne – ein wenig steif waren. Aber da habe ich mich geirrt. Zudem ist er sogar noch richtig gut. Ich habe ihm dann noch unsere Choreo gezeigt, er meinte gestern noch, dass wir damit nicht weit kommen werden. Recht hatte er ja, wie man sieht. Und alles in allem verstehe ich mich mit ihm unheimlich gut. Ich muss zugeben, ein wenig neidisch bin ich auf ihn ja schon. Er sieht super aus. Sein Körperbau, einmalig. Die breiteren Schultern, die ausgeprägten Oberarme, die durchaus sichtbaren Brust- und Bauchmuskeln… Dass er Single ist, ist mir ein Rätsel. Im Gegensatz zu mir hat er einen super Charakter. Man kann mit ihm einfach über alles reden. Zumindest habe ich das im Gefühl. Es ist einfach eine Ausstrahlung, die einem mehr als deutlich klar macht, dass Nathan ein guter Kumpel sein muss. Es ist einfach so. Vor allem wenn man sieht, wie er mit seiner Schwester umgeht. Liebevoll, ruhig – einfach, wie es ein großer Bruder halt zu tun hat. „… gebrochen. Sie sollten ins Krankenhaus fahren und das professionell versorgen lassen.“ Dieser Satz reißt mich aus den Gedanken und ich blinzle kurz unbemerkt, ehe ich die drei da vorn wieder ansehe. Ich sehe, dass Lindsay ihren Bruder besorgt ansieht und neben dem Sanitäter auf und ab hibbelt. Nathan selbst wirkt gelassen, nickt und richtete sich auf. Was ist gebrochen? Sein Zinken? Könnte ich verstehen, ein wenig krumm und geschwollen wirkte seine Nase ja schon… Oder doch die Rippen? Hm, auch möglich. Es klopft an der Tür und ich trete lieber schnell beiseite, ehe man mich hier auf den Boden befördert. Zögernd öffnet diese sich und ich sehe eine dunkelhäutige, glatzköpfige Person herein kommen. „Coop“, gibt Nathan von sich, nimmt sein Oberteil entgegen, welches Lindsay ihm reicht. „Alles ok?“, fragt jener und ich gehe davon aus, dass es sich bei diesem ‚Coop’ um Nathans Trainer handelt. Wie auch sonst. „Na ja. Eine Zerrung im Oberschenkel, sowie mehrere Prellungen, wahrscheinlich drei gebrochene Rippen. Ach, meine Nase ist angebrochen.“ Höre ich da etwa einen bissigen Unterton in der Stimme des Schwarzhaarigen? Ich liebe diesen Blick, den er gerade drauf hat. Er trieft beinahe nur vor Wut. Seine hellblauen Augen wirken auf einmal eine Nuance dunkler. Seine Haltung ist, trotz der vorhandenen Schmerzen, stolz und stark. Dieser Kerl … er macht mich wahnsinnig. Hätte es nicht eine unbedeutende, hässliche Person sein können, die mich vor Tagen umgerannt hat? Warum er? „Hey, ich kann nichts dafür, dass ihr zusammen in den Ring gesteckt wurdet!“, wehrt sich Coop. Wie heißt der eigentlich richtig? Wobei, das interessiert mich nicht. Es ist mir vollkommen egal. Viel interessanter ist die Richtung, in welche dieses Gespräch wohl laufen wird. „Nein, ich weiß. Früher oder später wäre es wohl so oder so so gekommen. Also bitte! Erzähl mir nichts. Du hast ihm doch die ganze Zeit zu geschrieen, der soll sich gefälligst nicht so anstellen, er soll sich bewegen und dem ganzen ein Ende setzen, oder? Hat er getan. Dennis. Dein Liebling. Dein Favorit. Du hättest mich nicht mit hierher nehmen sollen. Du wusstest, dass ich spätestens im Viertelfinale scheitere. Kann ich froh sein, dass es Dennis war?“, höre ich Nathan sagen. „Damit wärst du ja nicht die erste Person, die mir in den Rücken fällt.“ Er zieht sich das Shirt wieder über, hört nicht auf die Worte des Sanitäters, er solle doch nicht schnell aufstehen. Er hört nicht auf seine Schwester. Schnell erhebt er sich aus seiner Position und gerät gefährlich ins Schwanken. Wieder geht die Tür auf – dieses Mal jedoch ohne jegliche Vorwarnung. Der Kerl, mit welchem Nath gerade noch im Ring gestanden hatte, kommt neben mir zum stehen und grinst dreckig. Ich glaube, ein solch widerliches Lächeln habe noch nicht einmal ich drauf… „Na, Loser. Was haben wir denn?“ „Pisser“, höre ich Nathan fluchen. „Ich sagte doch, ich mach dich fertig.“ „Wichser!“, lauter und wesentlich wütender. Ein Schritt, gefährliches Schwanken und dann kippt er einfach um. Schnell ist der Sanitäter bei ihm, redet auf ihn ein. Ich seufzte, gehe an dem Arschloch vorbei und remple ihn absichtlich an. Er ist kleiner als ich, daher ist das keine große Kunst. „Geht einfach, bitte“, spreche ich den augenscheinlichen Trainer an, als auch diesen kleinen Arschficker von Dennis. Ich weiß, ich bin nicht die netteste und warmherzigste Person auf diesen Planeten. Und das will ich auch gar nicht sein, sonst wäre ich nicht ich. Ein kühler, drohender Blick folgt meinen Worten und beide verlassen diesen Raum. Lindsay wirkt auf einmal blass, total geschockt und verängstigt. Was ich tun soll? Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nicht, wie ich mit einer Frau umgehen soll, die in einem solchen Zustand ist, wie sie. Im Grunde juckt es mich noch nicht einmal. Was gehen mich Gefühle von Menschen an? Sie sind mir egal. Sie dienen meinem Zweck und Frauen so oder so. So lange sie die Beine für mich breit machen und mich befriedigen, sind sie ok. Ansonsten interessieren sie mich einen Scheißdreck. „Bleib mal locker, Weib“, sage ich ihr, höre den Sanitäter den Notarzt rufen. Der steht ohnehin vor der Halle – immer abrufbereit. Wer weiß, ob was passiert. Ich helfe dem Sanitäter, Nathan auf die Trage zu verfrachten. Sein Kollege ist wohl mit einem weiteren Fall beschäftig. Ich sage doch, es ist schwachsinnig, sich freiwillig die Birne einzutreten. Scheiß Kampfsport. Alle die das freiwillig machen, müssen doch einen an der Rübe haben. Lindsay folgt den Rettungssanitätern, die ihren – nur langsam wieder zu Bewusstsein kommenden – Bruder in den Wagen bringen und somit ins nahegelegene Krankenhaus. Ich verlasse gemächlich den Sani-Raum, ziehe die Tür hinter mir zu und sehe Coop als auch Dennis da stehen. Dennis tut gleich einen Schritt auf mich zu, doch ich fasse ihn nur an der Schulter, dränge ihn zurück an die Wand, an welcher er gerade noch gelehnt hatte. „Sprich mich an, und es wird das Letzte Wort sein, das du jemals sagst“, drohe ich ihm. Als wäre ich der Tod persönlich, starrt er mich an und nickt dann. „Gut“, gebe ich von mir und wende mich um. Während ich die Halle verlasse, überlege ich, ob ich nicht auch ins Krankenhaus fahre… Ich bin mal gespannt, ob er wieder fit ist, in sechs Tagen. Ich würde nämlich gern wissen, was Mike von ihm hält… Oder was Seth sagt. Seth hat eine unheimlich gute Menschenkenntnis. Kopfschüttelnd nehme ich meine Autoschlüssel und steige in meinen alten Porsche ein, starte mein Baby und fahre tatsächlich in die Richtung des Krankenhauses. Kapitel 4: Ein Schritt zurück ... --------------------------------- Thanks to: Love ya ³ --------------------------------------------------------------------------------- --------- Ein Schritt zurück ... --------- „Ich lebe, ok?“, gab Nathan von sich. Lindsay saß auf der Kante des Krankenhausbettes und sah ihn besorgt an. „Du bist zusammengebrochen, Nath. Das ist nicht gut.“ „Du hast doch die Ärztin gehört. Das kommt vom Kreislauf!“ „Und deine Rippen? Du hast dir bei diesem scheiß Sport was gebrochen.“ „Lin, bitte. Es ist alles in Ordnung. Es war klar, dass ich mir früher oder später irgendwas brechen würde. Vor allem war Links ohnehin sehr vorbelastet. Und jetzt hör auf mich voll zu nölen, ok?“ „Aber Nathan! Ich mache mir doch nur Sorgen“, sagte sie und strich ihm über die Wange. „Ich habe einen Bruder schon beinahe verloren. Soll ich den anderen auch noch verlieren?“ „Hör auf, über Blake zu reden.“ Zwei Mal klopfte es kräftig an der Tür, ehe die Tür geöffnet wurde und Ian sich ins Zimmer schob. „Was knurrt ihr euch denn so an?“, fragte er. „Was willst du denn hier?“, gab Lindsay nur recht angefressen zurück und stand auf. „Beruhig dich, Babe. Bist ja kaum zum Aushalten“, sagte er ihr direkt ins Gesicht und erhielt einen angegriffenen, geschockten Blick. Ach, geh in die Ecke, dachte er sich und kam auf Nathan zu. Jener blickte den Brünetten ebenso ein wenig überrascht entgegen und legte dann seufzend den Kopf in den Nacken. Mussten ihn alle bemuttern? „Eh, Arschkrampe“, begann Ian. „Was?“, kam es nur zurück. „Wieder alle Lichter an?“ „Immer doch, war nur ein kurzer Stromausfall.“ „Worum gings gerade.“ Nathan hörte deutlich, dass es wieder keine Frage war, die Ian stellte. Es war ein deutliches ‚Sagt mir gefälligst, was abgeht’. Keine Bitte, ein Befehl. „Um unseren Bruder“, platzte Lindsay heraus und begann, wild mit den Händen zu gestikulieren, den warnenden Blick Nathans ignorierte sie dabei gekonnt. „Blake ist bei einer Schlägerei beinahe drauf gegangen.“ “Das wusste ich ja noch gar, Nathan.“ „Ich hasse deine scheiß trockene Art, Ian. Ich sagte es nicht, weil es dich nichts angeht“, feuerte er Ian angefressen entgegen. Konnten ihn nicht alle endlich mal mit Blake in Ruhe lassen? Warum verfolgte ihn das so? Immer und immer wieder? Und warum musste Lindsay es einem eigentlich völlig Fremden erzählen? Das ging Ian nichts an. „Er liegt seit Monaten im Koma und ich will nicht, dass es Nathan auch passiert. Es würde mich umbringen, wenn ich ihn auch noch verlieren würde, wegen diesem scheiß Sport“, brach es aus der jungen Frau heraus. Nathan tauschte einige Blicke mit seiner Schwester, ehe diese stumm aber wütend aus dem Zimmer stampfte. „Hängt der Familiensegen schief oder was?“ „Halt die Fresse.“ „Ich steh drauf, wenn du so drauf bist.“ „Fick dich, Ian. Ich brauche deine Anmachversuche gerade wirklich nicht. Ich dachte, wir hätten das geklärt“, kam es von Nathan, welcher seinen Blick auf Ian legte. Jener jedoch zuckte nur unbeteiligt die Schultern und kam auf ihn zu. „Weißt du, wie sehr mir das am Arsch vorbei geht? Du musst lernen, aus meinen Worten Ernst und Spaß herauszufiltern, dann verstehen wir uns auch.“ „Super, wie einfach das ist! Du sprichst ja auch so gefühlsbetont, da fällt einem das echt einfach. Nur manchmal trieft deine Stimme vor Ironie, Sarkasmus oder Schadenfreude. Echt, du tust mir gar nicht gut. Da wird man depressiv.“ „Das kommt dir nur so vor. Vor allem hast du gerade wohl Schmerzmittel bekommen. Das legt sich alles. Wir haben uns die Tage doch so gut verstanden.“ „Die Tage. Da gings mir auch nicht so derart beschissen, ich hatte mich mit Lindsay nicht in den Haaren und da warst du nicht so abgefuckt zu mir.“ „Was war das mit deinem Bruder?“ „Nichts.“ „Natürlich.“ Ians Stimme triefte nur so vor Ironie, als er die Hände in der Jackentasche verschwinden ließ und auf Nathan herunterblickte. Schweigend blickten sie sich einen Moment lang einfach nur an. Nathan war nicht einmal ansatzweise davon begeistert, dass Ian hier stand und das wissen wollte. Und er wollte nicht nachgeben. Jedoch bei diesem befehlenden, steinharten Blick, der sich in seine Augen bohrte, war er sich nicht so sicher, ob er lange schweigen wollte – oder konnte. „Wir waren auf einer Hausparty – Blake und ich. Im Highsociety-Viertel von Orlando. Er wollte nach Hause, irgendwann um halb zwei in der Früh, ich jedoch wollte noch bleiben, weil ich ein Mädchen kennengelernt hatte“, begann Nathan und seufzte. Sein Blick richtete sich auf die sterilweiße Wand ihm gegenüber. „Er ging allein, ich folgte ihm nicht. Als ich nach Hause kam, irgendwann um fünf, fand ich meine Mutter heulend in der Küche vor, meine Schwester ebenso und mein Vater kam auf mich zu. Er hat damals das erste Mal die Hand gegen mich erhoben. Ich wusste nicht worum es geht, ehe ich erfahren habe, dass Blake ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Hätte ihn eine folgende Gruppe Jugendlicher nicht gefunden, wäre er wohl jetzt tot. Seit etwas über neun Monate ist er nicht ansprechbar – liegt im Koma.“ Es entstand eine kurze Pause, ehe Nathan sich durch die Haare fuhr. „Es ist immer noch nicht klar, wer es war. Blake hatte nie Stress mit irgendwelchen Typen – er war die Mutter Gottes in männlicher Gestalt. Ich war es, der zu der Zeit in Schwierigkeiten war. Man wusste nicht, dass ich einen Zwilling hatte – habe – und sie dachten wohl, ich wäre es gewesen. Es ist meine Schuld, dass das alles passiert ist. Mein Dad hasst mich deswegen, meine Mutter versucht das nicht so zu zeigen und Lindsay … ich glaube, sie kommt darauf auch noch nicht so klar. Ich spreche nicht gern darüber … Seitdem das passiert ist, verfolgt mich das überall hin. Blake ist wie ein großer Schatten geworden, der über mir liegt.“ „Also warst du in der Familie das schwarze Schaf, der Rebell?“ „War? Ich bin jetzt sogar noch schwärzer geworden, wenn das geht.“ Er hörte, wie Ian auf ihn zu kam, sich auf die Bettkante fallen ließ und ihn ansah. Eindringlich ansah. „Sicher, dass alles ok is?“ „Wenn du das fragst, klingt das so verdammt gleichgültig.“ „Sorry, das ist meine Stimme“, entschuldigt sich Ian, doch dieses Mal hörte Nathan deutlich, dass es nicht ernst gemeint war. „Es tut dir halt nicht leid.“ „Nein.“ „Gott, du bist so grauenvoll.“ „Ian reicht vollkommen aus… Musst du hier bleiben?“ „Ich bekomm gleich noch’n Pflaster über die Nase und dürfte dann das Krankenhaus verlassen. Ist ja nichts Schlimmes gewesen.“ „Ich warte so lange und nehme dich mit.“ „Ian?“, kam dann jedoch die Frage des Schwarzhaarigen. „Hm?“ „Warum tust du das?“ „Was?“ „Ja, das. Du müsstest nicht hier sein“, stellte Nathan recht trocken fest und verkniff sich ein tiefes Seufzen. „Ich weiß, ich bin es aber. Ich mag dich.“ „Ian?“ „Hm?“ „Du bist ok. Zwar ein Arschloch, aber ok.“ „Du bist zu gut zu mir“, lachte Ian dann. Ein verwirrter Blick Nathans. „Wow, ich hätte nicht erwartet, dass du lachen kannst“, kam es perplex von dem Jüngeren, welcher den Kopf leicht schief legte. „Nein?“ „Nein“, bestätigte Nathan nur und sah, wie die Tür auf ging und eine Schwester ins Zimmer trat. „Ich warte draußen auf dich.“ 21. Mai 2011 - Konzertabend – Ok, ich werde gleich auf ein Konzert gehen, dachte er sich, stand vor seiner Reisetasche und starrte diese nur an. Was zur Hölle soll ich anziehen? Normalerweise machte er sich solche Gedanken nicht. Nur heute … Heute hatte er das Vergnügen auf ein Metalkonzert zu gehen, dementsprechend konnte er dort nicht erscheinen, wie er sonst immer herum lief. Wer weiß, ob die ihn dann nicht lynchen würden? Augen zu und durch, fügte er hinterher und zog einfach eine dunkelblaue Jeans heraus, die schon an den Knien einige Löcher vorzuweisen hatte. Ein schwarzes Shirt, das er mal von seiner Schwester bekommen hatte und dementsprechend einen recht bunten modischen Aufdruck hatte. Klasse. Umgezogen war er recht schnell, die Haare ließ er so und zog beim Verlassen seines Zimmers noch schnell die schwarzen Sportschuhe an. Hoffentlich brachte man ihn wirklich nicht um… Die Treppen waren recht schnell gemeistert – hatte er doch die Zerrung im Bein endlich hinter sich – und schon von weitem sah er Ian vor der Tür warten. Seine Schritte verlangsamten sich, ehe er die Tür aufzog und nach Außen trat. „War nicht die Rede von im Foyer und nicht davor?“, sprach er den brünetten jungen Mann an, welcher sich zu ihm umdrehte. „Hast mich doch gefunden, oder?“ Und es ging schon wieder los. Ian war wieder so gnadenlos humorvoll… „Natürlich. Da braucht man nur der arktischen Kälte folgen, die von dir ausgeht.“ „Danke.“ Ein schmales Lächeln erschien auf Ians Lippen und er zog seine Schlüssel fürs Auto aus der Hosentasche. „Trinkst du?“ „Nein… warum?“ „Hast du’n Führerschein?“ „Ja?“ Und schon wurde ihm der Schlüsselbund zugeworfen und Ian ging vor. „Warte mal!“, rief Nathan hinterher und blickte zwischen dem Bund und Ian hin und her. „Beweg dich einfach. So verletzt kannst du nicht mehr sein“, hielt Ian dagegen und kam vor einem dunklen Porsche stehen. Geschmeidig schwang er sich über die geschlossene Tür auf den Beifahrersitz und Nathan konnte erkennen, dass der Ältere ihn zu sich winkte. Verpeilt bewegte er sich dann ebenso auf den Wagen zu und starrte das Gefährt an. „Deiner?“ „Natürlich.“ „Wo hast du das Geld für diesen Wagen her?“ „Er war Schrott. Ein einziger Schrotthaufen. Mein Ex hat mir geholfen, ihn auf Fordermann zubringen.“ „Ok“, gab Nathan von sich, ließ sich ebenso in den Wagen gleiten und startete ihn wenige Sekunden später. „Sicher, dass du mich fahren lassen willst?“ „Du meinst, du trinkst nichts. Also brauch ich einen Fahrer. Ich vertrau dir mein Baby einfach an“, meinte Ian betont kühl und meinte es dementsprechend auch recht ernst. „Ich sag dir schon, wo du hin musst“, meinte der Brünette noch hinterher und erntete ein Nicken von Nathan. Es dauerte einige Minuten, ehe sie dort ankamen, wo sie hin wollten. Eine beachtliche Menge an Autos stand bereits auf dem großen Parkplatz vor dem Open-Air-Gelände und sehr viele Menschen schienen heute Abend hier her gepilgert zu sein. Nathan parkte den Wagen sicher ein, stieg aus und folgte Ian dann. Einige begrüßten den Älteren, bei einigen hielten sie an und Nathan lauschte den kurzen Gesprächen zwischen Ian und den Unbekannten. Es ging meistens nur darum, was passiert ist die letzten Wochen und halt diese typischen Smalltalk-Gespräche, die man halt so führte. Letztlich drängelten sie sich durch eine recht beachtliche Masse Menschen und kamen recht weit vorn in der Mitte zum Stehen. „Woher kennst du die alle?“ „Ich bin oft unterwegs. Die meisten-“ „Hattest du schon im Bett, alles klar“, beendete Nathan Ians angefangenen Satz. Warum fragte er überhaupt noch? Ian nagelte immerhin alles, was bei drei nicht auf den Bäumen war. Daher sollte er sich doch langsam mal solche Fragen sparen, oder? „Genau, woher weißt du das nur?“ „Neunter Sinn oder was“, antwortete er nur darauf und wollte nicht weiter darauf herum reiten. Ihn ging das Sexleben seines neu gewonnen Kumpels nichts an. Oder besser, er wollte nichts davon wissen. „Eine Frage noch, Nathan.“ „Bitte?“ „Hast du starke Nerven?“ „Ich hab Lindsay als Schwester. Ich denke, ja.“ Er erhielt ein zufriedenes, mattes Lächeln des Älteren, ehe dieser seinen Blick auf die Bühne richtete. Nathan tat es ihm gleich. Die Instrumente waren bereits aufgebaut und die Lichter an, nur von den Musikern war noch keine Spur zu sehen. Ob sie wohl eine Vorband hatten? Er würde es ja sehen… Einige Minuten verbrachte Nathan damit, sich ein wenig umzusehen und damit, ein wenig vor- und zurückzutreten, sobald einige Menschen begannen zu drängeln. Und spätestens als die ersten Weiber anfingen zu kreischen, so wusste man, das Konzert würde jetzt gleich anfangen. Die Lichter änderten sich und die erste Person kam auf die Bühne, trat hinter das Drumset und erhielt lautes Geschrei. Eine weitere Person erschien, fasste den Bass, hängte ihn sich um und riss in typischer Rockstarmanier schon einmal beide Arme in die Höhe und erhielt ebenso tosende Zustimmung. Zwei weitere junge Männer folgten und entpuppten sich als Gitarristen, danach folgten nur noch die beiden Sänger. Und der eine der beiden schoss für Nathan echt den Vogel ab. „Das ist A.J. Er wird sich dir auch so vorstellen – eigentlich heißt er Mike“, wurde ihm von Ian ins Ohr geflüstert. „Und der Gitarrist dort.“ Nathan folgte dem Fingerdeut des Älteren. „Das ist Seth, sein Freund. Die anderen werden sich dir nachher ohnehin vorstellen“, erklärte Ian noch und Nathan nickte. Die Stimmen der Sänger, bei ihrer Begrüßung, rissen ihn aus seiner Gedankenwelt. Jetzt würde es also losgehen… Zwischen harten Gitarrenriffs, Basssoli und bebenden Drumms, fühlte sich Nathan zunehmend fehl am Platz. Irgendwie war diese Art der Musik nicht seins. Die Art von Geschrei, Gesang und dem Text an sich, war nicht seine Welt. Er hörte nun einmal nicht Heavy Metal, konnte nicht einmal mit Rockmusik etwas anfangen und mit Pop konnte man ihn loswerden, wenn man wollte. Und diese Band schaffte es, all diese Elemente in sich zu vereinen und das hieß im Umkehrschluss, dass er diese Band von der Musik her nicht mochte…. Erst recht nicht die Zwischeneinlagen, die zwischen dem einen Gitarristen und dem Screamer vorkamen. Nichts gegen Schwule – wie gesagt – aber dennoch empfand er solchen Fanservice doch eher unangebracht. Es waren immerhin nicht nur irre Fangirls und homosexuelle Fans vorhanden. Nein, man glaubt es kaum, aber er stand hier als richtiger Mann zwischen all diesen kreischenden Wesen und dachte sich seinen Teil. Ein Song nach dem anderen und Nathan hatte mehr und mehr das Gefühl, schreiend davon laufen zu wollen. Und so langsam war er sich auch nicht mehr ganz so sicher, ob er überhaupt noch die Lust hatte, diese Irren da kennenzulernen. „Komm.“ Er hatte gar nicht mitbekommen, dass es bereits zu Ende war. Hatte er so lange vor sich hin gedacht und gehofft, dass es endlich ein Ende hätte, dass er das richtige Ende verpasste? Wow… Eine Hand fasste seine und es dauerte eine ganze Weile, bis er verstanden hatte, was Ian meinte. Auf dem Weg hinter die Bühne, hörte er die Frage: „Wie fandest du’s?“, von Ian. „Ist und bleibt nicht meine Musik“, sagte er und machte seine Hand aus der Ians los. „Und ich bin nicht gerade so davon begeistert, die jetzt kennenlernen zu müssen“, meinte Nathan ehrlich. „Du bist echt die totale Spaßbremse, Nath“, konterte Ian jedoch nur nüchtern und verpasste dem Schwarzhaarigen einen Schlag an den Nacken. „Und du bist’n Arsch.“ „Ich weiß das, aber danke, dass du mich daran erinnert, Babe.“ „Hm…“ Schweigend folgte Nathan ihm, bis sie endlich im ‚Backstage’-Bereich angekommen waren. Es sah aus … wie eine ganz normale beschissene Wiese. Nur dass so etwas wie eine Plane auf dem Boden lag und ein paar Tische herum standen, auf welchen wiederum irgendwelche Dinge standen, die dem Zeug glichen, welches Lindsay in ihrem Regal stehen hatte. Zudem fand man noch ein paar Klappstühle und ein paar Kisten Bier dort herum stehen. Nur von Musikern war keiner zu sehen. „Keiner da, wir können gehen.“ „Du bleibst hier“, sagte Ian, hielt ihn am Arm fest und zog ihn mit Leichtigkeit wieder näher zu sich. „Ich bin angemeldet. Die wissen, dass ich mit’nem Kumpel komme. Nur ‚Fans’ sind halt wichtiger, damit das Image bestehen bliebt“, wurde ihm erklärt und es war ein kellertiefes Seufzen von Nathan zu hören. Tja, da hab ich wohl Pech gehabt, dachte er sich und schob die Hände in seine Hosentaschen. Hieß es jetzt, hier herumstehen und warten? Hm, bestimmt. Nur hoffentlich dauerte das hier nicht zu lange… „Ian, Alter!“, hörte man es von hinten gut gelaunt und beide drehten sich zu der Stimme um. Ok, hatte dann ja doch nur… zehn Minuten gedauert… Nathans Blick fiel auf einen etwas kleineren jungen Mann, dessen Haare ungefähr schulterlang und pechschwarz waren. Er trug eines dieser Kopftücher, wie es bei den meisten Rappern üblich war. Ansonsten steckte er ohnehin in recht lockeren Klamotten. Ein engeres Shirt, dazu eine weitere schwarze Baggyjeans und weißschwarzkarierte Vans. Das war der Kerl, der hinterm Bass gestanden hatte, soweit sich Nathan erinnerte. Er hatte nicht aufgepasst… „David, hey“, gab Ian von sich und ein lockerer Handschlag, sowie eine lockere Umarmung fanden statt. „Und das ist?“ „Das ist Nathan.“ Angesprochner hob kurz die Hand und lächelte ein wenig gequält. Es würde jedem auffallen, dass er eher unfreiwillig hier war… „Jo, setzt euch. Die anderen kommen gleich hier her. Ich bin vor einer Horde wilder Weiber geflüchtet. Bier?“ Nathan lehnte ab, ließ sich in der Nähe zu Ian auf einen der Stühle fallen und hörte dann der folgenden Konversation zu, die zwischen Ian und dem Bassisten der Band entstand. Super. Er war nur der Zaungast. War vielleicht auch ganz gut so. Wenn es um Skaten oder BMX ging, konnte er nicht mitreden. Das war noch nie so sein Gebiet gewesen. Also hing er wie ein Schluck Wasser auf seinem Stuhl, drehte das leere Glas – in welchem gerade noch Wasser gewesen war – hin und her, das David ihm in die Hand gedrückt hatte. Sein Blick glitt durch die Umgebung, man hörte immer noch einige Stimmen der Fans, aber es dauerte nicht lange, bis amüsiertes Lachen und Stimmen näher kamen. Der Rest der Band gesellte sich ebenso zu ihnen. David sowie Ian erhoben sich, Nathan tat es ihnen gezwungener Weise nach. „Ian, Kerl, lange nicht mehr gesehen“, kam es von einem weißhaarigen jungen Mann, der auch gut eine Frau hätte sein können. So feine Gesichtszüge und eine weiche Art, sich zu bewegen. Er war der erste Sänger, das wusste Nathan auch noch in Verbindung zu setzen, aber ansonsten… „Jo, man!“ In den folgenden Minuten ging Nathan vollkommen unter. Während der fröhlichen Begrüßungszeremonie bekam er mit, dass der Weißhaarige Mikael hieß. Der Drummer, der ihn von der Haarfarbe an ein Stinktier erinnerte, hieß Sam. Der schwarzhaarige erste Gitarrist, dessen Hosen sicherlich aus einer Damenabteilung stammten und dessen Shirt mindestens zwei Nummern zu klein war, hieß Vivian und war eher etwas zurückhaltend. Mike, der Screamer, so wie Nathan von Ian wusste, war irgendwie der auffälligste Typ der ganzen Band. Er trug ebenso schwarze Haare, die jedoch auf der rechten Seite wesentlich länger waren als auf der linken und mit orange-roten Strähnen durchzogen waren. Er trug nur ein durchlöchertes Tanktop, durch welches man jedes der vielen Tattoos sehen konnte und eine zweifarbige Hose, ebenso zweifarbige Cowboystiefel. Irgendwie irritierte der Look des Screamers Nathan zunehmend. Der einzige, welcher Nathan einigermaßen menschlich erschien, war der zweite Gitarrist. Seth hieß er. Er hatte braun-schwarze Haare, trug normale schwarze Jeans, Chucks und ein T-shirt mit dem Bandlogo. Aber er schien wirklich der Normalste von allen zu sein… Nathan hatte sich inzwischen wieder gesetzt und hoffte, nicht aufzufallen oder gesehen zu werden. Aber seine Rechnung ging nicht auf. David, der kannte ihn ja immerhin schon, meinte allen Ernstes ihn vorstellen zu müssen. „Ian hat Frischfleisch mitgebracht“, gab der Bassist von sich und deutete auf den leicht verpeilten Nathan, welcher wirklich etwas unbeholfen zwischen den Leuten hin und her blickte, sich von seiner Position erhob. „Ähm, ja. Hi. Bin Nathan“, stellte er sich vor und kam sich beinahe peinlich vor, weil der Rest der Band ihn nur dämlich anstarrte. Letztlich war es Seth, welcher auf ihn zu kam, ihm die Hand reichte. „Seth“, stellte er sich noch einmal vor, lächelte ihn an. „Hat dir schon einmal jemand gesagt, dass du klingst, wie Andy, wenn du sprichst?“, sagte ihm der zweite Gitarrist und das Lächeln der gepiercten Lippen wurde breiter. „Wer zur Hölle ist Andy?“, fragte er perplex und kam sich total unwissend vor, als alle anfingen zu lachen. „Sag nicht, du hast noch nie was von B.V.B gehört?“ „Ich glaub, ich hab mal was über einen deutschen Fußballverein gelesen…“ Was darauf kam, war beinahe episch. Alle Personen, die um ihn herumstanden, schmissen sich beinahe auf den Boden, lachten und bekamen kaum mehr Luft. Nathan hingegen zog die Augenbrauen zusammen und bekam gar nicht mit, wie ihm geschah. Peinlich, das war das einzige Wort, welches ihm dazu einfiel. „Alter, mach dich nicht lächerlich“, kam es von Ian. „Du Arsch“, fauchte Nathan nur zurück. „B.V.B ist die Abkürzung für Black Veil Brides. Das ist eine Band, du Genie“, brachte David heraus und rang nach Atem. „Das ist echt episch. Wo hast du den denn aufgegabelt, Ian?“ „In meinem Hotel…“, gab jener als Antwort und jeder beruhigte sich wieder. „Ich hätte ihm einen Crashkurs verpassen sollen…“ Wie bestellt und nicht abgeholt, stand Nathan da und wünschte sich nur ein Loch, in welches er kriechen konnte. So etwas ist ihm ja schon seit Jahren nicht mehr passiert, dass er der Hauptgrund für einen Lachanfall war. „Jetzt beruhigen wir uns erst einmal, atmen alle tief durch und setzen uns.“ Nathan spürte, wie sich ein Arm um seine Schulter legte und sah dann zu dem recht groß gewachsenen Mike hinauf. Rote Augen sahen ihm entgegen und ein merkwürdig lässiges Lächeln erschien auf dessen Lippen. Nathan ließ sich auf den Stuhl fallen, spürte, wie Mike ihm auf die Schulter klopfte. „Kann ja nicht jeder in der Scene unterwegs sein“, wurde ihm von Mike gesagt und Nathan nickte leicht. Das war echt fies, wirklich. Auf seiner anderen Seite saß auf einmal Seth, welcher ihn nur aufbauend anlächelte und ihm gegenüber grinste sich Ian einen ab. In seiner eiskalten, arroganten Art, die der Kerl eben an den Tag legte. „Bist ja total verspannt, werd’ mal locker“, kam es dann nach einer Weile recht belustigt von Mike. „Ich bin total locker“, antwortete Nathan, jedoch wenig überzeugend. „Hm, merkt man. Kann es sein, dass du total unfreiwillig hier bist?“, fragte Seth nach, bohrte seinen Blick beinahe in Nathans Augen. Jener blickte nur leicht verpeilt in die grünen Augen seines Sitznachbarn und seufzte dann. „Ein bisschen, Ian hat mich ja nicht direkt gezwungen… Er meint nur, mich von anderen Musikgenres überzeugen zu müssen“, gestand der wohl Jüngste in der Runde und begann, auf seine Knie zu starren. „Ach, dann bist Du der Kerl, von dem er erzählt hat, der sich freiwillig prügelt?“, brachte Seth lachend heraus und hob die Augenbraue. „Dann bin ich das wohl, ja. Was hat er gesagt? Wenn’s mies ist, muss ich ihn töten“, lachte nun auch Nathan. „Nein, so schlimm ist es nicht, glaube ich“, hörte er von der anderen Seite und sah darauf folgend Mike groß an. „Was hat er gesagt?“ „Nichts eigentlich …“ „Hat er wieder gesagt, dass es nur zu gravierenden Hirnschäden führt?“, fragte Nathan nüchtern. „Ja“, kam es beinahe resignierend von Mike zurück. „Ach, das weiß ich schon.“ „Und die andere Sache?“ „Hm?“, machte Nathan darauf hin nur und sah zu Seth rüber. „Die Sache mit … du weißt schon.“ „Ach du meinst das“, kam es wissend von Nathan. „Ich bin nicht sein Typ. Und wenn, hätte er ohnehin nichts zu lachen“, grinste Nathan vor sich hin und wusste ganz genau, welches Thema Seth meinte. „Gute Einstellung“, lobte Seth ihn und tätschelte seine Schulter. „Wirklich gute Einstellung. Ian ist ja eigentlich ein ganz umgänglicher Typ, es sei denn, es geht zu weit. Wobei, küssen kann er gut.“ „Seth!“, motzte Mike gleich gespielt hysterisch drauf los. „Warst du mir untreu?“ „Aber natürlich. Jede Nacht, Schätzchen, jede Nacht in der wir nicht zusammen sind.“ Verwirrt blickte Nathan hin und her. „Ihr seid wirklich zusammen?“, fragte er. „Ja“, kam es im Chor von den beiden zurück. „Wie könnten wir nicht?“, hängte Seth hinterher. „Weiß nicht … Ian erzählt viel Mist, habe ich feststellen müssen.“ „Wir kennen uns seit 2006 und sind seit gut drei Jahren zusammen. Aber wann zur Hölle hast du Ian geküsst?“ Mike lehnte sich etwas nach vorn und sah über Nathan hinweg zu seinem Freund. „Wir haben Flaschendrehen gespielt, weißt du noch? Letztes Jahr Helloween? Ich habs ja nicht gewollt, aber ich musste ja“, hörte Nathan Seth sagen. „Du hast Dora küssen müssen – Davids damalige Freundin, erinnerst du dich?“ „Uh, erinnere mich bitte nicht daran“, knurrte Mike vor sich hin und winkte das Thema unter den Teppich. „Dir sei vergeben, Babe.“ „Mum hat schon recht, wenn sie die Schwulen ein merkwürdiges Völkchen nennt“, meinte Nathan zu sich selbst und sank in seinem Stuhl ein wenig nach unten. Gott, er würde mit diesen Menschen niemals klar kommen können. Nicht, weil diese schwul und komisch waren, nein. Weil sie einfach nur komisch waren. Irgendwie verstand er nicht, was in den Köpfen dieser Musiker vorging. „Merkwürdiges Völkchen? Wir haben nur Spaß am Leben. Das könnt ihr verklemmten Heteros ja nicht!“ „Das sagst du so vor dich hin, Alter“, konterte Nathan nur und blickte in Mikes rote Augen. „Sicher?“ „Natürlich haben wir Spaß. Manchmal…“ „Ha! Siehst du? Ist doch langweilig immer normal zu sein. Hast du mal in den Spiegel gesehen? Du siehst aus wie ein ganz normaler Typ. Voll Mainstream.“ „Soll ich etwa zum nächsten Frisör rennen, mir’n Sidecut scheiden lassen und mich tätowieren lassen, oder was? Danke, ich bin mit meinem Aussehen glücklich. Dann bin ich eben Mainstream“, hielt er gegen Mikes Aussage und erntete ein Lachen von der anderen Seite. Ein kurzer Blick zur Seite und er sah, wie Seth leise vor sich hin lachte und den Kopf in den Nacken fallen ließ. „Was ist daran so lustig?“, fragte er nach, hob eine Augenbraue und hoffte inständig darauf, dass wenigstens Seth so freundlich war, um ihm mal etwas mitzuteilen. „Die Tatsache, dass du einer der wenigen bist, die sich nicht verändern wollen. Aber dein Blick war einfach nur genial“, schaffte es Seth zu erklären und drehte seinen Kopf so, dass er Nathan direkt anblicken konnte, nachdem er sich beruhigt hatte. „Aber Mainstream ist voll out. Bist du bis dahin noch nicht gekommen?“, versuchte Mike es noch einmal, doch sagte der Blick des Screamers sofort aus, dass er wusste, dass er verloren hatte. „Lass ihn doch einfach, Mike. Du hast es bei mir auch nicht geschafft, mich zu überzeugen.“ „Nein? Wer hat sich denn letztes Jahr zum Piercer getraut? Hm, hm, hm?“ Nathan sah zwischen dem Pärchen hin und her, in dessen Mitte er ja nun saß und kam zu dem Ergebnis, dass sie einfach so verdammt unterschiedlich waren und dennoch so gut zusammen zu passen schienen. Zwar war es komisch für ihn, gerade in der Mitte eines schwulen Pärchens zu sitzen, aber es war irgendwie doch ok. Sie waren einfach… irgendwie normal. Auch wenn Mike so anders war, so speziell. Mit seinem Aussehen.... Mit dieser komischen, klischeehaft angehauchten schwulen Stimme. Wobei er ganz anders sang – das hatte er ja nun mitbekommen. Und Seth war so normal. „Und? Ich hab nur lange gebraucht, um mich zu entscheiden. Du weißt, dass ich eine Nadelphobie habe.“ „Nadelphobie? Hast du dich K.O schlagen lassen, als du da warst, oder was?“ Ein merkwürdiger Blick lag auf einmal auf Nathan. Wieder einmal wusste er nicht, was er falsch gemacht hatte, oder was er Falsches gesagt hatte. Langsam wurde es ihm echt zu komisch hier. Immer diese ewigen komischen Blicke, die ihn fragend und fordernd zugleich ansahen. Was sollte das? „Nein. Nicht wirklich. Ich hab einfach an was anderes gedacht…“ „Und das hat geklappt? Ich hab die Frau damals angestarrt, als sie mit dem Ding um die Ecke kam, als wolle sie mich umbringen…“, gestand er dann. An etwas anderes denken, wiederholte Nathan für sich im Kopf. Nein, damals hat das bei ihm nicht geklappt. Obwohl es im Endeffekt gar nicht so schlimm gewesen ist, wie er immer gedacht hatte. „Du hast Piercings?“ „Ja, im Moment nicht. Lippe ist von Innen noch nicht wieder ganz heil.“ „Scheiß Kampfsport was?“, grinste Mike ihn von der anderen Seite an und wippte mit der linken Augenbraue ein wenig in die Höhe. „Nein, einfach nur scheiß Deckung.“ „Du Freak.“ „Das muss echt der Richtige sagen, hier“, konterte Nathan nur. Doch trug auch er jetzt ein Lächeln auf den Lippen. So schlimm waren die ja doch nicht. Wobei, Mike und Seth waren nicht schlimm. David war ihm schon wieder ein wenig zu komisch und die anderen hatte er noch nicht so gut ins Auge fassen können… „Ich zieh mir eben etwas anderes an. Bin gleich wieder da.“ Seth erhob sich, trat aber kurz zu Mike und drückte diesem einen Kuss auf die Wange, flüsterte ihm noch etwas zu, ehe er mit einem schmalen Lächeln auf den Lippen in die Richtung des Tourbusses verschwand. Mike sah ihm noch kurz hinterher, ehe er sich wieder zu Nathan drehte. „Rauchst du?“, wollte Mike wissen. „Nein.“ „Kommst du trotzdem mit?“, wurde er von Mike gefragt. Und wenn er ehrlich war, war es vielleicht ganz gut, das Weite zu suchen. Mike war ja auch nicht gerade der beste Gesprächspartner, aber so gesehen, folgte er ihm doch gern. „Ok“, gab er von sich und erhob sich beinahe synchron mit dem Screamer. Langsam folgte er Mike, lief schweigend neben ihm her, während sie sich immer weiter von der kleinen Gruppe entfernten und in die nächtliche Welt dieses Parks oder was auch immer es war, eintauchten. Seine Hände in die Hosentaschen steckend, begann er, den Boden zu betrachten, auf welchem er lief. Seine Gedanken drifteten, wie so oft an diesem Tag, ab. In eine Richtung, die er selbst nicht ganz definieren konnte. Und die angenehme Stille, die zwischen ihnen herrschte, trug nicht gerade zu seiner eigenen Ablenkung bei. Das einzige, was ertönte – neben ihren Schritten und dem regelmäßigem Atmen – war das Klicken eines Feuerzeuges. Ein Blick zur Seite und er sah, wie Mike einen langen Zug an der Zigarette nahm, den Rauch aber wenig später auch wieder ausstieß. „Du willst irgendwas sagen. Spucks aus“, meinte Mike dann irgendwann ruhig, riss Nathan damit aber vollkommen aus seiner kleinen Gedankenwelt, in welcher er zu versinken drohte. „Will ich das?“ kam es zurück. „Ja, willst du.“ Leise seufzte Nathan. Mike wurde langsam gruselig. „Wie lange kennst du Ian?“ „Reicht lange genug?“ „Genauer wäre mir schon lieb. Ian geht mir damit schon auf die Nerven, wenn er nur in halben Sätzen spricht.“ „Ok… Im September zwei Jahre.“ „Und wie gut?“, fragte Nathan weiter und blieb stehen, als auch Mike stehen blieb. „Gut genug. Manchmal sogar zu gut. Warum?“ „Ich weiß nicht. Vielleicht, weil ich auch mal ein wenig mehr über ihn wissen will? Ich weiß gar nicht, mit was für einer Person ich es zu tun habe.“ „Mit einem Arschloch?“, kam die rhetorische Frage zurück und Nathan seufzte erneut. Damit hatte er schon gerechnet, wenn er ehrlich sein sollte. So kam Ian auch rüber. „Er ist kompliziert, drücken wir es mal so aus.“ „Das hab ich mir schon gedacht“, sprach Nathan seine Gedanken aus, zuckte angedeutet die Schultern und verkniff sich vorerst jegliche weiteren Kommentare. „Hm.“ „Dabei ist er eigentlich recht … human, wenn ich mir seine Verhaltensweise angucke…“ „Du kennst ihn noch nicht lange genug, Nath.“ „Nathan, bitte.“ „Nathan“, wiederholte Mike, grinste vor sich hin und schüttelte leicht den Kopf, ehe er einen weiteren Zug von der Kippe nahm. „Er mag jetzt noch ‚human’ sein“, sagte Mike, setzte das Human mit den Fingern in Anführungszeichen. „So wie du es nennst... aber glaub mir, er ist wirklich nicht leicht zu handhaben, der Gute. Manchmal, aber wirklich nur manchmal, ist er das absolute Gegenteil zu dem, was er jetzt ist. Jetzt ist er kühl, unnahbar und ‚geheimnisvoll’ wie viele es sagen. Aber manchmal, da gibt es Tage, da steht er halb verzweifelt vor einem und bittet darum, ihn einfach nur mal in den Arm zu nehmen.“ „Und das weißt du woher?“ „Erfahrung.“ „Oh…“ „Ja, oh“, lachte Mike jedoch nur trocken, aschte ab und setzte sich wieder in Bewegung, sodass Nathan ihm beinahe hinterher rennen musste. „Ian ist zwar älter als ich es bin. Aber manchmal erinnert er mich ein wenig an mich selbst, wenn ich ehrlich sein darf.“ „Darfst du“, kam es nur von Nathan zurück. Seinetwegen könnte man vor ihm einen kompletten Seelenstrip veranstalten, ohne dass es peinlich sein müsste. Wirklich. Vor allem, weil er alles, was man ihm sagte, ohnehin für sich behielt. „Früher, in der Zeit, als ich Seth kennengelernt habe, hatte ich mich selbst entschieden, eine Rolle zu spielen, in die ich nicht hinein passte – rein vom eigenen Gefühl her. Ich bin schwul – wie du ja schon weißt und das ist bei Gott nicht einfach gewesen. Damals hatte ich leichte Probleme mit mir selbst und einfach mit allem um mich herum. Bei Ian ist es nicht anderes. Ich weiß nicht, ob ich dir das sagen darf…“, fing Mike an, stoppte aber mitten im Satz, zog an der Kippe und blickte überlegend in den Nachthimmel. Ebenso blieb er stehen und hielt auch somit Nathan dazu an, stehen zu bleiben. „Ich werds schon nicht weiter sagen…“ „Er ist siebenundzwanzig, das weißt du?“ „Ja. Das hat er mir bereits gesagt.“ „Weißt du auch, dass er mal verlobt war?“, wollte Mike wissen, ließ seinen Blick wieder zu dem Kleineren neben sich wandern. „Nein, das wusste ich nicht… Wirklich?“ „Ja, wirklich. Ich habe sie zwar nie kennengelernt, das war vor der Zeit, in der ich ihn kannte, aber sie muss wirklich toll gewesen sein. Amanda hieß sie. Sie hatten sogar eine Tochter gehabt.“ „Er ist Vater?“ Überraschung schwang deutlich hörbar in Nathans Stimme mit. Ian war bei Gott nicht der Typ für eine Ehefrau, oder eine Verlobte und erst recht war er nicht der Typ für eine Familie – Kinder und … all das, was zu einem richtigen Familienleben dazu gehörte. „Er war Vater. Als er neunzehn war kam seine Tochter zur Welt – er ist also früh Dad geworden. Aber er hat sich wirklich bemüht.“ „Was ist passiert?“, wollte er wissen, nahm die Hände aus den Hosentaschen und verschränkte stattdessen die Arme vor der Brust. Neugierde? Ja, ein wenig. Er konnte sich wirklich nicht vorstellen, dass jemand, der so war, wie Ian, fähig war, eine Frau und Kinder zu haben. Wirklich nicht. Konnte Ian überhaupt lieben? So kühl wie er war, so trocken und emotionslos? Der sich durch die Weltgeschichte hurte und eine Frau oder einen Kerl nach dem anderen flachlegte? „Cassy, so hieß seine Tochter, hatte einen angeborenen Herzfehler. Einmal im Suff hat Ian davon erzählt gehabt. Eigentlich war es ein fröhlicher Abend gewesen, bis er das dann erzählte.“ „Was?“ „Er saß da, die Pulle Vodka in der Hand, blickte uns alle an und meinte dann, uns erzählen zu müssen, warum seine Tochter gestorben war. Aber das schlimmste war, was Cassy wohl gesagt hatte, als sie selbst wusste, dass sie sterben würde. Sie war erst fünf gewesen… Wie würdest du dich fühlen, wenn deine eigene Tochter sagt, dass du keine Angst und Sorgen mehr haben musst, weil sie auf dich aufpassen wird? Weil sie ja ein Engel werden wird?“ Nathan war sprachlos. Ohne irgendetwas zu erwidern blickte er einfach nur auf Mike, welcher einen letzten Zug an der Zigarette nahm, diesen auf den Boden schmiss und ein tiefes Seufzen ausstieß. „Ich hab beinahe geheult – ok, ich hab es nachher wirklich getan… Man guckt Ian immer nur vor den Kopf, denkt, er sei der harte Kerl, den nichts umhaut. Und dann das… Denk dir also bitte nicht zu viel bei dem, was er macht, ja? Eigentlich ist er total in Ordnung, ich glaube, dass es einfach nur ein Spiel ist, das er spielt, damit er nicht er selbst sein muss. Es nimmt ihn immer noch sehr mit. Ich weiß ja nicht, wie lange du gedenkst, hier zu bleiben oder mit Ian zu verkehren, aber urteile nicht zu hart über ihn ja? Und sein ewiges Gelaber vonwegen, er würde alles flachlegen, was nicht bei drei auf den Bäumen ist, ist absoluter Schwachsinn. Ich weiß von zwei experimentellen Beziehungen zu zwei Typen – der eine hat ihm beim Auto geholfen. Ansonsten hat er es mit Frauen versucht, aber bisher nie lange mit einer zusammen geblieben…“ „Also ist er gar nicht so’n Wichser?“ „Nein, nicht wirklich. Er ist nur ein begnadeter Schauspieler und das schon seit Jahren. Vielleicht sagt er dir mehr.“ „Warum sollte er das tun?“ „Weil er bisher noch nie jemanden mit zu einem Konzert gebracht hatte und meistens auch eher allein vorbei kam. Bist also eine große Ausnahme.“ „Soll ich mich geehrt fühlen?“, fragte Nathan spaßeshalber nach um die gedrückte Atmosphäre ein wenig zu lockern. Ein Versuch, der nur mäßig funktionierte. „Fühl dich wie du willst. Aber sprechen wir über was anders. Über dich zum Beispiel.“ „Da gibt’s nicht viel.“ „Nein? Wirklich nicht? Familie, Freunde, Freundin? Ich kann davon ausgehen, dass du keinen Freund haben wirst.“ Ein dämliches Grinsen erschien auf Mikes Lippen, als er diese Frage stellte und Nathan musste automatisch mitlächeln. „Familie kannste in die Tonne treten, Freunde habe ich nicht wirklich – ich habe keine Zeit dafür und eine Freundin kann ich auch nicht gebrauchen.“ „Sorry, aber… Jemand wie du hat keine Freundin?“ „Was ist daran so schlimm? Ich hab kein Bock auf’n Weib, das mir an den Hacken klebt. Ich hab andere Probleme!“ „Die da wären?“ „Verzeih mir bitte, aber das geht dich nichts an. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die gleich einen Seelenstrip abziehen. Dafür muss ich Menschen erst vertrauen können.“ „Ok, kann ich verstehen“, kam es nur von Mike. Nathan hingegen war überrascht. Normalerweise begannen die Leute spätestens an dieser Stelle richtig zu bohren. Aber das war bei Mike nicht der Fall. Es überraschte ihn wirklich. Aber auf der anderen Seite war er ganz froh, dass der Größere es einfach hinnahm und nicht weiter fragte. „Ich würde auch wildfremden Menschen nichts erzählen, was zu privat ist. Ich frage einfach in einem viertel Jahr noch mal nach.“ Langsam schlich sich ein Lächeln auf Mikes Lippen und Nathan nickte nur beruhigt. „Hast du Geschwister?“, kam der Screamer jedoch wieder auf das Familienthema zurück. Immerhin waren solche Informationen nicht zu privat und irgendwann wüsste man es ohnehin, ob da Geschwister oder was auch immer vorhanden waren. „Eine jüngere Schwester und einen Zwillingsbruder“, antworte Nathan nur ruhig darauf, setzte sich wieder in Bewegung und hörte, wie Mike ihn folgte. „Du hast ehrlich einen Zwilling?“ Jetzt war es Mikes Stimme, in welcher Überraschung mitschwang. „Ja. Ian konnte es auch kaum glauben. Aber so etwas gibt es wirklich.“ Ironie triefte aus den gesprochenen Worten des Sportlers. Warum konnten nur so wenige Leute glauben, dass er einen Zwilling hatte? Weil dieser nicht hier war? Weil er ihn nicht vorstellen konnte, oder woran lag es? „Haste den zu Hause gelassen?“ „Sozusagen, ja“, gab er von sich. Im Grunde war es so. Also, wenn man es von sehr weit entfernt betrachtete. Aber genaueres wollte er Mike dazu auch nicht sagen. Wie gesagt, es ging den Screamer nichts an, so sympathisch dieser auch noch sein mochte. „Und ihr seid euch wirklich ähnlich?“ „Vom Aussehen, ja. Von der Lebenseinstellung eher weniger. Er ist der Familien- und gleichzeitig Karrieremensch. Er mag solche Musik, die ihr macht. Er hält nichts von Streetdance, hat mich aber immer unterstützt. Er hat eine ganz andere Stimme als ich, spricht er etwas höher und weicher. Er ist ein bisschen kleiner, ein wenig schmaler gebaut. Aber sonst sind wir uns ähnlich“, erklärte Nathan. „Du tanzt?“, wollte Mike dann jedoch sofort wissen und Nathan strich sich die Haare zurück, schüttelte den Kopf. „Nein, nicht mehr. Ich habe vor... puh… ich glaube andertalb Jahren aufgehört und mich dem Muay Thai zugeschrieben.“ „Machst du das wirklich gern? Ich meine, is’ doch scheiße, sich freiwillig schlagen zu lassen.“ „Ich fahre nicht oft mit auf Turniere wie dieses hier. Eigentlich war das hier das größte, auf dem ich bisher war. Ich finde eher gefallen an dem Training in der Halle. Das Prügeln an sich hat nicht so den Reiz, aber es gehört dazu“, erklärte er ihm und zuckte erneut mit den Schultern. „Und es hat den Effekt, dass mich die Pisser aus meinem Viertel in Ruhe lassen. So fallen nervige Auseinandersetzungen schon einmal weg.“ Mike grinste auf diese Aussage hin nur und nickte wissend. „Respekt?“ „Den, den ich nie hatte, ja“, lachte Nathand darauf und auch Mike lachte. Es klang in den Ohren des Jüngeren merkwürdig, irgendwie hatte Mikes Lachen Ähnlichkeit mit einer Henne. Solche Glucksgeräusche gab nicht einmal seine Schwester von sich. Aber es passte zu Mike, es passte einfach zu ihm, genau wie die schrille und ungewöhnliche Erscheinung, die der Screamer an den Tag legte. „Nathan, wie alt bist du?“, hörte er die Frage, nachdem sie sich beide wieder etwas einbekommen hatten. „Nächsten Monat neunzehn. Warum fragst du?“ „Nur so. Du kommst mir irgendwie älter vor.“ Leicht seufzte Nathan auf und seine Schultern sanken eine Etage nach unten. „Nicht schon wieder.“ „Das ist doch nichts Schlimmes, Babe. Es ist nur so, dass du reifer wirkst, als die Bengel meiner Band, und die sind alle über zwanzig.“ „Ian sagte mir das auch schon. Nur mit der Begründung, ich sehe älter aus, als ich es bin.“ „Sag das mal meinem Freund. Der würde dafür töten, damit man ihn mal für fast vierundzwanzig hält.“ „Hätte ich jetzt aber auch nicht gedacht… Und du bist gerade zwanzig?“ „Pack noch zwei Jahre drauf und du bist richtig.“ Leicht schmunzelte Nathan vor sich hin. „Na dann. Jetzt fühle ich mich mehr fehl am Platz als zuvor. Danke.“ „Fehl am Platz? Nur weil du nicht in der Scene bist? Weil dich das nicht interessiert? Und wegen dem Alter?“ „Ja, ein bisschen.“ „Alter!“ Mike schlug ihm kumpelhaft auf die Schulter, ehe er ihm dem Arm darum legte und mit ihm zurück zum Tourbus ging. „Das ist mal überhaupt kein Grund sich bei uns Fehl am Platz zu fühlen. Ok, was David angeht, kann ich das nachvollziehen, aber ansonsten? Mikael ist recht normal, mit dem kannste dich auch unterhalten. Worüber auch immer, er ist ein wandelndes Lexikon. Mit uns kann man auch über andere Dinge reden, als Musik“, lächelte er zu ihm herunter. Ja, Mike war größer als Nathan. Eine gute Handlänge vielleicht. „Mach dir also keinen Kopf drum, ja? Ich für meinen Teil-“ Seine freie Hand legte sich auf seine Brust. „Bin froh mal jemand anderes kennenzulernen. Vor allem jemanden, der nicht wusste wer wir sind, hm? Es ist manchmal auch stressig, die Fans um sich zu haben.“ Kapitel 5: ... bis ich nur ein bisschen von dir ... --------------------------------------------------- Thanks to: Love ya ³ --------------------------------------------------------------------------------- --------- ... bis ich nur ein bisschen von dir ...--------- Ich sitze zwischen David und Mikael, höre den Worten Sams aufmerksam zu, als dieser über irgendwelche Dinge spricht, die seine Verlobte verzapft hat. Dana vermisse ich irgendwie. Diese ruhige und doch aktive Frau. Ich habe sie kennen gelernt, als ich auch die anderen kennen gelernt habe. Sie ist Frisöse, hat ihre Ausbildung schon lange fertig und will ihren Meister machen. Ich vermisse sie. Vor allem, weil sie immer gut darin ist, Stimmung zu machen, wenn es mal ein wenig lau wird. Gerade dann, wenn Mike und Seth nicht da sind. Normalweise sorgt nämlich der Screamer für die spaßige Unterlegung des Abends. Aber das ist ja gerade mit Nathan unterwegs. Worüber die beiden wohl reden… Aber will ich das wissen? Nein, nicht wirklich… Wo ist überhaupt Seth die ganze Zeit? Wie spät haben wir es überhaupt? Ich lehne mich auf dem Stuhl etwas zurück, ziehe mein Smartphone aus der Hosentasche und schaue nach der Uhrzeit. Halb zwölf. Das geht noch, wenn ich ehrlich sein soll. Ich verstaue es wieder in der Hosentasche, nehme meine Bierfalsche vom Tisch und trinke einen Schluck. Wie gut, dass ich einen Fahrer habe. Suchend gleitet mein Blick über die mit Dunkelheit überzogene Ebene, in welche Mike mit Nathan verschwunden ist. Es ist vielleicht ganz gut, dass sich Mike den Lütten zur Seite genommen hat. Ich glaube, David hätte ihn sonst noch in Grund und Boden gestampft. Ich bezweifle nämlich, dass sich Nathan wirklich verbal gegen David wehren kann. Er sagt ja selbst gegen meine Sprüche nicht viel. Manchmal bewundere ich den Screamer dafür, wie er ist. Er … ist alles, was ich nie sein kann. Er ist so offen für die Welt. Er siehst aus, wie er aussehen will. Er bekennt sich offen zu seinem Lover. Er kann lieben. Er … schließt sofort Freundschaften. Es würde mich nicht wundern, wenn Nathan mit ihm super klar kommt und auch mit ihm lachen kann. Das würde mich wirklich nicht wundern. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Vivian aufsteht und mit dem Handy am Ohr geht. Bestimmt ist seine Freundin jetzt gerade dabei, ins Bett zu gehen. Meistens ruft Leigh-Anne, so heißt Vivians Neue, immer um dieselbe Zeit an und wünscht dem Leadgitarristen süße Träume. Es folgt dann immer das gleiche Muster an Liebesbekundungen und was nicht noch alles, ehe Vivian glücklich lächelnd zurück kommt und den ganzen Abend nicht mehr aufhört, verträumt in der Weltgeschichte herum zu laufen. Im Grunde genommen geht mir dieses ganze Geturtel mächtig auf den Sack. Sam mit seiner Dana – dabei mag ich beide eigentlich ganz gern. Mike und Seth – wie gesagt, ich mag sie auch. Und dann Vivian und seinen Schwärmerein über Leigh-Anne. Ich frage mich jedes Mal, wie zur Hölle es sein kann, dass einfach alle um mich herum so verdammt lange mit einem Partner klar kommen. Ok, ausgenommen Vivian, der Kerl hat ja auf einmal Gefallen an Frauen gefunden. Freut mich, ehrlich gesagt. Und das schon wirklich lange. Wobei – ich will es nicht einmal wissen, wie sie es machen. Das interessiert mich nicht. Mikael hat wenigstens gar keine Beziehungen, oder er sagt es nicht. Das erfreut dann meine dunkle Seele ein bisschen. So weiß ich wenigstens, dass es einen Bekloppten auf der Welt gibt, der es gar nicht geschissen bekommt. Aber ich will ja nicht zu voreilig irgendwelche Schlüsse ziehen. Ich habe mich für Mikael noch nie wirklich interessiert und wenn ich ehrlich bin, ist der Kerl mir auch zu uninteressant, als dass sich das irgendwann mal ändern würde. Und dann bleibt da noch David. Diese kleine Schlampe. Der hatte definitiv schon mehr Weiber im Bett gehabt als ich es jemals schaffen würde. Jeden Abend eine andere im Schlepp und jeden Morgen eine andere Story. Ok, ob es nun wahr ist, ist eine andere Sache. Manchmal beginne ich mich im Bezug auf David zu fragen, ob er wirklich so der Hengst ist, wie er immer meint. Vor allem frage ich mich aber, wie er mit mir befreundet sein kann. Immerhin sieht er in mir einen richtigen Kumpel, der mit ihm auf einer Wellenlänge ist. Dabei weiß er von meinen Beziehungen zu einem Menschen des gleichen Geschlechts. Hierbei muss ich zugeben, dass es nicht lange gehalten hat, weil mich beide nicht wirklich lange fasziniert hatten und ich mich nicht wirklich an ein Gefühl von Liebe erinnern konnte. Aber immerhin hatte ich was mit einem Typen – ok es waren Zwei. Somit wären wir bei meinem Geständnis Nummer eins. Ich habe nicht gern und nicht viel etwas mit Kerlen. Das ist bei mir meistens die letzte Wahl, wenn sich nichts weibliches Williges findet. Heißt also, diese beiden waren meine einzigen männlichen Gespielen, die ich hatte und ich glaube, die ich auch jemals haben werde. Also habe ich nicht die Wahrheit gesagt. Ich weiß, ich bin ein grauenhafter Mensch. Ich bin und bleibe einfach derjenige, mit dem man am besten so gut wie nichts zu tun haben will und auch nicht hat. Das wäre die beste Lösung. Die leere Pulle lasse ich zu den anderen auf dem kleinen Tisch zurück wandern und nehme mir auch sogleich die nächste, öffne sie und nehme einen großzügigen Schluck daraus. Mein Zeitgefühl hat sich verabschiedet. Ich weiß nicht mehr ganz genau, wann Nathan wieder da war, aber er sitzt mir jetzt wieder gegenüber. Neben ihm sitzt Mike, auf dessen Schoß Seth sitzt. Die Stimmung ist verdammt gut. Ich höre von allen Seiten das Lachen der anderen, irgendwelche Kommentare auf irgendeinen Spruch, aber das einzige, was ich wirklich hören will, ist der unheimlich beruhigende Klang von Nathans markanter, männlich rauer Stimme, die zu mir durchdringt. Worum es geht? Gerade um Nathans Ausbildung. Kfz-Mechaniker will der Gute machen und so wie es sich anhört, hat er sich diesem Thema auch vollkommen verschrieben… Mit mir hat er sich darüber noch nie unterhalten. Ich bin doch auch selbst Schuld. Ich kann nicht wirklich auf Menschen zu gehen. Vor allem nicht auf welche, die ich mag. Und wenn ich es tue, dann endet es so, wie es halt mit Nathans ausgegangen ist. Er hält mich für einen absoluten Eisbrocken und ich schaffe es nicht, aus meiner Position heraus zu kommen. Wir sollten ohnehin auf Distanz bleiben. Nachher kommt mir noch in den Sinn, mehr von ihm zu wollen. Wer weiß, wozu mein kranker Verstand und mein eh schon geficktes Herz in der Lage ist? Ich will es gar nicht wissen, wenn ich ehrlich bin. Freundschaft kann ich von ihm wohl nicht erwarten – dafür haben wir nicht genug Gemeinsamkeiten. Ich weiß nichts von ihm, er nichts von mir. Wobei ich da im Umkehrschluss schon wieder mehr von ihm weiß. Ich weiß, dass er Familie hat, dass sein Bruder im Koma liegt. Ebenso weiß ich, dass seine Eltern nicht gut auf ihn zu sprechen sind. Aber er weiß rein gar nichts von mir. Nur meinen Beruf – den ich auch noch beschönigt habe, denn wer will schon mit einem Tanzlehrer befreundet sein? – und mein Alter kennt er. Ok, dass ich ursprünglich aus Orlando stamme habe ich ihm auch noch verraten, aber das wars dann auch schon. Ich richte meinen Blick auf meine rechte Hand, lege die linke aber über den dort befindlichen Schriftzug in Form eines Tattoos. Sinner habe ich mir vor Jahren dort tätowieren lassen. Umrahmt von einer schwarzweißen Blume. Es ist einfach das, was mich selbst am besten widerspiegelt. Alles, mein Leben, meinen Charakter, meine Denkweise… Wieder ein leises Seufzten. Seth geht an mir vorbei. Ich erkenne es an der weiten, grauen Hose die er nun trägt. Seine Hand legt sich kurz auf meinen Kopf, wuschelt durch meine braune Mähne. Das macht er öfters, damit ich ihn ansehe. Also hebe ich meinen Kopf, blickte ihm in die Augen. Er trägt ein Lächeln auf den gepiercten Lippen. So gern ich Piercings mag, umso mehr hasse ich sie an ihm. Er sah vorher, ohne diese silbernen Ringe, einfach besser aus. Niedlicher. Aber vielleicht war es auch gerade aus dem Grund? Ich weiß es nicht. „Nathan mag langsam nach Hause – oder ins Hotel… Du solltest auch fahren.“ Seine dunkle Stimme dringt zwar an meine Ohren, aber irgendwie kommt es nicht richtig an. Soll ich jetzt fahren? Wirklich? Will er mir sagen, dass ich scheiße müde aussehe? Ich kann seine Sprache immer noch nicht wirklich entziffern, obwohl ich ihn zwei Jahre kenne. „Hm“, gebe ich von mir, nicke und er lächelt nur weiter, streicht mir noch einmal über den Kopf und geht seinen Weg zurück in den Tourbus. Sofort sehe ich nach vorn, sehe Mike und Nathan da stehen, beide mit ihren Handys in der Hand. „Ich ruf dich an, wenn ich in Orlando bin“, höre ich Mike sagen. Mike hat Nathans Nummer. Gott, ich bin echt besoffen, glaube ich. Ich bin doch nicht echt leicht getroffen, dass ich Nathans Nummer nicht habe? Er wird sie mir auch nicht geben. Dazu mag er mich zu wenig. Es ist wirklich traurig. Mein Leben, meine ich. „Vielleicht kann man ja mal was trinken gehen, oder so.“ Du Trottel, Nathan trinkt nichts… Oder? Oh, mein Kopf ist voll. Voll mit Dingen, die überflüssiger nicht sein könnten. „Klar. Wenn du unauffällig genug bist dafür.“ „Ich kann neutral sein, glaub mir.“ Es folgt eine Umarmung der beiden – völlig kumpelhaft. Männlich, kann man schon beinahe sagen. Das kenne ich von Mike nicht einmal, der hat immer diese schwulen Verabschiedungen drauf, wie kein Zweiter. Wobei ich jedoch denke, dass es an Nathan liegt. Aber egal. Nathan kommt auf mich zu, ich erhebe mich und merke sofort, wie die Welt um mich herum ins Wanken gerät. Oder bin ich das? Wie viel habe ich getrunken? Das ist nicht mein Stil, besoffen zu sein. Eine starke Hand fasst meinen Oberarm und als ich hochsehe, steht da Nathan und hält mich nur mit einem Griff auf den Beinen. Er sieht wirklich nicht nur so aus, als hätte er Kraft. Nein, er hat sie. „Ich bring dich ins Bett, Ian“, sagt er ruhig, ich nicke nur benebelt. Er blickt über die Schulter, wünscht den anderen noch einen schönen Abend und führt mich dann zum Auto. Ich habe das Gefühl, als würde der Boden unter meinen Füßen immer mehr und mehr nach vorn oder zur Seite kippen, sodass ich mich an seine Seite drücke, hoffe, dass ich nicht kippe. Sein Arm legt sich um meine Schultern. Ich spüre seine Nähe und seine Wärme so intensiv, das ist nicht normal. Als wir am Wagen ankommen, lehne ich mich an das kühle Metall, höre die Schlüssel viel zu laut klimpern. Und auch die Tür wird viel zu laut aus dem Schloss gerissen. Ich schließe kurz die Augen, bemerke aber, dass jemand vor mir steht. Er ist es. Wer auch sonst. „Alles ok?“, fragt er ruhig nach. Ich nicke nur. Abgesehen von dem Punkt, dass sich alles dreht, geht es mir gut. Ist ja schon peinlich genug, dass ich mich überhaupt so gebe. Ich hätte mich besser im Griff haben müssen. „Wirklich? Du siehst scheiße aus.“ „Danke, ich glaube, das weiß ich selbst“, versuche ich giftig rüber zu bringen, aber meine Zunge ist mit einem Mal so schwer, dass ich’s kaum richtig heraus bekomme. „Komm her“. Er zieht mich vom Auto weg, aber nur kurz, denn nur wenige Sekunden später merke ich, wie er versucht mich in den Wagen zu bekommen. Ich lasse mich ein wenig zu früh fallen, ziehe ihn somit beinahe hinter mir her. Dennoch kommen wir beide ins Stolpern und landen schließlich beide auf dem Beifahrersitz. „Sorry“, murre ich nur vor mich hin, kann nur hoffen, dass er es verstanden hat. Aber ich sehe, wie er nickt und sich dann zurück stützt, sich aufrichtet und dafür sorgt, dass meine Füße den Weg ins Auto finden. Dann schlägt er die Tür zu. Ich rutsche auf meinen Sitz hin und her, sehe zu ihm, als er eingestiegen ist. Sein Blick liegt auf mich, dann seufzt er und lehnt sich über mich, greift nach dem Sicherheitsgurt. „Nathan.“ Meine Stimme klingt fremd in meinen Ohren und diese Tatsache verwirrt mich. Er hält in seinem Tun inne, blickt mir direkt in die Augen und sein Gesicht ist so nahe an meinem. Es wäre so einfach. Es wäre so einfach, ihn jetzt zu küssen. „Was?“, fragte er mich. Ich antworte nicht, habe ich doch vergessen, was ich eigentlich sagen wollte… Es klickt, der Blickkontakt bricht und er sitzt wieder gerade auf dem Fahrersitz. Die Fahrt über bekomme ich so gut wie nichts mit, erst als wir am Hotel angekommen sind und er mich anspricht, werde ich wieder einigermaßen klar in der Birne, jedoch scheitere ich selbst bei dem Versuch, den simplen Sicherheitsgurt zu lösen. Nathan übernimmt das für mich. Ich frage mich, warum er das überhaupt alles macht. Er hätte mich auch einfach in den Kofferraum verstauen können, stattdessen aber kümmert er sich richtig um mich. Er hilft mir aus dem Wagen, hält mich sicher auf den Beinen. Ich glaube, es ist noch schlimmer geworden und ich bin richtig froh, dass es Nathan ist, der mich führt. Jeder andere wäre mit Sicherheit hin und her getaumelt, bei meiner Wankerei… 22. Mai. 2011 - Der Morgen nach dem Konzert - Am nächsten Morgen werde ich relativ schwer wach. Die Sonne ist zu hell, als sie direkt auf das Bett scheint, in dem ich liege. Es ist wärmer als sonst neben mir, was mich dazu veranlasst, mit noch geschlossenen Augen neben mich zu tasten. Das Kissen war bestimmt auch mal weicher gewesen… Aber spätestens als meine Hand sich bewegt und ich eine Wärmequelle unter ihr spüre, weiß ich, dass ich nicht allein im Bett bin. Meine Finger ertasten unter dem dünnen Stoff des Shirts Muskeln – ich liege also neben einem Mann… Meine Augen öffnen sich minimal, kurz blinzle ich etwas, ehe ich erkenne wer da neben mir liegt. In wessen Armen ich die Nacht verbracht habe. Scheiße, was ist gestern passiert, an das ich mich nicht mehr erinnere? Was macht Nathan hier? Schlagartig bin ich wach, setze mich auf und reiße aus Reflex die Decke etwas in die Höhe. Ok, gut… Er trägt seine Shorts, ich trage meine Shorts… Ein blick neben das Bett – auch nichts. Gut. Dann habe ich nicht mit ihm geschlafen, ohne mich nicht daran erinnern zu können. Das beruhigt mich. Langsam lasse ich mich zurück fallen, versinke beinahe in den flauschigen, aber kalten, Kissen. Es war doch wesentlich angenehmer, neben ihm zu schlafen. Wie spät ist es überhaupt? Ach, scheiß auf die Uhrzeit… Ich drehe mich so, dass ich ihn ansehen kann. Dass ich irgendwann mal neben ihm aufwachen würde, hätte ich echt nicht gedacht. Der Fakt, dass nichts groß passiert ist, ist mir irgendwie nur recht. Wer weiß, wie er reagieren würde, wenn er wach würde? Würde er überhaupt zu lassen, dass was passieren würde? Ich bezweifle das doch sehr. Aber dennoch wundert es mich, Nathan hier vorzufinden… Ich versuche, meine Erinnerungen an gestern wieder herzustellen. Wir waren auf dem Konzert und nachher bei der Band gewesen… Ich weiß noch, dass Nathan mit Mike unterwegs war. Und dann waren da die vielen Bierfalschen… Und ab da ist gar nichts mehr in meinen Kopf. Wie lange ist es her, dass ich den letzten Filmriss hatte? Seitdem ich clean bin, überhaupt nicht mehr… Meine Gedanken werden beendet, als sich der Schwarzhaarige neben mir rührt, den Unterarm über die Augen legt und erst einmal so liegen bleibt. Ist er jetzt wach? Oder schläft er immer so weiter. „Ian“, knurrt er jedoch und das ist meine Bestätigung, dass er wach ist. „Wie spät?“ Das weiß ich doch selbst nicht. „Keine Ahnung.“ Er stöhnt genervt auf, setzt sich aber wenig später auf und streicht sich die Haare nach hinten. „Was machst du in meinem Bett?“, frage ich dann nach. Ich will das wissen… Es muss ja einen Grund haben… Aber bevor er mir antwortet, reibt er sich über die Augen, rutscht etwas höher an das Kopfende und lehnt sich dagegen. Die Decke rutscht von seinen Beinen, wird aber auch sogleich noch weiter weggetreten und er winkelt sein rechtes an. Gott, das erinnert mich an die vielen Morgende, die ich mit Alexej verbracht habe. Er hat sich morgens auch immer so ans Kopfende gesetzt und mich dann angesehen. „Du warst stockbesoffen“, bringt er hervor. Seine Stimme klingt noch rauer als sie es sonst schon ist. „Ich hab dich irgendwie ins Hotelzimmer bekommen, so wie du am Stolpern warst, ist das eine Kunst für sich gewesen… Ich hab dir aus den Klamotten geholfen, da du dich beinahe mit deinen Schuhen umgebracht hast und dann wolltest du meine Hand nicht mehr los lassen, sodass ich gezwungen war, hier zu bleiben.“ Er schmunzelt leicht, als er mir das sagt. Aber irgendwas ist anderes bei ihm. Ich weiß nicht was, aber er sieht mich nicht mehr in dieser Weise an, wie er es zuvor immer getan hatte. „Oh..“ „Ja. Durchaus oh. Ich hätte nie damit gerechnet, dass du so viel Nähe benötigst.“ Soll mir das jetzt peinlich sein? Doch ich verdrehe nur die Augen, gebe ein: „Ich war besoffen“, von mir und will damit das Thema unter den Tisch kehren. „Hast du jetzt mal eine Uhrzeit?“, wiederholt er seine Frage von vor ein paar Minuten noch einmal und ich seufze nur. Will er weg? Muss er weg? “Warum hastes so eilig?” “Ich wollte vor Abend zu Hause sein.“ „Warum?“ „Ich wollte noch kurz bei Blake vorbei fahren.“ „Bei deinem Bruder?“ Die Frage ist überflüssig, das weiß ich auch. Aber er nickt, tut es so ab, als hätte ich den Namen seines Zwillings bereits vergessen. Langsam setze auch ich mich auf, lehne mich an das Kopfende und greife nach dem Samsung, welches sich komischerweise auf dem Nachttisch befindet… Hab ich das da hingelegt? „Wir haben es kurz vor neun“, sage ich dann, lege das Smartphone zurück auf den Tisch und sehe ihn an. Er scheint zu überlegen, gibt dann ein Seufzten von sich und steht auf. Moment, will er jetzt einfach so gehen? „Fährst du jetzt?“, will ich wissen. „Ja. Ich brauche ungefähr zwei Stunden, wenn ich gut durch komme.“ „Und deine Schwester?“ „Die ist gestern mit Cooper und den Jungs gefahren. Sie hat mir den Wagen hier gelassen.“ „Ok… Nathan, bekomme ich deine Handynummer?“ Ich würde gern mit ihm in Kontakt bleiben und das geht ohne Handynummer nicht. Doch so wie er mich ansieht, werde ich sie wohl nicht bekommen. „Nein.“ Seine Stimme ist genauso kühl wie meine es auch ist. Ich weiß nicht genau warum, aber es ist komisch. Warum spricht er auf einmal auf diese Art und Weise mit mir? Vor allem warum so plötzlich, gerade war doch auch noch alles ok und jetzt? „Warum?“, will ich wissen. „Weil es so ist. Du wirst meine Nummer nicht bekommen. Dafür musst du dich ein wenig mehr bemühen.“ „Aber Mike bekommt sie einfach so, oder was?“ „Mike ist auch anders als du es bist, Ian. Ich will nicht von dir angerufen werden oder SMS’ lesen müssen, in denen du mich mit deiner Art nervst, ok?“ Man, er ist ja ein richtiges Arschloch, wie ich merke. Oder … ist er nur so zu mir, wie ich eigentlich zu ihm bin? Er scheint doch nicht so blond zu sein, wie ich immer dachte. Eigentlich muss er ja sogar richtig was in der Birne haben. Es ist selten, dass man mir einen Spiegel vorhält, damit ich weiß, wie andere sich fühlen. Ich weiß, mein Verhalten ist bei Zeiten richtig scheiße. Aber was tut man nicht alles dafür, damit man nicht genervt wird, hm? Ich gehe mit meiner Art nur nervigen Fragen aus dem Weg. Fragen, die ich nicht beantworten will und auch nicht kann. Mir geht es einfach nur auf die Nerven, wenn man mich nach meinen Befinden fragt, oder meinem Tag oder was auch immer. Alle Fragen gehen mir auf den Sack, die meine Person betreffen. Also halte ich lieber alles hinter der dicken Fassade verschlossen. „Zeig dich mal von einer anderen Seite und sprich nicht so herablassend mit mir. Dann können wir über einen Handynummeraustausch noch einmal reden.“ Er verlangt ernsthaft von mir, dass ich mich ändere? Für ihn? Was denkt er sich eigentlich? „Das ist nicht dein Ernst, oder?“ „Sieh mich an und stell die Frage noch mal. Sehe ich aus, als würde ich Späße machen?“ Er soll nicht so ernst gucken. Herr je, Nathan lächle! „Verlang doch was du willst“, kommt es nur ruhig von mir und ich stehe ebenso auf. Ich hab keinen Bock auf eine Konversation in dieser Art und Weise. Ich habe nur gerade das Gefühl, dass ich mich in ihm getäuscht habe. Dass ich mich in ihm unendlich getäuscht habe. Aber nicht so, dass ich enttäuscht wäre. Nein. Es ist eher so, dass ich jemand anderes erwartete. Ich habe gedacht, Nathan wäre jemand, der zu allem ja und amen sagt. Aber da habe ich mich getäuscht. Ich will seine Handynummer – ich bekomme sie nicht, weil ich ihn zu arrogant und kühl bin. Damit kann ich mich abfinden, aber ich kann mich nicht damit abfinden, dass er mit einem Mal solche Widerworte gibt. Er wehrt sich. Bewundernswert auf der einen Seite, denn das ist mitunter der größte Punkt, den ich von ihm niemals erwartet hatte. Aber es gefällt mir. Es gefällt mir, dass er auch so sein kann, wie er gerade ist. Auch Nathan kann kühl sein, kann autoritär wirken… Ich weiß nicht, was das für eine Person war, die ich vor ein paar Tagen kennen gelernt habe, auf dem Flur. Aber das hier ist nicht die gleiche Person. Ich muss zugeben, den Tag, als wir zusammen ein bisschen trainiert hatten und ich gesehen habe, dass er wirklich tanzen kann, da war er auch schon ganz anders. Auch, als er im Viertelfinale herausgeflogen ist. Doch davor? Immer wieder kam er so …verwirrt rüber. So, als würde er seine Welt gar nicht wirklich verstehen. Dabei denke ich aber, gerade jetzt, dass er mehr von allem versteht, als man ihm vielleicht ansehen möchte. Und das fasziniert mich gerade so. „Dann trennen sich unsere Wege jetzt hier?“ „Werden sie wohl, da ich nicht nach Orlando kommen werde“, gebe ich von mir und antworte somit auf die Frage, die er mir gerade stellte. Nein, ich werde da nicht mehr hin zurückkehren. Meine Familie lebt dort, die muss ich nicht wieder sehen. Meine Probleme leben da, denen kann ich gern aus dem Weg gehen und … Es leben dort Erinnerungen, die ich am liebsten vergessen würde. „Aber vielleicht kommst du nach Cape Coral“, schlage ich vor. „Was ist denn in Cape Coral?“ „Ein kleines Open-Air, nächsten Monat. Mike und Co. werden auch dort sein.“ Er scheint zu überlegen. „Vielleicht.“ Mit einem Seufzten schmeißt Nathan die letzten Teile in seine Tasche, ehe er das Zimmer verlässt. Endlich geht es wieder in die Heimat. Aber endlich? Freuen tat er sich nicht wirklich darauf, seine Eltern wieder zu sehen. Sein Vater freute sich sicherlich auch nicht über seine Anwesenheit und seine Mutter wäre wieder nur noch am weinen. Er verkraftete das alles nicht mehr. Es machte ihn völlig fertig. Das alles. Es gab keinen Punkt mehr, an den er sich halten konnte. Nichts, was ihm mehr auf den Beinen hielt. Die Tatsache, dass Blake nicht wach wurde, riss ihn immer tiefer in die Dunkelheit, sodass es ihm immer schwerer fiel, sich überhaupt in seine Rolle zu schmiegen, die er spielte. Er müsste mit Cooper reden. Seitdem er den Tag rausgeflogen war, hatte er mit seinem Trainer kein Wort mehr gewechselt. Er müsste sich entschuldigen und sicherlich würde auch Cooper sich bei ihm entschuldigen. Es war immer so. Aber Cooper war nun einmal die einzige Person, mit der er über alles reden konnte. Selbst über die Dinge, über die er mit seiner Schwester nicht reden konnte. Langsam ging er den Flur entlang, stieg die Treppen nach und nach herunter und hielt bei der Rezeption kurz an. Die junge, blonde Frau dahinter lächelte ihn freundlich an, nahm die Zimmerkarte entgegen und checkte ihn aus. Nathan wünschte ihr einen schönen Tag, lächelte ihr ebenso leicht entgegen und verließ das Hotel. Warm schien die Sonne auf seine Haut. Die Luft schien zu stehen, kein Wind strich durch seine Haare und er hatte das Gefühl, gleich unter eine kalte Dusche zu müssen. Er hasste diese unerträgliche Hitze, die dieser Teil der USA gern mal hatte. Auf jeden Fall war es für ihn unerträglich. Mit einem kellertiefen Seufzten schulterte er seine Tasche, zog den Autoschlüssel aus seiner Hosentasche hervor und steuerte seinen schwarzen Chevrolet an. Und einmal mehr bereute er, diesen Wagen in dieser Farbe gewählt zu haben. Vielleicht sollte er ihn umlackieren – in weiß oder so. Dann sog dieser Wagen die Hitze nicht so auf… Vielleicht wäre das die Idee… Die Tasche landete lieblos im Kofferraum, er selbst ließ sich mehr als schlecht gelaunt auf den Fahrersitz gleiten und startete den Wagen. Doch schaffte es das kräftige Schnurren des Wagens, Nathan ein wenig zu beruhigen. Sein Auto war schon immer das Einzige gewesen, das ihn nicht verließ und das ihm auch nicht genommen werden konnte. Denn dieses Baby gehörte allein ihm und er hatte es auch allein wieder auf Fordermann gebracht. Den Rückwärtsgang einlegend, parkte er aus, wechselte den Gang und fuhr auf die Straße auf, die ihn in die Heimat bringen würde. Nach einigen Stunden Fahrt parkte er seinen Wagen neben dem Van seines Vaters auf dem Hof vor dem Wohnblock und stieg aus. Er wollte gar nicht in die Wohnung gehen. Er wollte seine Eltern nicht sehen. Die Tür des Wagens wurde abgeschlossen, er nahm seine Tasche aus dem Kofferraum und stieg die metallene Treppe hinauf und schloss wenig später die hässlich grüne Tür auf, welche zu seiner Wohnung führte. Sofort stieg ihm der Geruch von Essen in die Nase, er hörte das Klimpern von Besteck und ebenso hörte er Stimmen. Seine Tasche einfach im Flur liegen lassend, steifte er die Sportschuhe von seinen Füßen und ging langsam in die Küche. Am Esstisch, der sich in dem kleinen Raum befand, saßen seine Eltern, Lindsay und deren Freund Derek. Alles an sich gar nicht so schlimm… Viel schlimmer war die Tatsache, dass nur für vier Personen gedeckt war. Dass nur vier Stühle am Tisch standen und Derek auf seinem Platz saß… Es war ja nicht schon schlimm genug, dass man den fünften Platz weggeräumt hatte, da seine Familie nicht damit klar kam, dass Blake nicht mehr mit ihnen hier aß, aber das schoss den Vogel für ihn ab. Dabei wusste seine Familie, dass er heute nach Hause kam. Sie wusste es … Oder? Vier Augenpaare sahen ihn an, als habe er sich in der Wohnung geirrt. „Hey, Nath“, meinte Lindsay aber, ließ ihre Gabel liegen und stand auf. „Hi“, gab er nur leicht überrascht von sich, nickte Derek zu. „Was macht der hier? Seit ihr nicht sonst immer bei ihm?“, fragte Nathan auch gleich und sah den brünetten jungen Mann an, welcher sich Lindsays Freund schimpfte. Dieser möchtegern Quarterback, der ohnehin nichts im Ei hatte und immer nur einen auf dicke Hose machte, sobald Nathan ihm gegenüber stand. Er hasste diesen Typen. „Aber zu Hause is’ dicke Luft, Alter. Also mach mal nich’ so’n Wind, wohnst ja immerhin nich’ allein hier“, konterte der Brünette und zog seine Freundin zurück auf den Stuhl. „Habe ich dir schon einmal gesagt, dass ich dich und deine Fresse nicht abkann?“, hielt Nathan dagegen. „Babyface.“ „Jungs, hört auf.“ „Dad, was macht der hier?“, fragte Nathan genervt nach, hob die Hände leicht zur Seite. „Wir haben ihn gefragt, ob er nicht mit uns essen möchte, als er vorbei kam, um Lindsay abzuholen. Wir dachten, du kommst erst morgen…“, erklärte ihm seine Mutter und es war ein tiefes Seufzen das von Nathan zu hören war. Sie hatten es also doch vergessen, dass er heute nach Hause kam. Wunderbar. Was suchte er also noch hier? Immerhin war es nicht das erste Mal, dass man ihn vergaß. Es war nicht das erste Mal… bei weitem nicht… „Schön“, sagte er. „Schön“, wiederholte er nur und zuckte die Schultern. „Ich weiß schon, warum ich so gern daheim bin.“ Ohne auf die Reaktionen seiner Eltern, seiner Schwester oder Dereks zu warten, machte er auf den Hacken kehrt, nahm seine Tasche vom Flur und ging in sein Zimmer. Alle Klamotten, die er die Tage über mit in Jacksonville hatte räumte er aus, packte die frische Kleidung ein. Seinen Laptop stopfte er in die dazugehörige Tasche und zog den Reisverschluss seiner Reisetasche zu. „Nathan!“, hörte er seine Mutter rufen. Seine Zimmertür öffnete sich und seine Mutter kam im Rahmen zum stehen. „Was machst du?“ „Meine Sachen packen. Ich werde vorübergehend bei Cooper wohnen.“ „Aber, Schatz.“ „Mam, tu nicht immer so, als würdest du mich hier haben wollen, ja? Du willst es nämlich nicht.“ Er schlüpfte in die schwarzen Vans, schulterte seine Tasche und ging an seiner Mutter vorbei. „Nathan. Du kannst nicht einfach gehen – wir sind doch eine Familie!“ „Mam, die Familie, die du meinst, die gibt es seit Jahren nicht mehr“, kam es kühl von ihm zurück. Nein, eine Familie, wie seine Mutter sie sich vorstellte, war vor Jahren zerbrochen. Und richtig kaputt gegangen ist sie, als das mit Blake war. Ab da ging doch alles nur den Bach runter. „Nathan… Bitte. Bleib hier, rede mit mir.” „Hier bleiben? Hier? Wo man denkt, ich komme nicht mehr nach Hause? Ich werde nicht mehr nach Hause kommen, so lange, bis man mir sagt, dass man mich hier haben will.“ Er würdigte seiner Mutter keinen Blick, ging einfach an ihr vorbei und den Flur herunter. Sein Vater hatte sich gar nicht aus der Küche heraus bewegt und auch Lindsay stand nur sprachlos in dem Rahmen zwischen Flur und Küche. Es tat ihm Leid für sie, aber er konnte es nicht ändern. Und auf diese Weise konnte er wenigstens einer Diskussion mit seinem Vater aus dem Weg gehen und heute hatte er bei weitem keine Lust darauf, sich mit seinem Alten in die Flicken zu bekommen. Da ging er lieber und sorgte somit dafür, dass es keinen weiteren Ärger gab. Er war ohnehin fertig genug, da brauchte er das nun wirklich nicht. Die verzweifelten Rufe seiner Mutter ignorierend, verließ er die Wohnung, hastete die Treppen hinunter und schloss seinen Wagen auf. Jetzt blieb nur noch zu hoffen, dass Cooper auch da war, wo er hoffte, dass er es war… Kapitel 6: ... verstehen kann. ------------------------------ Thanks to: [[ Arisa_abukara]] Love ya ³ --------------------------------------------------------------------------------- --------- ... verstehen kann. --------- - 24. Juni. 2011 – Klirrend flog der Maulschlüssel auf den Werkzeugwagen zurück, dreckige, verölte Hände wurden an dem schmierigen Handtuch abgewischt, das am Gürtel hing. „Nathan, mach Feierabend“, rief ihm eine weibliche Stimme zu. Langsam ging er unter der Hebebühne hervor, blickte die Treppe hinauf und sah die Tochter des Meisters dort stehen. Nicki, eine bald dreißig jährige Frau, mit langen, schwarzen Haaren, braungrünen Augen und einer super Figur, stand dort und zog gerade den Reißverschluss ihres Overalls auf. „Ich brauch nicht mehr lange…“, antwortete er. „Dann schließ aber ab und sei Montag zehn Minuten früher hier, da du den Schlüssel hast!“, kam es zurück und Nathan nickte leicht für sich, lächelte. Nicki war cool. Er arbeitete gern mit ihr zusammen. War sie doch selbst auch schon Meister und seine Ausbilderin. Dabei war es eher unüblich, eine Frau in diesem Beruf vorzufinden. Immerhin war die Arbeit in einer Werkstatt nicht die leichteste, die man sich vorstellen konnte. Damit verlor er die Dunkelhaarige auch aus dem Blick und wendete sich der Unterseite des Wangens zu, an welchem er gerade arbeitete. Das einzige, was er noch hörte, war wie die Hinterhofstür zuschlug, dann kehrte Ruhe in die große Werkstatt ein. Bis auf das wenige Klimpern und das leise Surren der Lampen an der Decke, herrschte absolute Stille. Immer wieder klimperte es ein wenig, wann immer er die Werkzeuge zurück legte oder tauschte. Schmierstreifen hatten sich inzwischen auf seiner Stirn und seiner Wange eingefunden, da er sich die Haare versucht aus dem Gesicht gestrichen hatte. Jedoch sorgte das Klacken von Absätzen auf dem glatten Estrichboden dafür, dass er in seiner Bewegung inne hielt und über seine Schulter sah. Langsam kam seine Schwester in die große Halle spaziert. Die Hände in den Taschen des großen, viel zu weiten Pullis versteckt, wirkte sie etwas verloren, als sie nur wenige Schritte von ihm entfernt stehen blieb. „Hallo, Nathan“, gab Lindsay von sich, sah ihn kurz an, ehe ihr Blick auf den Boden glitt. „Hey. Was machst du hier?“ „Ich wollte wissen, wie es dir geht. An dein Handy gehst du ja nicht mehr und … du warst nie bei Cooper, wenn ich da war“, erklärte sich die Rothaarige. Nathan seufzte nur leise, legte alles zurück und ging auf sie zu. Seine Finger wischte er an seinem Overall ab, strich ihr dann vorsichtig eine Strähne hinter die Ohren, die sich gelöst hatte. „Warum trägst du meine Klamotten?“, fragte er ruhig nach. Natürlich freute er sich, seine Schwester zu sehen. Vor allem nach den Wochen, in denen er den Kontakt zu seiner Familie gemieden hatte. „Weil ich dich vermisst habe…“ „Macht man das nicht eigentlich nur, wenn man seinen Lover vermisst?“ Ein dämliches Grinsen legte sich auf seine Lippen, doch er erhielt dafür nur einen Schlag auf seine Brust von seiner Schwester. „Vor allem stehen dir meine Hosen nicht.“ „Nein? Ich dachte, das wär mal was anderes… aber ich musste ein paar Löcher mehr in den Gürtel machen, damit sie hält“, gestand Lindsay, lächelte nun auch und verschränkte die Arme vor der Brust, anstatt ihre Hände in den Taschen zu verstecken. „Nathan? Bitte, komm wieder nach Hause. Mama hat schon nach dir gefragt und Paps … selbst er hat gefragt, wie es dir geht…“ „Sagst du das nur, damit ich wieder einen Fuß in diese gottverdammte Familie setze?“ „Nein. Das ist die Wahrheit. Wir alle vermissen dich… Die Schwestern im Krankenhaus sagen immer, dass du bei deinem Bruder bist. Warum bist du dann nie bei uns?“ „Lindsay, hör zu. Bitte, hör einfach mal zu.“ Seine Hände legten sich auf ihre Schultern und er blickte ihr direkt in die Augen. „Diese Familie, in welcher ich leben soll, will mich nicht.“ „Ich will dich aber da haben!“ „Du, vielleicht. Aber weder Dad noch Mum wollen mich sehen. Denen ist es doch nur recht, dass ich weg bin“, kam es Nathan. „Nathan. Bitte. Ich vermisse dich, das macht mich ganz krank, daheim herum zu sitzen, das Geheule von Mum ertragen zu müssen und das Geschimpfe von Dad. Dann fahren wir ewig ins Krankenhaus, nichts passiert bei Blake und die Hoffung, dass da etwas passieren wird, sinkt immer tiefer. Alles bricht auseinander, merkst du das nicht?“ Tränen traten in die hellen Augen, flossen über die Wangen hinunter und wuschen den Mascara von den Wimpern. „Ich will nicht, dass das alles kaputt geht. Bitte.“ Das Schluchzen, das ihre Kehle verließ, hallte in der großen Halle wieder und ein Schütteln ging durch ihren ganzen Körper. „Ich will nicht, dass … dass wir alles verlieren, was wir einmal hatten. Alles, was wir einmal waren. Es macht mich fertig, dass wir als Familie auseinander brechen…“ Ohne Worte nahm er sie in den Arm, drückte den schmalen Körper an sich und legte sein Kinn auf ihrem Kopf ab. Finger krallten sich in den Stoff seines Overalls, das Schluchzen Lindsays ging an seiner Schulter unter. So bitterlich hatte er seine Schwester noch nie weinen gesehen. Und es tat ihm leid, dass sie sich so fühlte. Dabei wusste er auch ganz genau, dass es nicht allein seine Schuld war. Diesmal war es nicht nur er. Diesmal waren es auch seine Eltern, die mit die Schuld trugen. „Bitte, komm wieder nach Hause“, hörte er die erneute Bitte seiner Schwester und er war so kurz davor, ja zu sagen. So kurz. Aber hatte er doch erwartet, dass auch sein Vater vielleicht mal einen Schritt auf ihn zutun würde… Oder seine Mutter. Doch musste er sich einmal mehr eingestehen, dass er nur für seine Schwester von Wichtigkeit zu sein schien… „Ich werde es mir noch einmal überlegen, ja?“, versuchte er sie zu beruhigen und er hoffte inständig, dass es klappte. „Du weißt, dass ich nie viel will.“ Das stimmte. Lindsay gab sich mit den einfachen Dingen des Lebens schnell zufrieden. Erst recht, seit Blakes Unfall. „Ich weiß…“ „Erfüll mir bitte nur diesen einen Wunsch. Bitte…“ „Vielleicht.“ Er sprang oft genug über seinen eigenen Schatten, ob er es heute schaffen würde, wusste er nicht. Er wollte ehrlich gesagt auch nicht. Egal, wie viel Lindsay ihm bedeutete. Wieder diese Erniedrigung seines Vaters? Er konnte nur erahnen, was ihm blühte, sollte er heim kommen… Langsam drückte Lindsay sich von ihm ab, wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, schniefte einmal leise und zwang sich ein Lächeln auf die Lippen. „Das würde mir so viel bedeuten… Du bist doch mein großer Bruder…“ „Das weiß ich doch.“ Ein Kuss folgte auf ihre Stirn. „Ich bin doch auch immer für dich da.“ „Hm…“ Sie schmiegte sich zurück in seine Arme, lehnte sich richtig gegen ihn. „Alles Gute noch zum Neunzehnten…“, flüsterte sie. „Danke.“ „Nathan?“ „Ja?“ „Kann ich dich anrufen? Gehst du an dein Handy?“ „Wenn du mit deinem Handy anrufst. So lange die Haustelefonnummer auf meinem Display erscheint, drücke ich eiskalt weg, glaub mir.“ „Ok…“ Sie hatte sich einigermaßen beruhigt, das hörte er ihrer Stimme sofort an. Es war selten, wirklich so verdammt selten, dass Lindsay diese Schwäche zeigte. War sie doch sonst immer die Kämpferin und diejenige, die niemals Tränen zeigte. Es musste ihr wirklich sehr, sehr nahe gehen, dass er sich nicht bei ihr gemeldet hatte. Vor allem wenn sie schon Sachen von ihm trug… „Geh wieder nach Hause. Sonst wird Dad wieder irre und sucht die Stadt nach dir ab, Lin. Ich will nicht, dass unser Alter hier aufschlägt…“ „Ich ruf dich an… Wehe dir du hebst nicht ab.“ Ein misslungener, ernster Blick folgte diesen Worten, ehe sie sich von ihm löste. Er würde abheben, das sagte er bereits. „Alles klar…“ “War schön, dich wieder zu sehen, Nathan…“ „Hm.“ Langsam ging sie rückwärts von ihm, hob die Hand und verließ wenig später die Halle. Ein kurzer Besuch, dachte er sich, seufzte für sich und fuhr sich durch die Haare. Es machte ihn vollkommen fertig. Es schlug tiefe Risse in seine gar perfekte Mauer. Er wollte nicht, dass seine Schwester so fertig war. Sie sollte nicht mehr so leiden… Laut und dröhnend füllten die Beats von Mad Dog’s the Flow[/i9 die große Sporthalle. Ein Schlag nach dem anderen ging auf den schweren und großen Sandsack ein. Schweiß rann Nathan über die Stirn, perlte am Kinn ab oder versickerte im Top, welches er trug. Bereits dunkel eingefärbt, klebte es unangenehm am Oberkörper, begann ihn zu nerven und zu stören. Seine Bewegungen einstellend, fuhr er mit seiner rechten Hand in den Nacken, strich die losen, feuchten Haare Beiseite, löste den Zopf um ihn neu zu binden. Das Top zog er sich über den Kopf, schmiss es auf den Boden und ließ es dort ungeachtet liegen. Kurz rieb er sich über die Knöchel seiner Hand, ließ seine Schultern knacken und spürte die angenehme Entspanntheit, die sich in seiner Schultergegend breit machte. Irgendein instrumentaler Song löste the Flow ab und schickte ein paar eingängige Beats aus den Boxen. Es war angenehm, so spät abends noch hier zu sein. Allein. Ganz allein. So hatte er wenigstes seine Ruhe und musste nicht auf irgendwelche Kiddies aufpassen, damit diese sich nicht die Schädel einschlugen oder sonst etwas. So konnte er komplett allein trainieren, war für sich und konnte sich die Ruhe gönnen. Er war froh, sich mit Cooper ausgesprochen zu haben, so hatte er wenigstens eine Person, der er alles angetrauen konnte und bei der er wohnen konnte, so lange das mit seiner Familie so ein Chaos war… Vor allem aber erhielt er nun von Cooper auch ein anderes Training. Nicht mehr diese eintönigen Trainingsstunden, in denen das Alte geübt und das Neue immer weiter nach hinten geschoben wurde. Neue Techniken gaben ihm die Perspektive zurück, dass er beim nächsten Amateur-Wettkampf weiter vorn liegen würde, als er es dieses Jahr getan hatte. Nathan hörte nicht, wie die Tür geöffnet wurde und jemand eintrat. Viel zu sehr war er damit beschäftig, jede negative Emotion, die er verspürte, an dem Sandsack auszulassen, welcher immer noch vor ihm hing und sich so gut wie gar nicht bewegte. Er holte gerade zu einem Tritt aus, als die Musik verstummte. Wenig später hörte man nur ein ‚Alter!’ und jemand wich dem Sack aus, welcher sich ein paar Meter von Nathan wegbewegte. Seine Augenbraue hob sich, als er mit dem Handrücken über seine Stirn wischte. Er kannte die Stimme doch?! Langsam drehte er sich um, erblickte Mike, wie dieser auf ihn zukam. „Was machst du denn hier?“, brachte Nathan etwas außer Atem hervor. „Wir sind wieder zu Hause angekommen und ich hab zufällig erfahren, wie dein Trainer heißt.“ „Von wem?“, wollte er wissen. Von wem konnte Mike denn das wissen? „Ian hats mir gezwitschert.“ „Na klasse“, knurrte Nathan vor sich hin, ließ den Kopf in den Nacken sinken. Wollte er wissen, was dieser Idiot noch alles erzählte? „Hey, so hab ich dich wenigstens gefunden, wenn du schon nicht ans Handy gehst.“ „Sorry. Aber ich gehe dem sozialem Umfeld so gut wie aus dem Weg seit ein paar Wochen.“ „Warum?“ „Familiensegen hängt mächtig schräg.“ „Warum hab ich mir das denken können? Und dann verkriechst du dich hier?“ Er spürte den musternden Blick des Älteren auf sich. Musternd, nein, das war schon ein abcheckender Blick, den Mike an den Tag legte. „Verstecken brauchst du dich aber nicht, oder?“ Ein Grinsen erschien auf den Lippen des Musikers und erst da fiel ihm auf, dass Mike gar kein Make up trug. Selbst die Haare hingen nur ungestyled an dessen Kopf herunter, schmiegten sich an seine Wange. „Und du bist etwas breiter geworden, oder?“, hielt Nathan dagegen. „Und da hat er ja Flaum im Gesicht“, grinste er gleich drauf los, als er die schwarzen Härchen am Kinn Mikes sah, ebenso dies bisschen unter der Unterlippe. „Hey, willst du frech werden, oder was? Babyface?“ „Das ist mein Wort, Junge!“ „Wenigstens haste deinen Humor nicht verloren… Du, was ich dich fragen wollte…“ „Ja bitte?“ „Hast bock mit rüber zu kommen?“ „Was heißt rüber kommen, Mike?“ Er fand diese Frage durchaus berechtigt. So wusste er ja nicht, was der Screamer genau von ihm wollte. „Mit zu Seth und mir? So ein bisschen Ablenkung tut dir bestimmt gut und man könnte sich noch ein bisschen kennen lernen? Oder musst du morgen arbeiten?“ „Nein – also das ist es nicht…“ „Was dann? Wenn du keine Lust hast, ist das kein Weltuntergang. Aber es gibt Pizza.“ „Klasse“, kam es recht gelangweilt von Nathan. Pizza bekam er an jeder beschissenen Fastfoodecke und da brauchte er nun wirklich nicht in Euphorie ausbrechen. Und warum Mike sich so freute, verstand er auch nicht auf den ersten Blick. „Nathan.“ Mike kam etwas näher, grinste von einem Ohr zum anderen. „Eigentlich ist Seth der unbegabteste Koch unter der Sonne. Aber Pizza kann er wie kein Zweiter.“ „Das ist eine echt magere Argumentation, wenn du mich fragst.“ Sofort glitten Mikes Schultern nach unten, sein Kopf neigte sich nach vorn und ein Seufzten kam von ihm. „Das klingt beinahe wie: ‚Wenn du versuchst mich mir zu diskutieren, bist du ohnehin argumentativ am Boden.’ Und ich mag das nicht.“ „Was kann ich denn dafür, wenn du dich nicht wehren kannst?“ „Seit wann, bitte sag mir das, bist du so?“ „Wie bin ich denn?“ „Als ich dich kennen gelernt habe, saßt du in dieser ‚hoffentlich sieht mich niemand’-Haltung auf einem Klappstuhl und wolltest nicht auffallen und jetzt bist du so fies. Alter.“ „Ich bin nicht fies. Ich bin grundsätzlich so, wenn ich völlig fertig bin mit der Welt. Gewöhn dich daran, wenn du mit mir verkehren willst, Dude.“ „Kommst du jetzt mit?“ Mike hatte seinen Kopf wieder in eine normalmenschliche Position gebracht, blickte ihn mit seinen dunklen Augen fragend und bittend zugleich an. „Ja. Meinetwegen… Ich geh kurz duschen“, verkündete er, klaubte sein Shirt vom Boden und schaltete im Vorbeigehen die Anlage direkt aus. „Dauert nicht lange.“ Damit verschwand er aus Mikes Sichtfeld und betrat die Kabinen, schmiss sein Shirt zu seiner Tasche, ebenso die anderen Klamotten die er trug und verschwand nebenan unter eine der vielen Duschen. Lauwarmes Wasser rann über seine Haut und zum ersten Mal ärgerte er sich, dass die anderen das heiße Wasser bereits verduscht hatten. Saubande, dachte er sich, griff blind nach dem Duschgel Er hatte nicht damit gerechnet, dass Mike hier auftauchen würde. Woher wusste der das überhaupt? Dumme Frage eigentlich, so unglaublich viele Vereine gab es hier auch nicht und dieser, in welchem er trainierte, war eigentlich der bekannteste im Umkreis von ungefähr fünfzig Kilometern. Aber was störte es ihn? Würde er gleich einfach mal mit fahren, sich ein wenig mit den beiden unterhalten und dann in sein Übergangsnachtlager zurückkehren. Was war schon dabei? Vor allem war er dann mal mit anderen Menschen zusammen. Nicht wie jeden Tag mit Nicki, Cooper oder dem Chef der Werkstatt. Das war vielleicht mal etwas anders und … er mochte Mike irgendwie. „Nathan. Gleich hast du Flossen, beweg deinen Arsch endlich aus der Nasszelle.“ „Stress mich nicht!“, rief er nur zurück, stellte das Wasser aus und griff nach dem Handtuch, welches er sich gerade noch mitgenommen hatte. „Ich stress dich gleich, so viel zum Thema: dauert nicht lange, was?“ Stumm äffte er die Worte Mikes nach, während er sich abtrocknete, sich umzog und seine Klamotten in die Tasche stopfte. Noch einmal nachsehend, ob er auch nichts vergessen hat, verließ er die Kabine und ging auf den Ausgang zu. „Beweg dich, Bitch“, sagte er in Mikes Richtung. Sofort kam dieser auch auf ihn zu, verließ mit ihm gemeinsam die Sporthalle. „Bist du mit dem Wagen da?“ „Ja, bin ich. Ich lauf doch nicht zu Fuß“, kam es gleich leicht geschockt von Nathan auf die Frage zurück. „Ok, dann fahr mir einfach hinterher.“ Nathan ging direkt auf seinen Chevrolet zu, schmiss die Tasche auf die Rückbank und gab ein ‚Ja, ja’ von sich, als er einstieg. Er parkte aus und folgte dann dem dunklen Wagen, in welchen er Mike hatte eingestiegen sehen. Im Hintergrund dudelte leise die Musik, während er weiterhin darauf achtete, wo Mike denn hinfuhr. Ein bisschen neugierig wurde er ja schon, je länger er ihm folgte. Wie wohnten sie? Wohnten sie in einer fünf Zimmer Bude oder wo anders? Jedoch gab ihm die Richtung, in welche sie fuhren, schon die Vermutung, dass es eben nicht diese fünf Zimmer Bude war. Die ordentlich stehenden Straßenlaternen, in dem eher ruhigen Stadtrandsviertel. Die sauberen Straßen. Ordentlich geschnittene und grünen Rasenflächen vor den hübschen Häusern, die Familienvans in den Garageneinfahrten… Was machten Leute wie Seth und Mike in einem Familienviertel wie diesem hier? Der Blinker des Wagens vor ihm ging an und er bremste etwas ab, schaltete seine Gedanken ab und wartete, bis Mike eingeparkt hatte. Er selbst stellte sich danach einfach hinter Mikes Wagen, zog die Handbremse, stellte den Motor ab und stieg aus. „Was macht ihr in dieser Gegend?“, brachte er auch sogleich heraus, als Mike aus seinem Wagen – der sich übrings als ein 2006er Mustang herausstellte – stieg. „Die Familien hier“, begann Mike, schob die eine Hand in die Hosentasche und mit der anderen folgte eine ausschweifende Geste. „Sind erst in den letzten zwei Jahren alle hier her gezogen. Ein altes Ehepaar wohnt gegenüber, die Familie Blair wohnt drei Häuser neben uns die Straße hoch. Dann wohnt hier neben uns noch eine alte verwitwete Sechzigjährige und auf der anderen Seite ein kinderloses Ehepaar. Die anderen sind erst in den letzten Jahren hier her gezogen“, erklärte er ihm. „Ist bestimmt auch schön, Kinder hier aufzuziehen, was?“ „Keine Ahnung. Ich hab keine und ich will auch keine“, sagte Mike lachend und nickte zum Haus. „Ok, erklärt sich eigentlich auch von selbst… Seit wann fährst du den Mustang?“ „Seit 2006. Als er heraus kam…“ „Woher hattest du das Geld?“ „Sagen wir es so … Ich hatte das Geld nicht für einen perfekten, tadellosen Neuwagen.“ „Aja.“ „Ja man“, lachte Mike, ging um den dunklen BMW herum, der vor der zweiten Garage stand. „Es war eine Fehlproduktion. Farbfehler und so Kleinigkeiten. Bisher funktionieren viele der Kleinigkeiten immer noch nicht. Aber das ist egal. Ich hab ihn umlackieren können und alles ist gut.“ „Was für Kleinigkeiten?“ „Fensterheber hinten, die Kofferraumzentralverrieglung geht nicht, musste immer mit dem Schlüssel aufschließen. Alle so was, aber das kann ich bei Zeit mal machen lassen.“ „Bring ihn mal vorbei. Ich mach dir das fertig…“ „Werkstatt?“ „Bist du irre? Nein. Privat”, grinste Nathan, ließ seine Hand über den dunklen Lack seines eigenen Wangens. “Warum nicht in der Werkstatt?“ „Ich bin Azubi. Da darf man so was noch nicht, laut Nicki…. Und das ist Seths?“, wollte er wissen, nickte auf den dunklen BMW. „Ja, den hat er sich Anfang dieses Jahres gekauft, als wir kurz zu Hause waren.“ „Ich bin nicht so der Fan von diesen neuen, getunten Karren. Aber dieser hier…“ Dunkelblauer Lack, mächtige Reifen, mattsilber Alufelgen… Härter, tiefer, breiter. Dieser Wagen war der absolute Hammer… „Ist sexy, was? Normalerweise fährt Seth solche Wagen nicht, hatte er vorher doch so einen kleinen gammligen Toyota als Anfangswagen und später einen gammligen Honda. Und dann diesen hier...“ „Verdient ihr so viel, mit eurer Musik?“, fragte Nathan nach, bewegte sich langsam auf Mike zu. „Man kann davon mehr als gut leben, sagen wir es so. Anfangs wars etwas schwer, aber jetzt geht’s inzwischen. Aber um es so zu sagen, ich hab einen millionenschweren Lebensgefährten. Sein Vater war Topmanager und Vize-Chef einer großen Firma. Seine Mutter Topanwältin der Schönen und Reichen. Da kommt was zusammen, also daher“. Unbeteiligt zuckte Mike mit den Schultern, ging dann zur Haustür. „Oh… Sind sie tot?“ “Flugzeugabsturz vor ... Jahren. Reden wir nicht drüber“, sagte er nur, winkte das Thema somit ab und schloss die Tür auf, ließ Nathan eintreten, als dieser sich endlich bewegt hatte. „Seth, ich bin wieder da.“ Stille herrschte daraufhin – kurz. Wenige Sekunden später hörte man nämlich, dass leise Gitarrensaiten angeschlagen wurden. Nathan, der gerade seine Schlüssel in die Hosentasche steckte und den kurzen Flur musterte, in welchen sie standen, drehte sich zu Mike um. „Komm mit“, grinste dieser nur und ging Nathan voraus, nach rechts in das große Wohnzimmer. Es wirkte auf Nathan wie ein absolut großer Raum mit viel zu vielen Notenblättern, Gitarren und einfach nur Chaos. Er blieb einfach im Durchgang stehen, während sich Mike von hinten an seinen Freund heran schlich, der mit dem Rücken zum Durchgang auf der großen, grauen Couch saß. Und innerlich hatte Nathan jetzt schon Mitleid mit Seth. So würde dieser doch gleich einen Herzinfarkt bekommen, da er Kopfhörer trug und diese – wie die Gitarre – an den Verstärker angeschlossen hatte. Ohne ein Wort zu sagen, fasste Mike Seth an den Schultern und der Überfallene schmiss beinahe seine Gitarre von sich, als er aufsprang. Wie gesagt, Nathan hatte Mitleid mit ihm. Er wollte gar nicht wissen, wie sehr das Herz des Gitarristen schlagen musste. „Mike, du Arschkrampe! Du siehst doch, dass ich arbeite!“, fauchte die kleine brünette Furie drauflos. Seit wann hatte Seth hellbraune Haare? Aber es waren ja schon ein paar Wochen vergangen, weswegen Nathan sich darüber mal keine Gedanken machte… „Ja, ich weiß“, hörte er und schüttelte den Kopf, als er sah, dass Mike dieses, für ihn, typische halbseitige Lächeln lächelte, seinem Freund die Kopfhörer vom Kopf strich und einfach auf die Couch fallen ließ. „Aber du bist mir nicht böse.“ Er sah das Kopfschütteln Seths, drehte sich aber dezent zur Seite, als sich das Pärchen küsste. So gern sah er dann zwei Männern dabei auch nicht zu. „Nathan, hast du schon gegessen?“, drang dann aber Seths Stimme an sein Ohr, als er gerade dabei war, irgendwelche Bilder an der Wand direkt neben dem Durchgang anzusehen. „Nein, habe ich noch nicht.“ „Das finde ich gut. Dann geh’ mit Mike rüber in die Küche, ich räum hier eben auf“, kam es ruhig und gelassen von Seth zurück. Seth wurde ihm immer sympathischer. Er war so ruhig, immer so gelassen und einfach total cool. Natürlich wusste er nicht, wie Seth noch sein konnte, dafür kannte er ihn nicht gut genug … wobei, eigentlich kannte er ihn rein gar nicht. Aber das war nicht der Punkt. „Und was sollen wir da machen, Babe?“, fragte Mike leicht verwirrt nach, strich sich die Haare nach hinten und hob elegant eine Augenbraue. „Ihr nehmt euch ein Messer?“ „Und damit sollen wir uns dann gegenseitig erstechen?“, kam es seltendämlich von Mike zurück, sodass sich Nathan ernsthaft ein Auflachen unterdrücken musste. „Nein, damit sollt ihr die Pilze schneiden und alles andere, was halt so auf die Pizza drauf soll. Ich wusste nicht, was du gern magst, Nate. Schau einfach, was dir von dem Zeug zusagt, das im Kühlschrank steht.“ Dass Seth ihn ‚Nate’ genannt hatte, überhörte er einfach gekonnt und zuckte die Schultern. Ihn nur Nath zu nennen war schon Schmerzen wert. Aber Nate? Nate war noch um Längen schlimmer, aber er wollte nicht unhöflich sein und Seth aus seiner Wunschvorstellung heraus reißen. „Alles klar… Wo ist das Bad?“ „Hier Treppe hoch und dann die Tür mit dem ‚WC’ dran“, erklärte ihm der Brünette. Nathan nickte, stieg vorsichtig über die gesammelten Werke an Notenblättern hinweg und ging die Treppe hinauf. Er hatte es einem schwulen Pärchen gar nicht zugetraut, dass sie so normal lebten. Für ihn wirkte es eher wie eine normale ‚WG’ oder was auch immer. Aber es sah nicht aus, als würde ein schwules Paar hier leben. Ganz ehrlich. Warum? Es sah alles so aufgeräumt aus. Es war nichts Pinkes hier, bisher ist ihm auch noch nichts entgegen gesprungen, was nach irgendwas Schlafzimmerintenen aussah und ebenso fehlten ihm die klischeeartigen Aktbilder von Kerlen an der Wand. Aber das war mit Sicherheit zu sehr Klischee gedacht. Allgemein hätte er Seth niemals für schwul gehalten. Ok, Mike schon ein bisschen. Aber eher aus der ersten Intuition heraus, wegen dem Style und vielleicht auch ein bisschen wegen der Stimme her, aber ganz sicher nicht wegen irgendwelchen bewegungstechnischen Sachen. Nach einem kleinen – vielleicht illegalen – Hausrundgang in der ersten Etage, kam er mit gewaschenen Händen wieder die Treppe herunter und fand Seth dabei vor, die Blätter ordentlich einzusortieren, während in der Küche gegenüber schon Licht brannte und Mike an der Mittelinsel der Küche stand und an irgendwas herum schnitt. Bildende Kunst?, dachte er sich, schlich an Seth vorbei und betrat den Kochsaal. Das Radio dudelte vor sich, Mike schien ihn noch gar nicht bemerkt zu haben. Der stand in aller Seelenruhe dort, schnitt die Pilze in dünne Scheiben und ließ im Takt der Musik seine Hüfte kreisen. „Mike.“ „Mäuschen?“, kam es auch gleich grinsen zurück. „Schwul mich nicht an, ok?“, konterte Nathan genauso grinsend. Jedem anderen hätte er dafür wohl einen Spruch gedrückt, aber bei Mike war das irgendwie – auf komische Art und Weise – anders. Der durfte das. „Gib mir’n Messer.“ „Die Salami liegt im Kühlschrank, die Messer sind im Messerblock neben der Kaffeemaschine.“ Die Kühlschranktür aufziehend, fand er das wohl geordnetste Kühlschranksystem vor, das er jemals gesehen hatte. Ein Grund, warum er gleich das Gesuchte fand. Jedoch in zweifacher Ausführung. „Mike?“ „Nath?“ „Lang und schmal oder doch lieber kurz und dick?“ Er hörte von Mike nur ein leises, überlegendes ‚Hm’, ehe eine kleine Pause folgte. „Lang und schmal.“ Das Lachen, in dem sie beide gar synchron ausbrachen, lockte ein ‚Was macht ihr da?’ von Seth hervor, der ihnen das rüberschrie. „Nichts. Wir entscheiden nur über die Salami.“ „Aha“, kam es auf Mikes Worte zurück und Nathan schloss kopfschüttelnd den Kühlschrank, stellte sich neben Mike, legte sich alles zurecht und blickte den größeren Screamer neben sich fragend an. „Ihr seid wirklich zusammen?“ „Ja? Wie oft denn noch?“, lächelte der Musiker. „Ihr kommt so … anders rüber. Weißt’e? Eher so, als wärt ihr beste Freunde und nicht das Paar, für das man euch halten sollte…“ „Das kommt davon, dass wir nicht das typische Paar sind. Wir sind schwul, und? Heißt das, dass wir uns nur Liebesbekundungen zuwerfen müssen? Dass wir nur wie die Geier übereinander herfallen? Dass wir kaum was anders tun, als zu turteln? Hey, auch ich hab’n Schwanz in der Hose, ich verhalt mich nicht wie eine Pussy. Seth auch nicht. Schieb das Klischee einfach mal bei Seite“, sagte er ihm und Nathan nickte nur. Jetzt kam er sich doch tatsächlich so ein bisschen dumm vor. Vor allem waren die beiden ja schon drei Jahre zusammen, da verhielt man sich nicht mehr wie ein verliebtes Teenagerpaar. Das stimmte schon alles. „Sorry, war’ne dumme Frage.“ „Es gibt nur dumme Antworten.“ Kapitel 7: Und dann kommt Sam ----------------------------- ------------- Und dann kommt Sam -------------- Später am Abend, nachdem die Küche wieder aufgeräumt und alles abgespült war, saßen sie zusammen in dem großen Wohnzimmer. Seth hatte sich in die Ecke der Couch gekuschelt, Mike lag lang ausgestreckt quer darüber und Nathan hatte es sich zwischen Tisch und Couch auf dem Boden bequem gemacht. Nach einem Monat bei Cooper, konnte er mit einer Couch nichts mehr anfangen, gab es bei seinem Trainer doch nur flauschige Sitzkissen, die man sich im Falle nebeneinander legte, wenn sie zu klein sein sollten. Er schlief nicht einmal gern auf einer Couch… Mit dem Rücken an dem Polster lehnend, hatte er die Beine in den Schneidersitz gezogen und hatte den Blick auf den Fernseher gerichtet. Irgendeine unwichtige MTV-Sendung lief dort und entpuppte sich als langweiliger, als zu Anfang gedacht. „Mike, schalt um“, hörte man Seth irgendwann gähnen. Dann raschelte es, die Couch knarzte einwenig und als Nathan einen Blick über die Schulter riskierte, sah er, Seth sich nun doch an seinen Freund kuschelte und dieser einen Arm um die Hüfte Seths legte. „Wohin?“ „Keine Ahnung, schalt einfach um.“ Nathan schüttelte den Kopf. Er selbst war nicht so der typische Fernsehgucker. Eher machte er einen großen Bogen um diese Geräte und vermied es, sich über Stunden davor zukleben. Er verfolgte, wie Mike durch die Programme zappte und dann irgendwann auf einem Fernsehsender stehen blieb, der gerade den Film Blood Sports ausstrahlte. „Kannst du das auch?“ „Was?“, wollte Nathan wissen, nachdem man ihm diese Frage gestellt hatte. „So Steine zerschlagen?“, wollte Seth wissen. „Keine Ahnung, ich hab das noch nicht versucht…“ „Und läuft das bei euch auch so ab? Ihr gebt euch so lange eins auf die Fresse, bis der eine aufgibt?“ „Nein… Also, das sind ja auch legale Turniere…“, kam es recht gelangweilt von ihm zurück. Er wollte jetzt nicht über Kampfsport reden. Am liebsten würde er gar nicht mehr reden heute. Er war so derart fertig mit der Welt. Irgendwann musste er auch eingeschlafen sein. Es war recht spät geworden und still in der Wohnung. Erst als er eine Hand auf seiner Schulter spürte, die ihn leicht rüttelte, schlug er seine Augen auf. Mike hockte vor ihm, blickte ihn mit einem sanften Lächeln auf den Lippen an. „Es ist kurz nach zwei Uhr in der Früh.“ Nathan nickte, unterdrückte ein Gähnen und stand langsam auf. „Willst du jetzt noch nach Hause fahren?“, drang die ruhige Stimme Mikes an sein Ohr. Sie war ruhig und gleichzeitig sehr ernst. Letztes sorgte dafür, dass Mikes Stimme einen dunklen Touch gab, der Nathan leicht verwirrt die Augenbraue heben ließ. „Ja“, brachte er mühe hervor, räusperte sich kurz, als er merkte, dass seine Stimme sehr rau klang. „Du schläfst mir doch am Steuer ein, wenn ich dich jetzt gehen lassen“, wurde ihm erklärt. „Ich kann’s nicht verantworten, wenn du wegpennst und deinen Wagen vor einen Baum oder was auch immer setzt. Ich zeig dir das Gästezimmer, komm.“ Mike nickte in die Richtung der Treppe. Nathan jedoch war sich nicht sicher, ob er hier schlafen wollte. Cooper würde sich nur Sorgen machen, warum er nicht ‚daheim’ war die Nacht und vor allem hatte er keine Lust, in fremden Betten zu pennen. Schieß drauf, ob ich den Wagen vor einen Baum setze, dachte er sich. Dann ist wenigstens mein beschissenes Leben endlich zu ende. Dieses grundlose umherirren auf diesem Planeten, führte Nathan seine Gedanken weiter und schüttelte nur den Kopf. „Ich fahr zu Cooper.“ „Nichts da, Junge“, kam es bestimmt von Mike zurück und eine große, schlanke Hand fasste seinen Oberarm, hielt ihn davon ab, sich wirklich abzuwenden. „Du wirst mir nach oben folgen. Ich werde dir das Gästezimmer zeigen und mich dann auch ins Bett hauen. Aber ich lasse dich nicht fahren, ganz sicher nicht. Schlag dir das aus dem Kopf.“ Aus müden Augen blickte er zu dem größeren und älteren Musiker auf. War das ein Befehl? Den braunen Augen nach, die ihn so bestimmt und gar schon herrisch entgegen blickten, war diese Frage überflüssig. Niemals hätte er gedacht, dass gerade Mike einen solchen Blick drauf hatte… Jedoch bemerkte er hierbei einmal mehr, dass er keinen der Beiden – weder Mike noch Seth – gut genug kannte. Sie waren ihm immer noch fremd. So gesehen waren sie nur Bekannte, nicht einmal Freunde. Als ob ich Freunde hätte, dachte Nathan mit leichter Selbstironie. „Was bleibt mir anderes über …“, murmelte er vor sich hin. Ein paar Worte, die gleich wieder ein zufriedenes Lächeln des Älteren zur Folge hatten. Mit einem Nicken ließ Mike ihn los, nickte in die Richtung der Treppe und ging sogleich voraus. Gar so, als würde er einfach erwarten, dass Nathan ihm folgte. Und jener tat es auch. Noch im Halbschlaf, schleppte er sich Mike hinterher. Die Treppe hinauf, den offenen Flur entlang, bis sie in dem Teil des Hauses ankamen, der über der Küche lag. Eine schmale Treppe führte hoch auf den Dachboden des Wohnhauses. Mike öffnete eine leicht knarzende Tür, die wiederum in eine Art kleine Wohnung führte. Ein kurzes Stück Flur, mit einer kleinen Garderobe, einer Zimmerpflanze und einem schmalen Fenster mit weinroten Vorhängen. Hinter einer weiteren Tür befand sich dann ein großer Raum mit einem großen Fenster am Ende, vor dem sich ein großes, mit beigefarbenen Bezügen bedecktes dunkles Bett befand. Eine kleine Couch, die sich an einer der Wände unter der Dachschräge befand gab es auch, ebenso einen kleinen Fernseher und ein Radio. Zudem einen ganzen Haufen Zimmerpflanzen. Warum auch immer. Hielten sich hier so viele Personen auf, dass man es hier schön grün und frisch einrichten musste? „Soll ich dir das Bett eben überziehen?“ „Es ist irgendwas nach zwei. Mike, geh ins Bett, ich komm schon damit klar, dass das Bettzeug eine Woche auf dem Bett liegt, glaub mir“, brachte er hervor und kämpfte ein weiteres Gähnen erfolgreich nieder. „Ok, dann… Gute Nacht, Nath.“ „Hm“, murrte er, sah noch, wie Mike das Zimmer verließ und er sich dann allein hier oben befand. Er ging noch einmal zurück, schloss die beiden Türen, ehe er sich die Schuhe von den Füßen streifte, die Hose auf den Boden gleiten ließ und sich dann unter die Bettdecke verzog. Sehr spät am nächsten Morgen weckten ihn Geräusche aus dem Stockwerk unter ihm. Irgendwas rauschte da, dann hörte er etwas, das sich anhörte wie ein Staubsauger – Stimmen folgten. Schlaftrunken blinzelnd, orientierte er sich erst einmal in dem sonnengefluteten Raum, in dem er sich befand und drehte sich auf den Rücken. Seine Hände fuhren über seine Augen, strichen den verbliebenen Schlaf aus diesen und sorgten für eine klare Sicht. Wo war er? Ach ja, bei Mike und Seth in diesem Riesenbunker von Haus – stimmt. Langsam drückte er die Decke Stück für Stück beiseite, setzte sich auf und schwang seine Beine über den Bettrand. Seine Hose lag nicht weit entfernt, seine Socken waren bei den Schuhen geblieben … Das Bett ließ er, wie es war, würde er es später machen oder einer der beiden Hausbesitzer würde es überziehen, was wusste er schon? Einen Blick in den Spiegel der Garderobe werfend, fuhr er sich durchs Haar, richtete es ein wenig und verließ das Gästezimmer, ließ die Treppe schnell hinter sich und kam wenige Sekunden später unten im Wohnzimmer des Hauses an. Der Staubsauger war verstummt, dafür aber nicht die Stimmen aus der Küche. Langsam bewegte er sich dort hin, nicht wissend, wer oder was ihn erwarten würde. Als erstes sah er Seth. Er lehnte an der Mittelinsel der Küche, hatte eine Tasse in der Hand und blickte in die Richtung, in welcher sich auch das Esszimmer befand. „Morgen“, gab Nathan von sich, als er näher auf Seth zukam. Dieser lächelte ihn an, sagte aber nichts, da er das Gespräch wohl nicht unterbrechen wollte. Auch Nathans Blick glitt in die Richtung des Tresens, der die Küche vom Esszimmer trennte. Er erkannte Mike, er saß da, das Kinn auf die Hand gestützt, mit der anderen in einer Tasse herum rührend – ein Lächeln auf den Lippen. Schräg vor ihm saß eine junge Frau, schlanke Figur. Sie trug einen hellen Jeansmini, wie er es erkennen konnte und ein graues Tanktop, ihre Füße steckten in schwarzen Pumps. Sie hatte braune Haare, leicht hochgesteckt und ein schwarzes Bandana war über diese Haarpracht gelegt, im Nacken zusammengebunden. Ihre Hände spielten mit einem Schlüsselbund, an dem mehrere silberne Schlüssel hingen und einige Anhänger. Aber ihr Gesicht, das konnte er nicht sehen. „Wer ist das?“, fragte er sich, lehnte sich neben Seth und nahm die Tasse an, die ihm der Gitarrist vorhielt. „Samantha. Sie ist Musikjournalistin, bringt häufig Texte über uns in dem Magazin ‚Youth Culture – Revolution of Music’. Mike hat sie in Miami kennen gelernt und ist seitdem mit ihr befreundet. Unter anderem ist sie unser Merchgirl geworden und kümmert sich um Extraevents für die ‚Cursed Elites’“, erklärte ihm Seth, nippte an dem Kaffee und sah ihn dann an. „Sie ist sehr nett…“, eine kurze Pause entstand. Eine kurze Pause, in der sich ein Lächeln auf Seths Lippen bildete. „Und sie ist single.“ Gar satanisch wurde das Grinsen auf den vollen Lippen des Musikers, an denen heute Morgen nur zwei kleine Kugeln glänzten. Stand ihm auch besser, befand Nathan nebenbei, jedoch kam dann irgendwann die Information der Aussage in seinem Hirn an und er räusperte sich. „Ich bin aber mit meinem Singleleben sehr zufrieden“, gab er von sich, trank einen Schluck und lauschte den Worten, die zwischen Mike und dieser Samantha getauscht wurden. Sie hatte aber auf jeden Fall eine sehr angenehme Stimme. Angenehm tief, weiblich tief. Frauen mit ruhigen, klingenden Stimmen mochte er unheimlich gern… „Was ist denn bitte die Cursed Elites?“ „Unser Fanclub… frag mich bitte nicht, wie das zustande kam. Ich bin an der Stelle selbst nicht so mitgekommen und es ist wohl auf Samanthas Mist gewachsen. Max hatte es damals abgesegnet und jetzt haben wir einen CE-Fanclub.“ Seth zuckte mit den Schultern, beließ es folglich dabei und seufzte. „Ian hat sich heute schon gemeldet…“ „Was wollte er?“ „Fragen, was los ist. In seiner Art und Weise, du kennst ihn ja ein wenig.“ „Und sonst nichts?“ „Er hat nach dir gefragt.“ „Tatsächlich?“, fragte Nathan ungläubig nach. Eigentlich hatte er gedacht, dass sich ihre Wege wirklich trennen, an dem Morgen. Für ihn klang das immer noch so komisch – so fremd. Vor allem gab es ihm ein wenig zudenken, dass Ian sich doch tatsächlich nach ihm erkundigte. Das passte nicht zu dessen Verhaltensweise. Zwar hatte Mike ihm erzählt, was alles passiert war und wie Ian eigentlich sein sollte, aber dennoch änderte das alles nichts an Nathans Sichtweise auf den Charakter des Tänzers. Für ihn war Ian irgendwie trotz allem das Arschloch. Da konnte er nichts dran machen. „Er wollte wissen, was du machst. Ob wir Kontakt zu dir hätten und solche Dinge. Aber ich hab ihm nicht wirklich eine Auskunft gegeben, da ich der Meinung bin, dass du das allein machen solltest, wenn du wirklich mit ihm reden willst.“ Leicht nickte er auf die Worte des Gitarristen hin nur und zuckte folglich leicht mit den Schultern. „Ian geht mir eigentlich sonst wo vorbei. Obwohl Mike mir so einige Dinge über ihn erzählt hat. Würde er sich mir gegenüber endlich ein wenig menschlicher verhalten, könnte man darüber reden… aber nicht so“, gab er von sich, leerte die Tasse, stellte diese auf die Küchenzeile zurück. „Ich fahre dann auch mal langsam. Ich glaube, ich sollte mich mal langsam bei Cooper blicken lassen“, sagte er leise, wollte das Gespräch zwischen Mike und dieser Samantha nicht stören. „Willst du denn nicht wenigstens noch zum Mittag bleiben? Du könnest Sam kennen lernen.“ Wieder erschien dieses satanische Lächeln auf Seths Lippen. Gott, das ließ ihn so versaut wirken. Aber ehe er auch nur irgendwas darauf erwidern konnte, hörte man, wie Stühle zurück geschoben wurden. „Ich will euch auch gar nicht länger stören“, sagte Samantha, nahm ihre Schlüssel vom Tresen und drehte sich um. Ihr Blick traf Nathans sofort und sie lächelte. Ihre Lippen waren von einem orangenen Rot, ungepierced – entgegen dem, was er wartet hatte… Ihre Augen wiesen eine hellblau – gar schon graue Farbe auf und waren mit intensiv schwarzen Eyeliner umrandet. Aber am wichtigsten war ihr Lächeln. Sie sah so süß damit aus. „Sam, das ist Nathan. Nathan, das ist Sam“, stellte Mike sie vor, grinste sich aber auch so einen vor sich her. Und beinahe wäre Nathan ein ‚Ich weiß’ heraus gerutscht, was er jedoch lieber sein ließ. „Hallo“, sagte sie, fasste das Schlüsselband und ließ die vielen Schlüssel aus ihrer Hand fallen. Es klimperte, klirrte und wenig später herrschte Stille. Für einen Moment. „Hi“, brachte dann auch Nathan endlich heraus, ließ seinen Blick noch einmal über die Gestalt der jungen Frau wandern, die ihre Unterlippe für einen Augenblick zwischen die Zähne zog. Er vermochte es nicht zu deuten, was sie dazu führte, aber im Endeffekt wollte er es auch nicht wissen. Oder? „Oh mein Gott“, brachte Seth dann irgendwann lachend hervor, stieß sich von der Mittelinsel ab und ging auf seinen Freund zu. „Ihr verhaltet euch wie zwei Teenager!“ „Tun wir nicht!“, kam es jedoch von Nathan als auch von Samantha zurück. Etwa, dass die anderen noch mehr lachen ließ. „Nein nur nicht…“ „Och man, Mike! Ich gehe jetzt!“ Samantha schob ihre Lippe vor, wirkte wie ein kleines bockiges Mädchen, dem man gerade die Lieblingspuppe weggenommen hatte und ging dann auch schon an Nathan vorbei. „Bye Sam!“, riefen sie noch hinterher und schon hörte man die Tür. „Ich werde auch gehen. Cooper macht sich sonst nur Sorgen und vor allem will ich euch nicht noch länger auf die Nerven gehen. Man sieht sich, ich meld mich.“ Er zwang sich ein Lächeln auf die Lippen, wandte sich dann aber auch zum gehen um. „Pass auf dich auf, Nath.“ „Immer doch.“ Auch er verließ das Haus, sah aber Samantha noch an ihrem Wagen lehnen. Zumindest vermutete er, dass es ihrer war. Ein schwarzer Ford Mustang Mach 1. Ein Klassiker unter den Oldtimern, zumindest war dies seine Ansicht darauf. „Wolltest du nicht fahren?“, fragte er, kam auf sie zu. „Nein. Ich wollte mit den beiden eigentlich nachher weggehen. Aber es wird ohnehin gleich einer von ihnen hinter mir her kommen. Ansonsten bin ich nachtragend“, lächelte sie ihm entgegen, verschränkte die Beine an den Knöcheln und zuckte mit den Schultern. „Deiner?“, lenkte er dann jedoch das Thema um, deutete auf den Wagen, an welchem Sam lehnte. „Ja. Meiner. Er gehörte meinem Opa, ich hab ihn geerbt…“ „Ford Mustang Mach 1. 540 PS unter der Haube, Baujahr ’69. Eines der wenigen Autos, die einen faszinieren können“, gab er von sich, kam auf sie zu und blieb wenige Meter vor ihr stehen. „Du kennst dich mit Autos aus?“ „Ich bin erstens ein Mann und zweitens mach ich eine Ausbildung zum Kfz-Mechaniker“, erklärte Nathan sich, sah auf die wesentlich kleinere junge Frau nieder. „Wie alt bist du denn, wenn ich fragen darf?“ „Neunzehn.“ „Süß. Wirklich süß.“ Wieder lächelte sie ihr Lächeln. „Du bist echt ein kleines Miststück oder?“ „Ich bevorzuge Bitch.“ Seine Augenbraue hob sich auf dieses Kommentar hin ein wenig, als er sich neben sie an den Wagen lehnte. „Aja“, gab Nathan von sich, sah sie skeptisch von der Seite her an. „Jedem das seine.“ „Sag… Du kennst Ian?“, fragte Samantha dann, strich ihr Oberteil etwas glatt und verschränkte dann die Hände vor sich. „Ich meine … ich habe gehört, wie Seth gerade seinen Namen erwähnte…“ „Ich hab ihn letzten Monat kennen gelernt. In Jacksonville.“ „Was hältst du von ihm?“ „Warum willst du das wissen?“ „Weil ich gern weiß, was ‚Außenstehende’ von ihm halten. Weißt du, Leute, die ihn noch nicht so gut und so lange kennen.“ Und mit einem Mal machte es Klick in Nathans Kopf. Lebte Ian nicht in Miami? Und hatte Seth nicht gerade gesagt, dass diese junge Frau neben ihm auch dort lebte? Kannten sie sich gut? „Er ist mir zu unterkühlt. Zu anzüglich und zu sehr auf eine ganz bestimmte Sache aus.“ „Kennst du seinen kleinen Bruder?“, wollte sie dann wissen, lächelte vor sich hin. „Nein, ich denke nicht.“ „Derek? Du kennst ihn nicht? Derek Blair ist doch der Quarterback der Highschool hier in der Nähe.“ „Du meinst nicht den Quarterback, den ich meine, dass es der Quarterback ist?“ „Nun ja, wenn wir von einem größeren, brünetten jungen Mann reden, der mehr in den Armen hat, als in seinem Köpfen… Wenn wir von einem Typen reden, dessen Augen so stechend blau sind, dass man fast meinen mag, man würde ertrinken. Wenn wir von einem jungen Mann reden, der eine größere Fresse hat, als einige andere ein Ego… wenn wir von jemanden reden, der gern seine Faust hebt, anstatt ruhig miteinander zu reden, dann reden wir von der gleichen Person.“ Alles in Nathan ging auf ‚Red Alert!’. Jede Alarmglocke begann plötzlich zu schrillen. Dieser Derek war mit seiner Schwester zusammen. Der kleine Bruder von Ian war mit seiner Schwester zusammen… „Ich sehe schon, wir sprechen von der gleichen Person“, hörte er Samantha schlussfolgern. Dabei klang es nicht einmal sehr überrascht oder resignierend. Es war eher so eine Art Vorwissen, oder wie auch immer man es nun nennen möchte. „Was ist mit ihm?“, fragte er geschockt nach. Innerlich jedoch fragte er sich auch sofort, ob er das überhaupt wissen wollte… „Er ist das etwas harmlosere Abbild seines großen Bruders. Ein Schläger, ein ‚Bad Boy’. Woher kennst du ihn?“ „Er ist der Lover meiner Schwester“, stellte Nathan nüchtern fest. Er war selbst ein wenig überrascht, dass er das so locker rüber brachte. Innerlich fühlte er sich viel erschlagener von der Tatsache, dass er einen Teil von Ian Familie die ganze Zeit gekannt hatte… „Sie sind beinahe ein Jahr zusammen, jetzt im August.“ Anerkennend pfiff Samantha. „Das überrascht mich, dann muss deine Schwester etwas Besonderes sein. Wenn ich eines über die Familie Blair gelernt habe – die wohnt überings hier in der Straße – dann ist es die Tatsache, dass sie alle sehr sprunghaft sind.“ Ihr Blick wanderte zu ihm, nur realisierte er das so gut wie gar nicht. Viel eher hatte er begonnen auf den Boden zu starren. Das war alles zu viel für ihn. „Alles klar, Nathan?“ „Was? … Ja, ja klar. Alles ok“, log er. Dabei machte er sich wirklich Sorgen um seine Schwester. Wenn Ian schon so unterkühlt war und wohl sehr viele Probleme in seinem Leben hatte und hat, wie ist dann sein Bruder drauf? „Hat er eigentlich viele Geschwister?“ „Wer?“ „Ja, Ian… Hat er viele Geschwister?“ „Hast du Angst, mit seiner Schwester geschlafen zu haben, ohne es zu wissen?“, scherzte die Brünette neben ihm. „Nein. Ich würde nur gern wissen, wie viele es von der Sorte noch gibt…“ „Er hat einen dreijährigen Bruder, Miguelle. Dann einen achtjährigen Bruder, Niclas. Einen sechzehnjährigen Bruder, Joel. Halt Derek… Nadine, seine zweiundzwanzigjährige Schwester und er hatte mal eine dreißigjährige Schwester. Aber diese beging Selbstmord vor drei Jahren.“ „Oh mein Gott.“ Seine Hände fuhren über sein Gesicht, endeten in seinen Haaren und strichen diese zurück. „Woher kennst du Ian?“ „Ich wohnte damals in seiner Nachbarschaft. Damals haben sie zwar auch in Orlando gewohnt, aber an einer anderen Stelle…. Man bekommt halt so viele Dinge mit, wenn man Haus an Haus wohnt…“ „Was für Dinge?“ Wollte er Mikes Worte bestätigt haben? Wollte er das wirklich? Oder war es einfach nur Interesse an einer Person, die er kennen gelernt hatte und die im Grunde selbst nur ein Spiel spielte. So, wie er es selbst eigentlich auch tat? Weil er nicht nur das Arschloch in Ian sehen wollte? Versuchte er es überhaupt? „Dinge halt. Du musst wissen, dass Ian und seine ganzen Geschwister alle nur Halbgeschwister zueinander sind. Seine Mutter hatte so viele Männer, wie andere Frauen Unterwäsche haben… Und jedes Kind ist von einem anderen. Ians Dad kommt aus Miami, hatte aber hier in der Innenstadt gewohnt. Manchmal, dann habe ich ihn morgens gesehen … er sah aus, wie ein buntes Kunstwerk aus Blau-, Violett- und Grüntönen. Aber er hat sich nie gewehrt. Auch nicht, wenn die Freundinnen seines Vaters ihn anschrieen, ihn schlugen. Er hat sich nie gewehrt…“ Sie seufzte, stieß sich vom Wagen ab und warf einen Blick in die Richtung der Haustür. Seufzte dann erneut und sah wieder zu Nathan. „Dafür wurde er oft von der Polizei nach Hause gebracht um am nächsten Spätnachmittag von zwielichtigen Gestalten abgeholt zu werden. Irgendwann war er für drei Monate weg gewesen ... Drei Monate war er im Knast gewesen, wegen einer Sache, für die er den Kopf hergehalten hatte… Und dann kam eine junge Frau. Amanda. Sie war oft da und irgendwann schob sie einen Kinderwagen. Sie war nett gewesen. So sanft und … Einfach alles, was man sich von einer Mutter halt erwartet…Ab da ging es für Ian etwas bergauf – zumindest sah es von Außen so aus…“ „Was ist dann passiert? Mike meinte…“ „Seine Tochter ist gestorben, das ist passiert. Fünf Jahre war er irgendwie menschlich gewesen. Fünf Jahre! Und dann wird ihm der Boden unter den Füßen weggerissen. Amanda geht, er steht allein da. Er tat mir so leid. Alles, für das er gekämpft hatte, für das er sich eingesetzt und um das er sich gekümmert hatte – weg. Mit einem einzigen Mal. Er fiel in sein altes Schema zurück. Und als Krönung starb dann auch noch seine Schwester und das war der Abschluss. Wann immer er mir damals auf dem Bürgersteig oder im Supermarkt oder wann auch immer begegnet ist, war er so anders. So … weggetreten.“ „Er war auf Drogen?“ „Ich weiß nicht, ob er es wieder ist… Das weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass er sich in der Zeit eine noch dickere Mauer aus Eis erbaut hat. Eine Mauer, die er perfekt erhält und sorgfältig pflegt, damit sie nicht schmilzt. Aber das war die Zeit, in der er sich auch seine kleine eigene Welt erschaffen hatte. Eine Welt, in der er sein eigener Chef war. Weißt du, dass er eine eigene Tanzschule in Miami hat?“ „Ich weiß, dass er Choreograph ist… Und tanzen kann er auch.“ „Ja, er hat eine eigene Tanzschule. Ich hab bei ihm den klassischen Tanz gelernt. Tango, Walzer und all solche Dinge. Ich weiß nicht, ob es ihm Spaß macht. Aber ich glaube, es war auch ein Stück weit deswegen, weil alle, wegen denen er die drei Monate hatte absitzen müssen – wobei es eigentlich ein Jahr gewesen ist, aber die letzten neun Monate hatte er auf Bewährung verbringen dürfen – irgendwelche wichtigen Berufe hatten. Bankier oder etwas in der Art… Ian ist ein Arschloch, weil es bisher noch keiner geschafft hatte, diese Mauer wieder einzureißen. Das hatte nur Amanda geschafft … für eine kurze Zeit.“ Er hatte seine Bestätigung. Das, was Mike ihm sagte, nur ein wenig ausführlicher. Ein wenig detaillierter. „Warum ist er von hier weg?“ „Wegen seiner Tochter, die Trennung von Amanda, der Tod seiner Schwester… Das alles hat ihn völlig fertig gemacht. Daraufhin ist er abgehauen…“ „Warum kommt er nicht wieder?“ „Ich glaube, das ist ein Problem, dass er irgendwie mit irgendjemanden hat. Es ist nicht so, dass alle seine ‚Freunde’ auf die gerade Bahn gekommen sind. Einige von ihnen sind noch heute Mitglieder in einigen Gangs und machen Stress. Es ist nur eine Vermutung.“ „Hast du mit ihm geschlafen, oder warum weißt du das alles?“ Für ihn war es eine durchaus berechtige Frage. Niemand wusste bisher so viel über diese Person. Niemand. „Nein, ich bin nur jemand der viel zuhört, viel lauscht und gern beobachtet. Ich bin Journalistin, ich darf so was… Und die Akte Ian ist noch lange nicht erkundet, glaub mir.“ Kapitel 8: Zurück zur familiären Wiedervereinigung? --------------------------------------------------- 26. Juni. 2011 Gegen siebzehn Uhr stand Nathan an seinen Wagen gelehnt auf dem Parkplatz neben dem Van seines Vaters. Seit ungefähr einer viertel Stunde starrte er auf die Haustür hinauf, haderte mit sich selbst, ob er hoch gehen sollte, oder nicht. Lindsay hatte ihn am Vortag noch einmal angerufen gehabt. Die ganze Nacht hatte er nicht richtig schlafen können. Er wollte seine Schwester nicht allein lassen, wirklich nicht… Entschlossen stieß er sich ab, zog die weite Jeans ein wenig höher und bewegte sich auf die Treppe zu, stieg sie wenige Sekunden später hinauf. Seinen Schlüssel verwendete er nicht, dafür klingelte er. Eine ganze Weile dauerte es, bis er die Vorhängekette hörte, die seine Mutter immer vorschob. Einen Spalt breit wurde die Tür geöffnet und er blickte in das verwunderte Gesicht seiner Mutter. „Nathan, was machst du hier?“, fragte sie ihn. Ihre Stimme klang so, wie sie aussah. Verwundert. „Ich dachte, ich wohne hier?“, gab er von sich und weniger als ein Augenblick später riss seine Mutter die Tür auf und umarmte ihn. Überrumpelt von diesem Gefühlsausbruch seiner Mum, legte er nur zögerlich die Arme um sie. Es war komisch für ihn, dass seine Mutter so reagierte. „Ich bin so froh, dass du wieder da bist…“, gab sie von sich und Nathan konnte hören, dass sie schon wieder mit den Tränen zu kämpfen hatte. Sie weinte einfach zu viel in den letzten Monaten. Er folgte ihr in die Wohnung, als sie ihn endlich losgelassen hatte und setzte sich zu ihr in die Küche. „Hast du wirklich bei Cooper gewohnt? Die ganze Zeit? Was macht die Ausbildung? Hast du eine Freundin? Hast du andere Leute kennen gelernt?“ Sie lehnte sich ein wenig über den Tisch, stützte ihre Unterarme auf die Tischplatte und sah ihn direkt fragend und neugierig an. „Ja, ich habe bei ihm gewohnt, die ganze Zeit über. Aber es war anstrengend, ihn die ganze Zeit um sich zu haben… Die Ausbildung läuft wunderbar. Meine Ausbilderin ist total in Ordnung und manchmal ein wenig bockig, wenn ich das schon weiß oder kann, was sie mir erklären will… eine Freundin habe ich nicht…“, sagte er dann, lächelte aber leicht. Daher hatte Lindsay ihre Neugierde. Das lag alles an den Genen ihrer Mutter! „Aber?“ „Ich habe gestern ein Mädchen kennen gelernt, als ich bei Freunden war.“ „Wie, du warst bei Freunden? Ich dachte, du hast keine Freunde? Hast du selbst immer gesagt…“ „Ich habe sie in Jacksonville kennen gelernt, auf einem Konzert.“ „Und? Wie sind sie so?“ „Sie sind in Ordnung, Ma.“ „Und dieses Mädchen? Wer ist sie? Was macht sie?“ „Sie heißt Samantha, ist Musikjournalistin und wohnt in Miami.“ „Aber wenn sie in Miami wohnt, dann ist die Chance doch so gering, dass ihr euch besser kennen lernt?“ „Sie will hier her ziehen. Nächsten Monat.“ Ein zufriedenes Lächeln erschien auf den Lippen seiner Mutter und sie schien sich irgendwie richtig für ihn zu freuen. „Das ist so schön! Ich freu mich so, dass du wieder hier bist. Es war, als hätte ich meinen zweiten Sohn auch noch verloren.“ „Dann müsst ihr beide aber auch mal etwas dafür tun, dass ich eure Sohn bleibe“, gab er nur von sich. „Ich bin nicht irgendwer, dem man vorschreiben kann, was er zutun und zulassen hat. Ich bin nicht das Arschloch, Ma. Ich habe mich geändert, ok? Also tut ihr auch mal etwas dafür, dass ich gern hier bin.“ Er hatte es einfach nur satt, immer das gleiche zu hören. Er wollte nicht mehr an allen Dingen schuld sein, die passierten. Ihm sollte nicht mehr das mit Blake in die Schuhe geschoben werden, obwohl er selbst wusste, dass es ein Stück weit die Wahrheit war. Aber musste man es ihm dann immer wieder vor die Nase halten? Musste das sein? „Du hast uns aber immer so viel Ärger gemacht, Nathan.“ „Weil ihr mich dazu getrieben habt. Anders hättet ihr mich doch gar nicht wahrgenommen. Alles was ich wollte, war einfach nur ein bisschen Nähe, ein bisschen Akzeptanz von euch. Die habe ich doch vorn und hinten nicht bekommen, nur wenn ihr in die Schule kommen musstest oder wenn ihr mich mal wieder von den Bullen abgeholt habt. Sonst hab ich euch doch gar nicht interessiert!“ „Das stimmt doch gar nicht. Wir haben dich immer geliebt und auch dein Vater hat sich Sorgen gemacht, als die letzten vier Wochen weg warst.“ „Wo ist Dad überhaupt?“ „Er bringt Lindsay gerade zu Derek. Sie wird heute Nacht auch da bleiben, sie fahren morgen zusammen zur Schule.“ „Dann kommt er also gleich wieder?“ „Ja…“ „Klasse“, seufzte Nathan nur, bedeckte das Gesicht mit den Händen. Innerlich konnte er sich also schon einmal auf die Standpauke gefasst machen, die kommen würde…. 10. Juli. 2011 „Alter, wie geht’s dir?“ „Alles klar…“, gab Nathan nur von sich, hielt das Handy zwischen Schulter und Ohr eingeklemmt, während er die Wäsche zusammen nahm, die gerade frisch aus dem Trockner kam. „Wo bist du? Bei deinem Trainer?“ „Seit zwei Wochen wieder zu Hause.“ Am anderen Ende vernahm er ein leises Seufzten von Mike. „Und wie läufts?“ „Könnte besser sein, aber es ist ok.“ „Nathan, nur ok ist nicht gut. Wenn’s Probleme gibt, du kannst bei uns vorbei kommen. Ein Zimmer wird schon frei sein.“ „Danke. Das weiß ich echt zu schätzen… wie läufts bei den Aufnahmen?“ „Hör mir damit bitte einfach nur auf… Es ist im Moment die Katastrophe schlecht hin. Nichts klappt.“ Ein leichtes Lächeln legte sich auf Nathans Lippen. Es hatte doch vorher so super geklappt, warum jetzt nicht mehr? „Dann macht doch einfach erst mal eine Pause. Geht essen, shoppen oder was man halt so macht.“ „Nathan, es ist Wochenende. An einem Sonntag shoppen gehen … ist scheiße.“ „Ok, stimmt auch wieder.“ „Sam ist aber hier. Wollst du nicht auch hier her kommen? Ein wenig quatschen?“ „Ich hab die Hausarbeit heute. Lindsay ist bei Derek, Mum und Dad sind Essen gegangen. Ich wollte nachher noch Blake besuchen. Wann anders, ok?“ „Ich werd noch einmal darauf zurückkommen, glaub mir. Hast du … hm, nächste Woche a[m Samstag was vor?“ „Vormittags haben wir die Werkstatt offen, heißt, ich muss arbeiten bis kurz nach eins. Warum?“ „Ian … er kommt doch hier her. Frag mich nicht, was ihn dazu animiert hat. Aber ich dachte, wir könnten alle gemeinsam was trinken gehen, uns ein wenig unterhalten und so?“ „Ich werds mir überlegen, ok? Wir haben im Moment gerade ein recht normales Familienleben aufbauen können, nachdem wir uns alle angeschrieen und fertig gemacht haben… vielleicht unternehmen wir am Samstag schon was. Ich weiß nicht…“ „Du willst nur Ian nicht wieder sehen müssen, oder?“ Er hörte zu deutlich aus Mikes Tonfall heraus, dass dieser lächelte. Inzwischen kannte er den Musiker schon recht gut um das einschätzen zu können. „Ok, erwischt. Du hast Recht, ich habe keine große Lust dazu ihn wieder zusehen.“ „Dann komm doch wenigstens wegen Sam her. Ihr habt euch doch so gut verstanden?“ „Woher weißt du das denn?“ Seine Augenbrauen zogen sich leicht zusammen. Woher wusste Mike denn davon? Sag nicht, der hat am Fenster gespannert?, dachte er sich und hörte für einige Minuten auf, sich um den Haufen Wäsche zu kümmern. „Ich hab am Fenster gestanden. Eigentlich wollte ich Samantha zurück bitten, aber als ich euch beide da so hab stehen sehen. Ihr seit ein süßes Paar, weißt du das?“ „Alter! Leck mich! Nur weil ich mit ihr nachher noch einen Kaffee-“ Mikes Lachen am anderen Ende ließ ihn stocken. Der würde ihm so oder so nicht mehr wirklich zuhören. Jetzt erst recht nicht. „Ihr wart einen Kaffee trinken. Das war ein Daytime-Date, Babe! Der erste Schritt in die Richtung eines richtigen Dates! Du magst sie nämlich!“ „Sie versteht was von Autos und … sie hat Modegeschmack… Ihren Musikgeschmack kann ich zwar nicht nachvollziehen, aber-“ „Nathan… du willst sie wieder sehen, glaub mir. Du wirst ohnehin mit ihr zusammen kommen.“ „Woher willst du Opfer das denn wissen?“ „Weil ich Sam kenne und weil sie dich mag“ , folgte die Erklärung Mikes und im Hintergrund konnte Nathan das Lachen einer jungen Frau hören. Dann drangen Gesprächsfetzen zu ihm durch. „Wer ist denn noch da?“ „Dana, also Sams Verlobte ist da.“ „Es ist gerade für Außenstehende sehr verwirrend. Du meinst euren Drummer Sam?“ „Ja. Genau. Scheiße, stimmt ja. Ich sollte mir angewöhnen, Samantha Sammy zu nennen. Ich glaube, das ist besser.“ „Allerdings…“ „Nathan! Mit wem sprichst du?“ „Mike, ich muss Schluss machen, meine Schwester ist wieder da…“ „Alles klar, ruf mich einfach an, wenn sich was wegen Samstag getan hat, ja? Ich hoffe doch, die stellst das Familiending nach hinten an. Ich will dich dabei haben!“ „Alles klar. Bye.“ Er legte auf, packte die letzten Wäschestücke in den Korb und erhob sich vom harten Fliesenboden. „Das war nur Mike“, gab er zurück, erhob sich und betrat den Flur. „Aber was machst du hier?“, fragte er gleich hinterher. „Ich hab was vergessen … also bin ich wieder hier her. Derek wartet draußen.“ „Wenn’s sonst nichts ist…“ „Gehst du heute zum Training?“ „Ich denke. Warum?“ „Ich wollts nur wissen“, sagte sie und kam aus ihrem Zimmer heraus. „Das hat bei dir doch immer so einen Hintergrund“, lächelte er stemmte die Hände in die Hüften und wartete auf eine Antwort. „Na ja“, begann sie um die Sache herum zudrucksen. „Du könntest mich ja eigentlich dann, weißt du, du könntest mich dann ja eigentlich abholen, heute Abend, oder?“ Bittend blickte sie ihn an, versuchte dabei besonders niedlich auszusehen. Das war ihre typische Masche, wenn sie irgendwas wollte. Dann war sie grundsätzlich der Engel auf Erden. „Ruf mich einfach an, ich komme dann vorbei.“ „Du weißt doch gar nicht, wo er wohnt!“, stellte sie überrascht fest. „Du glaubst gar nicht, was ich alles weiß, Lin. Ich komme schon dahin und hol dich ab.“ „Ich hab dich lieb!“ Ein glückliches und zufriedenes Lächeln erschien auf ihren Lippen, als sie auf ihn zuging und sich dann an ihn schmiss, ihre Arme um seinen Hals legte und ihm einen Kuss auf die Wange drückte. „Ich ruf dich dann an“, sagte sie noch hinterher und war dann auch schon wieder verschwunden. Die Tür knallte, es hallte etwas nach, dann legte sich Stille. Mit dem Rücken lehnte er sich an die Wand, ließ ein Seufzen über seine Lippen gleiten, ehe er an eben dieser Wand herunter rutschte und die Beine leicht anwinkelte. Was hatte er gerade noch zu Mike gesagt? Sie wären gerade alle wieder einigermaßen zu einer Familie zusammengekommen? Es liefe gut? Was versuchte er sich einzureden! Da war nichts, was sich wie ‚zu Hause’ anfühlte. Es fühlte sich rein gar nicht so an. Da war keine Vertrautheit. Da war nicht das Gefühl, sich auf zu Hause zu freuen. Nein. In den letzten beiden Wochen war es eher zu einem goldenen Käfig geworden, als zu irgendwas anderem. Manchmal fragte er sich ernsthaft, was er hier überhaupt machte. Es kam ihm so surreal vor. Diese Familie, die sie spielten, die gab es doch gar nicht mehr. Was tat er also hier? Seine Hände verdeckten sein Gesicht und ein kaum hörbares Seufzen verließ seine Lippen. Jedoch folgte diesem ein weiteres und noch eines, welches sich jedoch unverkennbar in ein Schluchzen wandelte. Man sah ihm nie an, was in ihm vor sich ging. Nie sah man das. Aber sobald er wusste, dass er mal ein paar Stunden für sich hatte, ließ er seine Mauer herunter. Nur damit er genug Kraft hatte, um die Mauer um sich herum wieder aufzubauen, die sonst vor zu vielen Gefühlen geplatzt wäre. Wie lange willst du dir das noch antun?, fragte er sich selbst. Immer noch hallte in seinem Kopf wieder, dass sein Vater ihn hier ohnehin nicht haben wollte und ihn nur akzeptierte, weil seine Mutter es so wollte. Er sollte doch ausziehen, sobald sich das Geld dafür bot. Er würde dies wahrscheinlich sogar tun, ertrug er das hier doch alles nicht mehr. Fahrig wischte er sich die Tränen von den Wangen, fuhr sich über die Augen, doch kamen für die, die er wegwischte, immer wieder neue nach. Nachher würde er ins Krankenhaus fahren. Er würde ein ruhiges Zimmer vorfinden, mit einem meist leeren zweiten Bett und einem Bett am Fenster, in dem sein Zwilling lag. Jedes Mal war es die gleiche Szene. Und nur manchmal, dann lag noch eine andere Person mit in dem Zimmer. Aber nur manchmal. Sonst war es bis auf Blake immer leer. Wieder würden die gelben Vorhänge aufgezogen sein. Wieder würde das Fenster gekippt sein. Wieder würden die Stühle in der gleichen Position stehen, wie sie es immer taten. Es wäre wie immer. So, wie er es kannte. Bald wäre es ein Jahr. Ein Jahr, in dem er allein war. Allein in dem Sinne, dass ihm eine Person fehlte. Und zwar genau die Person, die ihm den Halt im Leben gab. Langsam raffte Nathan sich zusammen, schluckte den Rest der Traurigkeit wieder herunter und verschloss sie irgendwo, hoffte, dass sie heute nicht noch einmal frei kommen würde. Er brachte die Wäsche in die verschiedenen Zimmer, machte die Küche fertig, räumte das Wohnzimmer auf und saß gegen halb drei allein in der Küche am Tresen zwischen Wohnzimmer und Küche und drehte einen grünen Apfel auf der glatten Fläche hin und her. Den Kopf auf die Hand gestützt, verfolgten seine Augen die Bewegungen des Obstes und er verspürte irgendwie den Wunsch, dieses an die Wand zu werfen. Nur, damit er sieht, wie es zerplatzt und sich auf der Tapete verteilt. „Scheiße!“, fluchte er, ließ den Apfel liegen und erhob sich von dem Hocker, ging in den Flur, nahm seine Schlüssel, schlüpfte in die Vans und verließ die Wohnung. Langsam ging er durch die Korridore des Krankenhauses, fuhr mit dem Lift in das Stockwerk, in das er immer fuhr. Die Schwestern, die er auf dem Weg traf, grüßte er. Er kannte sie beinahe alle mit Vornamen und sie kannten ihn ebenso. Es war … immer dasselbe Schauspiel. Ohne zu klopfen betrat er das Zimmer seines Zwillings und es war wie erwartet nicht weiter belegt. Das leise Surren und Piepen der Geräte hörte er schon gar nicht mehr, zu vertraut war es geworden, als dass er sich darum kümmern konnte. Leise zog er sich den Stuhl zurecht, blieb aber erst kurz stehen und sah auf seinen Bruder herunter. Vorsichtig strich seine Hand über die Wange Blakes, strichen die langen schwarzen Haare etwas von der Schulter zurück auf das Kissen. „Wenn du dich jetzt sehen könntest“, flüsterte er. „Lange Haare – jetzt siehst du aus, wie meine Zwillingsschwester.“ Er ließ sich auf den Stuhl fallen, fasste die schlanke Hand seines Bruders, strich mit dem Daumen sanft über dessen Handrücken. Im Gegensatz zu seiner eigenen Hautfarbe wirkte Blake beinahe schon weiß. So hell und zerbrechlich – wie eine Porzellanpuppe. „Wenn du wieder wach werden würdest, könnte ich dir jemanden vorstellen. Du würdest nie erfahren, wer das sein würde. Glaub mir, es würde dich umhauen“, begann er drauflos zu reden. „Ich bin eingeladen, nächste Woche Samstag. Aber ich weiß nicht, ob ich Mum enttäuschen soll, wenn ich nicht mit zu diesem Familiending gehe… Aber … Samantha wird auch da sein. Ich mag sie… Sie ist total hübsch. Eine Frau, bei der man auch mal was in der Hand hat. Bei ihr muss man keine Angst haben, ihr was zu tun, wenn man sie fasst… Wie so viele andere Frauen…“ Ob er sich doof vorkam? Nein. Er sprach ja nicht mit einer Wand, sondern mit seinem Bruder. „Du würdest sie bestimmt auch mögen. Sie ist zwar nicht dein Typ, sie ist nicht blond und so, aber ich glaube, du würdest sie mögen…“ Eine Weile entstand eine Art angenehmes Schweigen, nachdem er seinen – sozusagen – Monolog beendet hatte. „Und wenn du hier wärst, wach wärst, könntest du mir auch sagen, was ich mit Ian machen soll. Ich hab dir schon von ihm erzählt, der Choreograph aus Miami… Obwohl er so ein Arsch ist, und obwohl er irgendwie so aufdringlich ist, fange ich an, ihn zu mögen. Verstehst du? Und dann die Sache mit Dad … Es klingt vielleicht egoistisch oder sonst was, aber wenn du endlich wieder deine Augen aufmachen würdest, würde er mich nicht mehr so ansehen. Mit diesem ganzen Hass, den er gegenüber Mum vielleicht verbergen kann, aber wen wir allein sind, würde er mich am liebsten achtkant aus der Wohnung werfen. Er hasst mich…“ Seine zweite Hand legte sich auf seine eigene, ehe er sich vorlehnte und auch seine Stirn darauf legte. „Ein beschissenes Jahr ist es bald, Blake. Ein Jahr – ohne dich. Willst du nicht mehr wieder zu uns kommen? Hast du keine Kraft, wieder wach zu werden? Ich brauche dich – was ich nicht alles dafür tun würde. Meinetwegen sogar mit dir tauschen.“ Nach Stunden die er folglich nur schweigend bei Blake am Bett sitzend verbracht hatte, klopfte es leise und zögerlich an der Zimmertür, ehe diese aufgeschoben wurde. Nathan bekam es schon gar nicht mehr mit, wie jemand ins Zimmer kam, befand er sich doch irgendwo zwischen Schlaf und Wachsein. Erst die Hand auf seinem Rücken ließ ihn hochschrecken. Verwirrt blickte er sich um und sah direkt in das leicht lächelnde Gesicht Mikes. „Was machst du hier?“, fragte er nach, räusperte sich kurz, als er mitbekam, wie kratzig seine Stimme klang. „Woher … woher wusstest du-“ Er unterbrach sich selbst, als er merkte, was er für einen Stuss von sich gab. „Ich weiß alles“, gab Mike jedoch nur von sich, ließ seine Hand auf Nathans Rücken liegen und ließ seinen Blick auf Blake wandern. „Wie lange?“, fragte er nur, zog sich selbst einen Stuhl heran. „Bald ein Jahr.“ Es folgte ein Nicken von der Seite des Sängers, ehe dieser sich setzte. „Wie kommst du damit klar?“ „Gar nicht?“, lachte Nathan humorlos auf. „Ich komme damit gar nicht klar.“ „Kann ich nachvollziehen. Wirklich. Wie machst du das?“ „Was mach ich wie?“, folgte die überraschte Frage. „Einfach so weiter zu leben? Du wirkst stark. Ich wusste gar nicht, dass sein Bruder im Koma liegt.“ „Wer hats dir gesagt?“ „…Versprich mit, ihn nicht zu töten, ok?“ „Ian?“ „Ja“, bestätigte Mike, legte die Hände im Schoß zusammen und lehnte sich an die Rückenlehne. „Nein … früher oder später hättet ihr es ohnehin erfahren…“ „Nathan?“ „Hm?“ „Du kannst das gut, oder?“ „Alles verstecken? Ja.“ „Warum?“ „Weil … es muss wenigstens einer in der Familie die Fassung halten. Meine Mutter schwimmt jeden Tag in ihren Tränen, Dad lässt seine Trauer an mir aus und Lindsay ist ewig bei Derek, damit sie wenigstens ein paar Stunden vergessen kann. Ich bin sozusagen die Rettungsboje, an der sich jeder ausheulen kann, weißt du?“ „Und was ist mir dir?“ „Was soll mit mir sein? Ich lebe wieder zu Hause, habe eine super Ausbildung…“ „Aber niemanden zum reden, oder?“ Nathans Kopf senkte sich ein wenig, ein Kopfschütteln folgte. „Jeder redet mit mir, schweigt mich im Umkehrschluss aber auch wieder an. Aber es ist ok.“ Sanft fasste Mike sein Kinn, drehte seinen Kopf in seine Richtung. „Hey, ich weiß wie scheiße es ist, mit niemanden zu reden. Oder besser gesagt, es nicht zu können. Rede mit mir.“ „Ich bin nicht gut darin, mit anderen zu reden. Ich kann das nicht“, sagte er. Dabei hatte er schon genug Probleme seine Stimme unter Kontrolle zu halten, verlor sie doch gerade mehr und mehr die Festigkeit, die sie sonst besaß. „Was kannst du nicht?“ Nathan wischte die Hand weg, die sein Kinn hielt, stand auf und wendete sich dem Fenster zu. Warum war Mike gerade jetzt hier? Warum? Konnte dieser nicht einfach wieder gehen? So sehr er es auch schätzte, dass er hier war – aber warum? Woher überhaupt? Woher wusste Mike, in welchem Krankenhaus Blake lag? Woher wusste Mike, dass er hier war? Woher? Hinter sich hörte er, wie auch Mike sich erhob und auf ihn zukam. „Was kannst du nicht?“, wiederholte dieser seine Frage. „Darüber reden. Ich bin jetzt schon der absolute Waschlappen, ich will nicht noch tiefer sinken…“, murrte Nathan vor sich hin, schob die Hände in die Tasche und blickte aus dem Fenster. Aber sobald er seinen Blick etwas hob, begegnete er dem des Sängers durch die Scheibe hindurch. „Du bist stärker als ich es in der Situation war“, drangen die ruhigen, ungewöhnlich tiefen Worte an Nathans Ohr. „Ich war eine wandelnde Leiche, Nath. Damals, als Seth im Koma lag, nach einer Op… Ich hab nicht so weiter gemacht wie du, ich hab alles schleifen lassen. Alles. Du kämpfst dich aber weiter durch dein Leben und tust auf gute Miene. Ich sehe in dir keinen Waschlappen – in dir sehe ich jemanden, der sich von nichts in die Knie zwingen lässt, und wenn, dann stehst du wieder auf.“ „Woher willst du das schon wissen?“, kam es gar schon spottend von Nathan zurück. Wie wollte Mike so über ihn urteilen können? Er kannte ihn nicht. „Woher willst du wissen, ob ich wieder aufstehe? Vielleicht liege ich die ganze Zeit schon am Boden?“ „Nein, würdest du das tun, wärst du nicht hier. Ich habe eine recht gute Menschenkenntnis entwickelt. Und glaub mir, du liegst nicht am Boden…“ Langsam drehte er sich zu dem Ältern um, blickte zu diesem hoch und sah in die grünen Augen, die er heute hatte. Das Kamäleon der Musikszene. „Das mit Seth…“ „Nach einer Op, vor ein paar Jahren. Er konnte nicht laufen, die Op sollte es ändern, aber er fiel ins Koma für zwei Monate. Zwei Monate in denen ich mich selbst nicht erkannt habe. Ian hat mir erzählt, was mit Blake war…“ „Es war meine Schuld.“ Zwei Hände legten sich auf seine Schultern, als er wieder auf den Boden blickte, dem Blick Mikes versucht auswich. „War es nicht. Du konntest nichts dafür – wärst du früher gegangen, wärst du es nun, der hier liegen würde. Ok? Es war nicht deine Schuld.“ „Warum sagen das alle? Warum? Dabei hätte ich da sein müssen!“ Ein heftiger Ruck ging durch seinen Körper, als der Sänger ihn einmal schüttelte. „Gib dir nicht die Schuld für etwas, an der du sie nicht trägst!“ „Ich bin schuld an dem Zerbrechen meiner Familie. Deswegen hasst mein Vater mich, deswegen weint meine Mum nur noch… Deswegen ist Lindsay so oft weg, deswegen … das alles – es ist … es ist, als würde ich in tiefes Loch fallen, immer und immer tiefer. Als hätte es keinen Boden, auf dem ich aufschlagen könnte und dieses ewige, unaufhörliche Fallen macht mir Angst!“, wisperte er vor sich hin und schloss für einen Moment die Augen. Seine Zähne bohrten sich in seine Unterlippe, während er krampfhaft versuchte, das herunter zu kämpfen, von dem er glaubte, er hätte es verschlossen. Wenigstes für diesen Tag, aber da hatte er falsch gedacht. Vorsichtig schloss Mike ihn in die Arme. Es war ungewohnt, von jemanden umarmt zu werden… Zögerlich erwiderte er diese Umarmung, erlaubte es sich, sein Gesicht in Mikes Halsbeuge zu verstecken und für einen Moment einfach die Nähe zu einem Menschen zu genießen, der es wohl wirklich ernst meinte, mit dem, was er sagte. „Wenn dir nach einer gepflegten Runde heulen ist, tu es einfach.“ „Ich vermeide es“, kam es nur zurück. „Nein, es ist wirklich ok, Nath. Manchmal braucht man das.“ „Manchmal ist nicht jetzt.“ „Du bist wirklich nicht schuld. An nichts von dem. Bitte, glaub das, ja?“ Darauf hin kam jedoch keine Antwort. Nathan war es leid, immer die gleichen Floskeln zu hören, dabei musste er doch am besten wissen, woran er schuld war und woran nicht, oder etwa nicht? „Komm, lass’ einen Kaffee trinken gehen oder so, damit du wieder runter kommst.“ „Ich muss Lindsay abholen…“ „Dann holst du sie ab, bringst sie nach Hause und kommst dann zu mir. Seth ist zwar einkaufen, aber ich denke, das stört nicht, oder?“ „Nein … ok…“ Langsam lösten sie sich von einander, Mike wuschelte ihm durch die Haare und gab ein: „Und jetzt lächle wieder“, von sich. „Steht dir viel besser.“ Wie automatisch legte sich ein Lächeln auf seine Lippen und Mike schlug ihm sanft auf die Wange. „Geht doch“, gab dieser von sich und warf einen letzten Blick auf Blake. „Wir sehen uns dann gleich?“ „Ja. Ich bin ungefähr in einer halben Stunde dann bei dir.“ „Schön.“ Ein Grinsen erschien auf Mikes Lippen und er verließ das Zimmer kurz darauf. Er würde diesen schrägen Typen nie wieder loswerden, wie es aussah. Aber vielleicht war es auch gar nicht mehr so schlecht, dass er jemanden hatte, wie Mike? Nur, dass nicht Seth irgendwann auf die Idee kam, eifersüchtig zu werden oder so… „Ich komme die Tage wieder, B“, sprach er an seinen Bruder gewandt und verließ dann ebenso langsam das Zimmer. Langsam fuhr er auf die Einfahrt zu, auf welcher auch schon Dereks schrottreifer Sportwagen stand. Nachdem er den Wagen abgestellt hatte, stieg er aus und ging auf die Haustür zu, klingelte. Während er sich umdrehte, darauf wartete, dass man ihm die Tür öffnete, erblickte er am Straßenrand den alten Sportwagen, den er selbst schon gefahren hatte. Der dunkle, mit der hübschen Innenausstattung und dem einmaligen Sound… Die Tür hinter ihm ging auf und ein: „Wer will was?“, war zu hören. Kapitel 9: Die Vergangenheit holt einen immer ein Part 1 -------------------------------------------------------- ------------- Die Vergangenheit holt einen immer ein Part 1 -------------- Er drehte sich um und es geschah für Nathan, als würde die Zeit auf einmal in Slowmotion laufen. „Was willst du?“, drang die Stimme an sein Ohr, brauchte ein paar Minuten bis sie im Speicher zugeordnet wurde. „Ich … Was machst du hier? Ich dachte, du wolltest nicht mehr hier her kommen?”, folgte jedoch eine andere Frage und Nathan blickte Ian direkt in die kühlen braunen Augen. „Ich habs mir anders überlegt. Aber was willst du hier?“ „Meine Schwester abholen. Sie hat mich angerufen gehabt, vor ein paar Minuten…“ Ian nickte, drehte sich um und schrie einmal: „Lindsay!“, durch das gesamte Haus. Was man daraufhin hörte, war Kindergeschrei, dann wie jemand die Treppe hinunter polterte. „Ian!“ Ein kleiner, blonder Junge kam den Flur entlang gestolpert, prallte gegen Ians Beine und fasste dann die wesentlich größere Hand des Tänzers. „Hey Miguelle, pass doch auf“, kam es von Ian zurück, in einer Tonlage, die Nathan von dem Brünetten niemals erwartet hatte. Mit einem geübten Handgriff hob der Ältere den kleinen Jungen auf die Arme, blickte zu dem Dreijährigen. „Was los?“ „Soll mh, Linsay wirklich schon mh gehen?“, fragte der Kleine nach, fummelte mit seinen Händen an dem Hemdkragen Ians herum, sah durch seine braunen Augen zu seinem großen Bruder. „Sie muss morgen wieder zur Schule. Du musst doch auch morgen wieder in den Kinderhort.“ „Spielt sie dann auch … mh auch mir anderen Mädchen?“ Rau lachte Ian auf, nickte dann aber. „Bestimmt.“ „Wer is das?“ „Nathan.“ „Ein Freund von dir?“ Es überraschte ihn wirklich. Die Bilder, welche ihm Mike und Samantha von Ian gegeben haben, machten auf einmal Sinn. Er war beinahe der perfekte Vater … So lieb wie er lächelte, die ruhige Stimme mit dieser gewissen Wärme darin. „Kommst du mit rein? Derek kann sich bestimmt nicht von ihr trennen“, bot Ian dann jedoch an, drückte die Tür weiter auf und ging vorweg. „Meinetwegen“, stimmte er zu und folgte dem Älteren in das Haus. Er schloss die Tür hinter sich und befand sich folglich beinahe sofort im Wohnzimmer. Überall lagen Kinderspielzeuge herum, und dennoch sah es hier sehr aufgeräumt aus. Dunkle Möbel und eine dunkle Couch – kein Wunder, bei Kindern… wäre eine weiße Couch auch ein Fehler. „Willst du was trinken?“ Mit ihm sprach Ian wieder so, wie er es immer getan hatte. So eiskalt und von oben herab. „Nein, danke.“ „Setz dich“, wies Ian ihn an, deutete auf die Couch und setzte Miguelle wieder auf dem Boden ab. Er ließ sich auf die Couch fallen, hatte aber sogleich den kleinen Miguelle neben sich, der auf seinen Schoß kletterte und ihn gar neugierig ansah. Im Hintergrund hörte man weiteres Kindergeschrei und wenig später tauchte Ians anderer kleiner Bruder auf, gefolgt von Lindsay, die hinter dem Kleinen herjagte. Sie lachten beide und stoppten erst in ihrer Hetzjagd, als sie Nathan entdeckten. „Leben alle deine Geschwister hier?“ „Woher willst du denn wissen, dass das meine Geschwister sind?“, fragte Ian, blickte von der Küche her zu Nathan rüber. „Ich habe so meine Quellen.“ „Bis auf meine Schwester, ja. Niclas, lass doch endlich die Katze! Wo ist Derek?“, wandte sich Ian an die rothaarige junge Frau, die sich nun neben ihren Bruder fallen ließ und ihm Miguelle abnahm, der auch gleich begann, mit ihren Haaren zu spielen. „Der packt gerade seine Sachen zusammen, für das Training morgen“, antwortete sie ihm, löste die Hände des Jungens aus ihren Haaren und lehnte sich etwas an ihren Bruder. „Warum hast du mir nicht gesagt, dass Ian Dereks Bruder ist?“ „Ich wusste es auch erst seit ein paar Wochen.“ „Ein paar Wochen! Da hättest du es mir aber schon mehrmals erzählen können“, lachte sie leise. „Habe ich aber nicht“, kam es dann zurück und auch er lächelte vor sich hin. „Jo, jo, jo. Ian! Joel und ich sind heute Abend noch aus, mit dem Team!“ Nathan sah, wie Ian nickte, die Hand ausstreckte und mit seinem Bruder einen lässigen Handschlag tauschte. Alles war ok, bis Dereks Blick auf Nathan fiel. „Was will der denn hier?“ „Derek, er wollte mich nur abholen, aber ich habs nicht mitbekommen.“ Ein Blickduell entstand, das keiner der Beiden unterbrechen wollte. Erst als Ian sich zwischen sie stellte, hörte man Derek tief durchatmen. „Der will mich nicht bei sich daheim, ich will ihn hier nicht haben!“ „Wenn du deine Fresse nicht hältst, gehst du heute Abend nicht weg, Junge.“ „Was wird das? Du bist nie hier und dann spielst du einen auf big Daddy? Du bist nur mein Bruder, nicht mein Vater.“ „Das versuche ich auch gar nicht zu sein. Ich will dir nur das beibringen, was dein Oller versäumt hat, Derek.“ „Pah!“, war das Letzte, das man noch hörte, ehe Derek sich umdrehte und ging. „Ian, musste das sein?“, mischte sich Lindsay ein. „Ja, musste es. Misch du dich nicht in familiäre Dinge ein, dann bleiben wir auch Freunde, Weib.“ „Ian!“ Das Kreischen der Katze jedoch unterbrach Nathan jedoch in seiner begonnen Rede. „Niclas! Lass die Katze endlich, lass sie endlich. Du bist langsam alt genug dafür, das zu wissen!“ Den ersten Eindruck den Nathan von dieser ‚Patchwork-Family’ bekam war alles andere als glänzend. So chaotisch und undiszipliniert. Etwas, das irgendwie so gar nicht zu Ian passte. Obwohl dieser Kerl so anzüglich war und sich eigentlich nur um eine Sache in der Welt zu scheren schien, hatte er wohl eine bessere Kinderstube genossen, als diese Kinder hier. „Was machst du da eigentlich?“, wechselte Nathan aber das Thema, erhob sich und ging zum Tresen rüber. Die ganze Zeit, die Ian nun schon hier herum stand, war er da in der Küche am rumwerkeln. Mit welchem Sinn? „Ich bin dabei, das Abendessen fertig zu machen, dann muss ich es nachher nur noch in den Backofen schieben.“ „Du kannst kochen?“, folgte die Frage und Nathan lehnte sich etwas gegen den Tresen, verschränkte die Arme auf der Platte. „Natürlich? Ich wohne allein in Miami, da gibt’s keine Frau, die mich versorgt und mich bekocht, also muss ich das allein machen. Man gewöhnt es sich an.“ „Nathan? Ich setze mich schon ins Auto, ja?“ „Willst du fahren?“ Er drehte seinen Kopf leicht über die Schulter hinweg, sah Lindsay direkt an und zog schon einmal den Schlüssel aus seiner Hosentasche. „Darf ich?“ „Klar.“ Lindsay setzte Miguelle auf dem Boden ab, fing den Schlüssel, den Nathan ihr zuwarf und war wenige Sekunden später verschwunden. „Du lässt sie mit deinem Wagen fahren?“ „Warum nicht? Sie kann das und kommt mit meinem Auto besser klar, als mit ihrem eigenen…“ „Ist das so?“ „Jap. Ich verabschiede mich dann auch.“ „Kein: ‚War schön dich wieder zu sehen’?“ „Bist du denn irre?“, lachte er nur leicht, schüttelte den Kopf. „Mike meinte, du wolltest erst gegen Wochenende kommen?“ „Ich bin schon länger hier, das weiß nur keiner.“ „Dabei wohnen die nur drei Häuser weiter die Straße runter.“ „Tja“, gab Ian von sich, stemmte die linke Hand in die Hüfte und deutete mit dem leicht verschmierten Kochlöffel auf Nathan. „Die leben aber auch erst seit zwei Jahren hier, ich bin hier jedoch aufgewachsen. Orlando ist zwar das beschissenste Kaff der Welt, aber immerhin bin ich groß geworden.“ „Nicht eher im Ghetto der Stadt?“ „Anfangs. Sag’ mal, wer hat dir denn das alles erzählt?“ „Sammy.“ „Woher kennst du sie?“ „Durch Mike und Seth. Sie ist doch deren private Journalistin und so’n Merchgirl oder nicht?“ „Klar, aber ich hätte nicht erwartet, dass du sie kennst…“ „Na, was steckt denn hinter dieser Story, Ian?“ „Später – vielleicht mal… Los hau ab. Lindsay wartet.“ Seine Augenbrauen zogen sich leicht skeptisch zusammen, als er diese Worte vernahm. Was steckte denn hinter Samantha und Ian? Was war mit den beiden? Es musste etwas Interessantes gewesen sein, wenn Ian anfing zu stottern. Das hatte er bisher noch nie getan. „Ich bin nächste Woche Samstag dabei – du auch?“ „Bei der Grillaktion bei Mike? Was denkst du denn?“ Sei ruhig immer so, dachte Nathan sich, nickte und hob die Hand, ehe er sich aus dem Haus verzog. Warum war Ian nicht immer so zu ihm? Warum war er nicht immer so lässig kühl, aber gleichzeitig nicht unterkühlt? Wenn er so war, war Nathan damit zufrieden. So musste er sich wenigstens um Frostbeulen keine Sorgen machen. Und es fiel ihm leichter, mit Ian umzugehen. 16. Juli. 2011 Die Dämmerung zog langsam dunkle Streifen über den Himmel, verdrängte die Sonne und zauberte mit dieser zusammen wunderbare Farbspiele an den Himmel. Kein Künstler dieser Welt war in der Lage, dieses Bild zu kopieren, keine Kamera würde es so einfangen können. Es war einfach nur wunderbar. Der Geruch von Grillkohle – so oder so etwas Ungewöhnliches, wie Nathan fand – und Steak schlich sich in seine Nase. Stimmen, Gelächter und Musik drangen an sein Ohr. Seinen Blick endlich vom Himmel nehmend, sah er Samantha von der Seite auf ihn zukommen. Ihre Hände hielten zwei Falschen Bier, wovon sie ihm eine reichte und sich neben ihn stellte. „Ich freu mich, dass du doch gekommen bist“, sagte sie und ihre hellen Lippen lächelten ihn an. Sie sah anders aus, als das erste Mal an dem er sie kennen gelernt hatte. Ihre hellbraunen Haare nun mehr schwarz und mit leicht rotorangenen Strähnen durchzogen, fielen ihr bis zur Brust und sie sah aus, wie Mikes Schwester. Sie trug wie der Screamer eine schwarze Röhrenjeans, dazu ungeschnürte Boots, ein hellblaues Oberteil und eine kurze Lederjacke, deren Ärmel bis zu den Ellenbogen hinauf gekrempelt waren. Aber das tat ihrer Schönheit keinen Abbruch. Nicht, dass er Mike als abstoßend hässlich befand, aber Sammy war dann doch wesentlich attraktiver. Nicht zu letzt, weil sie eben weiblich war. „Ich freu mich auch…“ „Du klingst aber nicht gut. Was los?“ „Mal wieder Stress daheim – wie immer eigentlich.“ „Worum gings?“ „Darum, dass ich hier bin und nicht bei meiner Familie zu Hause.“ „Du bist neunzehn! Da sitzt man nicht immer bei der Familie daheim und guckt Filme“, lachte sie, nippte an ihrem Bier und zuckte mit den Schultern. „Find ich ja ein bisschen lächerlich, deswegen Stress zu machen.“ „Tja, du kennst meine Eltern nicht“, seufzte er, blickte von Samantha wieder zurück in den Himmel. „Aber jetzt bist du ja hier, schieb das mal von dir.“ Sie knuffte ihn mit ihrem Ellenbogen sanft in die Seite, lachte und lehnte sich dann leicht gegen ihn. „Ich bin richtig froh, den Tag nicht früher gefahren zu sein.“ „Ist das so?“ „Ja, sonst hätte ich dich nicht so richtig kennen gelernt und das freut mich.“ „Sammy, wir müssen reden“, ertönte Ians Stimme wenig später aber aus dem Hintergrund und ohne weitere Vorwarnung zog der Brünette die Schwarzhaarige auch mit sich. Sie blickt mich irritiert und überrumpelt an, aber das juckt mich herzlich wenig. „Was zur Hölle erzählst du für einen Mist?“, frage ich sie auch gleich. „Ich … was hab ich denn erzählt?“ „Ich dachte, meine Probleme von damals würden unter uns bleiben! Was hast du Nathan davon erzählt?“ Sie starrt mich an, als hätte ich ihr sonst was angetan. „Ich weiß nicht …was du meinst, Ian. Was soll ich ihm denn gesagt haben?“ Diese Unschuldstour, sie geht mir auf den Wecker damit, aber ganz gewaltig. „Du weißt ganz genau, was ich damit meine! Was geht ihn meine Vergangenheit an? Das mit Amanda, das kann ihm egal sein. Und erst recht mein Absturz. Ich dachte ich könnte wenigstens dir vertrauen, was das Geheimhalten von Dingen angeht“, wettere ich ihr leise entgegen. „Er hätte es doch früher oder später so oder so erfahren. Ob nun durch Mike oder dich selbst.“ „Lieber durch mich selbst. Kannst du dir ausmalen, was für ein Bild er nun von mir haben muss?“ „So schlecht kann es nicht sein“, antwortet sie mir dreißt und grinst mir auch noch ins Gesicht. Ich glaube, wenn sie so weiter macht, wird sie die erste Frau sein, die ich in meinem Leben geschlagen habe. Wirklich. Ich mag Samantha eigentlich – sehr gern sogar. Aber so etwas muss bei Gott nicht sein. Ich hasse es, wenn mir jemand in den Rücken fällt. „Bitch, eh. Ehrlich. Was willst du damit erreichen?” „Ian…“ Sie legt mir ihre freie Hand auf den Oberarm, streicht mit dem Daumen darüber. Was will sie von mir? „Du brauchst jemanden – ganz dringend. Jemanden, mit dem du reden kannst. Weißt du? Jemanden, der auch mit dir reden will.“ So eine Person brauche ich nicht. Erst recht nicht Nathan. „Hör mir mal zu, Junge. Ich war durch einen beschissenen Zufall immer bei dir gewesen, aber ich konnte dir nie helfen – obwohl ich gern deine Freundin gewesen wäre, die dir helfen kann. Aber ich konnte nicht und ich akzeptiere das auch. Aber du brauchst einen Freund an deiner Seite. Und jetzt komm mir nicht mit David. Der Kerl ist so über. Wenn du mehr Zeit mit ihm verbringen würdest, würdest du nur wieder abstürzen und das kann ich nicht verantworten.“ Wird das hier jetzt eine Moralpredigt á la die Welt ist ohne Freunde beschissen? „Und mit Mike kommst du auch nicht auf einen grünen Zweig, was Vertrauen betrifft.“ „Aber mit Nathan soll ich auf einen Zweig kommen, oder was? Wie stellst du dir das vor, wenn du ihm alles über mich erzählst? Dann kann ich es ja auch gleich an die nächste Hauswand kritzeln: Ich – Ian Blair – hatte ein Drogenproblem! Habe meine Tochter verloren und bin beinahe chronisch gestört! Soll ich das machen oder was?“ Ihre Augenbraue hebt sich. Was will sie mehr? Sie hat mich angekniet wieder nach Hause zu kommen. Also hier her nach Orlando. Sie hat mich angebettelt, meine Familie zu besuchen. Sammy kennt mich eigentlich zu gut und das ist bei weitem nicht gut. Ich kann es nicht ab, wenn man mich so gut kennt. Sie ahnt beinahe jeden meiner Schritte voraus und das macht mir Angst. „Das meine ich nicht. Aber vielleicht könnt ihr euch gegenseitig helfen. Es sei denn er erfriert durch deine arktische Kälte, dann natürlich nicht.“ „Du weißt um mein Problem mit Menschen klar zu kommen.“ „Es klappt doch bei mir auch – außer jetzt eben. Aber du bist sauer, ich versteh das“, sagte sie lächelnd und klimpert mit ihrem Wimpern. Dieses Frauenzimmer! Ich will sie nicht beleidigen – für sie fallen mir ohnehin keine passenden Flüche ein, die ich über sie ergießen könnte. Sie würde nur drüber lächeln, mit die Wange tätscheln und dann gehen. Ich hasse diese Art an ihr. Aber auf der anderen Seite liebe ich sie dafür, wie sie ist. „Wir bekommen das schon hin. Vor allem würdet ihr euch gerade super helfen können, weißt du?“ „Wie kommst du auf diese seltendämliche Idee?“ „Glaub mir einfach mal, ja? Vertrau mir, wenn du es bei sonst niemanden tust.“ Damit drehte sie sich weg und geht. Sie lässt mich einfach stehen. Sammy ist damit die einzige weibliche Person dieses Planeten, die das getan hat und tun wird. Manchmal bin ich wirklich nicht mehr ganz sicher, ob sie sich nicht doch auf dem falschen Ufer herum treibt. Aber wie gesagt, es ist Samantha… Ich sehe mich kurz um, sehe sie wieder bei Nathan stehen, erblicke dann Mike am Grill. Er unterhält sich wohl gerade mit Derek. Ich hab meinen Bruder mitgebracht, wow! Er wollte nur nicht allein daheim bleiben, mit der Babysitterin und den Blagen. Kann ich verstehen. Joel ist bei seiner Freundin in einem anderen Stadtviertel von Orlando – ich sehe ihn das ganze Wochenende nicht. Meine Schwester ist ohnehin schon lange ausgezogen und die beiden Hosenscheißer sind halt bei Anna. David steht mit Mikeal zusammen in einer Ecke, unterhält sich anregt mit diesem – worüber kann ich nicht verstehen. Sam sitzt an dem gedeckten Tisch, hat seine Verlobte auf dem Schoß sitzen, den beiden gegenüber sitzen Seth und Vivian – letzterer ohne seine Freundin, weil diese verhindert war. Dass Vivi mit seiner vorherigen Beziehung Schluss gemacht hat, war abzusehen gewesen, es gab nur noch Stress. Worum es ging? Um die ewige räumliche Trennung. Das war der erste und wohl wichtigste Grund. Wenn Vivian daheim war, von den Touren, war Dean auf Montage. Sie sahen sich … gleich null? Das war der Grund gewesen. Und warum er sich jetzt seine Leigh-Anne gesucht hat, weiß ich nicht. Aber wie auch immer.. Und jeder der jetzt denkt: Ian ist das Arschloch das niemanden eine Beziehung gönnt, liegt falsch. Aber was will ich machen? „Jo, Bitch, komm rum!“, ruf mir auf einmal Mike zu und ich bewege mich in seine Richtung. „Was willst du von mir?“, frage ich zurück, doch ehe ich mich versehe habe ich die Grillzange in der Hand und darf jetzt den Grillmeister geben, während Mike mit meinem Bruder ins Haus verschwindet. Es macht wirklich richtig Spaß, sich hier aufzuhalten, wirklich. Ich hätte nicht her kommen sollen. Weder hier her in die Stadt, noch auf diese Veranstaltung hier. Das alles war ein großer Fehler. Später am Abend, hat sich ein Teil der Gruppe schon verabschiedet. So fehlt nun mein Bruder, unsere beiden Turteltauben Sam und Dana und auch Vivian ist schon gegangen. Ich sitze neben Nathan am Tisch. Ok, ich liege eher auf der Tischplatte und lausche den Worten des Bassisten, der sich daran versucht, schmutzige Witze zu erzählen. Nur leider artet es bei ihm immer so derart aus, dass man es nicht mehr witzig finden kann und einfach nur den Kopf schüttelt. Deswegen ist mir auch so langweilig, weil es alles einfach nichts Lustiges beinhaltet. Sammy sitzt auch an Nathan gelehnt da, ihre Augen driften immer mehr zu und Mikeal seufzt am laufenden Band über die Dämlichkeit seines Bandmitgliedes. Mike hat schon kapituliert, raucht die bestimmt zwanzigste Kippe – aus purer Langenweile. Normalerweise raucht er nicht mehr so viel… aber heute ist’s echt extrem. Seth gammelt auch auf seinem Stuhl vor sich hin und hat begonnen, Türmchen zu bauen. Aus den Servierten und den Kerzen und einfach allem, was auf dem Tisch steht. „Leute“, äußere ich mich. „Ich verschwinde.“ Das gebe ich mir doch nicht noch länger, dann kann ich gleich ins Bett gehen. Mich erhebend, habe ich alle Blicke auf mir, die man nur auf sich haben kann. Was hab ich denn jetzt wieder falsch gemacht? „Der Startschuss um die Runde aufzulösen“, kommt es auf einmal von Mike, der sich ebenso erhebt. Die anderen folgen nach und nach und ich bin mehr als überrascht. Kein dummer Kommentar? Ich bin begeistert. „Wer kommt noch mit ins Black?“ Sofort liegt mein Blick auf Nathan. Woher kennt der das Black? Zu meinen Zeiten hier war das Black die absolut heruntergekommene Absteige. Eigentlich war’s das schlimmste was du hättest finden können. Drogen, Sex, Vergewaltigungen, Schlägereien. Einfach das, was man sich nicht wünschte. „Das Black?“, frage ich also nach. Nathan nickt, schiebt seinen Stuhl zurück und zuckt die Schultern. „Das Bier ist gut da.“ Das ist seine Argumentation? Das Bier? Jemand wie Nathan sollte sich in einer solchen Lokalität nicht aufhalten. Das war nicht gut für ihn… „Ich komm noch mit“, erklärt sich Sammy bereit. Sie geht da auch hin? Was ist mit den Menschen hier geworden? Oder hat sich das Black gewandelt? Kann ja sein, ich war schon Jahre nicht mehr hier gewesen. „Also ich fahre jetzt nach Hause“, teil sich uns Mikeal mit und ich finde das durchaus vernünftig von ihm… ehrlich. Das ist keine gute Idee ins Black zu fahren… „Ich schließ mich Mika an, man sieht sich.“ Die beiden verlassen mit einem lässigen Handschlag bei uns allen, den Garten und waren dann nicht mehr gesehen. Mike sehe ich an, dass er mit sich hadert. Er würde wohl gern mitgehen, wie es aussieht, aber ein Blick zu Seth und die Antwort steht fest. Ein klares Nein. „Sorry, aber wir bleiben hier.“ „Ian?“, wendet sich Sammy an mich. Nein, never again setze ich in den Schuppen einen Fuß. Da hängen zu viele Erinnerungen dran an dem Laden, die ich gern nicht erneuern möchte. „Dann musst du keine Kinder hüten“, kommt sie mit diesem Argument. Gut, ok, das würde Sinn machen. Aber doch nicht ins Black! „Jetzt steh hier nicht rum, wie’n Opfer. Komm mit“, mischt sich auch noch Nathan unter. „Das wird schon ok werden, los. Gib dir’n Ruck.“ Moment… Also bittet gerade Nathan mich, mitzukommen? Wo bin ich gelandet, dass mir das passiert?! Vorher konnte er mich nicht ab, ist im Hotel damals beinahe geflüchtet. Zugeben, da wäre ich auch vor mir selbst geflüchtet – vor allem als ich selbst in den Spiegel sah, nachdem er weg war. Aber … dass er mich jetzt fragt, gar bittet, mitzukommen, überrascht mich. Ist das ein Zeichen, oder hat Sammy ihn weich gequatscht? Aber wenn ich schon wieder hier bin, wo ich eigentlich nie wieder hinkommen wollte… Dann kann ich eigentlich auch alle, wirklich alle Orte mitnehmen, die ich nie wieder besuchen wollte. „Meinetwegen“, stimme ich gelangweilt zu, womit ich Sammy ein Lächeln auf die Lippen zaubre. Klasse – wieder eine gute Tat getan. Ich könnt kotzen. Ich sitze hinten in Nathans Chevy. Ich hasse es auf dem Rücksitz zu sitzen, aber laut Nathan hat die Frau auf der Beifahrerseite zu sitzen. Super. Wieder einmal so beschissene Geschlechtersache. Manchmal bin ich echt der Meinung, dass der Mensch das alles gar nicht bräuchte. Ein Geschlecht, mein ich. Wozu auch? Wir werden ohnehin irgendwann aussterben, also warum nicht früher als später? Und dann gibt’s auch diese unterschiedlichen Behandlungen nicht mehr, ist doch ohnehin überflüssig – das alles. Wir fahren keine zehn Minuten, bis wir in einem zwielichtigen Viertel ankommen, in dem sich eine geschlossene Kneipe an der nächsten reiht. Hier und da stehen Bikes herum, die dazugehörigen Fahrer sind wohl entweder in dem verborgenen Bordell oder aber in der Bikerkneipe ‚Red Heaven’. Im Grunde auch ein Puff, aber das lassen wir an dieser Stelle unkommentiert. Es sieht hier noch genauso aus, wie vor Jahren. Es hat sich nichts verändert… Rein gar nichts. Selbst die Huren an der Ecke sind noch da – wahrscheinlich andere als zu meiner Zeit, aber es stehen dort immer noch welche. Nathan hält den Wagen, steht bereits am Rand des Gehsteiges und steigt aus. Auf der gegenüberliegenden Seite erkenne ich sofort das Black. Die kantigen, und doch eleganten Buchstaben leuchten einem hellblau, gar weiß entgegen, die Tür hat immer noch die hellen violetten Neonröhren und die Fenster sind immer noch zugenagelt. Früher hieß das Black immer Kifferkneipe. Es gehörte zu den wenigen Lokalen, die nicht von den Bullen überwacht wurde und dementsprechend konnte man da tun und lassen was man wollte. Leider auch zu meinem Nachteil… Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Sammy bereits mit Nathan über die Straße geht, ich schließe mich den beiden nur an, laufe hinter ihnen her. Missbilligend betrachte ich den Arm Nathans, der sich schützend oder was auch immer, um Sammys Hüfte legt. Ob ich eifersüchtig bin auf sie? Wo träumt ihr hin? Ich sagte bereits, dass ich diese Option verworfen habe. Mein nächstes Ziel, was Nathan betrifft, hat gar keine Hintergedanken. Ich will lediglich versuchen, mit ihm befreundet zu sein. Ich bin ein wenig angepisst wegen Nathan selbst. Wenn ich mit Sammy in Miami unterwegs war – und das ist etwas, was wir wirklich getan haben – hat sie meine Hand immer gleich weg gestrichen und dafür gesorgt, dass ich auch ja keinen weiteren Versuch starte. Aber bei Nathan? Es stört mich dezent, aber ich will meine Laune nicht noch tiefer in den Keller fallen lassen, das würde mich nur unglücklich machen… Rauchiger, süßlicher Geruch steigt in meine Nase, als wir die Tür passieren und uns unmittelbar in dem Raum der Kneipe befinden. Es hat sich hier halt gar nichts geändert. Mein Blick gleitet durch die dunkle Umgebung, ich sehe Personen, die am Rande ihrer Existenz vor sich hin vegetieren. Menschen, die versuchen zu tanzen. Menschen an der Theke. Das gleiche Bild wie damals. Ein tiefes Seufzen entkommt meiner Kehle, ohne dass ich es wirklich bemerke. Bedauernswert, was hier herum lungert. Abgesehen von der Tatsache, dass ich selbst auch mal zu diesen grauenvollen Menschen gehört habe… daran darf ich gar nicht denken. Automatisch beinahe schieben sich meine Hände in meine Hosentasche und ich bedauere es, mit hier her gekommen zu sein. Wieder einmal folge ich den beiden, setze mich neben Nathan an die Theke. Zierliche Hände stützen sich auf dem Holz der Theke ab, grüne Augen blicken mir entgegen und ich sehe direkt in das Gesicht der Frau hinter der Theke. „Was darfs sein?“, fragt sie und lächelt freundlich. Seit wann kellnerten hier Frauen? Vor allem solche zerbrechlichen? Ich wende mich an Nathan. „Willst du noch nach Hause fahren?“ „Ist mir egal, ansonsten würde ich den Fahrer machen.“ Ich nicke. „Irgendwas ohne Alkohol”, gebe ich von mir und die Kellnerin nickt, wendet sich den anderen beiden zu und nimmt die Bestellung auf. „Jetzt sag, warum bist du hier?“, spricht Nathan mich an, dreht sich leicht zu mir. „Sammy hat mich überredet. Sie wohnt jetzt hier und sie meint, ich sollte über die Schatten meiner Vergangenheit springen.“ Er nickt, schweigt einen Moment. Ich weiß, dass er alles weiß, was mich angeht. Grob umrissen, versteht sich. Im Detail werde ich es ihm wohl erzählen müssen, damit er nicht denkt, ich sei das Absturzopfer schlechthin. „Und das hast du jetzt?“ „Noch nicht ganz“, gestehe ich ihm. Seine Augenbraue hebt sich. Junge, ich weiß. Aber da ist so viel was du nicht wissen kannst und dessen Zusammenhänge sich für dich nicht erklären – zumindest im Moment. Aber dazu später. „Ist in deinem vergangenen Leben auch der Grund erklärt, warum du scheiße bist?“ Warum bin ich jetzt schon wieder scheiße? Das muss auch mein Blick sagen, denn er zuckt die Schultern. „Stimmlich gesehen, Ian. Im Moment bist du sonst zu ertragen.“ „Ist dem so?“, frage ich nach. „Ja, dem ist so. Und wenn du jetzt noch normal mit mir sprechen würdest, wäre alles super.“ Nach seinen Worten schieb sich auf einmal ein Glas in mein Blickfeld. Ich sehe nur etwas Orangenes, mit einem schwarzen Trinkhalm, einem Orangenscheibchen an der Seite und einem Hawaiischirmchen. Ich berichtige mich. Dieser Schuppen ist schwul geworden. „Was ist das?“, frage ich die Schwarzhaarige, die ihre Hände in die Hüfte stemmt. Ich traue diesem etwas vor meiner Nase nicht, wer weiß, was da drin ist. „Das ist ein einfacher Orangensaft. Nur ein Glas sähe doch langweilig aus, oder bist zu männlich für einen Hawaiischirm?“ Sie grinst mich beinahe schon herausfordernd an und ich höre neben mir das Lachen Sammys. Mein Blick fällt giftig zu ihr rüber. Was erlaubt die sich? „Nein, passt schon“, gebe ich nur von mir. Es stört mich dennoch. So ein kleines bisschen auf jeden Fall. Nun lacht auch noch die Barkeeperin! Weibsstücke. Ernsthaft, warum sind diese Weiber immer so derart erpicht darauf, irgendwas lustig zu finden? Das gibt’s einfach nicht! Die sind doch einfach alle gleich. Gleich grauenvoll. Dem Wunsch, meinen Kopf volles Rohr auf das Holz zu schlagen, widerstehe ich, wenn auch nur sehr schwer. Ich muss meine Fassung wahren, auch wenn ich kurz vor dem Verzweifeln bin. So habe ich mir doch auch schon von der Aktion bei Mike mehr versprochen, als letztlich heraus gekommen ist. Doch sollte ich mich mit dem zufrieden geben, was ich habe – wie immer. „Soll’n wa tauschen? Mir macht ein Schirmchen im Glas nichts“, höre ich die amüsierte Stimme neben mir. „Nein. Ich mag das Schirmchen“, gebe ich nur von mir und ziehe das Glas demonstrativ an mich. „Mein Schirmchen!“ Ich habe gar nicht die Zeit um darüber nach zudenken, was ich da gerade von mir geben habe. Viel zu entgeistert blickt Nathan mich an. Beinahe so, als habe er einen besonders hässlichen Geist gesehen. Babe, was los?, frage ich mich innerlich und hebe elegant eine Augenbraue. Auch wenn man dies vielleicht nicht ganz so sieht. „Was bist du, und was hast du mit Ian gemacht?“ Sammy lehnt sich ein wenig vor, sodass sie vor Nathan her zu mir sehen kann. Ich erspare mir jeglichen Kommentar, ignoriere diese beiden Vollidioten gekonnt und widme mich viel eher meinen Glas Orangensaft. In der Hoffung, dass niemand hier ist, den ich kenne. Außer die beiden, die neben mir sitzen. Noch mehr böse Überraschungen brauche ich heute Abend wirklich nicht mehr. Allein aus dem Grund schon nicht, dass ich mich noch irgendwie rechtfertigen muss. Denn das, wäre wirklich der absolute Höhepunkt! Wir verfallen in ein normales Gespräch über normale Themen. Ausbildung, Beruf, Wohnung, Familie. Halt die ganz normalen Dinge, über die man so spricht. Sie sind mir beinahe schon zu normal, da ich recht schnell von solchen normalen Dingen gelangweilt bin. So auch jetzt. Was interessiert mich die Farbe von Sammys Schlafzimmer? Eigentlich gar nicht. Oder ihre Anordnung ihrer Haarpflegeprodukte im Bad? Gar nichts interessiert mich davon. Beim fünften Orangensaft angekommen – ich finde das immer noch sehr erniedrigend. Hätte es denn nicht auch etwas anderes getan? Immer wieder halte ich den Raum hinter mir im Auge, lasse den Blick schweifen. Ich hoffe immer noch, dass meine Vergangenheit nicht zufälliger Weise hier aufschlägt. Denn es wäre unausweichlich, was dann auf mich zu kommen würde und wenn ich ehrlich bin, nein, ich habe keine Lust auf eine Schlägerei der Extraklasse. Dieser bin ich immerhin Jahre gut aus dem Weg gegangen… „So Jungs, ich geh dann auch“, kommt es dann irgendwann von Sammy, die vom Hocker rutscht und das Geld auf den Tresen legte. „Soll ich dich noch raus begleiten?“, fragt Nathan nach. „Ich ruf mir’n Taxi, die paar Minuten kann ich auch allein am Straßenrand warten“, gibt sie dann nur von sich. Na, wenn sie meint … Aber ich gehe davon aus, dass sie nicht auf den Kopf gefallen sein wird. Bei ihr handelte es sich immerhin um jemanden, der sich vorher mal Gedanken um etwas machte und sich nicht einfach nur blindlinks ins Verderben stürzte. Sie weiß was sie tut. „Ich komm trotzdem mit.“ „’Tschüss Ian!“ Auch Nathan erhob sich nun, gab der schwarzhaarigen Bedienung ein Zeichen, dass er nicht gehen würde, sondern gleich wieder käme. Er kannte sie wohl… Na geil. Ich sitz also wenige Sekunden später allein da, falte das Schirmchen zusammen und wieder auf und wieder zusammen… Ich bemerke die amüsierten Blicke der Bardame. Aber ich bin es bereits gewohnt, dumme Blicke zu bekommen… das ist nichts Neues mehr. Deswegen stört es mich nicht mehr. Erst die Hand, die sich schwer auf meine Schulter legt, lässt mich von meinem Schirmchen über meine Schulter sehen. Das, was ich dann sehe, ist das, was ich die ganze Zeit vermeiden wollte. Kapitel 10: Die Vergangenheit holt einen immer ein Part 2 --------------------------------------------------------- Schmale, dunkle Augen sehen mir entgegen. Ich erkenne den ‚Fick dich Blick’ in ihnen und innerlich seufzt alles genervt auf. Dieses kantige, kanisterartige Gesicht hatte ich gerade verdrängt und jetzt sehe ich es direkt vor meinen Augen. Die schmalen Lippen, den widerlichen Dreitagebart, die Narbe am Kinn… Gedehnte Ohrlöcher. Tattoos auf unmenschlich breiten Oberarmen. Das schwarze Tanktop spannt über die breite Brust. Die silberne Kette um den mächtigen Hals schneidet nahezu in die Haut. Vor mir steht Vince, der dunkelste Schatten meiner Vergangenheit. Er ist fünf Jahre älter als ich, somit noch zweiunddreißig Jahre alt. Ich hab ihn gekennengelernt, als ich fünfzehn war. Er zog gerade in die Wohnung neben uns im Haus und bekam viel von meinem Familienchaos mit. Anfangs war er wie ein guter Kumpel für mich, nachher war er der Vaterersatz und mein Vorbild. Vor allem in der Zeit, in welcher ich bei meinem richtigen Dad und dessen ewig wechselten Frauen lebte. Durch ihn bin ich erst in diese ganze Scheiße rein geraten. Nicht, dass ich vorher der Engel war, nein, ganz sicher nicht. Aber Vince war der Weg direkt in die Hölle. „Hallo Ian“, dringt seine rauchig, kratzig Stimme an mein Ohr und seine Hand drückt ein wenig fester zu. „Lange nicht mehr gesehen.“ „Die Freude ist ganz meinerseits“, bringe ich lässig hervor, schiebe die Hand von meiner Schulter und drehe mich wieder zurück. „Begrüßt man so einen alten Freund?“, fragt er mich. Was will er? Verlangt er ernsthaft, dass ich mich freue, ihn wieder zu sehen? Ganz sicher nicht. Es ist eher das Gegenteil, treibt seine Anwesenheit mir doch die Galle hoch. „Wo ist denn das liebreizende Pärchen hin, mit dem du hier warst?“ „Weg, wie du siehst.“ „Oh.“ Es klingt rein gar nicht bedauernd, als er dieses Oh verlauten lässt. Viel eher höre ich in diesem Ausdruck so viel Spott, wie selbst ich nicht in einen ganzen Satz unterbringen könnte. Und genau das regt mich gerade noch mehr auf. „Seit wann bist du wieder hier?“ „Das geht dich einen Scheißdreck an“, zische ich ihm nur eiskalt entgegen. Wieder fasste er meine Schulter, dreht mich zu ihm um. Ich könnte mich gegen ihn wehren, aber ich weiß, dass ich nur ein Ästchen im Gegensatz zu Vinces bulligen Körperbau bin. Da brauche ich nicht einmal den Versuch starten, würde er mich doch in der Mitte fünf Mal brechen. „Du sitzt in unserer Stammkneipe, solltest du das vergessen haben, Ian. Wer war der Schwarzhaarige?“ „Was interessiert es dich? Ich habe nicht drum gebeten, dass du zu mir rüber kommst.“ Ich zucke die Schultern, wirke nach Außen hin so wie immer. Lässig, kühl, gar so, als würde mich das alles nicht jucken. Aber innerlich schwitze ich Blut und Wasser. Für Vince war es das Schlimmste, wenn man ihm den Rücken zukehrte. Das habe ich getan, als ich Amanda kennen gelernt habe. Für fünf Jahre. Danach hat er mich mit offenen Armen empfangen und mich sogar vor einem totalen Blackout bewahrt, aber ich habe ihm ein zweites Mal meine Rückseite zugewandt und das war mein Fehler. Es ist ja nicht nur Vince, nein. Es ist eine ganze Gruppe hinter ihm, die nun auch gegen mich ist. Ich sollte keine Fehler machen, das ist mir bewusst, aber dennoch lasse ich mich doch nicht von diesem Kerl dumm anmachen. Ich lasse mich also vom Stuhl gleiten, stehe ihm direkt gegenüber und kann ihm in die Augen sehen. Wir sind ungefähr gleichgroß, wenigstens etwas… „Ich bin enttäuscht von dir, Ian“, beginnt er. „Ja?“ „Ja. Ich habe so viel für dich getan und wie dankst du es mir? Du vergisst wo du her kommst. Denkst du jetzt, du wärst etwas Besseres?“ Ich lege mein gewohntes, arrogantes Lächeln auf und antworte nur: „Ja, das denke ich.“ Leichtsinnig? Das gebe ich offen zu, aber ich werde vor ihm keine Schwäche zeigen. „Du bist mutig. Seit wann hast du so eine große Schnauze? Warst du doch auch früher eher der stille Typ.“ „Zeiten ändern sich, Vince. Ich bin erwachsen geworden, etwas, das du nie werden wirst.“ Gekünstelt lacht er, wirkt beinahe so, als würde er sich damit abfinden. Mit dem, was ich sagte. Aber dem ist nicht so. Er dreht sich leicht zur Seite, sodass ich für einen Moment ins Grübeln komme, ob er geht. Aber mir wird erst bewusst, dass Vince niemals einfach nur geht, als er ausholt. Den Schmerz vorher ahnend, bleibe ich dennoch angewurzelt stehen. Ich bin nicht fähig mich zu bewegen. Erst als nichts kommt, richte ich vorsichtig den Blick zur Seite. „Schlag zu und du wirst mehr Schmerzen leiden, als er.“ Vince Handgelenk befindet sich in Nathans Griff. Er hält ihn einfach so davon ab, mir eine zu verpassen. Das hätte ich von ihm gar nicht erwartet. Wirklich nicht. Weder, dass er über diese Kraft verfügt, noch, dass er sich für mich einsetzt. „Wer bist du denn?“, zischt Vince, zieht seine Hand zurück und tritt einen Schritt auf Nathan zu. Auch Nath ist schmaler als Vince – eigentlich auch keine Kunst, aber doch scheint es sich Kräftemäßig nicht viel zu nehmen. Stur blickt Nathan in die kleinen, dunklen Augen des wesentlich Älteren und ich kann nichts anderes tun, als einfach nur zuzusehen. „Dein schlimmster Albtraum, solltest du hier eine Schlägerei anzetteln.“ „Ha, von dir Witzfigur oder was?“ „Nathan, lass gut sein“, mische ich mich ein. Ich will hier keine Prügelei. Vor allem, weil die ganzen Gäste hier nur noch Applaus leisten würden, anstatt dazwischen zu gehen. „Halt dich raus, Ian“, erhalte ich die Anweisung Vinces. Er befiehlt mir also immer noch? Wie damals… „Zurück zu dir…“ Sie standen sich direkt gegenüber. Nathan konnte den heißen, nach Alkohol riechenden Atem auf seiner Haut spüren. Er sah diese widerlichen Augen und hörte diese noch wesentlich widerlichere Stimme. „Bitte?“, gab er von sich, bewegte sich nicht, blieb nur aufmerksam. „Was fällt dir ein, dich in etwas einzumischen, das dich augenscheinlich nichts anging?“ „Es ging mich nichts an? Ich denke, wenn man Leute von mir anmacht, es ist meine Sache. Also hör mir auf damit.“ „Ich glaube ich kenne dich irgendwo her“, folgt dann auf einmal eine Feststellung. „Meinst du das?“ „Habe ich dich hier nicht schon öfters gesehen?“ „Kann sein.“ Rau lachte Vince auf, stemmte die Hände in die Hüfte. „Du hast echt Nerven, weißt du das eigentlich?“ „Sollte ich das?“ „Weißt du, wer vor dir steht?“, wollte Vince wissen, fuhr sich dann über den verbliebenen Rest seiner schwarzen Haare, oder besser noch Stoppeln. „Es interessiert mich einen Scheißdreck wer du bist. Dreh dich einfach nur um, und geh.“ „Du hast ein recht loses Mundwerk, Junge.“ „Ich habe nur einfach keine Angst vor dir. Andere scheißen sich vielleicht ein, ich nicht.“ „Große Worte für jemanden, der sich zweimal hinter mir verstecken kann.“ „Tja.“ „Sollen wir vor die Tür? Deine Fresse passt mir nicht, das muss ich ändern“, klärte Vince lässig auf, stand Nathan beinahe Stirn an Stirn gegenüber. „Das kann man auch hier drin regeln.“ „Nathan, komm. Lass sein, ich will dich nicht ins Krankenhaus fahren müssen.“ „Fresse, Ian“, wurde dem Brünetten von Vince entgegen gefaucht. Nathan jedoch störte sich gar nicht an der stetig aggressiver werdenden Stimme. Auch störte er sich nicht an der Hand, die sich in sein Shirt gräbt. Sein Blick glitt nur auf die Hand, dann wieder zurück in das Gesicht. „Du willst das hier mit mir regeln?“ Wieder zuckte Nathan nur die Schultern. Sollte es ihm doch egal sein. „Hast du gar keine Angst, dass ich dir was brechen könnte?“ „Du wärst nicht der Erste, der mir was bricht. Aber dabei blieb es dann auch. Glaub mir, bevor du mir ernsthaft was tust, liegst du und weinst nach deiner Mutti.“ Vinces Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen. „Du wirst mir immer unsympathischer.“ „Gleichfalls.“ Er würde den ersten Schlag nicht tätigen. Niemals, denn dann wäre es seine Schuld, dass alles aus dem Ruder lief. Viel eher ließ er andere für sich arbeiten. Sollte der Ältere doch zuschlagen. Es wäre ohnehin nur einen, den er kassieren würde. Nathan hatte den Gedanken gar nicht richtig ausgedacht, da spürte er auch schon, wie die Faust des anderen mit seinem eigenen Kiefer kollidierte. Leicht taumelte er zurück, stieß an die Theke an und sah das Grinsen auf dem Gesicht Vinces. Der metallische Geschmack von Blut machte sich auf seiner Zunge bemerkbar und die rote Flüssigkeit glitt über seine Lippen, als er seine Zunge über diese gleiten ließ. Mit dem Handrücken wischte er dieses beiseite, zog sein arrogantes Lächeln hervor. „Das war alles?“ Er ließ sich, nach allem, was er bisher hinter sich gebracht hatte, nicht einfach so von einem möchtegern Gangster ausschalten. Erst recht nicht nach einem Schlag. „Bitte, das war ein Witz.“ Er hörte hinter sich, wie Ian wieder auf ihn einredete, er solle doch Kleinbei geben. Innerlich konnte er das Puzzle nicht zusammensetzen, das das Bild komplettieren sollte, warum Ian gerade so erpicht darauf war, dass er aufhörte. Das Folgende, passierte binnen eines einzelnen Augenaufschlags. Die ersten Leute sammelten sich um sie, winkten ihre ebenso neugierigen Freunde und Begleiter heran, dass sich binnen weniger Sekunden ein Kreis um Nathan und Vince bildete. Vince, in seinem Stolz gekränkt, ließ es sich nicht zweimal sagen. In seinem Kopf schien sich irgendein Schalter umzulegen, so, wie sich sein Gesichtsausdruck veränderte. Es waren nur wenige Meter, die ihn von Nathan trennten. Diese kurze Distanz war schnell überwunden, die Hand zur Faust geballt und versucht zugeschlagen. Natahn jedoch schien in Vince wirklich keine ernstzunehmende Bedrohung zu sehen, so ging er doch einfach in die Knie, tauchte unter dem Schlag hinweg und kam zu Vinces Seite zum stehen, konnte so den wahllos gesetzten weiteren Schlag blocken und legte grinsend den Kopf schief. „Hast wohl doch nur eine große Fresse…“, grinste er ihm dreckig ins Gesicht, umfasste das Handgelenk des Älteren, zog den Arm somit ein wenig weiter nach unten und versenkte sein Knie im Magen des anderen. Hustend blieb dieser einen Moment stehen, rang nach Atem. Die Blicke der umherstehenden Leute lagen auf ihnen, musterten sie. Aber niemand versuchte einzugreifen. Es war normal, dass hier in der Kneipe ab und an die Fäuste flogen. Und ohne störend zu sein, war es sogar eher eine willkommene Abwechslung, die etwas Action brachte. „Na komm.“ Er war so verdammt froh, heute nicht in einer engen Röhrenjeans zustecken, wirklich. Schränkte diese Art von Hose doch die Bewegungsfreiheit erheblich ein, sodass man wirklich gucken musste, ob man die Beine wirklich so hoch bekam, wie man sie haben wollte… „Du…“ Schwer stürzte der Bär von Mann auf ihn zu, verfehlte ihn aber um Längen und kassierte einen Schlag auf den Hinterkopf. Nichts festes, nur ein bisschen, um ihn weiter zu provozieren. „Komm.“ Immer noch grinste Nathan vor sich hin, wirkte wie die Leichtigkeit in Person und brachte Vince mit jedem weiteren Augenblick weiter auf die Palme. Aus dem Augenwinkel konnte Nathan erkennen, dass Ian inzwischen resignierend, aber dennoch alarmiert an der Theke stand. Wieder ein Schlag, wieder ein Block. Eine einzige angewendete Technik und Vince lag auf dem Boden. Mit de Gesicht nach unten. Man hörte das schwere Keuchen, das schmerzhafte Stöhnen, als Nathan aufstand und somit sein Gewicht von dem Rücken des Liegenden verschwand. Nathan ließ die Hand frei, die er soeben noch mit Kraft auf den Rücken gedreht hatte und konnte dem Drang nicht widerstehen, einen Tritt hinterher zu setzen. Nur hatte er nicht damit gerechnet, dass Vince um einiges robuster war, als er aussah. Und Vince sah verdammt robust aus. Schwer atmend stemmte dieser sich wieder hoch, startete einen weiteren Versuch, Nathan anzugreifen. Hatte jener ihm doch den Rücken zugewandt. Das Murmeln und Raunen der umherstehenden Leute wurde größer. Die mächtige, zur Faust geballte Hand flog in Zeitlupe auf Nathan zu. Ein Grinsen legte sich auf Nathans Lippen. Schon lange hatte er sich nicht mehr jemanden geschlagen – außerhalb des Ringes. Da war der Reiz doch um Längen größer. Er wich nur minimal nach hinten weg, befand sich jedoch in der absolut perfekten Position. Mit einer halben Bewegung, die er bereits so verinnerlicht hatte, dass er sie im Schlaf beherrschte, beförderte er Vince erneut zu Boden. Diesmal blieb dieser aber auch liegen und es war ein überraschtes, staunendes Grölen das durch die Kneipe ging. Langsam ging er auf den am Boden Liegenden zu, beugte sich über diesen. „Ich warne dich. Komm noch einmal in meine Nähe und ich tu’ dir richtig weh”, versprach er, wischte sich abermals über die Lippen. Mürrisch betrachtete er das Blut. Super, da war seine Lippe wieder so aufgeplatzt, dass es Wochen dauern würde, bis sie wieder normal aussehen würde. Hart fassten ihn jedoch die Hände Ians, zogen ihn zurück und drückten ihn gegen die Tresenkante. „Bist du wahnsinnig?“, fragte dieser zischend, gar wütend nach. „Bist du noch zu retten?“ „Warum?“, lachte Nathan jedoch nur, spürte, wie Ian sein Kinn fest zu sich drehte und sich das Wunder ansah, welches Vince da angerichtet hatte. „Deswegen. Du weißt nicht, wer er ist.“ „Und?“ „Wie viel hast du getrunken, verdammt?“, wurde er angefaucht. „Keine Ahnung... Bei Mike nur ein Bier. Hier … keine Ahnung.” Er sah, wie Ian die Augen verdrehte, ihn auf dem Hocker Platz nehmen ließ und sich selbst auch setzte. „Junge! Du hast den Falschen angefahren.“ „Hättest du lieber eine kassiert?“, stellte nun Nathan die Frage, war wieder vollkommen ernst und blickte fest in die braunen Augen seines Gegenüber. „Das wäre nicht nur eine gewesen, glaub mir.“ „Wer war dieser Kerl?” Kurz sah er über seine Schulter, sah, wie Vince in einer der dunkelsten Ecken dieser Räumlichkeit verschwand. „Mein dunkler Schatten der Vergangenheit. Du hättest ihn einfach machen lassen sollen. Jetzt hab nicht nur ich Probleme! Du weißt nicht, was du getan hast!“ „So jetzt hör mir mal zu“, hinderte Nathan ihn am Weiterreden. „Erstens brauchst du nicht denken, dass ich nicht weiß, was hier alles herum läuft. Zweitens bist du lange nicht in der Lage, mir zu sagen, was ich zu tun und zu lassen habe und drittens, sei einfach froh. Ich denke, du weißt, dass diese Leute hier über Leichen gehen, wenn du mit diesem Arsch da irgendwas zutun hattest.“ „Was machst du überhaupt in diesem Milieu?“ „Man glaubt kaum, dass selbst ich eine Vergangenheit habe, was?“ Wieder erschien ein Grinsen auf seinem Gesicht. „Ich komme hier her, seitdem ich zwölf war. Falsche Freunde und dieser ganze Scheiß. Deswegen kann ich mir auch ausmalen, wozu dieses Wesen gerade gehörte. Nur damit das mal geklärt ist. Nancy, doppelten Vodka“, damit wandte er sich an die Bedienung und stützte sein Kinn auf die Handfläche auf. Die Schwarzhaarige nickte und verschwand kurz hinter unter dem Tresen. „Ich kann nicht nach Hause“, gab er dann irgendwann zusammenhangslos von sich. „Warum?“ „Mein Vater setzt gleich noch eine hinterher, wenn er mich sieht.“ „Na, so schlimm ist’s nicht…“ „Er geht davon aus, dass ich mich nicht mehr prügele… Außer im Verein. Ach was solls, wird ohnehin Stress geben…“ Das Glas mit einer klaren Flüssigkeit und zwei Eiswürfeln fand den Platz vor seiner Nase. Nancy lehnte sich etwas zu ihm rüber, hob die feine Augenbraue in die Höhe und grinste. „Du hast den schwersten Fehler deines Lebens begangen, Nath“, grinste sie ihm frech entgegen. „Das war Vincent.“ „Meinetwegen kann er der Satan persönlich sein, das geht mir am Arsch vorbei“, kam es nur knurrend zurück. „Es wäre vor allem nicht der erste Fehler meines Lebens. Einer davon warst du, Baby.“ „Hattet ihr was zusammen?“, fragte Ian auch gleich in seiner kühlen Manier nach, lehnte sich ebenso wieder auf den Tresen auf und sah zwischen den beiden hin und her. „Mehrmals sogar“, klärte Nancy ihn auf. „Und jedes Mal war so gut, dass ich es nicht bereue. Unverbindlichen Sex mit jemanden wie Nathan. Hm, der Himmel“, schwärmte sie. „Du glaubst das gar nicht. Er weiß, wie man eine Frau glücklich macht.“ „Das sind ja Seiten an dir, Nathan. Von denen hätte ich niemals gedacht, dass es sie gibt.“ Nathans Kopf drehte sich leicht zur Seite, seine Augen blickten Ian entgegen und ein leichtes Lächeln legte sich auf seine Lippen, wobei er diese Tätigkeit sofort wieder unterließ. „Weißt du, Ian. Ich sagte dir schon einmal, ich besitze auch eine Vergangenheit.“ „Lass mich raten: diese geht mich nichts an?“ „Richtig.“ Damit griff Nathan nach dem Glas, stürzte den Inhalt in einem Zug herunter und ließ den Kopf dann auf die Tischplatte sinken. „Ich glaub, mein Kiefer ist ausgerenkt.“ „Baby, du könntest dann sicherlich nicht mehr sprechen“, nickte Nancy vor sich hin, begab sich auf eine Höhe mit Nathan. „Hm? Lass dich nach Hause fahren.“ „Ich will aber nicht nach Hause.“ „Oh“, machte sie nur, legte ihre Hand auf seinen Kopf. „Dann fahr mit zu ihm, oder zu deiner Freundin oder was auch immer.“ „Sie ist nicht meine … Freundin.“ „Du fängst schon an zu lallen, Süßer. Ian, richtig?“ Ian nickte, nachdem Nancy ihn angesprochen hatte. „Fahr ihn heim. Oder was weiß ich, aber fahr ihn wohin, wo er schlafen kann…“ „Lass gut sein, Nancy. Mir geht’s gut.“ „Natürlich geht’s dir gut, Nath.“ Sie machte eine kurze Pause, blickte ihn tadelnd an. „Ich kenne dich“, kam es dann aber in einer ernsten Tonlage hinterher. „Besser als es viele andere tun, also fahr nach Hause, bitte.“ Eine Hand legte sich auf seine Schulter, träge hob er den Kopf und sah Ian. Dieser blickte ihm direkt ernst und drohend entgegen. Das war Ian… so wie er ihn kannte. Nicht einmal einen Ton brauchte dieser sagen und er verstand sofort, dass es ein Befehl war, der sich dort versteckte. Leise seufzte er, rutschte vom Hocker und zog sein Portmonee aus seiner Hosentasche, blätterte das Geld passend auf den Tisch, atmete dann tief durch und bewegte sich – gefolgt von Ian – auf den Ausgang zu. „Ruf mich mal an, wenn du Zeit hast!“, rief ihm Nancy hinterher. „Ich hab dieselbe Nummer wie vor Jahren….“ Nathan jedoch hob nur die Hand, gab somit sein Einverständnis, ihrer Bitte irgendwann nachzukommen. Mit gewohnter Leichtigkeit ließ sich die Tür öffnen, und ebenso grauenvoll krachend fiel sie auch wieder zu. „Nathan, wir müssen unbedingt reden.“ Er blieb stehen, als er die Stimme hinter sich hörte. Warum verlangte Ian, dass sie miteinander sprachen? Wo war der Sinn? Das war unnötig. „Wir haben uns nichts zu sagen, Ian“, brachte er heraus und spürte selbst, wie seine Zunge doch schon ein wenig schwerer wurde. Warum schlug bei ihm der Alkohol immer erst so spät an? Das war nicht fair. Und dann noch das widerliche Pochen seiner Lippe und seines Kiefers. Das machte ihn gar wahnsinnig. Abgesehen von den Kopfschmerzen, die sich von der Seite her auf seinem ganzen Kopf ausbreiteten und ihn auszuknocken schienen. „Doch das haben wir.“ Es waren nur ein paar Worte, die ihm einen eiskalten, unangenehmen Schauer über den Rücken jagten. Wie angewurzelt blieb er vor seinem Auto stehen, blickte zu Ian, der ihm gefolgt war. „Du weißt gar nicht, in was für eine beschissene Situation du dich gerade gebracht hast.“ „Weißt du, wie scheiß egal es mir ist, in was für einer Situation ich stecke? Oder stecken werde? Es geht mir am Arsch vorbei, ja? Also versuch nicht, mich aufzuklären. Das ist nun wirklich nicht dein Job.“ Gerade als er sich umdrehen wollte, fasste ihn erneut Ians Hand und riss ihn so brutal um, dass die Welt sich kurz vor Nathans Augen zu drehen begann. Sein Rücken kollidierte hart mit dem Wagen und er befand sich Ian direkt gegenüber. Das Gesicht des Älteren war dem seinen so nahe, dass er beinahe schon sagen würde, es wäre ihm zu nahe. „Wir haben was zu klären. Erst erklärst du mir, was dich dahin verschlagen hat und dann erklär ich dir, warum du mit Vince den Fehler deines Lebens begangen hast, haben wir uns verstanden?“ „Erfahre ich dann auch gleich mehr über dich?“ „Zwangsweise, ja.“ Nathan sagte daraufhin gar nichts mehr, löste nur Ians Hand von sich und stieg auf der Beifahrerseite ein, nachdem er aufgeschlossen hatte. Die Fahrertür öffnete er von innen, reichte den Schlüssel an Ian weiter und lehnte sich zurück. Doch so weit kamen sie gar nicht mehr. Nachdem sie beide bei Ian zu Hause angekommen waren, schaffte es Nathan gerade noch in dessen Zimmer und auf die ausklappbare Couch. „Nathan“, sprach Ian ihn an. „Du musst deinen Hintern noch mal hochbekommen.“ „Gib mir einfach nur eine Decke und ein Kissen“, nuschelte Nathan kaum verständlich vor sich hin und fummelte an seinen Sportschuhen herum, die er nachher einfach auf den Boden gleiten ließ. „Willst du-“ „Kissen und Decke, Ian!“, brachte Nathan es hinterher und entledigte sich umständlich seiner weiten Jeans. Er hörte, wie Ian irgendwas von sich gab, aber er verstand es nicht. Später landete ein Kissen in seiner Richtung, ebenso eine Decke. „Kotz mir nicht die Bude voll“, wies Ian ihn noch an, ehe dieser sich auch in sein eigenes Bett verkroch und Nathan mit seinem Schlafplatz allein ließ. Ohne weitere Worte, ohne eine Antwort, rollte sich der Jüngere auf der Couch zusammen, zog die Decke über sich und schloss die Augen. Als ob er die Bude voll kotzen würde, so weit käme es noch! Vorsichtig schüttelte jemand ihn an seiner Schulter. Wie spät war es? Wieder einmal fühlte er sich, als wüsste er gar nichts. Langsam öffnete er die Augen, blinzelte einige Male und erkannte dann Ian vor sich. Es wurde irgendwie langsam zur Gewohnheit, dass dieser Typ das erste war, was er sah. Und das war mit der Zeit echt verdammt gruslig. „Hm?“, gab er von sich, legte in alter Gewohnheit den Unterarm über die Augen, als er sich auf den Rücken gedreht hatte. „Dein Handy klingelt in regelmäßigen Abständen.“ „Ist mir egal, lass es klingeln.“ Warum musste das, was er als erstes am Morgen hörte, Ians gelangweilte Stimme sein? Warum? „Es ist dein Vater.“ „Noch ein Grund mehr, es einfach klingeln zu lassen… wie spät es ist eigentlich?“ „Kurz nach zwölf am Mittag“, erhielt er die Antwort und nickte minimal. „Willst du wirklich nicht wissen, was dein Dad will?“ „Würdest du ran gehen, wenn dein Vater anrufen würde?“, stellte Nathan die Frage, richtete sich dann doch langsam auf und blickte auf Ian herunter. „Nein.“ „Warum sollte ich also abnehmen?“ „Weil – ich weiß nicht!“ Ian erhob sich langsam aus seiner hockenden Position. „Vielleicht weil deine Familie eine ganze Familie ist?“ „Was weißt du schon von meiner Familie? Meine Familie ist kaputt, obwohl sie zusammen ist. Meine Familie gibt es seit Jahren nicht mehr und erst recht nicht mehr, seitdem das mit Blake war. Also hör auf darüber zu urteilen, ob meine Familie ok ist. Du hast keine Ahnung von meinem Leben.“ Stumm blickten sie sich einen Moment lang an. Ian schien zu überlegen, was er sagen konnte oder ob er es überhaupt tun sollte. Und Nathan selbst war noch damit beschäftigt, erst einmal richtig wach zu werden, ehe er sich weiter einer solchen Diskussion widmete. Es war bei weitem nicht so, dass er einen Kater hatte oder etwas, das ihm das Denken erschwerte. Es war eher so, dass es ihm auf die Nerven ging, dass Ian sich heraus nahm, so etwas zu sagen. Aber ehe auch nur einer der beiden dazu kam, erneut etwas zu sagen, klingelte Nathans Handy. Immer wieder blinkte das Display auf, immer wieder leuchtete ‚Dad’ auf und immer wieder spürte er Ians Blick auf sich. „Was, wenn etwas mit Lindsay ist?“ Plötzlich keimte Panik in ihm auf. Es waren nur ein paar Worte, die auf einmal alles durcheinander warfen und Panik aufkommen ließen. Daran hatte er gar nicht gedacht … Was, wenn Ian recht hatte? Ohne weitere Worte nahm Nathan das Handy vom Couchtisch, welches Ian wohl dort platziert hatte und nahm ab. „Dad, was ist los?“, fragte er auch gleich nach, hielt den Blick dann fest auf Ian gerichtet, welcher die Hände in die Taschen seiner Jogginghose steckte und ihn mit einem kühlen Lächeln musterte. „Wo bist du?“ , drang es ihm auch gleich aggressiv entgegen. „Bei einem Kumpel von mir. Ist gestern ein wenig spät geworden…“ „Du beschissenes Arschloch, du hast deinen Arsch nach Hause zu bewegen, wenn du schon tagsüber nie anwesend bist!“ Er hielt das Handy einwenig von seinem Ohr entfernt, so wie sein Vater ihn anbrüllte. „Wärst du anwesend, wüsstest du, was los ist. Aber du vergnügst dich lieber!“ Jedes Wort wurde ihm entgegen gespieen, als wäre er der schlimmste Unfall dieser Welt. So derart aggressiv hatte er seinen Vater schon lange nicht mehr erlebt… „Was ist denn?“, versuchte er es ruhig und lehnte sich auf der Couch zurück. Er wollte nicht zurück schreien, er wollte seine Stimme eigentlich gar nicht erheben. „Wir stellen die Geräte ab.“ Es schlug ein wie eine Bombe, wie eine alles vernichtende Bombe. Seine Gesichtszüge entglitten ihm mit einem Mal und das Handy glitt aus seiner Hand, fiel auf die Bettdecke, und blieb dort liegen. „Hast du gehört? Die Ärzte sagen, es hat keinen Sinn, er würde nur innerlich vor sich hin leiden und die Verletzungen am Kopf wären zu stark, sodass die Chancen darauf, dass er jemals wieder aufwachen würde, mit jedem Tag weiter gegen Null laufen.“ Wie durch einen Schleier hörte er das, was sein Vater ihm durch den Hörer entgegenbrüllte. Es war keine normale Stimmlage – bei weitem nicht mehr. „Nächsten Monat, am dritten. Beweg deinen Arsch gefälligst hier her. Deine Mutter will dich sehen.“ Er antwortete nicht. Er sagte keinen Ton und war auch gar nicht in der Lage, etwas von sich zu geben. Wie erstarrt sah er auf einen Punkt, der sich irgendwo neben Ian an der Wand befinden musste. „Nathan… Nathan!” Einige Male versuchte es sein Vater noch, ihn somit wieder ans Telefon zu bekommen, jedoch vergeblich. Was folgte war ein simples Tuten. Und erneut war es Ian, der vor ihm in die Knie ging und ihn ansah. „Nathan?“, hörte er seinen Namen. „Nathan, Alter, sieh mich an.“ Paralysiert richtete sich sein Blick auf den Brünetten vor sich. Er sah ihn an, sah ihn aber wiederum gar nicht. „Das können sie nicht machen…“ „Doch, können sie. Sie sind die einzigen Personen, die darüber die Entscheidungskraft haben.“ „Nein!“, platzte es leise aus Nathan heraus. „Nein! Das können sie nicht tun. Sie können ihn mir nicht wegnehmen. Er … er ist doch mein … Wir sind Zwillinge…“ „Ich weiß, Nathan. Aber du kannst an ihrer Entscheidung nichts ändern.“ Nur am Rand nahm er wahr, dass Ian seine Hände auf seine Knie legte, beruhigend darüber strich. Nicht einmal die Tränen bemerkte er, die ihm über die Wangen flossen. „Ich muss dahin... sofort!“ Wie verrückt sprang er auf einmal auf, beförderte Ian damit in eine sitzende Position auf den Boden und suchte seine Schuhe und seine Hose vom Boden. „Sofort“, wiederholte er. „Nathan“, sprach ihn Ian erneut an, kam sogar auf ihn zu. „Was?“ „Beruhig dich.“ „Es geht um meinen Bruder – da kann ich nicht ruhig bleiben.“ Fest fasste die Hand des Älteren seinen Oberarm, hielt ihn somit zurück. „Doch, kannst du. Es ist spät, da sind viele Autos auf der Straße und wenn du lospräscht wie ein Berserker, sehe ich dich das nächste Mal auf der Intensiv oder im Sarg. Beruhig dich“, hielt er ihn erneut an, sah ihm fest in die wässrigen Augen. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie sich das gerade anfühlt.“ „Glaub mir, das kann ich sehr wohl nachvollziehen.“ „Deine Tochter…“, kam es wispernd von Nathan und Ian nickte. „Tu dir einen Gefallen, beruhig dich.“ „Ich muss … Das…“ Nathan befand sich nicht mehr in der Lage, komplette Sätze zuformen. Seine Gedanken kreisten nur um das eine Thema, das ihm sein Vater vor nur wenigen Minuten so lieblos und brutal vor die Füße gespuckt hatte. Da konnte auch Ian nichts dran ändern. Ian drehte ihn zu sich, sodass Nathan ihn direkt ansehen musste, egal, ob er das wollte oder nicht. „Ich werde jetzt in die Küche gehen, du wirst mitkommen. Dann mache ich dir einen Kaffee und erst dann bekommst du deine Autoschlüssel von mir“, sprach Ian ruhig mit ihm. „Haben wir uns verstanden? Dann hast du dich beruhigt und kannst mit deinen Eltern darüber reden. So wird das nichts.“ Nathans Blick fuhr scanend über Ians Gesicht, dann nickte er leicht und atmete tief durch. Es war einfach alles zu viel. Gab es denn gar keinen Weg mehr nach vorn? War jeder Tag ein Schritt zurück in die Vergangenheit? Immer wieder trat er auf der Stelle, musste jedes Mal wieder einen Schlag einstecken, der ihn zurück warf. Jeden Tag auf ein Neues. „Komm.“ Mehr oder weniger freiwillig folgte er Ian aus dem Zimmer, die Treppe hinunter und dann in die Küche. Auf dem Weg dorthin musste er einigen Spielzeugen ausweichen und über Kuscheltiere hinweg steigen. Diese Wohnung war ein einziges Chaos… Nachdem der Ältere ihm mit einem Handzeichen andeutete, sich auf einen der Tresenhocker zu setzen, kam er diesem nach. Seine Hand stützte sein Kinn, während er Ian dabei zusah, wie dieser die altmodische Kaffeemaschine fertig machte und nebenbei lauschte er der angenehmen Stille. „Warum ist es so still?“, wollte er wissen, drückte seine Stimme in die richtige Tonlage zurück, auch wenn es ihm überhaupt nicht leicht fiel. Aber diese Schwäche so nach Außen kehren, gerade Ian gegenüber, wollte er dann auch nicht. „Miguelle ist mit seinem Vater weg, Niclas ist bei seinem Vater, Joel ist mit Derek auf den Footballplatz ein wenig trainieren und meine Mutter selbst ist … was weiß ich. Vielleicht vögelt sie sich gerade durch die Betten unserer Nachbarschaft. Was weiß ich.“ Es folgte ein unbeteiligtes Schulterzucken des Brünetten, ehe dieser sich zu Nathan umdrehte und sich an die Küchenzeile lehnte. „Du hast ja eine sehr hohe Meinung von deiner Mutter.“ „Sie ist nun mal das Miststück der Familie. Was kann ich denn dafür, wenn es eine Tatsache ist?“ „Hasst du sie so sehr, weil sie dich zu deinem Vater abgeschoben hat?“ „Ich habe, bis ich sechzehn war, in einem Loch von Wohnung gehaust. Meine Mum hielt es nicht für wichtig, sauber zu machen. Adriane kümmerte sich meistens um den Haushalt und ich kümmerte mich meistens um Nadine. Irgendwann hatte sie einen neuen Stecher, schmiss mich aus der Wohnung und schickte mich zu meinem Dad. Zu einer völlig fremden Person, die ich nie vorher gesehen habe.“ „Dann kommt dein Dad nicht von hier“, schlussfolgerte Nathan und versuchte sich auf die Sachen zu konzentrieren, die Ian ihm sagte. Eine Aufgabe, die nicht ganz einfach war, bei dem, was ihm im Kopf herum irrte. „Stell dir vor, mein Vater kommt aus Miami und kam nach Orlando nachdem er aus der Armee ausgetreten ist … sagt man das so? Egal, er war bei der Air Force.“ „Wie kam deine Mutter an ihn?“ „Was weiß ich… Ich weiß nur, dass er wesentlich mehr Geld auf dem Konto hatte, als wir damals als Familie.“ „Aber bei deinem Dad war es auch nicht besser?“ „Disziplin war bei ihm das A und O, aber lassen wir das.“ „Warum hast du dich nie gegen ihn gewehrt?“ „Was?“ „Warum du dich nie gegen deinen Vater gewehrt hast.“ „Meine Sache.“ „Du fängst schon wieder damit an.“ „Womit?“, begann Ian ihm entgegen zu zischen. Es schien, als wäre das Thema Familie wirklich ein sehr sensibles Thema. „Damit, dass du mir rein gar nichts von dir sagen willst und dass du schon wieder so grauenvoll kalt und aggressiv bist.“ „Mein Leben geht dich nichts an. Du erzählst mir doch auch nichts über dich. Verbleiben wir einfach so.“ „Und was war das gestern? Von wegen, wir müssten über irgendwas reden? Die Sache mit Vincent?“ „Mach deine eigenen Erfahrungen, du bist alt genug“, kam es nur trocken von Ian. „Ich bin immerhin nicht deine Nanny oder so was – nur weil du neunzehn bist, heißt es ja nicht, dass du einen Aufpasser brauchst!“ Ian nahm die Kaffeekanne, füllte zwei Tassen mit der braunen, dampfenden Flüssigkeit und stellte eine direkt vor Nathan auf den Tresen. „Du lässt mich also ins offene Messer rennen?“, fragte er rhetorisch nach. Natürlich wusste er, dass Ian dies tun würde. Er würde ihn hundertprozentig einfach auflaufen lassen und nachher lediglich die Blutlache wegwischen – wenn überhaupt. „Natürlich. Im Grunde ist es mir egal, was du tust und was du nicht tust.“ „Deine arktische Kälte wird mit Mal zu Mal schlimmer“, kommentierte Nathan nur trocken und seufzte nur tief durch. Konnte dieser Tag noch schlimmer werden? „Warum bekomme ich meinen Autoschlüssel noch nicht?“ „Weil das einfach so ist. Kaffee.“ „Junge, was willst du eigentlich von mir? Ich kümmere dich einen Scheißdreck, aber auf der anderen Seite versuchst du mich davon abzuhalten, mit mehr als hundert Sachen nach Hause zu fahren. Was ist los mit dir?“, fragte Nathan verzweifelt und etwas angefressen zugleich nach. „Ganz einfach: Ich habe keine Lust darauf, dass man mir vorwirft, daran schuld zu sein, dass du dir den Hals abgedreht hast.“ „Ich bin vernünftiger als du es bist.“ „Du prügelst dich auch einfach so mit einem Kerl, den du nicht kennst und der dir im Wesentlichen überlegen ist!“, begann Ian und senkte seine Stimme auf dein drohendes, kaltes Level, dass Nathan so noch nicht von ihm kannte. „Hm, im Wesentlichen überlegen“, murrte Nathan wiederholend vor sich hin, nahm einen großen Schluck von dem heißen Kaffee und hatte das Bedürfnis, die weiße Tasse, in der sich der kochend heiße Kaffee befand, einfach an die nächste Wand zu schmeißen. Und nur schwer schaffte er es, diesem Drang Einhalt zu gebieten. Was erlaubte Ian sich überhaupt? Erst sagte er, dass er nicht als Nanny fungieren wollte, aber im Umkehrschluss sorgt er sich dennoch um Nathan. Musste er das verstehen? Aber ohne weiter darüber nachzudenken, richtete er seinen Blick auf die Marmorplatte und konnte nichts dagegen tun, dass seine Gedanken mit einem Mal wieder zu Blake glitten. Erst als er die Hände Ians sah, die sich an der Tresenkante abstützten, sah er auf und blickte direkt in die kühlen braunen Augen des Älteren. „Wesentlich, ja. Das gestern, das war purer Zufall. Hinter ihm steht eine ganze Herde von Kerlen.“ „Und?“ „Und?“ Humorlos lachte Ian auf diese Antwort und Nathan verstand nicht, was das nun zu bedeuten hatte. Es machte für ihn keinen Sinn. Es war doch auch nur ein ‚Und’ wert. Mehr bedeutete dieser Vincent nicht für ihn. Wer auch immer das sein sollte, welche Rolle auch immer er spielte – es war Nathan schlicht und einfach egal. Mehr Probleme als er ohnehin schon hatte, konnte er kaum noch bekommen, daher war es ihm so derart egal… „Du ahnst nicht einmal etwas davon, wie dieser Kerl dich in die Scheiße reißen wird, wenn ihm deine Fresse nicht passt.“ „Die passt ihm bereits nicht. Und wenn, ist es mir auch egal. Noch schlimmer kann mein Leben gar nicht werden.“ Auch der letzte Rest des Kaffees wurde in einem Zug getrunken und Nathan streckte seine Hand mit dem Kommentar: „Schlüssel“, aus. Widerwillig, dass sah man Ian sofort an, gab dieser das Schlüsselbund mit dem Autoschlüssel an Nathan weiter. Jener strich sich die schwarzen Haare zurück, nickte und stieg vom Hocker herunter. „Ich bin ehrlich gerührt von deiner geheuchelten Fürsorge, Ian“, kommentierte Nathan staubtrocken, als er auf halbem Weg zur Tür noch einmal stehen blieb. „Aber so wie ich mich aus deinem Leben versuche herauszuhalten, halte du dich auch aus meinem heraus. Wir sind keine Freunde und unter diesen Umständen werden wir auch niemals welche werden.“ Kapitel 11: Ruckwurf ... ------------------------ 19. Juli. 2011 Nach einem katastrophalem Arbeitstag, hatte er die Hoffung, in ein mehr oder weniger normales Familienleben zurück zukehren. Dabei hätte er diese Hoffung nach dem Sonntagsgespräch vor zwei Tagen aufgeben sollen. Mit einem stummen Seufzen schloss er die Wohnungstür auf, hörte aber sofort die streitenden Stimmen einer übergeblieben Familienmitglieder. Etwas lauter als gewollt knallte die Tür ins Schloss, er ließ seinen Rucksack einfach im Flur bei der Garderobe liegen, zog die Schuhe aus und ging gleich in die Küche durch. Er identifizierte die Stimme seiner Mutter, das Gebrüll seines Vaters war nicht schwer zu differenzieren und auch hörte er Lindsay, die versuchte etwas beizutragen. „Was’ los?“, fragte er und brachte seine gesamte Familie dazu, sich zu ihm umzudrehen und für wenige Minuten still zu sein. Nicht zuletzt lag es daran, dass seine Frage eher ein scharfer Befehl war, zu sagen, worum es ging. Etwas, was die Familie so nicht von Nathan gewohnt war. Fakt war, dass die ganze Woche scheiße lief. Nichts war gut an ihr, die ersten beiden Tage waren das reine Chaos und da brauchte er nicht auch noch streitende Eltern. „Ich war im Krankenhaus“, teilte seine Mutter ihm mit und ließ die Schultern hängen, blickte ihn Hilfe suchend an. Doch diese Hilfe brauchte sie von ihm nicht mehr erwarten. „Ich habe noch einmal mit dem Arzt gesprochen. Ich bin nicht davon überzeugt, dass wir das wirklich tun sollten.“ Woher dieser plötzliche Sinneswandel?, dachte er sich und lehnte sich an den Türrahmen an. „Und welcher Überzeugung bist du dann?“, wetterte sein Vater auch gleich drauf los, ging auf seine Frau zu und fasste diese grob an den Schultern, schüttelte sie. Lindsays Stimme überschlug sich, als sie versuchte mit Worten das zu erreichen, was Nathan tat. Er fasste wiederum seinen Vater, zog diesen von seiner Mutter weg und drückte ihn hart gegen die freie Küchenwand. „Was ist dein Problem?“, zischte er ihm entgegen und spürte die Blicke der beiden Frauen auf sich. „Was ist dein beschissenes Problem? Willst du Blake loswerden, oder was?“ „Du hast mich das auch schon am Sonntag gefragt!“ „Ich weiß! Verdammt ich weiß das, aber du gibst mir nie eine Antwort!“, schrie er ihm genau so entgegen, wie auch sein Vater ihn anschrie. „Weil du keine brauchst! Für mich bist du nicht länger ein Teil dieser Familie, als brauchst du auch keine Informationen bezüglich Entscheidungen, die die Familie betreffen!“, antwortete sein Vater ihm giftig und erreichte somit, dass Nathan ihn los ließ und einen Schritt zurück trat. „Er ist dennoch mein Bruder. Du kannst mich meinetwegen von dieser Familie ausschließen, aber du schließt mich nicht vom Leben meines Zwillings aus!“ „Das tue ich hiermit aber. Ich habe beim Chefarzt veranlasst, dass dir der Zugang zu Blake verweigert wird, bis die Formalitäten alle geklärt sind und diese Geschichte bald ein Ende hat!“ „Richard!“, fuhr seine Mutter dazwischen. „Du kannst deinen Sohn nicht verbieten, seinen Bruder zu besuchen. Du kannst auch nicht allein entscheiden, dass die Geräte abgestellt werden. Dazu brauchst du die Unterschrift von mir!“ „Mum.“ Lindsay tat einen Schritt aus ihrer Ecke heraus, stand somit zwischen ihren Eltern und blickte Nathan bittend, gar flehend, an. „Lass nicht zu, dass Blake geht… er lebt. Ihr könnt ihn nicht töten… Er kommt wieder zu sich.“ „Wann?“, fuhr ihr Vater sie an, ging auf sie zu und war gar im Begriff, seine eigene Tochter zu schlagen. Und ab da an Nathan hatte genug, sich immer innerlich zu beruhigen. Er wollte seinen Vater nie schlagen, er hatte nie vor, sich gegen ihn zu wehren oder etwas zu tun, was ihn noch unbeliebter machte. Aber langsam reichte es ihm. Es machte ihn fertig, wie sein Vater handelte. Das alles machte ihn krank! „Er wird nie wieder zu sich kommen. Er leidet, ohne dass wir es sehen. Es ist besser für ihn, wenn wir ihn erlösen.“ „Nein“, gab Nathan von sich, wandte sich seinem Vater wieder zu, ehe er sich zwischen diesen und seine Schwester stellte. „Was?“ „Nein“, wiederholte er, zuckte die Schulter. „Ganz einfach nein. Du wirst weder mir die Besuchszeiten bei Blake verweigern können, noch wirst du die Geräte abstellen. Er ist mein – unser Bruder. Er ist dein Sohn. Du willst ihn einfach so abstellen? Wir krank bist du eigentlich in deiner verdrehten Birne? Dass du mich nicht abkannst, das habe ich inzwischen akzeptiert, aber dass du Blake einfach so abschreiben würdest, das hätte ich niemals erwartet. Niemals.“ Kühle sprach nun auch aus seiner Stimme. Er hatte es endgültig satt, immer als Fußabtreter dieser Familie gesehen zu werden. Er hatte seine gesamte Vergangenheit satt und wollte endlich nach vorn sehen. Er wollte endlich, dass er wieder hoffen und glauben konnte, dass Blake zu sich kam. Das alles wollte er wieder haben, aber so lange sein Vater ihm die Felsbrocken in den Weg schmiss, ging das nicht. „Was erlaubst du dir, Nathan?“ „Ich sage nur das, was mir schon lange auf der Zunge liegt.“ „Du hast uns die ganze Zeit, dein ganzes beschissenes Leben lang, nur Ärger gemacht. Nur. Selbst jetzt hörst du nicht auf, uns das Leben schwer zu machen?“, wollte sein Vater wissen und tat einen Schritt auf seinen Sohn zu. „Erst die Ärgernisse im Kindergarten, dann die ewigen Besuche bei deinen jeweiligen Rektoren von der ersten Klasse an bis zur Highschool. Die ewigen Krankenhausbesuche und die ewigen Anrufe der Bullen. Und als das endlich vorbei war, bringst du Blake in die Situation, in der er sich jetzt befindet. Und was verlangst du nun? Dass ich auf dich höre und dabei zusehe, wie die Chancen auf Genesung meines Sohnes jeden Tag sinken? Jetzt frage ich dich, wie krank bist du in deiner verdrehten Birne?“ Vater und Sohn standen sich nun unmittelbar gegenüber. Kein Blatt trennte sie voneinander und die Blicke, die sie beide tauschten, sprühten nur so vor Hass für einander. „Dad“, versuchte es Lindsay und trat neben die beiden sich streitenden Männer. „Geh in dein Zimmer, Lindsay“, zischte ihr Vater sie an. „Sofort!“ Lindsay biss sich auf Unterlippe, wollte etwas sagen und unterdrückte die Tränen aus Verzweiflung und Wut, ehe sie die Küche verließ und ihre Zimmertür knallend hinter sich schloss. „Richard … Es reicht, meinst du nicht?“, lenkte nun auch die Mutter ein, übernahm somit Lindsays Position und versuchte zu retten, was noch zu retten war. Wenn es überhaupt noch etwas zu retten gab. Doch die Mutter wurde ignoriert. Weder Nathan noch sein Vater hörten die Worte der Frau. „Dann weiß ich ja, von wem ich das geerbt habe“, gab Nathan plump von sich und verschränke die Arme vor der Brust. „Du solltest deine Zunge im Griff haben, Junge.“ „Nenn mich nicht Junge, Richard.“ Der Name seines Vaters glitt von seinen Lippen wie flüssiges Gift. „Ich bin nicht länger dein Sohn? Fein, dann bist du nicht länger mein Vater. Dementsprechend brauchst du auch nicht denken, dass ich mir von dir Vorschriften machen lasse.“ „Du erlaubst…-“ „Sht. Wer hat gesagt, dass ich fertig bin?“, fragte Nathan nach, lächelte überheblich vor sich hin. Und das, obwohl innerlich alles danach schrie, endlich ein Ende von dieser Konversation zu haben. Alles ging innerlich in die Knie, schrie, heulte, brach zusammen. Aber äußerlich war er das, was er seinem Vater immer gegenüber war: gelassen, arrogant und überheblich. Niemals würde er diesem Mann zeigen, wie er innerlich fühlte. Niemals! „Wenn du wirklich denkst, dass du erreichst, dass ich vor dir auf die Knie falle und bettle, dass alles wieder besser wird, dann hast du dich geschnitten, haben wir uns verstanden?“ „Ich will dich hier nicht mehr sehen“, flüsterte sein Vater gefährlich – drohend. „Ich will auch gar nicht länger hier sein.“ „Wo willst du denn schon hin?“, grinste sein Vater ihn dann jedoch an, erwartete wohl, er würde seinen Sohn auf die Straße setzen. „Mach dir darum mal keine Gedanken, Richard. Ich weiß schon, wo ich unterkommen kann.“ „Bei deinem Trainer, diesem Neger?“ „Bitte, nicht rassistisch werden, ja? Du bist der Letzte, der erfährt, wo ich mich aufhalte“, meinte er und grinste seinem Vater dabei eiskalt und überheblich ins Gesicht. „Nathan? Nathan, du kannst nicht gehen, die ganze Familie bricht doch auseinander!“, mischte sich seine Mutter erneut in die Unterhaltung zwischen ihm und seinem Vater ein, sodass Nathan sich nun doch leicht zu ihr umwandte. „Mum, diese Familie … Wie oft soll ich dir das noch sagen? Diese Familie ist der letzte Dreckshaufen hier in Orlando. Du kannst das vergessen, dass ich wegen dir hier blieben werde.“ „Ich habe alles für dich getan! Und jetzt dankst du es mir, indem du einfach gehst?“, fuhr nun auch sie ihn an. „Was hast du – was habt ihr schon für mich getan? Nichts, rein gar nichts. Danke, dass ich hier wohnen durfte“, kam es sarkastisch von ihm. „Danke, für die viele mütterliche Liebe, die ich von dir bekommen habe…“ Seine Stimme begann nur so vor Sarkasmus zu triefen. „Und danke dafür, dass du immer wieder begonnen hast, mir die gute Mutter vorzuspielen. Ich muss sagen, dass es dir Anfangs noch gut gelungen ist. Aber langsam habe ich kapiert, dass auch du mich nur loswerden willst.“ „Das ist doch gar nicht wahr!“, brachte sie überrumpelt heraus, doch verriet ihre Stimme sie sofort. Sie klang nicht so überrascht, wie es eine Mutter bei solchen Worten normalerweise hätte sein müssen. Sie klang nicht einmal verletzt oder etwas anderes in dieser Richtung. Sie klang einfach nur erwischt… Das war alles. „Nein, es ist nicht nur wahr. Es ist einfach nur eine ernüchternde Feststellung, deren Bestätigung du mir gerade geben hast. Die Wahrheit kannte ich schon länger.“ Sein Vater griff darauf hin nach seinem Shirtkragen, forderte somit die Aufmerksamkeit Nathans wieder für sich. „Verschwinde, sofort.“ „Gern, lass mich los.“ „Ich habe selten ein solches Arschloch wie dich gesehen.“ Nathan hielt sein Lächeln, die ganze Zeit über. Keine Miene verzog er, egal, was er hörte oder was er sagte. Nichts regte sich auf seinem Gesicht. „Das gebe ich nur zu gern zurück!“ Die flache Hand die er dann spürte, tat nicht so weh, wie die Erkenntnis, den letzten Funken Familie zu verlieren, den er besessen hatte. Auch die zweite Ohrfeige war nichts im Gegensatz zu den mentalen Schlägen. Eigentlich war nichts schlimmer als der innere Schmerz. Rein gar nichts… Ein heftiger Stoß gegen seine Brust ließ ihn wenige Minuten später nach hinten taumeln und beinahe stolpern. „Du hast eine viertel Stunde um die wichtigsten Dinge aus deinem Zimmer zuholen und diese Wohnung zu verlassen.“ „Gern.“ „Du rufst an, bevor du den anderen Scheiß abholst. Die Schlüssel gibst du heute ab, der Chevrolet bleibt hier.“ „Bist du wahnsinnig?“, lachte Nathan auf einmal auf, hob die Hände an die Seite. „Der Wagen gehört mir!“, brachte er heraus. „Nicht mehr.“ Wieder lachte er trocken los. „Nicht mehr? Pff, ich glaube, du tickst nicht mehr richtig! Den Karren habe ich selbst bezahlt und selbst fertig gemacht, was bildest du dir ein?“, fragte er nach, schüttelte den Kopf. Alles, aber nicht seinen Wagen. Das war das Einzige auf dieser Welt, das wirklich ihm gehörte! Ohne weitere Worte ging er in den Flur, nahm seinen Schlüsselbund und kam zurück in die Küche. Alle Schlüssel, die für die Haustür waren oder für den Familienvan löste er und schmiss sie seinem Vater vor die Füße. Den einzigen Schlüssel den er behielt, war der für den Chevrolet. Für seinen Wagen. „Nathan…“ „Vergiss es. Du kannst mir nicht alles nehmen und erst recht nicht den Wagen.“ „Nathan.“ „Fick dich“, zischte er ihm beinahe tonlos entgegen. Er hatte keine Lust mehr auf diese Diskussion und auch nicht auf die Blicke, die ihm seine Mutter zuwarf. Er wollte er hier nur noch weg. Auf den Hacken drehte er sich um, ging mit schnellen Schritten in sein Zimmer und zog die Reisetasche unter seinem Bett hervor. Es landeten Klamotten und Schuhe darin, der Laptop und eine ganze Menge Bilder. Von Lindsay bei ihrem Auftritt bei einem Turnier. Von seinem Bruder bei den Meisterschaften oder einfach nur irgendwelche Bilder, die entstanden sind, als sie alle drei Langeweile hatten. All das fand den Weg in die Tasche, ehe der Reisverschluss verschlossen wurde und er sich umdrehte. Doch die Tür wurde im versperrt. Lindsay stand dort. Der schwarze Mascara zog schwarze Schlieren über ihre Wangen und neue Tränen zogen mehr von dem schwarzen Zeug hinterher. „Bleib.“ „Nein.“ „Bitte“, flehte sie ihn an, kam auf ihn zu und drückte sich an ihn. „Bleib, bitte. Ich brauch dich.“ „Ich bin einmal wegen dir wieder hier her gekommen. Einmal reicht mir, Lindsay. Ich ertrage das hier alles nicht mehr. Ich kann nicht mehr!“ „Wo wirst du sein? Damit ich dich finden kann?“, fragte sie nach, krallte ihre Finger in sein Shirt und presste ihr Gesicht gegen seine Schulter. „Bei Cooper?“ „Nein, nicht bei Cooper.“ „Bei Ian?“, bohrte sie weiter nach, vergrub ihre Finger immer fester in den Stoff seines Shirts. „Nein, nicht bei Ian…“ „Wo denn, Nathan! Ich will dich sehen können… ich will dich besuchen kommen können!“ „Wenn ich von dir gefunden werden will, rufe ich dich an. Jetzt lass mich los.“ „Warum sprichst du so kühl mit mir?“ „Ich will hier einfach nur noch weg. Lass mich los.“ Doch sie ließ ihn nicht los, hielt ihn viel eher noch viel fester. Es dauerte nur ein paar weitere Minuten, bis es Nathan zuviel wurde. Grob löste er mit einer Hand ihre Arme von sich, ging an ihr vorbei. „Nathan!“, schrie sie ihm hinterher. Er jedoch reagierte kein bisschen mehr darauf, obwohl er hörte, wie sie sich auf den Boden schmiss und bitterlich begann, zu weinen. Im Flur zog er nur noch seine Schuhe an, nahm die Sicherheitsschuhe mit, schulterte den Rucksack und nahm seine Jacken vom Harken, ehe er die Wohnung verließ. Die Tür schlug er hinter sich so hart zu, dass man meinen könnte, die kleine Scheibe würde in tausend kleine Stücke zerbrechen. Sein Blick richtete sich auf den Parkplatz. Den ganzen Tag hatte es schon nach Regen ausgesehen. Auch im Radio würde darüber berichtet, aber warum musste es ausgerechnet jetzt anfangen zu pissen, als würde es kein Morgen geben? Schnell hetzte er die Treppen hinunter, zu seinem Wagen und verstaute seine Taschen im Kofferraum, ehe er einstieg und zusah, dass er weg kam. Die Scheibenwischer kamen kaum gegen die Wassermassen an, die Boxen seines Wagens waren durch die lauten Bässe gequält und der Tank war beinahe leer. Seit mehreren Stunden fuhr er nun schon sinnlos durch die Gegen, versuchte den Kopf freizubekommen und einen normalen Gedanken festhalten zu können. Aber es gelang ihm nicht. Viel eher stellte sich immer und immer wieder die Frage: Wo sollte er hin? Zu Cooper konnte er wirklich nicht gehen. Dieser würde ihm nur wieder Fragen stellen, dann eine Moralpredigt halten und nachher für sein Verhalten mit Schweigen strafen. Das war letztes Mal auch so gewesen. Zu Ian wollte und konnte er genauso wenig gehen. Samantha? Dafür kannte er die junge Frau zu wenig. Mike? Das wäre die einzige Option – zumal dieser auch über seine ganzen Probleme am ehesten Bescheid wusste… Auch wenn das vielleicht komisch klang, aber er vertraute Mike nach dieser recht kurzen Zeit der Bekanntschaft mehr, als er Cooper vertraute. Die nächste Tankstelle anfahrend, tankte er halbvoll, fuhr dann direkt in Mikes Straße und parkte direkt hinter Mikes Mustang. Langsam stieg er aus, schlich beinahe durch den Regen zur Tür und klingelte. Seine Haare trieften, seine Klamotten klebten an ihm – nur von den paar Metern bis er bei der Haustür war. Es dauerte eine Weile bis jemand öffnete – es war ja auch schon etwas später am Abend, wer erwartete da mitten in der Woche noch Besuch. „Wer – Nathan“, kam es überrascht von Seth, der ihm die Tür öffnete. „Hi…“, er zögerte einen Moment, ehe er sich die Haare zurück strich und seufzte. „Ist das Dachgeschoss besetzt?“ Es war ihm schon ein wenig unangenehm, das musste er sich selbst eingestehen. Aber es war nun einmal die einzige und letzte Lösung, die er hatte. Sonst müsste er im Auto pennen und sich schnell eine eigene Wohnung suchen … egal, was für ein Loch das sein würde. „Komm doch erst einmal rein, du holst dir sonst noch den Tod!“ Langsam trat er hinter Seth in das Haus ein, schloss die Haustür und zog gleich die Schuhe von den Füßen, damit er den Teppichboden nicht einsaute. „Seth, wer ist da?“, hörte er Mikes Stimme aus dem Wohnzimmer kommen. „Nathan“, antwortete Seth und beinahe sofort erschien Mike im kleinen Flur zwischen Wohnzimmer und Küche. „Junge“, kam es geschockt von dem Sänger. „Was passiert?“ „Ich fang am besten gar nicht erst an…“ „Machst du das Gästezimmer oben kurz fertig? Bettzeug liegt schon auf der Couch…“, wies Mike Seth lieb lächeln an, ehe er auf Nathan zu ging und dessen Kinn fasste. Mit sanfter Gewalt drehte er den Kopf des Jüngeren leicht zur Seite und besah sich die rot, gar schon leicht violette Wange. „Was passiert?“ „Mein Vater und ich hatten eine klitzekleine Auseinandersetzung, ich hatte ein bisschen Streit mit meiner Mutter und bin aus der Wohnung geflogen … aber sonst geht es mir gut…“ Mike schüttelte nur den Kopf, ließ von Nathan und musterte diesen von oben bis unten einmal ausgiebig. „Du und Ian – ihr nehmt euch wirklich nicht mehr viel … Komm, wir holen dein Zeug rein und dann gehst du duschen“, wies Mike ihn an und hob die Mundwinkel minimal an. Nachdem die Taschen im Gästezimmer waren, Nathan sich kurz unter die Dusche gestellt und umgezogen hatte, saß er unten bei den beiden im Wohnzimmer. Dieses Mal jedoch auf der Couch und hielt eine Tasse in der Hand. „Worum ging euer Streit?“ „Um das übliche Gelumpe. Um das, was eigentlich keinen Streit wert wäre… Ist auch egal“, gab er Mike die Antwort und begann, mit dem Löffel in dem Kaffee herum zurühren. „Willst du nicht drüber reden?“ „Nein.“ „Nathan, es ist nicht gut, wenn du vor sich hin schweigst und nicht redest. Ich frage Ian und Samantha – aus beiden Aussagen muss ich ja die Wahrheit zusammenbasteln können“, drohte Mike folgend und sah den Jüngeren auch dementsprechend fordernd an. „Ach verdammt.“ Die Tasse landete auf dem Tisch, der Inhalt schwappte gefährlich und Nathan ließ sich in die Sofakissen sinken. „Meine Eltern wollen Blakes Geräte abstellen“, kam es dann leicht angepisst von Nathan zurück und er fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. „Ich will das aber nicht, Lindsay will es auch nicht. Aber meine Meinung zählt in meiner abgefuckten Familie ohnehin keinen Penny.“ Es machte ihn einfach immer noch völlig fertig, aber er wusste, dass er gegenüber Mike und somit auch gegenüber Seth, die Mauer ein wenig herunter lassen konnte. Auch wenn nicht alles, aber ein wenig. „Es macht mich irre, zu wissen, dass ich ihn nicht einmal mehr sehen darf.“ „Deine Eltern verbieten dir, deinen Bruder zu besuchen?“, fragte Seth nun gar geschockt nach. „Mein Vater verbietet es mir, meine Mutter sagt nur nichts dagegen…“ „Puh, das ist hart.“ Er sagte nichts, nickte einfach nur stumm. Was sollte er auch schon sagen? Es lief einfach alles beschissen. Schlimmer könnte es gar nicht mehr werden… Oder? Am nächsten Morgen war er der erste in der Küche, machte die Kaffeemaschine fertig und verging sich am Inhalt des Kühlschrankes. Er wusste nicht, ob es recht war, aber vielleicht war es nicht ganz so schlimm. Die Pancakes stapelten sich bereits auf einem kleinen Teller, während die Kaffeemaschine auch langsam fertig war. Der Tisch im angrenzenden Raum war auch schon gedeckt und es dauerte nicht lange, bis er den Wecker im ersten Stock hörte und wenig später, wie jemand die Treppe hinunter kam. „Morgen“, krächzte ihm Mike entgegen, der sich gleich eine Tasse nahm und diese vollgoss. „Ich glaube, ich adoptiere dich hiermit“, kam es noch ganz verpennt von dem Sänger. „Du machst wenigstens Frühstück.“ Leicht lachte Nathan darauf hin, stellte den Ofen aus und die Pfanne erst einmal auf die Spüle, ehe er die Kanne, die beiden Tassen und den Teller nahm und rüber ging. „Gut geschlafen?“ „Hm, war ein bisschen kurz gewesen die Nacht. Hab zuviel nachgedacht“, gab er dann zu und ließ sich auf einen der Stühle fallen, Mike nahm ihm gegenüber platz. „Wird auch alles wieder werden, glaub mir. Jetzt bleibst du erst einmal hier und kommst ein bisschen runter.“ „Aufgaben?“ „Hm?“ Große, überraschte braune Augen sahen ihn über den Tassenrand hinweg an. „Irgendwelche Haushaltsaufgaben?“ „Ach so“, murmelte Mike dann vor sich hin, trank einen Schluck und stellte die Tasse weg. „Du kannst heute vielleicht einkaufen fahren, der Kühlschrank ist leer, der Keller auch und wir sind heute bis in die Morgenstunden weg – das Musikvideo schieben wir schon Wochen vor uns her, deswegen heißts jetzt Überstunden… Und wenn wir auf Tour sind, kannst du vielleicht alle drei Tage mal durchsaugen und ein bisschen Staubwischen?“ „Klar.“ „Dann brauchen wir diese schlampige Haushälterin nicht anrufen und bezahlen… Und vielleicht … nur wenn du Zeit hast … kannst du mal meinen Wagen nachsehen?“, fragte er nach und nahm sich erst einmal ein paar der Pancakes, goss eine ordentliche Portion Sirup darüber und sah dann wieder zu Nathan. „Natürlich. Ich bin in der Regel um halb sieben zu Hause. Das passt schon.“ „Wunderbar.“ Mike lächelte glücklich vor sich hin, begann sein Frühstück in kleine Teile zu schneiden, wobei Nathan ihn kaum aus den Augen ließ. „Sag mal…“, begann er. „Wie bekommst du es eigentlich hin, so derart viel in dich hinein zustopfen, und so auszusehen?“, fragte er und hob die Tasse auf Mundhöhe. „Weißt du, ich esse nur morgens und abends, nach achtzehn Uhr so oder so nicht mehr und ansonsten … ich habe sehr viel Sex“, daraufhin folgte ein leichtes Grinsen. „Zudem bin ich viel unterwegs, da kommt man ohnehin zu nichts. Wieso?“ „Ich weiß nicht … als ich dich das erste Mal gesehen habe, dachte ich du wärst’n Hungerharken, der überhaupt keinen Bissen herunter bekommt oder es wieder aufs Klo bringt… du warst so dürr.“ „Das war auch die gammligste Tour ever. Glaub mir. Das war Stress pur. Ich hoffe, die nächste wird entspannter. Du fährst gleich zur Arbeit?“ „Ja…“ „Der Haustürschlüssel liegt unter der Blumenschale, die mit den verdörrten Blumen… den kannste dir ans Bund machen, damit du rein kommst.“ „Alles klar.“ „Meine Nummer hast du?“ „Ja … wenn ich von Ian mein Handy geholt habe. Ich habs Sonntag bei ihm vergessen.“ Mike hörte auf zu kauen, hörte auf zu atmen und auch zu blinzeln. „Was?“, fragte Nathan dann. „Du hast…“, brabbelte Mike drauf los, würgte seinen Bissen herunter und schüttelte dann den Kopf. „Du hast bei ihm geschlafen?“ „Ja. Was ist daran so schlimm? Auf der Couch, bitte!“ „Ein Glück… Aber wie kommst du zu ihm?“ „Wir waren im Black.“ „Ja, soweit bin ich auch. Und dann?“ „Ich hab ein bisschen was getrunken, hab dann Sammy zum Taxi gebracht und als ich wieder rein kam, hatte sich Ian wohl mit so einem Schrank von Mann angelegt oder was auch immer. Zumindest hatte ich dann erst einmal eine kleine Prügelei am Hals… Darauf hin war ich unfähig ein Fahrzeug zu führen und hab bei ihm gepennt.“ „Du hast dich geschlagen? Mit einem Typen, der Stress mit Ian hatte?“, wollte Mike wissen und klang mehr als nur ungläubig dessen, was Nathan sagte. „Ian hatte Stress mit dem Kerl – eigentlich war es meine Absicht, zu schlichten, aber das ging nach hinten los.“ „Ich wär auch enttäuscht, wenn nicht“, gab Mike von sich, sah auf die Uhr und schüttelte den Kopf. „Ich geh Seth wecken…“ „Ich mach schon, iss auf. Du musst dich ja auch noch umziehen, was? Und noch diesen Kitt draufspachteln…Dauert doch bei deinem Aussehen eine Weile“, grinste Nathan vor sich hin, als er aufstand. „Heißt das, ich seh scheiße aus?“ „Interpretier es wie du willst.“ 27. Juli. 2011 Ungeachtet von allen Schwestern und Ärzten, führte Nathans Weg ihn direkt auf die Station, in welcher sich sein Bruder befand. Niemand sprach ihn an, niemand grüßte ihn. Es war alles irgendwie … ungewohnt für ihn. An der Zimmertür angekommen, hinter welcher sich das Zimmer Blakes verbarg, klopfte er einmal an und öffnete die Tür. Nur einen Spalt, ehe ihm das Herz förmlich stehen blieb. Beide Betten waren leer. Leer … bis auf das Bettzeug und … Einen Schritt trat er zurück, sah auf die Zimmernummer – aber er war richtig. Warum zur Hölle jedoch war das Zimmer unbelegt? Die Betten leer? Wo war sein Zwilling hin? Seine Hand rutschte von der Türklinke und er blieb einfach wie paralysiert dort im Türrahmen stehen, starrte auf das Bett am Fenster und hoffte, er würde sich das alles nur einbilden. „Verzeihen Sie“, erklang die Stimme einer Schwester hinterher. Aber antworten tat er nicht. Zusehr war sein Kopf damit beschäftigt, Antworten für das hier zu finden. Hatten seine Eltern den Termin vorgezogen? Hatten sie ihn verlegen lassen? War er in einem anderen Hospital untergebracht worden, damit er – Nathan – auch gar nicht auf die Idee kam, seinen Bruder zu besuchen. „Hey, kann ich Ihnen helfen?“, fragte die Frau weiter nach, dieses Mal jedoch auch mit mehr Nachdruck, sodass Nathan sich umdrehte und die kleine blonde Frau ansah. „Das ist doch das Zimmer von Blake Jester…“ „War es.“ „Wo ist er jetzt?“ „Wer sind Sie eigentlich?“, fragte sie nach und drückte das Klemmbrett, das sie in der Hand gehalten hatte, vor ihre Brust, sah fragend zu ihm auf. „Ich bin sein Bruder. Nathan Jester. Wo ist er?“ „Es tut mir leid, aber diese Information darf ich Ihnen nicht geben. Wir wurden vom Chefarzt dazu angehalten, keine Informationen über Blake Jester weiterzugeben. Nicht an Sie“, klärte sie ihn kühl und distanziert auf. „Lebt er denn?“ „Ich bin nicht befugt, Ihnen diese Information zuerteilen.“ „Er ist mein Bruder verdammt, wo ist er?“ „Sie könnten seine Schwester sein oder Gott persönlich. Es ist mir nicht gestattet, Ihnen diese Information zu geben und jetzt gehen Sie bitte.“ „Bitte“, versuchte Nathan es weiter. „Sagen Sie mir nur, ob es ihm gut geht.“ Seine Schultern sanken herunter, als sie nichts sagte und er griff bereits hinter sich, zog die Tür zu und nickte dann bestätigend für sich. „Alles klar… Sie tun ja auch nur Ihren Job“, gab er dann geknickt von sich. Sein Vater hatte es also durchgesetzt. Er durfte seinen Bruder also wirklich nicht mehr sehen. Fein... Er hätte ja damit rechnen müssen, dass sein Vater keine leeren Versprechen gab. Für den Tag entmutigt, verließ er das Krankenhaus, ließ seinen Wagen erst einmal auf dem Parkplatz stehen und ging eine Runde, damit er wenigstens etwas von dem Schock herunter kam. Das Handy aus der Hosentasche ziehend, Joel hatte es vor ein paar Tagen vorbei gebracht, wählte er Nancys Nummer, die er seit Jahren bei sich hatte. „Hey Nanc. Wenn du Zeit hast, ruf’ zurück, würde mich freuen. Wir haben ja’ne Menge nachzuholen und aufzuholen. Bye“, sprach er ihr auf die Mailbox und starrte wenige Minuten noch auf das Display, ehe er das Haustelefon daheim anklingelte. Er wollte langsam sein Zeug holen. Ewig im Gästezimmer pennen und sich dort breit machen, war auch nicht Sinn der Sache und Mike hatte gestern schon mit ihm zusammen einen recht großen und sogar einigermaßen hellen Kellerraum ausgeräumt, der ohnehin quasi leer stand. Nur ein paar Eimer Farbe und ein paar alte Teppichreste haben sich dort befunden und hatten kurzer Hand den Weg in den Müll gefunden. Dass er jetzt quasi bei Mike und Seth einzog, störte die beiden herzlich wenig. Sie hatten ausgemacht, so lange er sich im Haushalt nützlich machte, sich um die Einkäufe und den Garten kümmerte, und auch auf das Haus an sich acht gab, wenn die beiden mit der Band on Tour waren, war das alles kein großes Ding. Neben dem minimalen ‚Mietbetrag’, fiel nichts weiter an, sodass auch Nathans Anschrift demnächst geändert werden würde und dann als Mieter des ‚Kellergeschosses’ gelten würde. Erst als er die Stimme seiner Muter vernahm, wurde er aus seinen Gedanken herausgerissen. „Nathan, was willst du?“ „Ich … Mum, ich komme vorbei und hole meine Sachen ab.“ „Dad ist heute den ganzen Tag nicht da, du kannst also eigentlich sofort her kommen.“ „Ok, bin in zehn Minuten da.“ Er legte auf, zog den mageren Schlüsselbund heraus, der sich jetzt sein eigenen nannte. Autoschlüssel, Hausschlüssel und Schlüssel für die Kellertür. Wow, das war richtig mächtig! Bei seiner alten Unterkunft angekommen, klingelte er zwei Mal und schon wurde ihm geöffnet. Seine Mutter blickte ihm entgegen, wischte die Hände an ihrer Schürze ab und band sich den Zopf neu. “Komm rein“, sagte sie und klang ihm gegenüber jetzt genauso neutral, wie es sein Vater immer tat. Hinter sich die Tür schließend, wollte er gleich in sein altes Zimmer durchgehen, doch hielt ihn seine Mutter für einen Augenblick noch zurück. „Wo wohnst du jetzt?“, fragte sie. „Bei Cooper?“ „Nein. Ich hab schon was, keine Sorge“, antwortete er ihr ruhig, strich ihre Hand von seinem Oberarm. „Was ist mit Blake. Habt ihr den Termin vorgezogen, oder was?“ Groß blickte sie ihn an, beinahe so, als wüsste sie nicht, wovon er reden würde. „Schau nicht so. Du weißt genau, worum es geht. Ich war heute da, sein Zimmer war leer.“ „Wir haben ihn verlegen lassen, damit du nicht auf die Idee kommst, die Schwestern zu belabern.“ „Wo ist er nun?“ Doch sie schüttelte nur den Kopf. Wo kam man dazu, einen Komapatienten in ein anderes Krankenhaus verlegen zu lassen? Das war krank! Da konnte doch sonst was passieren. Vor allem … wo war das nächste? Es war schon wieder alles viel zu viel für seinen Kopf. Der Platz, den diese ganzen halben Informationen brauchten, war einfach langsam zu gering, als dass er sich um jedes kleine Bisschen Gedanken machen konnte. Deswegen sagte er auch nichts weiter, ging einfach nur in sein altes Zimmer und sah schon, dass alles abgebaut oder in Kisten zusammen gepackt war. „Die alten Schränke könnt ihr entsorgen oder sonst was mit machen…“, gab er von sich, als er die ersten Kisten hochnahm. „Brauchst du die denn nicht?“ „Nein. Ich kaufe bei Gelegenheit neue“, kam es alt Antwort, als er sich an ihr vorbei drängte und die Kisten ins Auto brachte. Nathan hatte ja schon bedenken, dass er das alles nicht mit einer Tour rüber bekam… Jede Kiste stapelte er nach System von hinten nach vorn in seinen Wagen und bekam es sogar noch hin, die Matratze ins Auto zu stopfen. „Ich komme gleich noch einmal vorbei, hole den Rest ab.“ „Bist du sicher, dass du die anderen Möbel nicht mehr brauchst?“ „Ich nehm nur das Bettgestell mit und das wars dann. Was weiß ich, was ihr mit dem Zeug machen wollt.“ Seine Mutter folgte ihm noch bei zum Auto, blieb etwas daneben stehen, als er einstieg. „Und …Nathan?“ „Was?“ „Also … deinem Bruder geht es gut.“ „Hilft mir sehr weiter.“ Sie setzte dazu an, noch etwas zu sagen, jedoch zog er einfach die Fahrertür zu und startete den Wagen. Als er in seiner neuen Unterkunft ankam, sah er Sammys Wagen in der Auffahrt stehen. Seine Augenbraue huschte kurz in die Höhe. Es war schon eine kleine Weile vergangen, seitdem sie das letzte mal hier war. Vielleicht gab es wieder etwas über irgendwas zu klären. Das waren die häufigsten Gründe, warum Samantha hier war. Nathan stieg aus und schloss wenig später die Haustür auf. Aus der Richtung des Wohnzimmers hörte er die Stimmen der drei. Sammy lachte, Mike lachte und Seth erzählte irgendwas – jedoch wurden jegliche Gespräche eingestellt, nachdem die Tür ins Schloss fiel. „Komm raus, Nathan. Ist gerade schönes Wetter“, rief ihm Mike zu, während er gerade seine Schlüssel in die Schale auf der kleinen Kommode im Flur legte. Eigentlich war ihm gerade gar nicht danach, sich mit nach draußen zu setzen und sich irgendwelche lustigen Dinge anzuhören. Am liebsten würde er jetzt einfach gleich alles ausräumen und noch eine weitere Tour fahren, damit er auch sein Bettgestell endlich hier bekam. Aber verkriechen konnte er sich jetzt auch nicht immer, weswegen er sich dann doch dazu entschied, sich zu den anderen zu gesellen. Und kaum, dass er auch nur in Sichtweite der Terrassentür trat, schob sich Samanthas Stuhl zurück und sie sprintete auf ihn zu. „Nathan!“, kam es glücklich von ihr, ehe sie ihm auch auf die Arme sprang. „Was für eine Begrüßung“, gab er von sich. „Womit hab ich die verdient?“ „Weil ich mich einfach freue, dich zu sehen“, sagte sie und schlang ihre Beine um seine Hüfte, um besseren Halt zu haben. Kurz nur blickte er leicht zur Seite, sah Mike grinsend auf seinem Verandastuhl sitzen. Der dachte sich mit Sicherheit seinen Teil dazu. „Hattest du Erfolg, dabei, deinen Bruder zu besuchen?“, fragte sie dann nach. „Nein. Meine Eltern haben ihn verlegen lassen. Keine Ahnung, wo er nun hin ist“, gestand er und setzte die junge Frau wieder auf dem Boden ab, versuchte aber möglichst neutral bei seiner Aussage zu bleiben. „Das tut mir leid“, kam es nur von ihr, ehe sie ihm über die Wange strich und versuchte zu lächeln. „Du leidest deswegen sehr, oder?“ „Es geht“, versuchte er das Thema schnell von sich zu schieben und schob auch Samantha beiseite, um sich endlich auf den freien Platz auf der Veranda zu setzen. „Warst bei deiner Alten vorbei?“, wollte Mike auch sogleich wissen. „Ja. Muss noch mal hin. Ein paar Dinge stehen da noch, die ich dann doch gern bei mir hätte.“ „War dein Vater nicht da?“ „Richard? Nein, zum Glück nicht. Auf den hätte ich auch wirklich keine Lust gehabt, wenn ich ehrlich bin.“ „Kann ich verstehen. Soll ich gleich mitfahren?“ Skeptisch lag Nathans Blick nach diesen Worten auf Mike. „Damit meine Mutter gleich einen Schock bekommt und auf dem Boden liegt?“ „Wieso? Ich sehe normal aus!“, meinte Mike daraufhin leicht geschockt. „Hm, was du so normal nennst, was?“, grinste Nathan los. „Wenn du mich begleiten willst, nimm diese grauenvollen grünen Kontaktlinsen raus, tu ein bisschen weniger Wimperntusche drauf und sorg dafür, dass deine Haare nicht so derart abstehen auf der rechten Seite – wenn du links schon keine mehr hast…“ „Nicht ernsthaft jetzt, oder?“ „Wenn dir dein Leben lieb ist, solltest du das tun. Meine Mum liegt erst am Boden und kommt dann mit ihrem Wischmopp auf dich zu, glaub mir.“ „Dann bleib ich halt zu Hause.“ „Hey, denk nicht, dass ich an dir was ändern will, ok? Ich hab nur einfach keine Lust darauf, dass meine Alte an dir herum meckert.“ „Das will ich auch gehofft haben.“ Und bevor Nathan auch nur darauf kommen könnte, dass Mike es wirklich ernst meinen könnte, zog sich auch schon ein Grinsen über dessen Lippen. „Mach dir keinen Kopf, Alter. Aber selbst unsere alte Nachbarin kommt mit mir klar.“ „Die sind wahrscheinlich alle wesentlich toleranter als meine Mum.“ „Sie weiß aber, dass du jetzt bei einem schwulen Pärchen wohnst, oder?“, fragte nun Sammy vorsichtig nach und nahm ihr Glas an sich, um mit dem Trinkhalm die Eiswürfel darin hin und her zu bewegen. „Nein. Meine Familie weiß nicht, wo ich wohne. Laut meinem Vater gehöre ich ohnehin nicht mehr zur Familie, daher ist es mir egal.“ „Und deine Schwester? Sie ist doch mit Derek Blair zusammen. Dann wird sie doch irgendwann herausfinden, wo du bist?“ „Irgendwann. Lindsay ist zwar ganz nett und nicht ganz dämlich. Aber so gesehen, ist sie doch manchmal ein bisschen naiv. So schnell kommt sie da nicht drauf, da ich ohnehin tagsüber so gut wie gar nicht zu Hause bin.“ „Wenn du meinst.“ Sammy zuckte mit den Schultern, kaute auf dem Trinkhalm herum und hatte die ganze Zeit ihren Blick auf Nathan gerichtet. „Ich räume meinen Wagen kurz aus … und fahre dann noch einmal kurz…“ „Warte, ich helfe und komm’ mit“, kündigte Samantha an und sprang sofort auf, kaum, dass sich Nathan erhoben hatte. „Alles klar“, kommentierte Mike das grinsend. Nathan jedoch schenkte dem Screamer nur einen mahnenden Blick, welcher Mike nur noch mehr grinsen ließ. Dieses Wissen, das darin lag, war unheimlich. Als ob jemand wie der das beurteilen kann, dachte Nathan still bei sich. Aber auf der anderen Seite… Ist das alles, was gerade so gefühlstechnische Dinge betrifft, bei jedem gleich, oder? Aber wie gesagt, auf eine Freundin hatte er gar keine Lust und gerade Samantha? Sie war für ihn im Moment nur ein weiblicher Zwilling Mikes – mit dem Unterschied, dass ihre beiden Kopfseiten mit Haaren versehen waren. Aber sonst nahmen die beiden sich so gut wie gar nichts. Das machte ihm schon ein wenig Sorgen. Aber wer weiß… vielleicht war es einfach nur eine Phase oder was auch immer… ------------------------------------------------------------------------------- Neue Wege gehen Was Neues von mir xD Vielleicht wollt ihr mal rein sehen ? Ansonsten: es geht doch noch weiter: Speechless is on the run! Kapitel 12: ... und du weißt, einen Teil von mir... --------------------------------------------------- 1.August. 2011 „Nathan, das machst du denn da?“, fuhr ihn seine Ausbilderin Nicki ein wenig angefressen an. „Du solltest mir etwas andere bringen. Nicht dieses … diese Krankheit von was auch immer das sein soll“, wetterte sie weiter und drückte ihm die aussortierte Zange in die Hand. „Was ist los mit dir?“ Die Zange einfach zurück auf den Werkzeugwagen feuernd, atmete er einfach einmal tief durch. „Alles gut.“ „Du hast bisher so gut wie keinen Fehler gemacht, und jetzt fängst du damit an? Hast du Stress zu Hause oder mit der Freundin?“ „Nein. Es tut mir leid“, entschuldigte er sich und reichte Nicki das, was sie gern haben wollte. „Nathan. Wenn irgendwas nicht stimmt, dann kannst du mit mir reden.“ Für ihn jedoch war das keine Option. Er hatte sich vorgenommen, niemals etwas nach außen zu tragen, das mit seinen familiären Problemen zusammenhängt. Allgemein wollte er nichts zeigen. Aber im Moment machte es ihn einfach vollkommen fertig, was um ihn herum passiert. Die Zeit läuft ihm davon, in nur zwei Tagen würde er seinen Bruder verlieren. In nur zwei Tagen … und er könnte ihn nicht einmal mehr vorher sehen. Allein das war der Grund, warum er nicht ganz bei der Sache war. Nur sollte gerade Nicki nichts davon wissen. „Ich hab nur ein wenig schlecht geschlafen – zu kurz vor allem. Ich bin erst umgezogen und musste noch renovieren und das alles. Kommt nicht wieder vor“, versprach er weiter und ging der jungen Frau dann dabei zur Hand, was noch am Wagen getan werden musste, ehe er sich den anderen Autos widmete, die sich noch in der Werkstatt befanden. In seiner Mittagspause telefonierte er über eine viertel Stunde mit Nancy über die unwichtigsten Dinge der Welt und machte mit ihr aus, dass er am Abend ins Black kommen würde, damit sie mal ein wenig miteinander reden könnten – sie hatte frei an dem Abend. Ebenso klärte er mit Mike ab, dass er noch einkaufen fahren würde, da die komplette Band über drei Tage nicht daheim wäre, wegen irgendwelchen bandinternen Dingen, die erledigt werden müssten. Was genau das war, wurde ihm nicht erklärt. Aber er wollte es auch gar nicht wissen. Es gab halt so Dinge, die nicht am Telefon erklärt werden konnten und es auch nicht sollte. Um kurz nach acht am Abend saß er in einer der hintersten Ecken des Blacks und besah sich die junge Frau ihm gegenüber. Nancy war immer noch so hübsch, wie sie es damals war. Sie trug ein weißes, schulterfreies Top und rote Hotpans. Ihre schwarzen Haare schimmerten in dem Licht leicht violett. Es fiel ihr in leichten Locken über die tättowierten Schultern. So lange er sich kannte, so lange hatte sie auch schon Tattoowierungen. Und er kannte jede einzelne von ihnen… Sie hatte die Beine überschlagen, die Hände um ihr Knie gelegt und lächelte ihr umwerfendes Lächeln. Sie hatten sie beide bisher über die belanglosesten Dinge unterhalten, die die Welt nur zu bieten hatte. Einfach alles… „Weißt du, nachdem ich mich endlich von meinem Freund getrennt hatte, hast du mir echt gefehlt“, fing sie dann jedoch an und lehnte sich zurück. „Ich fand es ohnehin sehr schade, dass du Gregory und die anderen verlassen hast, so habe auch ich dich aus den Augen verloren…“, fuhr sie weiter fort. „Es tut mir leid, aber es ging einfach nicht mehr, Nanc. Aber ich musste mein Leben endlich wieder auf die Reihe bekommen. Ich habe mit dem Kerl zu lange Jahre verbracht… Ich wollte nicht mehr“, versuchte er ihr zu erklären. „Wegen deinem Zwilling?“ „Ja, auch. Aber auch, weil ich nach der Highschool was werden wollte. Etwas, das nicht mit Drogen zu tun hat. Ohne ewig besoffen zu sein und ein Strafregister zu führen, dass länger ist als meine Krankenakte. Das musst du doch verstehen oder?“ „Natürlich verstehe ich das. Aber hättest du dich nicht ab und an bei mir melden können? Ich habe dich geliebt, die ganze Zeit über.“ „Aber du hast dich nie von deinem Macker getrennt. Wir haben so oft zusammen geschlafen, so oft etwas miteinander unternommen. Aber nie hast du dich getraut, dich von deinem Lover zu trennen.“ „Ich habe es jetzt getan…“ „Ja, aber zu spät. Da ist nichts mehr zwischen uns. Nur noch Freundschaft – es ist zu viel passiert, als dass ich zu dir und dieser Sippe zurückkehren wollen würde.“ „Nur weil ich jetzt noch was mit Gregory und den anderen zutun habe?“ „Genau. Mehr als ein bisschen Smalltalk oder Treffen wie dieser hier sind nicht mehr drin.“ „Heißt also, ich brauche mir bezüglich einer Beziehung mit dir keine Gedanken mehr machen?“ „Nein.“ „Ok … Also, ich komme damit klar. Nur, es ist so, dass ich mir die ganze Zeit immer noch gesagt habe, dass eventuell doch irgendwann die Chance besteht.“ „Sorry…“ „Was ist denn passiert? Ich meine, da muss doch noch was gewesen sein…“ „Mehrere Dinge. Und erst recht will ich mit den ganzen Leuten nichts mehr zutun haben, seitdem etwas passiert ist, dessen Grund ich noch nicht herausgefunden habe.“ „Was denn?“ „Blake liegt im Koma seit einem Jahr.“ Er sah ihr sofort an, dass sie die Luft anhielt und ihn geschockt ansah. „Nein“, brachte sie gerade noch so heraus. „Weswegen? Ich meine … ist etwas beim Sport passiert?“ „Da ist etwas in einer Seitengasse passiert, Nancy.“ „Hat man ihn … also … du weißt schon… Und dann zusammengeschlagen?“ „Nur zusammengeschlagen, soweit ich weiß.“ „Oh mein Gott. Das ist … Nathan…“ Ihre Hand langte über den Tisch und legte sich auf die seine. „Das tut mir so leid… Ihr standet euch so nahe und oh man, das wusste ich noch gar nicht…“ „Schon gut. Wie sollst du das auch wissen?“ Er lächelte ihr falsch ins Gesicht, überspielte einfach alles, was mit Blakes Koma zusammenhing. „Wenn ich irgendwas für dich tun kann…“ „Wenn du die Zeit zurückdrehen kannst, dann bitte. Oder wechsle einfach das Thema…“ „Ok … wer war dieser junge Mann, letztens… Mit dem du hier warst? Ian, hieß er.“ „Ian ist irgendwas zwischen schlimmster Feind und bester Freund. Die Beziehung zwischen ihm und mir … ist kompliziert, sagen wir es so. Wir kommen mal für fünf Minuten wunderbar miteinander klar und im nächsten Moment feinden wir uns wieder so derart an, dass wir uns am liebsten die Augen ausstechen würden.“ „Das sah den Abend aber nicht so aus. Ich meine, du hast Vincent – wir sprechen von Vincent! – davon abgehalten, ihm die Tour seines Lebens zu verpassen und hast dich selbst mit Vincent gekloppt. Und Ian hat ja wohl versucht, dazwischen zugehen. Also so verfeindet könnt ihr nicht sein.“ „Wie gesagt, Nanc. Die Beziehung da herzustellen, ist nicht so einfach“, lächelte er vor sich hin, lehnte sich in dem Sessel ein wenig zurück. „Aber … vielleicht lässt du dich ein wenig über diesen Vincent aus. Wer ist er?“ Ihr Gesichtsausdruck wurde auf einmal ernst, ehe sie das andere Bein nun überschlug und die Arme vor der Brust verschränkte. „Vincent ist Gregorys Cousin. Zweiten Grades, aber das lassen wir einfach mal vorn weg. Und Vince ist so was wie der Pate hier. Jeder hat Angst und Respekt vor ihm. Hinter ihm steht eine große Schar an Männern und ein ganzer Ring von illegalen Dingen. Drogen, Alkohol, Autoschieberei, Prostitution … man mag es kaum glauben, aber unter der Fuchtel dieses Mannes geht so viel… Ich weiß nicht, was dieser Ian mit ihm zu tun hatte, aber ich will es im Endeffekt nicht einmal wissen.“ „Und weiter? Da muss doch mehr sein, als dieses bisschen Drogenhandel und so…“ „Er hat Einfluss – überall. Er beschafft dir alles – wenn du willst und wenn du zahlen kannst. Aber hast du ihn zum Feind … geh’ dir schon einmal einen Grabstein und einen Sarg suchen. Er macht dich weg, wenn er will.“ „Heißt, wenn er meint, meine Fresse passt ihm nicht, ist das so?“ „Nathan… Ich weiß nicht, was dir durch den Kopf geht, aber bitte … lass dir eines gesagt sein: Steck dich nicht in Sachen, die dich nichts angehen. Wenn Ian Ärger mit Vince hat, lass es dabei. Steck dich nicht dazwischen, es tut dir nicht gut. Du hast dich von Gregory und seinen Jungs getrennt, weil du aus dieser Szene heraus wolltest, also leg dich nicht mit Vincent an. Ich will nicht an deinem Grab stehen müssen.“ „Ich habe neunzehn Jahre überlebt. Da wird das doch ein Witz werden.“ Er zuckte die Schulter, seufzte aber theatralisch und zeigte ihr somit, dass er das nicht ernst gemeint hatte, was er sagte. „Nein, das wird kein Witz werden, Nath. Das ist mein absoluter Ernst. Vincent und seine Jungs ist die Creme de la Creme und das Sahnehäubchen auf dem Kuchen in einem. Verglichen zu Vincent ist Gregory nur ein kleiner Fisch im Teich, glaub mir. Ich kenne mich hier in diesem Milieu besser aus, als du. Ich bin hier aufgewachsen und werde auch nicht wirklich hier heraus kommen, weil mich meine Kontakte immer wieder hier her zurück werfen werden. Du aber, du hast die Chance, das alles ein für alle Male hinter dir zu lassen, also leg dich nicht mit Vincent an.“ „Vielleicht erfahre ich aber irgendwie, wer die Leute waren, die meinen Bruder nach meinem Ausstieg aus Gregorys Gruppe so zugerichtet haben.“ „Meinst du, dass es irgendwer aus unserem Bekanntenkreis war?“ „Ich weiß es nicht. Ich will es auch gar nicht weiter diskutieren. Aber vielleicht besteht die Möglichkeit, es zu erfahren … Oder es waren Leute von Vincent. Ich weiß es nicht.“ „Du fantasierst, Nath. Was willst du dann machen? Willst du dich jetzt mit Vincent gut stellen?“ „Nein. Das ganz sicher nicht. Aber ich weiß, wenn ich es herausfinden sollte, irgendwann… Und Vincent steht zwischen mir und diesen Personen, ist es mir egal, wer er ist, was für einen Einfluss er hat und was er alles tun könnte. Dann ist er nichts mehr.“ „Ich warne dich, tu nichts unüberlegtes, Baby. Ich will dir nicht wieder überall Pflaster aufkleben und dich verarzten müssen.“ „Wirst du nicht, Nanc. Glaub mir.“ Irgendwann gegen halb eins verließ er das Black. Allein auch aus dem Grund, dass er am nächsten Tag zur Arbeit müsste und sonst nicht aus dem Bett kommen würde. Sein Weg führte ihn die komplette Straße hinunter, da er seinen Wagen nicht direkt hier parken wollte. Nicht zuletzt auch wegen dieser kleinen Auseinandersetzung zwischen ihm und Vincent vor ein paar Wochen. Achtsam glitt sein Blick in jede Seitengasse. Er wollte es nur einfach nicht riskieren gerade in dieser Gegend überrascht zu werden. Wenn man hier in der Vergangenheit mehrere Nächte in der Woche unterwegs war, hat man sich so einiges gemerkt und angeeignet, damit einem eben nicht das passiert, was vielen passiert. Und dennoch war das achtsamste Auge nicht achtsam genug. „Da ist ja das kleine schwarze Schäfchen wieder“, vernahm sein Gehör die eklige Stimme Vincents. Warum war es irgendwie klar gewesen, dass er diesem hier nicht aus dem Weg gehen könnte. „Man glaubt es kaum“, gab Nathan selbst cool von sich und drehte sich halb zur Seite. Im schwachen Licht der wenigen Straßenlaternen hier erkannte er eine Gruppe Männer, vielleicht ein Dutzend wenn es hochkam. Sie alle standen nahe einem alten, halb baufälligen Gebäude. Einige lehnten an der Mauer, andere standen und rauchten – was, wollte er nicht einmal wissen. „Was machst du denn so ganz allein hier in dieser Dunkelheit um diese Uhrzeit?“ „Höre ich da Spott in deiner Stimme, Vincent?“, sprach er seinen Namen direkt aus und nahm eine recht lässige Haltung ein. „Vielleicht“, lachte jener nur und trat aus dem Halbschatten heraus, kam immer näher auf ihn zu und blieb nur ungefähr anderthalb Meter von ihm entfernt auf der Straße stehen. „Aber weißt du, ich frage mich die ganze Zeit, wer denn bitte Ians Beschützer in der Nacht war.“ „Denkst du, ich verrate dir, wie ich heiße?“ Ein schäbiges Grinsen erschien auf dem kantigen Gesicht. „Nein, brauchst du nicht. Ich dachte, ich versuche es auf die nette Tour, Nathan.“ „Du weißt es ja doch.“ Im Grunde hätte Vincent auch nur den Tag im Black richtig zuhören müssen, dann hätte er es gewusst. Bei wem er sich jetzt schlau gemacht hatte, blieb wohl ein Rätsel. „Ich weiß vieles über dich. Wenn man seine Kontakte und Quellen hat… Du hast eine süße kleine Schwester.“ „Ich schwöre dir, kommt mir zu Ohren, dass ihr was fehlt, bist du meine erste Anlaufstelle.“ „Du würdest mich nicht finden.“ „Ich finde jeden, Vincent. Merk dir das jetzt schon einmal.“ „Oh, du hast selbst jetzt eine unnormal große Fresse… Irgendwie gefällt mir das ja.“ Noch einen Schritt kam er näher auf ihn zu und noch einen, bis er direkt vor dem Neunzehnjährigen stand und ihm direkt in die Augen sah. „Ich brauche immer Leute, die taugt sind. Leute, die so sind wie du. Ich gebe es nur selten zu, aber ich hatte einen blauen Fleck am nächsten Morgen.“ „Willst du mehr?“ „Von einer kleinen Schlampe wie dir lasse ich mich nicht noch einmal vermöbeln, glaube mir.“ „Wie kommst du auf Schlampe?“ Es war das erste, was Nathan in den Sinn kam. Warum Schlampe? Normalweise besaßen selbst die Menschen hier in dieser Ecke der Stadt genug Hirnmasse um solche Begriffe passend zu verwenden. „Ich erinnere mich da an einen Fall … vor etwa drei Jahren … Ein Sechzehnjähriger kam von einer Party …“, begann Vincent. „Hier in der Nähe. Eine Privatparty… Er ging allein ….“, fuhr er fort. „Aber … ihm folgte eine Person. Männlich, älter …“ Die Worte brannten in Nathans Ohren, taten weh und krochen näher, riefen Bilder im Kopf wach, die in einem dicken Tresor versperrt liegen sollte. Bilder, die vergessen werden sollten… Erinnerungen… „Mit ungeübtem Auge hätte es ausgesehen, als wäre alles gewollt. Das gemeinsame Verschwinden in der Gasse … Aber das Schreien und das lustvolle Stöhnen… am nächsten Tag stands sogar in der Zeitung. ‚Zeugen berichten von Vergewaltigung – aber es gab kein Opfer und keinen Täter’. Erinnerst du dich?“ Derweil hatte sich Vincent soweit vorgelehnt, dass er die Worte nur noch direkt in Nathans Ohr flüstern musste. „Alle haben nachher so getan, als hätte man nichts gesehen, nichts gehört – gar so, als wäre nie etwas gewesen. Aber wir beide wissen es doch besser, nicht wahr?“ „Ich habe keine Ahnung wovon du redest.“ „Ach hör doch auf.“ Er hörte das Grinsen in der Stimme des Älteren. „Natürlich weißt du, wovon ich rede. Du weißt es, du warst dabei. Ich habe meine Quellen und ich weiß, dass du der einzige warst, der an diesem Abend um diese Uhrzeit die Party verlassen hat. Ich weiß es, du weißt es. Verbleiben wir dabei?“ „Was willst du denn mit der Story gegen mich in der Hand haben?“, fragte Nathan gespielt gelassen, verlieb ebenso in seiner lässigen Körperhaltung und versuchte sich nichts von dem anmerken zu lassen, was in ihm vor sich ging. „Gegen dich nichts, ich wollte dich nur daran erinnern, dass es jeder Zeit wieder passieren kann. Nicht dir, keine Sorge“, wisperte er ihm gefährlich zu. „Aber jemand anderem vielleicht. Vielleicht Ian … er ist nicht so gut darin, sich zu wehren und im Grunde genommen eigentlich viel zu schwach… Ich glaube, es würde mir sogar Spaß machen, dabei zu zusehen“, begann Vincent an, sich die Dinge auszumalen und sie Nathan mitzuteilen. “Oder deine Schwester? Da würde es sogar noch Spaß machen, dies Flittchen zu ficken…“, führte der Ältere seine Fantasien weiter aus. Doch krallten sich sofort Nathans Finger in das Shirt des Älteren, zogen ihn wieder auf Augenhöhe. „Ich wiederhole es: Einmal fasst du sie an und du bist Geschichte, glaub mir.“ Aber das einzige was darauf als Antwort kam, war ein trockenes Lachen und ein simples, desinteressiertes Schulterzucken. „Würdest du auch für jeden anderen so handeln?“ „Nein.“ „Fein“, grinste Vincent ihm nun entgegen, begann die Finger Nathans zu lösen. „Ich weiß wo du wohnst… Nettes Plätzchen da. So richtig beschaulich und vertraut. Ich glaube, wir haben dir ein schönes Geschenk dort abgeliefert.“ „Gott gnade dir, sollte es meine Schwester sein“, zischte er. „Fahr’ und sieh selbst. Vielleicht ist es dir eine Warnung. Du solltest aufhören, dich in Angelegenheiten einzumischen, die dich nichts angehen, es ist nicht gesund für dich oder dein Umfeld.“ Nathan ließ ihn nun ganz freiwillig los, schritt einen Meter zurück und musterte die ganze bullige Erscheinung des Mannes vor sich. „Ich sage dir, eine Warnung, Nathan. Ich bin kein Mann leerer Worte, ich bin ein Mann der Taten. Und ich finde genug wunde Punkte, vertrau mir.“ So schnell war Nathan mit Sicherheit schon lange nicht mehr in seinem Wagen gewesen und mit Sicherheit hatten seine Reifen auch schon lange nicht mehr so leiden müssen. Die Gänge wurden nur brutal reingeprügelt und jedes Mal zog er den Motor so hoch, dass er anfing zu jaulen. Alles andere war ihm egal. Sollte er einen Strafzettel wegen zu hoher Geschwindigkeit bekommen – egal. Müsste er irgendwas am Wagen erneuern – kein Problem! Alles wäre ihm Recht, so lange ihm keine Leiche im Vorgarten gelegt wurde. Und so lange es nicht seine Schwester war, die auf der Treppe zusammengekauert saß. Alles, nur nicht das… Mit einem lauten, leidenden Quietschen hielt er vor der Einfahrt, hastete auf dem Wagen und stürzte über den Bürgersteig, bis er beinahe wie angewurzelt mitten auf der Grünfläche vor dem Haus stehen blieb. Die Laternen in diesem Viertel waren bereits alle ausgeschaltet. Innerlich machte er sich auf das Schlimmste gefasst, denn der Bewegungsmelder würde gleich die Lampen im Eingangsbereich einschalten und ihm das zeigen, was ihn dort erwartete. Im besten Falle war es ‚nur’ ein totes Tier… Wobei er das schon wieder für unmöglich hielt. Das konnte gar nicht so sein… Einen Schritt. Zwei Schritte … Noch einen und das leicht orangene Licht erhellte mit einem Mal die Treppen des Hauses und einen Teil des Vorgartens. Jemand saß zusammengekauert vor der Haustür, an die Hauswand gelehnt. Aus der Entfernung konnte er noch nicht genau sagen, um wen es sich handelte… Erst als er näher kam, sah er, dass es sich um jemanden handelt, der eindeutig männlich sein musste. Und als er kurz vor ihm stand, erkannte er auch, wer es war. „Ian“, brachte er nur halb erstickt hervor und konnte beobachten, wie der Ältere seinen Kopf von den Armen hob und zu ihm aufsah. Ian sah grauenvoll aus. Die Lippen waren blutig, das Kinn aufgeplatzt, an den Wangen klebte Blut, selbst an den Schläfen und im Haar. Die Arme waren aufgeschürft und blutig, teils sogar tiefere Einschnitte und in jeder dieser Wunden waren dunkle kleine Steine oder Staub… Die Klamotten saßen nur noch halb am Körper, waren teils sogar zerrissen und ebenso blutig, wie der von Ians Erscheinung und … Es war einfach nur ein Bild, das ihn beinahe umbrachte. Sofort ließ er sich vor ihn auf die Knie fallen, wusste gar nicht, wie er ihn anfassen sollte, ohne ihm noch mehr Schmerzen zubereiten, als er ohnehin schon zu haben schien. „Ich hab geklingelt …“, brachte der Brünette heraus, ließ den Kopf schwer gegen die Wand sinken. „Aber keiner war da…“ „Wie lange sitzt du schon hier?“, fragte Nathan nach, lehnte sich etwas vor und besah sich das Gesicht des anderen. „Es war … gerade richtig … dunkel geworden, als … man mich hier rausgeschmissen hatte … keine Ahnung.“ „Wer?“ „Wer wohl?“, stellte er die rhetorische Frage, die sich im Grunde wirklich selbst beantwortete. Alles andere wurde von ihm in den Hintergrund gestellt. Egal was es war, es musste warten. Ian hatte jetzt erst einmal Vorrang. Langsam stand er auf, überlegte kurz, wie er Ian auf die Beine bekommen würde. „Was tut dir gerade nicht weh?“ „Keine Ahnung. Aber aufstehen kann ich allein nicht … sonst hätte ich nicht … auf dich gewartet.“ Ein tiefes, hilfloses Seufzten kam von Nathan darauf hin, ehe er die Haustür aufschloss, das Licht anknipste und dann dafür sorgt, dass er Ian auf die Beine bekam. Zwar gab dieser einen grauenvollen Laut der Schmerzen von sich, war aber auch wohl gleichzeitig froh, endlich von den Steinen weg zukommen, auf denen er die ganze Zeit hatte warten müssen. Irgendwie brachten sie es gemeinsam fertig, in den Keller zu kommen, in welchem Ian auf der alten Couch Platz fand, sie sich in der hintersten Wand von Nathans Zimmer befand.. „Warum?“ „Hm?“, kam es gequält von Ian, der nur bewegungslos auf der Couch saß und nicht einmal die Augen mehr geöffnet hielt. „Dein Zustand.“ „Ich sagte doch … dass ich so oder so kassieren würde. Egal, ob du da zwischen gegangen bist … es hätte schlimmer sein können…“ Humorlos lachte Nathan auf, als dieser in seinem nun recht aufgeräumten Gemach nach dem Erstehilfekasten suchte, den er immer irgendwo versteckt hielt. „Schlimmer? Was wäre denn noch schlimmer?“ „Holzkiste, Nath.“ Kurz hielt er inne, schluckte hart. Holzkiste… Klasse. Dann war der Drogenhandel und die Prostitution, was Vince zu tun pflegte, ja rein gar nichts… Das waren obendrein auch noch Mörder? Wo, bitte wo, hatte er sich da selbst hineinmanövriert? Er kam zu ihm zurück, legte den Kasten neben ihm auf der Couch ab, ehe er begann die letzten Knöpfe des Hemdes aufzuknöpfen, die noch vorhanden waren. Langsam half er ihm aus dem Stoff, ließ diesen auf den Boden sinken und besah sich den Oberkörper Ians genau. Und dieser Part des Körpers sah auch nicht besser aus, als dessen Gesicht oder die Arme. „Denk jetzt nichts Falsches“, warnte Nathan vor, öffnete kurz daraufhin den Gürtel, den Knopf und den Reißverschluss der Jeans, zog ihm diese von den Hüften. „Daran will ich gar nicht denken“, keuchte Ian schmerzvoll vor sich hin, als Nathan ihm die Schuhe von den Füßen zog. „Was hast du dem getan, dass der dich so zurichtet?“ „Ich hab ihm vor den Kopf gestoßen. Das reicht aus…“ „Du musst noch einmal aufstehen“, warnte er Ian vor. „Wirklich?“, wollte jener nur wissen und öffnete die Lider einen Spalt weit und blickte den Schwarzhaarigen vor sich leidend an. Und er konnte es verstehen. Er würde an Ians Stelle auch lieber gar nichts mehr bewegen… „Ja. Das alles einzeln sauber zu machen dauert zu lange…“ „Du willst …“ „Uns bleibt nichts anderes über, Ian“, seufzte Nathan mitleidig und nickte geknickt. „Nein, bitte. Ich kann kaum stehen, da kannst … du kannst … nicht erwarten, dass ich duschen gehe.“ „Oh doch…“ „Dann müssen wir in den ersten Stock des Hauses…“ „Nein, hier unten ist auch noch eine Dusche – vom Vorbesitzer…“ Vorsichtig half er dem Älteren wiederum auf die Beine brachte ihn in das kleine Bad, dass er hier unten besaß. Es war wirklich nur sehr klein. Eine schmale Dusche, eine Toilette und ein kleines Waschbecken – aber es reichte. Es hatte warmes Wasser. „Halt dich kurz hier – genau…“ Das Wasser einstellend, suchte er aus dem kleinen Schrank Handtücher heraus und zog sich selbst die Schuhe, die Jeans und das Shirt über den Kopf. „Das darf auch keiner wissen…“, murmelte Ian vor sich hin, als er gar in die Duschekabine stolperte und ohne Nathans vorsichtigen, aber dennoch festen Halt gefallen wäre. Das Wasser brannte auf der Haut und Nathan tat es in der Seele leid, ihm das antun zu müssen. Wirklich. Er litt quasi mit ihm. Vor allem dann, wenn ihm der Ältere beinahe zusammengeklappt wäre. Er wollte ihm wirklich nicht noch mehr Schmerzen zufügen, als er ohnehin schon hatte und dann das! An ihn gelehnt, ließ Ian jedoch die Tortur über sich ergehen, ertrug einfach alles und war dann jedoch einfach nur froh, als er das Handtuch auf seinen Schultern spürte. Vorsichtig trocknete er ihn ab, schaffte es irgendwie ihm ein großes Badetuch um die Hüfte zu binden und führte ihn dann zurück auf die Couch. Nathan selbst hatte sich nur provisorisch ein Handtuch um die Hüften gewickelt und brachte den Älteren auf die Couch zurück und begann damit, die Schürfungen und Prellungen und was nicht noch alles, zu versorgen. Er hatte Erfahrung darin. Nicht zuletzt auch, weil es oft im Verein Verletzungen gab. Aber Ian war der absolute Ausnahmefall. Der Mann war mehr kaputt, als heil war. Jedoch zum Glück waren keine Brüche dabei – darauf hatte Vincent wohl geachtet… damit man auch ja nicht zum Arzt musste… Eigentlich sogar clever, wenn man das aus dem Blickwinkel betrachtete. Nachdem er ihm dann in trockene und frische Kleidung geholfen hatte, schlief Ian nun tief und fest in dem recht großen Bett Nathans, während dieser aufräumte. Im Grunde war es auch verständlich. Das musste einfach verdammt anstrengend gewesen sein, zumal Ian ihm hin und wieder wirklich beinahe weggedriftet wäre. Eine wirklich nette Überraschung, er sollte sich bei Gelegenheit dafür bedanken und Vincent in das nächste örtliche Krankenhaus befördern. Aber mit Brücken und inneren Quetschungen! Die Retourkutsche, die würde kommen, darauf konnte sich Vincent verlassen. Aber vorerst hatte er sich der Ordnung zu widmen, zwar war kein zu großes Chaos entstanden, aber es reichte. Das Bad trocknete er auch eben durch – so viel Wasser wie sich bei ihrer kleinen Aktion auf dem Boden gesammelt hatte, konnte man gar schon von einer Überschwemmung sprechen. Letztlich aber stützte er sich auf dem Waschbeckenrand ab und atmete mehrere Male tief durch. Jetzt konnte er es nicht mehr ändern und nicht mehr verhindern. Ebenso wenig konnte er verhindern, dass die Bilder, die Vincent in seinem Kopf hervorgerufen hatte, an Ort und Stelle blieben. Es war ihm, als würde alles wie eine große Welle über ihm zusammenbrechen und ihn unter Wasser drücken, sodass ihm kurzzeitig die Luft genommen wurde. Alles… Er hatte es vergessen wollen. Er hatte es endlich verdrängen wollen… Einfach nur vergessen. Das, was vor drei Jahren in dieser dreckigen, stinkenden Gasse passiert war – er wollte es vergessen. Es wusste niemand. Nur er und derjenige, der es ihm angetan hatte. Nur er… Und jetzt wusste es auf einmal Vincent … Vincent und dessen ganze Truppe. Und wenn der es wusste, wer würde es dann noch alles wissen? Es war sein Geheimnis gewesen. Ein Geheimnis deswegen, damit man ihn nicht in die Therapie schicken würde. Damit man ihn nicht bemuttern und umsorgen würde. Er hatte es beinahe geschafft, alles zu vergessen und dann? Alles kam zurück und dann alles auf einmal. Diese Sache, Blakes Koma und jetzt Ian… mit einem Mal brach alles über ihm zusammen, drückte ihn zu Boden und wollte ihn nicht wieder hochkommen lassen. Dabei musste er aufstehen und er dürfte sich nicht herunterdrücken lassen. Er durfte es einfach nicht. Ein Gefühl von Übelkeit machte sich in ihm breit, kämpfte sich den Weg vom Magen aufwärts. Jedoch wurde es wieder herunter gekämpft. Es ging nicht, dass er wegen diesen Dingen einbrach. Er konnte und durfte nicht. Allein wegen Ian, der ihn brauchte – jetzt im Moment. Dann war noch Blake – den er unbedingt wieder sehen wollte und das ging nur, wenn er seine Fassung und seine Stärke behielt, die er hatte. Zumal er sonst auch ein sehr leichtes Ziel für Vincent war, sollte dieser ihm noch einmal über den Weg laufen. Er durfte sich auf keinen Fall einschüchtern lassen. Nicht von diesem Menschen. Von niemanden und erst recht nicht von seiner Vergangenheit. Das Licht ausknipsend, kehrte er in das Zimmer zurück und sah noch einmal nach, ob er dem Älteren auch soweit noch gut ging, ehe er sich das zweite Kissen nahm und eine Decke. Die ganze Nacht hatte er nicht geschlafen. Kein Auge hatte er zugetan, hatte die ganze Nacht nur damit verbracht, die Decke anzustarren und nachzudenken. Worüber? Alles. Seine Gedanken waren an alles gefesselt und waren kaum zu greifen. Innere Angst fasste ihn wie eine kalte Kralle, die sich um seine Seele und seine Gedanken legte. Eisig hielt sie ihn gefangen, hielt ihn davon ab, klar zu denken. Jeder Gedanke, jede Sekunde, alles begann in einem Kreis zu laufen, ohne ihn herauszulassen. Er schien selbst in seinem Gedankenkreis gefangen zu sein, unfähig, auch nur einen einzigen Schritt in eine leere Ecke zu tun, in der er sich von alle dem erholen konnte, was passiert ist. Es war sein Wecker, der ihm die Möglichkeit gab, endlich an etwas anderes zu denken. So leise wie möglich machte er sich fertig, packte seine Sachen zusammen und war gerade dabei, in die obere Wohnung zu verwinden, um sich sein Frühstück fertig zu machen, als er die krächzende Stimme Ians hörte, die nach ihm rief. „Nath?“ Es klang grauenvoll kratzig, heiser und rau auf einmal, aber vor allem hörte es sich erschöpft an. „Bitte?“ Er kehrte auf halbem Weg wieder zurück und betrat sein Zimmer. „Fährst du jetzt?“ „Ich muss, ja…“ „Kannst du … bitte?“ „Was?“, fragte er ruhig nach, kam näher. „Hier bleiben? Bitte. Nur heute.“ „Eigentlich …“, er zögerte kurz, ehe er dann doch nickte. „Ja, kann ich.“ Dass er damit seinen Job riskierte, war ihm irgendwie egal. Er hatte das hier durchzuziehen und wie gesagt, Ian brauchte ihn jetzt, da war ihm doch Nicki egal! „Danke.“ Mühselig drehte sich Ian richtig auf den Rücken, setzte sich etwas auf und zog die Decke richtig. „Nicht der Rede wert.“ „Nein, wirklich. Danke, Nath. Das hätte nicht jeder getan, nicht für mich…“ „Ich bin nicht jeder…“ „Ich weiß…“ Nach einem kurzen Frühstück, saßen sie beide nebeneinander in dem großen Bett, schwiegen sich gegenseitig an und starrten jeweils auf den kleinen Bildschirm des Fernsehers, der gerade irgendeine Sitcom zeigte. Es war jedoch Ian, der das Schweigen brach. „Nathan, darf ich dich etwas fragen?“, wollte jener wissen, drehte auch seinen Kopf leicht zur Seite um den Jüngeren anzusehen. „Wenn du schon so nett fragst … Was denn?“, kam es ruhig von Nathan zurück. Natürlich war es ungewohnt für ihn, von Ian in einer normalen Stimmlage angesprochen zu werden, ohne dass man Angst vor einem Eissturm haben musste. Aber es war ok. Eigentlich könnte er sich daran sogar gewöhnen… „Ist in der Vergangenheit irgendwas passiert?“, harkte er vorsichtig nach und musterte augenscheinlich jede Bewegung in Nathans Gesicht. „Inwiefern meinst du das?“ „Vince hat einen sehr speziellen Wortschatz… Er sprach von dir als ‚Schlampe’, was in unsere Sprache übersetzt soviel wie ‚Vergewaltigungsopfer’ heißt. Ist irgendwas passiert, das in die Richtung geht?“ „Nein. Ich wüsste nicht, wie er darauf kommt.“ Er versuchte dem auszuweichen! Warum begann Ian ausgerechnet jetzt damit? Warum holte einen diese verdammte Vergangenheit immer und immer wieder ein? „Ist das wieder diese ‚Du sagst mir nichts, also sag ich dir auch nichts’-Geschichte?“ „Ian, das-“, begann Nathan, wurde jedoch von Ians Worten unterbrochen. „Nathan, hör’ mir jetzt mal zu. Ich frage das nicht umsonst. Das ist nicht nur, weil ich das gehört habe, nein. Ich will es von dir wissen. Wir stecken beide bis zum Hals in der Scheiße, da wäre es ja doch sehr nett wenn du mir etwas über dich erzählst, nicht wahr?“ „Und ich weiß dann nichts über dich, oder was?“ „Das sagte ich nicht. Machen wir es so. Du erzählst etwas, dann erzähle ich dir etwas. Deal?“ Nathan blickte eine ganze Weile in die braunen Augen, ehe er die Schultern zuckte. „In der Scheiße stecken… Wie wahr…“ „Und jetzt sag schon, hat Vincent recht?“, drängte Ian weiter. „Womit?“ „Ist so etwas in der Vergangenheit passiert? Willst du drüber reden?“ „Nein und noch einmal nein.“ „Versuchst’s zu verdrängen, was?“ Einen Moment herrschte wieder Schweigen, ehe Nathan genervt den Fernseher ausstellte, die Fernbedienung auf den Boden gleiten ließ und in die Richtung der Zimmerdecke blickte. „Hey, mit mir kannst du reden….“ „Kann ich das, ja?“, kam es gar schon spöttisch als Antwort zurück. Wirklich glauben tat er das nämlich nicht. Wie auch? Wenn er Ian kaum kannte, wie sollte er ihm dann vernünftig vertrauen? „Ja. Also?“ „Ja…“ „Was ja?“, fragte Ian zurück. „Ja… Ich war sechzehn…“ „Und weiter?“ „Es war diese eine Party, diese Party auf der ich das erste Mal einen Kerl geküsst habe.“ „Ach, die Story…“, seufzte Ian tief durch und erinnerte sich wohl an die Unterhaltung, die sie im Mai in Jacksonville hatten. „Ja, richtig, die Story. Aber mir hats nicht gepasst, ich fand unbeschreiblich abstoßend und wollte nicht weiter gehen. Ich war ohnehin nicht so sehr interessiert an Männern und … gut ok, ich war ein Bisschen betrunken den Tag und … Mit sechzehn war ich noch eine ganze Ecke kleiner und schmaler gebaut … zur Wehr setzen war da noch nicht. Ich bin also abgehauen, als es mir zu viel wurde – er kam mir hinterher und … Oh Gott, wenn ich nur daran denken muss … es war so … es war dunkel und es … Fuck!“ Nathan schloss die Augen, versuchte alles wieder zu verdrängen, was sich gerade wieder hoch zukämpfen versuchte. Er wollte sich daran nicht mehr erinnern und er wollte auch nicht darüber reden. Mit niemanden! „Ich bin danach irgendwie auf die Beine gekommen und bei Greg gelandet … er hat sich einen Spaß daraus gemacht, mich auszulachen, dass ich aussehen würde, als hätte man mich durch den Fleischwolf gedreht. Gewusst hatte er aber von der ganzen Sache nichts und erst recht nicht geahnt.... Ich hab bei ihm geduscht, hab auch bei ihm gepennt und bin am nächsten Morgen nach Hause…“ „Hat keiner was gemerkt?“, wollte Ian wissen und Nathan spürte genau, dass der Ältere ihn ansah. „Ich glaube nicht, nein. Meine Eltern hatten es aufgeben zu fragen, wo ich die Nacht war… Sie haben es einfach hingenommen, ich war ihnen schon recht früh egal und ein Dorn im Auge. Ich wollte es auch nie jemanden erzählen… Mum hätte mich nur zur Therapie geschickt oder was auch immer, damit sie selbst nicht so viel damit zutun haben musste … und alle anderen hätten sich nur zu viele Sorgen gemacht… Ich habs verdrängt, irgendwie.“ „Und jetzt?“ „Jetzt könnte ich gerade nur noch kotzen. Es ist alles wieder da, direkt vor meinen Augen. Es ist, als würde sich alles noch einmal wiederholen… nur in meinen Gedanken. Ich werds nicht los. Ich kann fernsehen oder was auch immer machen, es ist da. Es ist immer präsent und ich… werde wieder Monate brauchen, damit ich das einigermaßen vergraben habe…Vincent hat mich gestern abgefangen gehabt, als ich von einem Treffen mit Nancy nach Hause wollte … Er stand direkt vor mir, hat mir die Story widerlich ins Ohr geflüstert. Es fühlte sich an, wie vor drei Jahren… Es fühlte sich genau so an, nur dass ich keine Wand im Rücken hatte… Ich hätte ihm ausweichen können.“ „Du hast Vincent getroffen?“, kam es überrascht und völlig aus dem Kontext gerissen auf einmal von Ian. Wobei überrascht nicht einmal passend war. Viel eher klang er geschockt aufgrund der Tatsache, dass gerade Nathan sich mit Vincent traf oder diesem über den Weg lief. „Ja… er hatte mit meiner Vergangenheit einen perfekten Übergang geschaffen. Drohte, meiner Schwester etwas zu tun und sagte im gleichen Atemzug, dass er mir daheim etwas abgesetzt hätte…“, erklärte Nathan folglich stockend und fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. Es machte ihn einfach fertig. Und wenn er jetzt noch daran dachte, dass es Lindsay hätte sein können… „Deswegen warst du so in Hektik gestern? Du hast gedacht, es wäre Lindsay?“, fragte Ian in einer verhältnismäßig warmen und gar schon besorgten Stimmlage nach. Es war mehr als ungewohnt ihn so zu hören. Allgemein war Ian anders. „Genau … aber als ich dich dann da gesehen habe … es war irgendwie genau so grauenvoll…“ „Warum?“ „Ich kann es nicht sehen, wenn Menschen leiden… Hat es sich denn jetzt wenigstens das erledigt, wofür du die Fresse poliert bekommen hast?“ „Ich weiß es nicht“, gab Ian von sich. „Da kann noch was hinterher kommen… gerade bei Vincent. Und erst recht noch, wenn er irgendwas gegen dich hat. Wie gesagt, wir sitzen beide in der Scheiße. Nur dass er bei dir weniger Fläche zu haben scheint, als bei mir…“, erzählte er weiter. „Inwiefern weniger Fläche?“, fragte Nathan auch direkt nach. „Du bietest ihm mehr die Stirn, als ich. Ich bin eigentlich ein absoluter Schisser, um es freundlich auszudrücken. Sobald mehr Ärger im Angebot steht, als vorgewarnt, haue ich meistens ab…“, wurde ihm gestanden und Ian zog an der Bettdecke herum. „Tja, du bist wohl doch nicht so der harte Kerl, was?“, kam es grinsend von dem Jüngeren hinterher. „Nein. An dem Abend im Black hatte ich die Hose beinahe voll gehabt, als er hinter mir stand. Die Sache ist die, Nath … Ich will ehrlich zu dir dein, weil ich denke, dass ich dir wirklich vertrauen kann… Vincent war der Anker im Leben, den ich vorher nie hatte. Er hat mich bei ihm pennen lassen, wenn mein Vater seine Weiber zu Hause hatte oder mal wieder zu viel getrunken hatte. Er hat mir das beigebracht, was ich weiß. Er hat mir mit der Schule geholfen und durch ihn habe ich Amanda kennen gelernt… Amanda ist die Schwester seines Cousins Gregory… Und dann habe ich den Fehler begangen, ihn zu vernachlässigen und nachher sogar den Rücken zu kehren. Er war verdammt sauer gewesen deswegen, sagte aber, er könne es verstehen. Ich dachte…“, begann Ian und rutschte weiter in die Kissen. „Ich dachte, er würde es wirklich verstehen… Vor allem dachte ich das, als er mich aufgefangen hat, nach Cassys Tod und der Trennung zu Amanda… Ich dachte es wirklich. Aber das einzige was er getan hat, war mir den Weg in die Abhängigkeit zu ebnen…“ Nathan öffnete seine Augen wieder und blickte zu Ian. Er sah, wie dieser über seine nackten Arme strich und den Blick abwendete. Selbst beim Weitersprechen zögerte er, ehe er dann doch weiter fort fuhr: „Es fing an mit ganz einfachen Tüten, dann ging es weiter mit den lustigen Pillen bis ich soweit gesunken war und mir jeden Abend die Spritze setzte. Ich kam einfach nicht mit dem Tod meiner Tochter klar, war völlig am Boden und hatte etwas, an das ich mich krallen konnte. Und es war jedes Mal Vincent, der mich auf die Beine holte, wenn ich nicht mehr wollte. Jedes Mal… Und so gesehen, wäre ich ohne ihn nun auch nicht mehr. Als ich sechsundzwanzig wurde, war ich kurz davor, meinem beschissenen Leben das Ende zu setzen. Wieder war er da. Ich weiß nicht mehr, was er gesagt oder getan hatte … aber als ich wieder klar in der Birne war, war da Samantha. Sie war einfach da gewesen.“ „Samantha?“ „Ja, unsere Sammy… Sie wohnte damals in meiner Nachbarschaft und wir kamen gut miteinander klar. Eigentlich wohnte Sammy immer in meiner Nachbarschaft. Selbst in Miami hat sie in meiner Nachbarschaft gewohnt… Auf jeden Fall war sie da…“ „Und weiter? Sie meinte den Tag zu mir, dass sie nicht ganz genau wüsste, ob du noch auf Drogen wärst, oder nicht…“ „Sie weiß es am besten von allen. Sie war doch live dabei. Fakt ist nur, dass sie dir nicht alles gesagt hat. Sie hat bei mir im Zimmer gesessen, sie hat mich festgehalten, während ich dabei war, an der Himmelforte zu klopfen. Sie hat mir beim Entzug geholfen…“ „Sie sagte, du bist nach Cassys Tod gleich nach Miami abgehauen, weil es zu viel wurde…“ „Das ist auch wahr… aber Vincent ist nicht nur hier. Vincent ist auch in Miami und Sammy war auch in Miami… sie ist immer da, wo ich auch bin… Sie ist so etwas wie mein persönlicher Engel, weißt du?“ „Da dich in deiner Familie niemand fangen konnte und du von Vincent weg wolltest, richtig?“ „Sammy war da. Sie ist auch jetzt da… Wahrscheinlich so, wie Nancy für dich da war, was?“ „Nein. Nancy war nur eine Freundin, nicht meine Rettung. Sie war eher mein Untergang. Ich hatte mit ihrem Freund so oft Stress gehabt, weil sie sich von ihm nicht trennen konnte“, erklärte er das. „Aber das ist eine abgeschlossene Geschichte. Ich habe das mit ihr gestern geklärt, dass es da nichts mehr gibt. Wenn ich mir vorstelle, durch sie wieder in diesen Endloskreis reinzurutschen, bekomme ich Gänsehaut… Mit Greg will ich nichts mehr zu…“ Er unterbrach sich jedoch selbst, als sich in seinem Kopf ein kleines Puzzleteil an ein anderes fügte. „Du sagtest gerade, dass du mit Gregorys Schwester Amanda zusammen warst… Gregory ist Vincents Cousin… Ich … kennte Amanda“, fiel es ihm auf einmal brühwarm ein. „Woher?“ „Ich war mit Greg … Also Gregory befreundet – wenn man so will… Ich kenne seine Schwester und ich weiß, dass sie wegen schweren Depressionen in einer Nervenklinik war…“ ------------------------------------------------------------------------- Neue Wege gehen Kapitel 13: ... der nicht viele etwas angeht. --------------------------------------------- „Amanda war in einer Nervenklinik?“ „Ja, sie hat mehrfach versucht, sich das Leben zu nehmen… Jetzt weiß ich auch warum…Greg erzählte oft von einem Ian, den er am liebsten von oben bis unten aufschlitzen würde, für das, was er seiner Schwester angetan hat und…“ Nathan hörte nur das Seufzten und das ‚Klasse’ von Ian. „Ich bekomme immer mehr Freunde in dieser Stadt … Auch noch Gregory…“ „Mit ihm haben wir einen gemeinsamen ‚Freund’“, erklärte Nathan. „Wie bist du an den geraten? Ich meine, du hast ja nicht im Ghetto gelebt…“ „Ich hab ihn kennen gelernt, als ich wegen Fehlverhalten auf der einen Schule auf eine andere geschickt wurde. Gregory war damals in meiner Klasse, weil er schon zwei Mal hängen geblieben war. Einundzwanzig müsste er jetzt sein, richtig?“ „Wenn ich mich recht erinnere … Amanda ist etwas älter als er… Ja, kommt hin.“ „Ich hab mich gut mit ihm verstanden, als ich zehn war.“ Ein leicht dämliches Grinsen erschien auf Nathans Lippen. „Wir haben viel Scheiße miteinander gebaut. Durch ihn habe ich dann Nancy kennen gelernt. Sie ist drei Jahr älter als ich und war schon mit ihrem Stecher zusammen, da habe ich nicht einmal daran gedacht, Sex zu haben… Sie ist in komplizierten Verhältnissen aufgewachsen, daher auch die Bekanntschaft zu Greg.“ „Ist wohl alles sehr kompliziert was?“, kam es nun doch etwas amüsiert von Ian. „Nur ein bisschen… Im Black arbeitet sie schon seit Ewigkeiten. Der Laden gehört jetzt dem Kerl, wegen dem wir damals nie zusammen sein konnten, wie wir es wollten. Ihr Vater hat den Tattooshop in der Innenstadt.“ „Und das macht sie tagsüber?“, erkundigte sich Ian und zeigte dem Thema Nancy ein recht großes Interesse, wie es Nathan auffiel, aber weiter darüber nachdenken, tat er dann an dieser Stelle auch nicht mehr „Nein… Sie hats wohl gelernt, aber tagsüber hilft sie ihre Großmutter im Blumenladen.“ „Nancy und Floristin?“ „Ja. Komisches Bild oder? Stell dir vor, wie sie die Blumen zusammen bindet, wenn eine alte Dame vor den Tresen darauf wartet… ein Bild für die Götter… Glaub mir.“ „Warum haben wir uns nie kennen gelernt?“, fragte Ian irgendwann, während er die Zimmerdecke zumustern begann. „Weiß nicht. Vielleicht sind wir uns über den Weg gerannt, ohne es zu wissen?“ „Kann sein… Aber eigentlich ist es auch nicht verwunderlich, zwischen uns liegt ein beinahe zehnjähriger Alterunterschied… Und irgendwie bin ich froh, dich erst jetzt kennen lernen zu können. Wer weiß, ob wir uns nicht damals an die Kehle gegangen wären…“ „Möglich ist alles.“ „Warum warst du eigentlich so verpeilt in Jacksonville?“ „Ich war völlig fertig mit der Welt, hatte ein paar auf die Fresse bekommen und wollte nur noch ins Bett… Und die Tage darauf: Müdigkeit. Ich bin eigentlich nicht so blond, wie du anfangs dachtest.“ „Stimmt. Das habe ich inzwischen auch schon herausgefunden“, bestätigte Ian, vermied es aber, zu lächeln, da sein ganzes Gesicht einem einigen Schmerz glich. „Erst dachte ich echt, ich habe es mit einem Idioten zutun. Aber man kann ja eines Besseren belehrt werden… Du hast sogar richtig was in der Birne, wenn ich ehrlich bin. Aber …“ „Hm?“, fragte Nathan nur nach, zog die Beine in den Schneidersitz und hob eine Augenbraue, als er den halbbeendeten Satz hörte. „Aber bist du wirklich so? Ich meine, wenn es um solche Dinge geht, wie Vincent.“ „Früher vielleicht nicht. Aber ich habe immer versucht, das ein bisschen herunter zuspielen und Wenigstens etwas Anerkennung von anderen zu bekommen. Ich habe eigentlich alles immer am liebsten unblutig und human gelöst. Na ja, je älter ich wurde, desto schwerer wurde es, eben ohne Gewalt klar zu kommen. Vor allem auch, weil Gregory immer die falschen Leute anmachte und … nun ja, dann als Peace Bruder aufzutauchen, war nicht so gut, weswegen ich meistens der beste Schauspieler war. Kuschen war in der Situation meistens nicht so gut und ich hatte keine Lust darauf, wirklich verprügelt zu werden. Oder wäre es besser, die Hose voll zu haben und das auch noch zu zeigen?“, fragte er nach. „Nicht wirklich.“ „Und seitdem ich bei Cooper trainiere, habe ich auch einen gewissen Grad an Selbstvertrauen gewonnen. Nicht zuletzt auch, weil ich weiß, dass mir keiner was kann…“ „Ich erinnere mich nur zu gern daran, wie Vince auf dem Boden lag…“, kam es halb lachend von Ian zurück, als diese Worte gefallen waren. „Ich dachte, du wärst davon nicht begeistert?“ „Davon, dass du dich prügelst nicht, aber davon, dass du ihn auf die Bretter geschickt hast“, gab Ian ihm die Antwort. „Erstens hat sich das vorher noch niemand getraut und zweitens weiß er, dass er an dir eine unknackbare Nuss hat.“ „Hm. Wobei wir wieder bei dem Punkt wären, dass jeder Schritt in die Richtung nur einer in die Richtung Krankenhaus ist… zu jeder scheiß Sorge kommt jeden Tag eine neue dazu. Das macht mich wahnsinnig…“ Eine kurze Weile herrschte Stille. Eine Art angenehmes Schweigen sozusagen. „Hat sich was bei deinem Bruder getan?“ „Ich hab Besuchsverbot bekommen, als mein Dad mich aus der Wohnung geschmissen hat. Und sie haben ihn verlegen lassen, in ein anderes Krankenhaus. Ich hab keine Ahnung, ob ich ihn noch einmal sehe, oder ob der Termin mit Morgen so bestehen bleibt…“ „Morgen schon?“ „Ja.“ „Das ist scheiße…“ „Hm-hm…“ Da musste ernsthaft erst etwas passieren, damit sie miteinander sprachen, wie normale Menschen. Ian hielt Nathan gegenüber eine normale Tonlage – etwas, das ihn sehr verwunderte. So hatte der Ältere bisher nur mit Joel oder Derek gesprochen, aber noch nie mit ihm. Die Kälte war irgendwie … verschwunden. Ja, verschwunden. Und Mike hatte mit seiner Annahme, dass Ian und Nathan gar nicht so unterschiedlich waren, auch recht. Sie hatten beide eine beschissene Vergangenheit, genug Probleme und brauchten im Grunde nur jemanden, mit dem sie sprechen konnten. Jemanden, der sie verstand. 04. August. 2011 „Lindsay, hey“, begann Nathan, als seine Schwester den Anruf entgegen genommen hatte. „Nathan. Ich… wie geht’s dir? Du hast dich so lange nicht mehr gemeldet…“ „Alles klar“, sagte er nur, blickte zu Ian rüber, der sich gerade die Schuhe zuschnürte und ihn wiederum mit hochgezogener Augenbraue musterte. „Was gibt’s?“ „Kommst du ins Black?“ „Diese Drogenkneipe? Ich dachte, du treibst dich da nicht mehr herum?“ „Kommst du nun dahin oder nicht?“ „Warum? Ich fühle mich in der Gegend nicht sicher…“ „Wo bist du denn gerade?“ „Im Moment bin ich bei Derek zu Hause. Apropos Derek… Hast du Ian gesehen? Man vermisst ihn langsam hier.“ „Der ist bei mir“, gab er nur Bescheid und hörte, wie Lindsay kurz den Hörer zuhielt und irgendwas durch das Haus brüllte. „Und wo is ,bei dir’?“ „Geh kurz aus dem Haus, drei Häuser die Straße runter. Da steht mein Wagen vor der Garage.“ „Was machst du hier in der Gegend?“ „Ich wohne hier in der Gegend.“ „Wie? Warte… Ich bin sofort bei dir. Kann ich klingeln?“ „Ja.“ „Ok. Ich bin gleich da… Warte.“ Und schon ertönte das Zeichen, dass sie aufgelegt hatte. „Was sagst sie?“, fragte Ian nach, fuhr sich mit der Hand durch die Haare und stand auf. Er hatte die letzten beiden Tage hier verbracht und sah nun auch einigermaßen annehmbar aus. Bis auf die violettgefärbte Wange und die aufgeplatzte Lippe, sah man so kaum mehr etwas. „Sie kommt rüber.“ „Kommt sie auch mit ins Black?“, erhielt er die weitere Frage. „Keine Ahnung. Sie kann Derek-“ „Vergiss, was du gerade gedacht hast. Ich reiße Derek nicht mit in die Scheiße rein. Ich bin nicht in der Lage, den allen etwas entgegen zusetzen. Und wenn du deine Schwester mit reinreiten willst, ist das deine Sache.“ „Ich reiße sie nicht mit rein. Das ist der einzige Platz, an dem meine Eltern nicht erscheinen werden. Deswegen. Ich will nur nicht, dass mein Vater auf einmal in der Tür steht.“ „Und was ist mit allem drum herum?“ „Ian. Da wird schon nicht passieren. Mach dir mal keine Gedanken, ok?“ Er sah dem Älteren an, dass dieser beinahe sofort etwas hinterher setzen wollte, jedoch unterbrach ihn das Klingeln. „Spars dir für Später auf, Ian.“ Damit erhob er sich dann auch von seinem Bett und sprintete die Treppe hinauf, öffnete seiner Schwester folgend auch die Haustür. „Oh mein Gott, Nath!“, kam es gar gekreischt von ihr, kaum dass die Tür geöffnet war, und sie lag ihm in den Armen. „Ich hab dich so derart vermisst, das geht gar nicht. Es ist so grauenvoll ohne dich!“ Nathan zog sie einfach mit sich in das Haus, schloss die Tür, ehe er die Umarmung mehr oder weniger erwiderte. „Mum und Dad drehen voll durch“, folgte es dann noch, während sie gar nicht daran dachte, ihn los zu lassen. „Die haben sich nur noch in den Haaren, seitdem du ausgezogen bist. Alles geht den Bach runter und ich habe keine Lust mehr, immer im Kreuzfeuer zu stehen. Ich bin mehr bei Derek als zu Hause als bei mir…“ „Hey“, er drückte sie von sich, fasste ihre Schultern und blickte dem Mädchen in das ungeschminkte Gesicht. Es war ein ungewöhnlicher Anblick, aber durchaus schön. So wirkte sie wenigstens nicht immer so künstlich und überzogen, wie sie es sonst immer tat. „Es renkt sich wieder alles ein. Ja? Du musst dem ganzen nur Zeit geben.“ „Das glaubst du doch wohl selbst nicht, oder?“, fragte sie nur, ließ aber ihren Blick durch den Raum wandern, in dem sie sich nun quasi befand. So war die Küche beinahe mit dem Wohnzimmer verbunden. „Wie kommst du hier her?“ „Das Haus gehört einem Freund von mir. Ich wohn im Keller.“ „Im Keller? Gibt’s denn da nichts Besseres? Vor allem Freund? Was für ein Freund?“ „Nichts Schlimmes. Du denkst mit Sicherheit wieder das Grauenvollste, was es auf dieser Welt gibt.“ „Ja. Drogenjunkies oder so…“ „Solchen Leuten gehören nicht solche Häuser…“ „Wer denn, Nathan? Wer? Kenn ich ihn.“ „Der Frontmann von Blakes Lieblingsband“, antwortete er dann einfach nur und ließ sie endlich los. Es dauerte einen Moment, in dem sich nach dachte, ehe sich ihre Lippen zu einem stummen ‚Nein’ formten und sie beinahe ausrastete. „Du wohnst bei einem Musiker? Das ist wahnsinn!“ „Nein, es ist für mich einfach nur Mike.“ „Das ist dieser Mike? Ich konnte mir unter ihm nie etwas vorstellen. Der Kerl ist der Frontmann von J.R.T.D?“ Nathan jedoch verdrehte nur die Augen und schüttelte den Kopf. „Ja…“ „Welcher der beiden Sänger? Der Blonde? Der niedliche Typ?“ Er sagte aber nichts. Keinen Ton. Bei Mikael würde er niemals einziehen wollen, nicht einmal wenn der in einem Palast wohnen würde. Er kann mit diesem Mann einfach nicht auf einen grünen Zweig und Lindsay war wohl nicht so von der Alternative begeistert. „Dieser Freak?“ „Hey, nicht in diesem Ton, Fräulein“, warnte er und hob die Hand. „Man, Nathan. Warum bist du immer mit den merkwürdigsten Menschen befreundet? Dieser Kerl ist unheimlich…“ „Mike ist ok, ja? Du kennst ihn nicht.“ „Ich habe mit Blake oft genug Interviews geguckt. Er hat doch einfach keinen Modegeschmack und …“ „Er hat seinen eigenen Style und wir sind auch nicht hier um über irgendwelche Menschen zu diskutieren, die dir rein optisch nicht passen. Sag mir lieber, was mit Blake ist… Es ist immerhin der vierte August heute.“ Kurz war ihr Blick etwas merkwürdig, sodass er nicht deuten konnte, was nun gemeint war. „Sie haben es dir wirklich nicht gesagt, oder?“ „Was? Dass sie ihn verlegt haben? Das habe ich selbst herausgefunden.“ „Du hast ernsthaft Verbot bekommen?“, kam es überrascht und auch getroffen von ihr zurück. „Ja, kaum zu glauben, was?“ „Dann weißt du auch nicht, dass sich seine Werte gebessert haben?“ „Wirklich?“ „Ja.“ Sie lächelte ihn glücklich an und fiel ihm erneut um den Hals. „Es sieht besser aus.“ „Sie wollen also nicht mehr …?“, fragte er. „Nein. Sie wollen sie nicht mehr abstellen lassen!“ Beinahe war ihm so, als könnte er vor Freude darüber heulen. Er bekam seinen Bruder wieder … zwar wusste er nicht wann. Aber es war immerhin eine Nachricht, dass sich die Werte gebessert haben. „Habt ihr eure Turtelrunde überstanden?“, ertönte jedoch Ians kühle Stimme hinter ihnen. Da fällt er wieder in sein altes Schema, dachte Nathan, aber wirklich trüben tat es seine Laune nicht. Viel zu glücklich war er über diese Nachricht. „Können wir dann zum Wesentlichen kommen, oder braucht ihr eine Extraeinladung?“ „Mein Gott, Ian. Wie siehst du aus?“ Blitzartig löste sich Lindsay von ihrem Bruder, stürmte geradezu auf Ian zu und besah sich dessen Gesicht. „Was ist passiert?“, fragte sie nach, wurde jedoch beiseite gedrückt. „Nicht der Rede wert, Weib.“ „Ian. Hey!“ Sie fasste sein Handgelenk, als er an ihr vorbei ging. Nathan zog derweil schon einmal scharf die Luft ein. Er wusste, dass Ian es hasste, von Frauen so angefasst zu werden, als hätten diese die Kontrolle. Er hasste es einfach. Und Lindsay tat das, was der Brünette am meisten hasste. Das konnte nicht gut gehen… „Was ‚hey’? Lass mich los und schwing deine Kiste ins Auto. Meinetwegen auch wieder zu Derek ins Bett, aber lass mich los“, knurrte er sie gefährlich an, zog sein Handgelenk mit Leichtigkeit aus ihrem Griff und ging auch direkt an Nathan vorbei. „Leg deine Schwester an die Leine. Dieses Weibsbild ist mir ein Dorn im Auge!“ „Du vergisst eines, Ian.“ „Was?“, wurde ihm entgegen gezischt. „Wir haben da so einen kleinen Deal. Vergiss den nicht.“ Nathan lächelte gutgelaunt vor sich hin, zuckte die Schultern und nervte Ian mit seiner Laune wohl noch mehr, als dieser ohnehin schon zeigte. 20. August. 2011 Orange fiel das Licht der untergehenden Sonne in das geräumige Zimmer im Obergeschoss des Hauses. Nathan lag auf dem weichen, flauschigen Teppichboden, hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und ein Bein angewinkelt, während er die Decke musterte. Etwas weiter neben ihm konnte er aus dem Augenwinkel die nackten Beine Samanthas erkennen und auch Mikes Stelzen schoben sich ab und an in den Blickwinkel. „Was wird das eigentlich, wenn ihr da fertig seid?“, fragte er und drehte nun doch den Kopf so zur Seite, dass er die beiden Personen ganz sehen konnte. „Ich nähe ihr das Kleid enger…“ „Kann sie das nicht selbst?“, wollte Nathan wissen. „Sie muss doch mit einer Nähmaschine klar kommen. Sie ist eine Frau.“ „Kann ich auch. Aber Mike kanns besser…“ „Er ist ja auch schwul… So ein bisschen Klischee muss ja dann doch erhalten werden“, seufzte der Jüngste von ihnen und richtete den Blick wieder gen Zimmerdecke. „Sag mal, hast du nichts zu tun?“, lachte Mike dann jedoch drauf los und stemmte die Hände in die Hüften. „Nein?“ „Geh runter und mach essen.“ „Wir bestellen heute einfach was…“ „Musst du nicht zum Training?“ „Heute ist Samstag, heute ist kein Training.“ „Dann geh laufen.“ „Keine Lust.“ „Dann lern halt für deine Zwischenprüfung.“ „Keine Lust.“ „Schreib deinen Bericht?“ „Nein, keine Lust.“ „Geh’s Auto wachen.“ „Hab ich heute Morgen erst getan. Ach, dein Fensterheber geht wieder… Und ich hab die Birnen in den Rückleuchten ausgetauscht und … Öl nachgefüllt… Für die Zentralverrieglung fehlt mir das Werkzeug hier…“, begann Nathan dann zu erklären, schloss die Lider und hörte Samantha im Hintergrund leise kichern. „Mike, mir ist langweilig“, brachte er dann noch hinterher. Und ihm war wirklich langweilig. Lindsay war auf einem Wochenendtrip mit ihrer Chearleadermannschaft, Ian war wieder in Miami. Hatte dieser doch da unten sein Leben, seinen Job und sein zu Hause. Blake durfte er nicht besuchen. Seth war in den Weiten des Supermarktes verschwunden und die einzigen Personen, mit denen er etwas unternehmen könnte, standen hier und machten ein Kleid enger… Klasse. „Ja, und wie soll ich dir dabei jetzt helfen? Ich meine, du kannst ins Wohnzimmer gehen, ein bisschen X-Box zocken, Fernsehen oder was auch immer…“ „Ja, aber dann is mir auch langweilig…“ „Geh ins Black.“ „Dann laufe ich Gefahr, Vincent über den Weg-“ Er verschluckte seine eigenen Worte. Mike wusste von dem ganzen Scheiß noch nichts und auch Sammy wurde soweit noch gar nicht eingeweiht. Wobei, das Mädchen wusste ja bereits von dem Kerl und eigentlich von allem, was mit Vincent zusammen hing. „Was hast du denn mit Vincent zutun?“, fragte Samantha auf einmal sehr überrascht, gar schon geschockt nach. „Ich hab zufällig kennen gelernt.“ „Man lernt Vincent nicht einfach so kennen…“ „Als wir drei, also du, Ian und ich, im Black waren…“ „Ja?!“, kam es nur leicht giftig von Samantha zurück. „Als ich wieder rein kam, nachdem ich mit dir zusammen aufs Taxi gewartet habe …“ „Ja, weiter?“ „Da hatten Ian und Vincent so eine kleine Auseinandersetzung…“ „Na super. Und du hast dich eingemischt?“, fuhr sie ihn an. „Ja, habe ich.“ „Oh man. Gerade das meinte ich nicht damit, dass du dich besser mit Ian verstehen sollst, Nathan. Ihr sollt doch nicht die gleichen Feinde teilen!“ „Ladies“, ging Mike dann jedoch dazwischen. An und für sich überflüssig, aber ehe sie sich an die Kehle sprangen… „Beruhigt euch, ja? Nathan, komm auf Augenhöhe mit mir. Ich kanns nicht ab, auf dich herabschauen zu müssen.“ Zögernd öffnete er das linke Auge einen Spalt weit, sah Mike dann in seiner pseudoautoritären Haltung dort stehen und musste sich gar ein Lachen verkneifen. Hätte jenes doch eher dazu geführt, dass Sammy noch mehr in Rage gekommen wäre und das wäre nicht gut. Für keinen von ihnen. Also versuchte er ernst zu bleiben und richtete sich dann mehr oder weniger elegant auf. „Du bewegst dich wie ein Sack in letzter Zeit…“, kommentierte Mike seinen Bewegungsablauf gar schon sarkastisch. „Lass mich.“ „So, da du jetzt stehst. Noch einmal von vorn: was hast du mit diesem ominösen Vincent am Hut? Auch wenn ich rein gar nicht weiß, wer er sein soll.“ Sammys Blick lag abwartend auf ihm und auch Mike sah ihn an, als würde er darauf warten, dass die Informationen durch Gedankenübertragung zu ihm kamen. Es blieb ihm ja wohl nichts über. „Sollte davon irgendwas so weit an meine Schwester weiter getragen werden, laufe ich Amok, nur damit das von vorn hinein klar ist!“, stellte er die Regeln vorn weg schon einmal fest und begann dann, die Geschichte von dem Abend zu erzählen, an dem er Vincent das erste Mal begegnet ist. Ebenso erzählte er von den Dingen, die er von Nancy erfahren hatte und durfte darauf folgend die Beziehung zwischen ihm und Nancy erklären. Die Änderungsarbeiten an Samanthas Kleidungsstücken waren vergessen, stattdessen saßen sie nun alle drei auf dem flauschigen Teppich und lauschten den Ausführungen, die Nathan über sein Leben gab. Natürlich tätigte er Aussparungen. Zum Beispiel nannte er die eine Sache nicht, die er bisher nur Ian erzählt hatte. Ebenso ‚vergas’ er zu erwähnen, was vor guten neunzehn Tagen passiert war. Jetzt konnte er von Glück sprechen, dass Mike und Seth nicht daheim waren zu der Zeit. „Dass Ian ein grauenvoller Typ war und teilweise noch ist, weiß ich. Und dass er mit genau solchen Idioten herumgehangen hat, weiß ich auch. Aber ich hätte von dir niemals gedacht, dass du auch in so einer Scheiße gesessen hast… Und hast du noch viel Kontakt zu dieser Nancy?“, fragte sie ihn auch gleich. Alles andere war nur eine simple Feststellung, bis auf der letzte Satz… Er klang so lauernd. Und auch Samanthas Blick, den sie der Frage hinterher schickte, war nicht weniger lauernd. Beinahe sah sie ihn an, als würde sie nur hoffen, dass er nichts weiter mit ihr hatte. „Sie ist eine gute Freundin, Sammy.“ „Hast du noch viel Kontakt zu ihr will ich wissen.“ „In letzter Zeit, ja. Wir treffen uns manchmal nach der Arbeit in der Stadt…“ „Aha.“ „Warum. Bist du eifersüchtig oder was?“, mischte sich Mike ein und grinste sein typisches Grinsen. Dieses Wissende… „Ich? Nein, wie kommst du darauf?“ Ihre Finger begannen jedoch mit dem Stoff des Unterrockes zu spielen und auch ihren Blick richtete sie nach unten, wagte es nach den Worten Mikes nicht einmal mehr in Nathans Richtung zu blicken. „Ach, nur so. Du siehst ihn in letzter Zeit so an. Und gerade hattest du diesen Killerblick, als Nancys Name das erste Mal fiel. Und dann noch dieses Verlegene gerade … Ich interpretiere wahrscheinlich zu viel in die Angelegenheit hinein.“ „Regelt das unter euch, ja? Ich bin eben duschen…“ Damit erhob Nathan sich. Er hatte nichts damit am Hut, sich solchen Diskussionen hinzugeben. Es ging zwar irgendwie um ihn, aber dennoch hatte er nicht eine solch große Lust dazu, sich diesen Weibergesprächen hinzugeben. Deswegen verließ er den Raum auch, schloss die Tür hinter sich und hoffte, dass die beiden da recht schnell wieder auf eine Welle kamen. Denn den hellen Teppich von Blutflecken zu befreien … Das war der Albtraum eines jeden. Vor allem von ihm – er hasste es sauber zu machen… Noch während er seine Sachen in den Wäschekorb legte, hörte er die immer schlimmer werdende Diskussion der beiden. Vielleicht war schlimm nicht das richtige Wort. Viel eher hörte es sich nach einer ‚gar schon zärtlichen’ Neckerei unter ‚Freundinnen’ an. Kein Wunder, dass Sammy als ‚favorite Bitch’ betitelt wurde, wenn sie drei am Abendtisch über die Journalistin sprachen. „Nathan?“, drang es dann nach zehn Minuten von vor der Tür zu ihm durch. Er war gerade dabei, das Handtuch um seine Hüften zu wickeln. „Hast du was an?“ „Nein“, gab er nur zurück. Ein Handtuch galt für ihn nicht als Kleidungsstück. Wirklich nicht. „Was ist denn?“ Was wollte Mike denn von ihm? Aber weiter als bis zu eben diesem Punkt kam er gar nicht, da die Tür einfach so auf glitt und der Sänger vor ihm stand. „Was willst du denn hier? Ich bin halb nackt!“ Aber die Tür wurde einfach nur eiskalt geschlossen und seine Worte ignoriert. Würde er es nicht besser wissen, hätte er jetzt leichte Bedenken, was den Sänger anginge. „Wir müssen reden“, kam es letztlich doch endlich als Antwort und Nathan ließ die Schultern sinken, seufzte. „Worüber?“ „Über vieles, Nathan. Erstmal darüber, dass du dich irgendwie anders verhältst. Du hast gerade eine halbe Stunde über Dinge erzählt, die ich von dir niemals erwartet hätte. Du bist nicht der Typ dafür.“ „Ich weiß das selbst. Aber – kannst du das nicht auf sich beruhen lassen?“ „Nein, kann ich nicht. Du bist anders, seitdem Ian wieder abgereist ist. Was ist los? Ist irgendwas zwischen dir und ihm passiert, von dem wir nichts wissen?“ „Das ist es nicht. Du weißt mehr über mich als meine Familie. Dabei kenne ich dich nur halb so lang… Ich bringe dir ein unheimliches Vertrauen entgegen, was ich sonst bei niemanden tue…-“ „Außer bei Ian. Nathan, verarsch mich nicht. Ihr teilt so viel mehr, als man auf den ersten Blick vermuten mag. Ich hab doch gesagt, dass ihr euch so gut wie nichts nehmt. Ihr seid euch so ähnlich. Werd’ nicht auch noch in diesen Beziehungen wie er.“ „In welchen Beziehungen?“, wollte Nathan wissen. „Fall nicht wieder dahin zurück, wo du nur schwer wieder hinaus kommst. Samantha hat mir gesagt, wer dieser Vincent ist… Ich finde es nicht berauschend, dass du mit dem zutun hast.“ „Ich habe mit ihm nichts zu tun… Ich werde ihm nur zwangsweise über den Weg laufen müssen ….“ „Und weiter?“ „Ich hab Angst um meine Schwester… Ich werde wohl nicht mehr ins Black gehen. Die Sache mit Ian war … sagen wir, ein Schock, den ich nicht noch einmal erleben will.“ „Hm… Pass auf dich auf. Und was deine Schwester angeht… Sie wird schon beschützt werden, glaub mir. Derek ist ein kleines Bad Ass, aber er ist jemand, der das beschützt, was ihm wichtig ist. Glaub mir.“ „Ich hoffe, du hast Recht. Ich will nicht, dass ihr etwas passiert.“ „Wird’s nicht, glaub mir. Aber Themawechsel: Samantha.“ „Nein. Sie ist eine Furie! Hat sie ihre Tage?“ „Ja.“ „Du weißt so was?“ Überraschung schwang in Nathans Stimme mit und genau so, wie seine Stimme klang, sah er Mike auch an. „Ja, ich weiß so etwas. Leider. Mir wird ja alles erzählt, egal ob ich es wissen will oder nicht.“ „Na, dann bin ich ja nicht allein auf der Welt mit diesem Problem.“ „Egal, das will ich dir auch gar nicht weiter erzählen… Viel eher… Sammy steht auf dich.“ „Ist unschwer zu übersehen.“ „Und?“, harkte Mike nach, lehnte sich an die geschlossene Tür hinter sich. „Was und?“, stellte Nathan sich doof und nahm auf dem Toilettendeckel Platz. „Findest du sie … nun ja, auch nett?“ „Du brauchst mit mir nicht reden, wie mit einem Kleinkind, Mike. Ich verkrafte es, wenn du ehrlich und direkt bist.“ „Willst du was von ihr?“ „Ehrlich?“ „Ja, bitte. Ich kann es nicht ab, wenn der eine den anderen immer angeiert, aber keiner von beiden die Fresse auseinander bekommt. Verstehst’e?“ Darüber hatte er ehrlich gesagt, gar nicht nachgedacht. Für ihn hatten andere Dinge Vorrang gehabt, in den letzten Tagen, Wochen, Monaten. Da hatte er keine Zeit, um über seine eigenen Gefühle nach zu denken. Und vor allem war sie ihm die ganze Zeit nicht egal gewesen, er fand sie hübsch und er verbrachte gern Zeit mit ihr. Aber die letzten Wochen war sie ihm einfach zu viel Mike gewesen… Langsam ging es wieder. Es halt doch nur eine Phase bei Sammy gewesen und es war auch irgendwie logisch, dass gewisse Dinge abfärbten. Immerhin waren sie und Mike beste Freunde, da war es verständlich, dass einige Dinge übernommen wurden. Doch wollte er das von ihr, was sie von ihm wollte? Er hatte darüber noch wirklich nicht nachgedacht. „Ich verbringe gern Zeit mit ihr, höre ihr gern zu. Zwar hat sie zeitweise einen grauenvollen Modegeschmack“, grinste er Mike entgegen und sah, dass dieser verstand, was er damit sagen wollte. „Aber ich mag sie.“ Wieder erschien auf den Lippen des Sängers dieses einseitige Grinsen. Dieses Überlege… dieses Wissende. Er hasste es. „Das machst du gern, was?“ „Was?“, kam es scheinheilig von Mike zurück. „Dieses dämliche Grinsen grinsen“, holte Nathan weiter aus und überschlug die Beine. Reichte ja nicht, dass er hier halbnackt saß, nein. Die Handtücher waren auch noch ein wenig kurz … und… Nun ja, es war Mike der da stand. Zwar konnte jener ihm nichts weggucken, aber dennoch… „Manchmal, ja.“ „Manchmal“, lachte er humorlos. „Manchmal. Aber was willst du eigentlich von mir hören?“ „Magst du sie so gern, dass du sie auch mal ficken willst? Verstehst du diese Sprache besser?“ „Meine Güte. Für mich liegen zwischen ‚Ich will mit einem Menschen schlafen’ und ‚Ich will mit einem Menschen zusammen sein’ Welten“, erklärte Nathan, verdeutlichte seine Worte auch noch, indem er versuchte, mit Gestik darzustellen, was meinte. „Wenn ich sie ‚ficken’ will, will ich nicht mit ihr zusammen sein. Will ich aber mit ihr zusammen sein, will ich mit ihr ‚schlafen’. Verstehst du den Unterschied?“ „Doch nicht so dumm, wie ich immer dachte.“ „Ha ha ha“, kam es ironisch auf diese Worte zurück. „Und willst du mit ihr zusammen sein?“ „Darüber, liebster Mike, habe ich noch gar nicht so nach gedacht. Und wenn ich mich recht entsinne, darfst du mir jetzt auch keine Predigt halten, da ich von Seth erfahren habe, wie schwer ihr euch getan habt.“ Er nahm Mike damit jeglichen Wind aus den Segeln, da dieser gerade damit anfangen wollte, irgendwas hochgeschwollenes daher zu labern. Das sah Nathan ihm sofort an. „Nath, das ist nicht fair.“ „Doch ist es.“ Kurz herrschte Stille zwischen den beiden, ehe sie gar synchron im Lachen ausbrachen. „Seit wann stört es dich nicht mehr Nath genannt zu werden?“, kam es halb unverständlich von Mike. „Seitdem ich weiß, dass ich euch zum ‚Freundeskreis’ zählen kann.“ „Schön zu wissen.“ „Ironie oder Ernst?“ Tief durchatmend nahm Mike wieder seine gerade Haltung ein, zuckte mit den Schultern. „Ich meine es wirklich ernst. Schön zu wissen, dass man einen neuen Kumpel gewonnen hat… Ich gehe ein paar Körbe werfen, wenn du mich suchst, ich bin vor den Garagen…“ In frühabendlich taugliche Kleidung gehüllt betrat auch Nathan eine gute viertel Stunde später den Garten und brauchte nur zu lauschen. Jeder Ballwurf war ein Korb. Manchmal fragte er sich wirklich, woher Mike diese Treffgenauigkeit hatte… Gemächlichen Schrittes trat er über die Grünfläche und blieb an der Rasenkante stehen, sah dem orangefarbenen Ball hinterher, der durch das Netz fiel, auf dem Boden aufkam und von den schlanken Händen des Screamers wieder aufgenommen wurden. „Hast du früher in der Schulmannschaft gespielt?“, erhob Nathan das Wort, schob die Hände in die Taschen und verfolgte den Ball ein weiteres Mal. „Ja. Mehrere Jahre… Hat sich von der Körpergröße gelohnt.“ „Mehr nicht?“ „Ist der einzige Sport den ich einigermaßen beherrsche.“ „Hm“, grinste Nathan darauf hin nur, sah, wie sich Mike zu ihm umdrehte und seine Augenbraue in die Höhe schnellen ließ. „Glaubst’e wohl nicht, oder?“ „Nun ja, das ist es nicht… Ich denke nur zweideutig, ich sollte es lassen“, gab er dann zu und fing den Ball gerade noch so, bevor er ihm direkt ins Gesicht geflogen wäre. „Wie wärs. Wer zuerst die zehn Körbe voll hat. Der Verlierer zahlt das Abendessen.“ „Mike. Ich war gerade erst unter der Dusche.“ „Und? Los komm schon. Dann ist dir auch nicht langweilig und du bekommst die Bewegung, die dir sonst fehlt.“ Ihm blieb nichts anderes übrig, als nachzugeben. „Ok, du hast gewonnen.“ „Das ist mal ein Wort. Los, hau rein.“ Völlig fertig mit der Welt ließ sich Nathan einfach nur noch auf die Rasenfläche fallen, streckte alle Viere von sich und rang nach Atem. Der Platz hier war nicht große, wirklich nicht. Aber Mike konnte einen wirklich hetzen. Und das, obwohl der Kerl rauchte wie kein Zweiter! „Das mach ich nie wieder!“, protestierte er, als er sah, dass Mike sich neben ihn setzte und allen ernstes in Seelenruhe die Schachtel Malboro heraus holte und sich eine Zigarette zwischen die Lippen schob. „Stell dich nicht so an. Du läufst morgens nicht mehr, das macht viel aus, glaub mir. Du gehst wegen deiner Ausbildung nicht mehr regelmäßig zum Training… Bekomm da mal wieder einen Grund rein. Ich wär heute Abend für Pizza. Wollen wir die große Familienscheibe bestellen?“ „Willst du nicht erst mit Seth darüber sprechen? Ich meine, er muss doch selbst wissen, was er gern essen würde.“ „Hawaii, glaub mir.“ „Oh, Hawaii ist gut“, kam es immer noch recht atemlos aber begeistert von Nathan, als er sich auch wieder in eine sitzende Position brachte. „Mein Wort.“ „Wo bleibt Seth eigentlich so lange?“ „Hat sich bestimmt wieder in den Gitarrenladen verirrt. Er liebäugelt seit Monaten mit der Les Paul die im Schaufenster hängt.“ „Aha. Und warum kauft er sie nicht einfach?“ „Sein ultimatives Argument: Ich hab doch genug. Aber wenn er dann wieder im Wohnzimmer sitzt, dann heißt es immer wieder: Scheiße, hätte ich doch eine mehr. Die Sache ist die, es ist nervig, immer wieder umstimmen zu müssen. Von E auf D oder auf was auch immer…“ Nathan hörte aus diesen ganzen Begriffen nur eines ‚Was?’ Mit Musik auf diesem Level kannte er sich nicht aus. Sein Bruder konnte Klavier spielen, aber er selbst hatte daran nie Interesse gehabt. So lange es in Elektronisch war, war alles ok. Mehr brauchte er nicht, da musste er doch nicht wissen, was dieses E oder dieses D war, richtig? „Auf jeden Fall wird es noch dauern bis – Wenn man vom Teufel spricht.“ Leise aber gemütlich schnurrend fuhr der BMW auf die Auffahrt und hielt. Lässig wurde die Fahrertür aufdrückt und Seth stieg aus. „Und, wie habt ihr den Tag ohne mich verbracht?“ „Gut.“ – „Seht gut.“ „Freut mich“, lächelte Seth ehrlich, ging um seinen Wagen herum und öffnete den Kofferraum. „Dann seid ihr auch motiviert und helft mir beim Auspacken.“ „Wir möchten Pizza bestellen…“, begann Mike dann, nahm die ersten beiden Tüten entgegen, die Seth aus dem Wagen hievte. „Hawaii“, war die schnelle Antwort und Nathan nickte Mike nur anerkennend zu, bekam dann aber auch schon die nächsten beiden Tüten in die Hand. „Ich kenne meinen Lover eben“, erklärte Mike und ging ihm voraus in das Haus. „Sag mal, Nathan?“ Auf halbem Wege blieb der Jüngste stehen, sah sich um und erblickte Seth an seinem Wagen lehnend. „Wie hoch hast du verloren?“ „Achtzehn zu zwanzig. Ich empfinde es als eine gute Niederlage“, rief er nur zurück. Später am Abend saß er unten in seinem Zimmer, die Türen waren alle samt noch offen. Hieß also, alles, das in der Küche oder im Wohnzimmer gesprochen wurde, drang zu ihm durch. Musik hatte er keine nebenbei laufen, zu sehr war er damit beschäftigt, endlich einen vernünftigen Bericht auf das Papier zu bekommen. Nicki war da sehr eigen, was Berichte anging und vor allem sehr streng. Daher wollte er fertig sein, bevor er nichts mehr auf die Reihe bekam. Er kannte sich selbst und wusste, wie er in schulischen oder eben nun beruflich bedingten Stresssituationen umging. So lange es um irgendwas Handwerkliches oder Menschliches ging, war alles kein Thema für ihn. Aber so bald es an Abgabetermine von irgendwelchen Berichten ging, wurde er am ende schnell zu hektisch und bekam dann im Endeffekt gar nichts mehr auf die Reihe. Daher hatte er sich angewöhnt, früher fertig zu sein. Aber laute Stimmen von oben ließen ihn letztlich doch inne halten. Seien Stirn runzelte sich leicht, während seine Finger unbewegt auf der Tastatur lagen. Noch vor wenigen Minuten war alles ok gewesen, warum stritten sie sich jetzt? Die ganze Zeit, in der er Mike und Seth nun kannte, hatten die beiden nie einen Streit gehabt. Sie waren für ihn das perfekte Paar – von einem anderen Standpunkt betrachtet, als man ein normales Paar betrachtete, aber das verstand sich mit Sicherheit von selbst, oder? Aber warum stritten sie? Kapitel 14: *Ohne Titel* ------------------------ „Ach Mike, hör doch endlich damit auf!“, drang es wütend von oben zu ihm herunter. „Womit denn? Ich weiß gar nicht, was ich getan habe!“, warf Mike nur zurück. Nathan schüttelte den Kopf. Niemals hätte er gedacht, dass Seth laut werden konnte. Vor allem hatte er auch nicht erwartet, diesen biestigen Unterton in der Stimme des Älteren hören zu können. Er speicherte das Dokument zwischen, klappte den Laptop zu und erhob sich von seinem Platz, stieg die Treppe zum Erdgeschoss dann soweit hinauf, dass man ihn nicht sehen konnte, auch wenn die Tür offen stand, er aber mehr hören konnte. „Du weißt ganz genau, was ich meine. Soll das alles wieder so anfangen, wie vor Jahren, oder was?“ „Seth. Ich kenne dich verdammt lange. Aber was zur Hölle willst du mir sagen? Ich verstehe es nicht!“, konterte Mike jedes Mal und klang von Wort zu Wort verzweifelter. „Bitte… Ich habe keine Ahnung, was ich falsch gemacht habe. Habe ich dich irgendwie gefühlstechnisch verletzt?“ Nathan schloss kurz die Augen. Er hasste es, wenn sich Leute um ihn herum stritten. Warum auch noch Seth und Mike? Reichte es nicht, dass er ewig zu Hause bei seinen Eltern diesem Stress ausgesetzt war? Warum auch noch jetzt? Was geht denn bei denen?, dachte Nathan bei sich, schlich die letzten Stufen nun auch noch nach oben und sah die beiden im Wohnzimmer stehen. Es war ein Bild, das man von ihnen bestimmt als letztes erwartet hätte. Sie standen sich so nah gegenüber, dass man beinahe meinen könnte, sie würden sich jeden Moment an die Kehle gehen. Selbst die Spannung war nahezu greifbar. Etwas versteckt blieb er hinter dem Durchgang stehen und verfolgte das weitere Geschehen aus sicherer Entfernung. Nicht dass man ihn auch noch irgendwie mit in diesen Streit involvierte. Darauf konnte er nämlich gut und gern verzichten. „Du bist ewig weg, wenn wir zu Hause sind.“ „Was? Ich bin doch meistens hier, bleibe bei dir. Oder wir gehen gemeinsam weg“, kam es sprachlos von Mike und man konnte sehen, wie die Spannung aus dessen Körper wich. Er wirkte mit einem Mal angreifbarer, verletzlicher. „Und wenn du weg bist? Wo bist du dann?“ Auch Seths Stimme wurde ruhiger, nahm das ruhige, tiefe Level ein, auf dem er sonst immer sprach. „Du weißt, dass ich dann meistens bei Sammy bin.“ „Meistens. Wo bist du, wenn du nicht da bist?“ „Seth, ich habe auch ein Leben.“ „Ja?“ „Fang nicht an, mich einzuengen, Seth. Sieh, wir spielen in derselben Band, wir sehen uns auf Tour jeden Tag, jede Nacht – über Wochen und gar Monate. Wir sind so gut wie nie getrennt. Ich brauche auch mal ein bisschen Abstand.“ „Zu der Beziehung zu mir?“ „Nein. Ich brauche ein bisschen Zeit für mich allein. Ich muss auch mal etwas mit Freunden unternehmen oder einfach nur allein irgendwo in einem Park oder einem Cafe abgammeln. Verstehst du das nicht? Wenn du allein sein willst, gehst du auch in dein ‚Arbeitszimmer’ und ich lasse dich. Aber du fängst an, mir die Luft zum Atmen zu nehmen.“ „Wo bist du denn gewesen, die letzten Tage? Bei Sammy?“ „Ich war auch mal mit David unterwegs oder einem der anderen. Seth…“ „Gehst du mir fremd?“ „Das ist es, auf das du hinaus willst?“ Nathan sah das schwache Nicken Seths und schloss für einen Moment selbst die Augen. Als ob Mike Seth jemals betrügen würde. Da gab es überhaupt keinen Grund zu. Sie waren doch glücklich miteinander – so lange der eine dem anderen Platz ließ, sein eigenes Leben zu leben. Mike ging in diesem Moment auf seinen Freund zu, legte ihm gar übervorsichtig die Hände auf die Wangen, fing an, leise auf ihn einzureden. So leise, dass Nathan nicht mehr in der Lage war, es zu verstehen. Aber es sah alles danach aus, als würde das Problem aus der Welt geschafft werden. Ein Grund, warum Nathan sich umdrehte, in die Küche ging und die Thermoskanne auf ihren Inhalt prüfte. Zu seinem Glück war diese sogar noch fast voll, weswegen er sich eine der Tassen vom Harken nahm und sich etwas von dem Kaffee in die Tasse schüttete, haufenweise Zucker landete in der dunklen Flüssigkeit, ehe er begann, darin herum zurühren. Seinen Blick vollkommen auf die kleinen Wellen fixiert, drifteten seine Gedanken ab. Zum einen war er sofort bei Sammy. Er müsste einen Zeitpunkt finden, an dem er mit ihr in aller Ruhe sprechen könnte. Da war etwas zwischen ihnen, dass sich langsam als Hindernis herauszustellen drohte, wenn sie es nicht klärten. Es … ja, es gefährdete ihre Freundschaft, wenn man es so sehen wollte, denn diese Freundschaft entwickelte sich langsam zu etwas bisschen mehr, als einfach nur eine normale Freundschaft. Wieder ein erstklassiger Beweis dafür, dass Mann und Frau nicht einfach nur befreundet sein können…, dachte er sich gar selbstironisch und schüttelte geistesabwesend mit dem Kopf. Dann war da noch Lindsay. Er hatte von ihr lange nichts mehr gehört. Das letzte Mal, als sie hier her gekommen ist, damit sie sich ein wenig unterhalten konnten. Damals, als das mit Ian war. Danach war der Kontakt rar geworden. Ob sein Erzeuger ihr den Kontakt verboten hatte? So würde auch die Information über Blakes Zustand nicht mehr zu ihm durchdringen und er würde nichts mehr darüber erfahren… Dabei wollte er so gern wissen, wie es ihm ging… Ob die Werte besser oder wieder schlechter geworden sind. Ob es wieder mehr Hoffung gab. All solche Dinge… Es blieben noch seine Eltern. Es war abzusehen, dass sie sich irgendwann scheiden lassen würden. Irgendwann… Ob dieses irgendwann nun war? Was wusste er schon? Was interessierte es ihn? Kümmern tat es ihn nur, da er wusste, dass es Lindsay sehr an die Nerven gehen würde. Das arme Mädchen musste schon viel zu viel mitmachen. Und dann blieben noch Mike und Seth als Schlusslicht der ganzen Sache. Es wäre die Hölle, wenn hier nun noch der Beziehungsstress losbrechen würde, wegen irgendwelchen wilden Annahmen über irgendwelche Nebenbeziehungen oder was auch immer. Uh, nein, dachte Nathan sich, schüttelte abermals den Kopf. Daran wollte er nun wahrlich nicht denken. Vor allem, da ihm gleich das Bild von Seth und Ian in den Kopf sprang, das er hatte, seitdem er die Band das erste Mal kennen gelernt hatte. Die Sache mit dem Helloween-Kuss oder was das war… Oder Mike und Ian – ein gruseliges Bild setzte sich in seinem Kopf fest, das er nicht einmal mehr so schnell wegbekam, wie er es gern gehabt hätte. Warum dachte er daran überhaupt? Herr Gott noch mal!, mahnte er sich selbst. „Was machst du denn noch hier?“ Die Frage riss ihn aus brutal aus seinen Gedanken, sodass er zusammenzuckte und beinahe seine Tasse auf den Boden fegte. Nathan drehte sich um, lehnte sich mit der Hüfte leicht gegen die Anrichte und blickte Mike an. Er sah grauenvoll aus. Und das war sogar noch untertrieben. Ihm waren die grauen Ringe unter dessen Augen gar nicht aufgefallen. Ebenso die ohnehin müde aussehende Augen, der traurige Blick in eben jenen und die herunterhängenden Schultern. „Ich hab euch hier oben streiten hören.“ „Tut mir leid.“ „Braucht es dir nicht, Mike. Wirklich nicht.“ 01. September 2011 Gelangweilt saß Nathan die Donnerstagssitzung ab, starrte aus den Fenstern des Gebäudes, in dem er seine Theoriestunden seiner Ausbildung hatte. Die Person vor ihm redete seiner Meinung nach nur Stuß und gab Informationen, die man nicht brauchte. Aber würde er hier nicht her kommen, würde Nicki ihm in den Arsch treten. Natürlich war es nicht erforderlich, eine komplette Ausbildung zu haben – vor allem gerade in diesem Bereich. Aber was, wenn diese Zeit irgendwann mal einbrach und er dann ohne Ausbildung dastand? Herr je, daran wollte er nicht denken und lauschte deswegen gelangweilt den Worten des Mannes vorn am Pult. Aber es war lange nicht so schlimm, als wenn er auf eine Universität gehen würde. Ewig nur lernen, lernen, lernen und noch einmal lernen. Vor allem was sollte er studieren? Darin hatte er kein Interesse. Er war nicht der Theoretiker, er gehörte eher zu der Art Mensch, die sich gern Handwerklich bestätigten und dazu brauchte man nicht reihenweise Lehrbücher, die einem Schritt für Schritt durch den Prozess leiteten. Ganz sicher nicht. Gegen halb fünf verließ er als einer der Letzten den Raum. „Nathan?“, sprach ihn die junge Frau an, die das Seminar leitete, in dem er nachmittags immer saß. „Ja?“, fragte er zurück, drehte sich zu ihr und blickte sie direkt an. „Was ist denn?“ „Die Klausur vor zwei Wochen“, begann sie. „Ja, was ist damit?“, wollte Nathan wissen. So schlecht konnte diese ja nicht ausgefallen sein. Wobei … er war sich in letzter Zeit ohnehin gar nicht mehr sicher. Egal was er tat, er dachte immer es wäre falsch. „Ich bin mit deiner Leistung zufrieden, das weißt du.“ „Ja, das kann sein. Ich weiß nicht…“ „Ich hab mir deine Klausur angesehen – und die Abschlusszeugnisse der Highschool…“ „Und?“ Er verstand den Zusammenhang dabei nicht. Worauf wollte die Seminarleiterin denn bitte hinaus. „Du bist ein Fünferschüler gewesen, was Mathe, Physik und Chemie angeht.“ „Ich kenne meine Abschlussnoten, die brauchen Sie mir nicht sagen.“ „Und deine Klausur ist oberen Bereich angesiedelt.“ „Super“, gab er nur von sich. Den Zusammenhang immer noch nicht verstehend, war er auch nicht so sonderlich begeistert von dem Tonfall, den die gute Frau an den Tag legte. „Dein Sitznachbar, hat ebenso eine recht gute Note aufs Papier gebracht.“ „Unterstellen Sie mir ernsthaft, die Ergebnisse kopiert zu haben? Nur weil ich im Thema Integralrechnung und diesem ganzen Mist auf der High versagt habe?“ „Mir bleibt nur Grund zu der Annahme, weswegen ich dich gern in eine Nachprüfung nehmen würde.“ „Soll mir recht sein.“ „Wirklich?“ „Ja. Ich habe weder bei meinem Kollegen abgeschrieben noch habe ich Angst, mich in eine Nachprüfung stecken zu lassen, Miss“, gab er ruhig von sich. „In zwei Wochen Donnerstag, nach der letzten Sitzung bleibst du bitte hier.“ „Geht klar. Aber jetzt muss ich los.“ „Schönen Tag noch, Nathan.“ „Hm…“ Kopfschüttelnd begab er sich zu seinem Auto, schmiss den Rucksack in den Kofferraum und lehnte sich erst einmal gegen seinen Wagen. Da kam auch jeden verdammten Tag etwas Neues dazu. Konnte es nicht einen Tag geben, an dem alles glatt lief? Zu Hause angekommen, hängte er seinen Schlüssel zu den anderen und schloss die Tür hinter sich. Stille herrschte in dem gesamten Haus. Dann waren die beiden wohl weg, entweder bei der Probe, bei irgendwelchen anderen beruflichen Dingen oder sie waren einfach nur aus. Ihm sollte es egal sein. Den Weg zur Kellertreppe einschlagend, hielt ihn jedoch das Telefon von seiner Unternehmung ab. „Ja?“, meldete er sich, nachdem er dieses schnurlose Ding endlich gefunden hatte. „Genau dich wollte ich erreichen“, ertönte er aus der anderen Seite. „Ian, was ist los?“ Er hatte die Stimme sofort erkannt. Wie auch nicht? Er kannte nur wenige Menschen, die am Telefon sympathisch klangen und Ian war komischerweise eine solche Person. Aber man musste ja erwähnen, dass Ian sich ihm gegenüber etwas aufgetauter verhielt, als es noch der Fall war, als sie sich kennen gelernt hatten. „Kannst du runter kommen?“ „Nach Miami?“ „Ja…“ „Warum? Ian, was ist los?“ „Es ist wichtig, reicht das?“ „Du klingst ein kleines Bisschen gehetzt.“ „Ich brauche deine Hilfe. Wirklich.“ „Du brauchst meine Hilfe? Wofür?“ Er ließ sich auf das Sofa sinken und lehnte sich zurück. Irgendwie verstand er das nicht. Heute verstand er ohnehin gar nichts. Es verwirrte ihn alles und gerade Ian schaffte es, seinen Speicher vollkommen zu überlasten. „Kannst du nun runter kommen, oder nicht?“ „Ich – also theoretisch hätte ich Urlaub.“ „Nichts theoretisch. Nathan, bitte… Beweg deinen Arsch zu mir.“ Nathan hatte gar nicht die Möglichkeit zu widersprechen. Ian gab ihm seine Adresse durch, ohne dass er dazwischen kam. Und nein sagen konnte er nicht. Es musste ja irgendwas passiert sein, dass gerade Ian ihn anrief und bat zu ihm zu kommen. Ian sagte sonst niemals Bitte. Er verlangte es einfach. Außer jetzt… „Ich pack kurz ein paar Dinge zusammen …“ „Wie lange brauchst du von Orlando nach Miami Beach?“ „Ohne mich an die Geschwindigkeitsbegrenzung zu halten oder mit?“ „Is’ mir egal, wie lange brauchst du?“ „Gib mir dreieinhalb Stunden und ich bin bei dir.“ „Danke…“ „Kein Ding. Bis gleich.“ Das Telefon wurde einfach auf den Couchtisch gelegt, ehe er aufsprang und in sein Zimmer hetzte. Die Tasche wurde gepackt, mit den nötigen Dingen die er brauchen würde für eine Nacht. Denn davon ging er aus, dass es nur eine Nacht sein würde. Eine Nachricht schrieb er nicht, eilte nur zu seinem Auto und fuhr los. Auf der Fahrt nach Miami Beach telefonierte er mit Mike. Es war abzusehen, dass der Screamer nicht gerade erfreut über die plötzliche Abreise reagierte, aber er zeigte Verständnis. Nicht zu letzt, weil jener sich wohl auch Sorgen zu machen schien, was Ian betraf. Nachdem das Telefonat erledigt war, konzentrierte Nathan sich ausschließlich auf die Straße, damit er bei einem Überholmanöver nicht in einen Truck oder etwas anderes raste, damit er nichts falsch machte. Obwohl die Geschwindigkeitsüberschreitungen wohl jedes Mal ein Fehler waren. Aber aus einem Grund war es ihm egal. Was wusste er denn schon, was Ian wieder für Scheiße am Hals hatte? Hatte Vincent eigentlich auch Leute unten in Miami? Wenn ja, dann hätte Ian nichts zu lachen, wenn er allein war. Mit Sicherheit nicht. Kurz schüttelte er den Kopf. Nein. Damit hatte es bestimmt nichts zu tun. Es durfte einfach nicht so sein. Aber was denn doch? Was sollte er dann machen? Was erwartete ihn unten in Miami? Unzählige Fragen schossen durch seinen Kopf, während er hoffte, dass die Milenangaben auf den Schildern kleiner werden würde. Es kam ihm vor, als würde die ganze Zeit auf der Stelle fahren, als würde er nicht vorankommen. Es war ein Fehler, gerade Nathan zurufen. Ich weiß das. Aber er ist der einzige, dem ich vertrauen kann. Ich weiß auch, dass das eine schwachsinnige Annahme ist. Man kann eigentlich niemandem vertrauen. Aber … aber ich will ihm vertrauen. Vor allem, da ich für ihn dasselbe tun würde. Klingt vielleicht komisch, das gerade von mir zu hören, aber ich würde alles tun. Ich kenne seine Story, er die meine. Wir sind uns so ähnlich, dass ich einfach nicht anderes tun konnte, als ihn anzurufen. Ich habe gehofft, dass er ans Telefon geht. Ich habe wirklich gebetet. Samantha konnte ich nicht anrufen. Sie war schon zu oft für mich da gewesen. Das kann ich nicht einmal mehr gut machen… Ich lehne mich mit dem Rücken gegen die Badewanne in meinem Bad, lasse den Kopf in den Nacken sinken. Mir ging es selten so scheiße, wie es mir jetzt geht. Alles tut weh, ich habe bestimmt das dritte Mal an diesem Tag meine Kleidung gewechselt, da es einfach nicht aufhört. Ich schwitze, dabei ist mir arschkalt. Mir ist schlecht, ohne dass ich etwas essen brauche. Essen – das habe ich schon aufgegeben. Ich brauche es nur sehen, dann krampft sich alles zusammen und ich hänge erneut über der Toilettenschüssel. Mein Kopf fühlt sich an, würde er platzen und ich kann nicht mehr. Meine Lider schließen sich, ich atme tief durch. Wie lange ist es her, dass ich ihn angerufen habe? Bestimmt schon zwei Stunden. Er hat gesagt, er braucht nicht lange… nur dreieinhalb Stunden. Nur noch anderthalb Stunden, sage ich mir selbst. Immer und immer wieder. Krampfhaft versuche ich mich hochzustemmen, scheitere bei den ersten Versuchen kläglich und stehe irgendwann zittrig auf meinen Gräten. Scheiße… Die Welt um mich herum beginnt sich zu drehen. Meine Hand fasst das Waschbecken, an dessen Rand ich mich gar festkralle und in den Spiegel sehe. Ich könnte in einem Tim Burton Film mitspielen. So grauenvoll wie ich aussehe. Blass, dabei wohne ich da, wo die Sonne beinahe den ganzen Tag nichts anderes tut, als vom Himmel zu brennen. Augenringe, so grau und dunkel, dass ich selbst Angst bekommen würde, würde ich dieses beschissene Bild von mir selbst nicht kennen. Ich kenne es bereits. Es ist erst ein paar Jahre her. Erst… Und jetzt? Wie bin ich hier überhaupt wieder hingekommen? In diesen Zustand von Leben? Es lief alles gut. Ich hätte nicht zurück nach Orlando gehen sollen. Ich hätte … Jeder Schritt ist ein Fehler. Es ist einfach ein Fehler… Ich hätte Vincent nicht auf den Schwanz treten sollen. Ich hätte … mich einfach nicht mit ihm anlegen sollen. Jetzt habe ich den Salat. Erst zusammengeschlagen, jetzt rückfällig. Scheiße verdammt! Meine Faust hebt sich, schlägt gegen dieses Ding, das sich Spiegel nennt. Er bricht in tausend Teile, fällt in das Waschbecken, auf den Boden und einige Splitter bleiben in meiner Hand stecken. Ich sehe das Blut. Das einzige, das nicht blass und fahl aussieht. Komisch eigentlich… Ich verliere den Halt am Becken, gerate ins Taumeln und stolpre unbeholfen aus meinem kleinen Bad, durch den kleinen Flur. Meine Wohnung ist nicht gerade groß, aber gerade jetzt kommt es mir vor, als würde ich in einem Luxusapartment wohnen. Ich weiß nicht, wie spät es ist, als ich die Tür höre. Sie klickt, als sie in das Schloss zurück fällt. Dann höre ich, wie etwas zu Boden geht, gefolgt von einem: „Ian!“. Mein Name dröhnt in meinen Kopf und ich brauche ein paar Minuten um zu realisieren, wer da ist. Nathan. Er ist hier. Endlich… Gott, ich hätte es nicht länger allein ausgehalten. Hat er … ja, er muss den Schlüssel gefunden haben. Gehetzte Schritte, er kommt direkt auf das Wohnzimmer zu. Die Tür geht auf, er steht im Rahmen und sieht auf mich hinab. „Ian was is-“ Er bricht ab und kommt auf mich zugehetzt. Ich sitze auf dem Boden vor meinem Sofa, sehe zu ihm hinauf und erschrecke kurz, als er sich einfach auf die Knie fallen lässt. Es knackt so grauenhaft. „Du siehst grauenhaft aus.“ „Ich weiß“, bringe ich hervor. Und wieder wird mir schlecht. Sein Blick fällt auf meine Hand, die ich auf meinem Bauch liegen habe. Das Blut ist bereits angetrocknet, nur noch die kleinen Splitter stecken in der Haut. Ich kann sie nur nicht rausziehen, da meine Hände so erbärmlich zittern. Ohne Worte, als würde er mich sofort verstehen, schafft er es, mich auf die Beine zu bekommen und trägt mich beinahe ins Bad. Wieder vor der Wanne sitzend, kniet er sich vor mich, nachdem er im Schrank das gefunden hat, was er suchte. Er spricht nicht mit mir. Er sieht mich auch nicht direkt an. Aber das braucht er nicht. Ich weiß, dass er da ist und das reicht. Angestrengt verfolge ich die Pinzette, mit der er die Splitter aus der Hand zieht, diese auf ein Stück Toilettenpapier legt und mir nachher vorsichtig das Blut von der Hand wischt. Das ist schon das zweite Mal, dass er mich versorgt. Ich sollte es nicht zur Gewohnheit werden lassen, wirklich nicht. Desinfektionsspray. Ich merke von dem Ganzen gar nichts. Zumindest kommt es mir so vor. Es tut kein bisschen weh … „Wie kommts?“, fragt er nur ruhig nach, steht auf, lässt mich sitzen. „Zu viele Freunde“, bringe ich nur heraus und hänge dann schon wieder über der Toilettenschüssel. Ich fühle mich mit jedem Moment schlechter. Hochwürgend, was nicht da ist, verkrampft sich einfach alles in mir. Die warme Hand, die mir über den Rücken streicht, gibt mir wenigstens ein bisschen Rückhalt. Er muss es nicht tun, dass weiß er genau. Aber dennoch ist er wirklich hier. Ich kann es immer noch nicht wirklich fassen. „Und du willst das allein durchziehen?“ „Deswegen hab ich dich angerufen“, sage ich, nachdem ich mir den Mund angewischt habe und mit seiner Hilfe auf die Beine zurückkomme. Es wundert mich kein bisschen, dass er weiß, was los ist. Er kennt das Milieu bestimmt genau so gut wie ich, nur nicht bis ins Detail. Ich gehe davon aus, dass er nicht in einer Drogensucht gesteckt hat… Hoffentlich. Denn erwähnt hat er es nicht. „Und du meinst, dass ich dir dabei zusehe, wie du dich alle fünf Minuten übergibst, aussiehst, wie eine Leiche aussiehst und kaum mehr aufnahmefähig bist?“ „Ich habs einmal geschafft.“ Ja, mit Samanthas Hilfe. Sie war damals der Anker gewesen. Mein Licht am Tunnel. Nach Amanda, nach dem ganzen Scheiß – nach einfach allem. Und nichts ist drauß geworden. Egal, wie sehr ich mich nachher angestrengt habe, sie für mich zu gewinnen. Und jetzt ist es Nathan, an den ich mich klammre. Er ist der erste, der sich wirklich um mich sorgt. Mehr oder weniger, wenn man es mal so betrachtet. Seine Handynummer habe ich immerhin immer noch nicht. Aber er ist hier. Und ich brauche etwas, an das ich mich halten kann, damit ich weiß, dass ich nicht allein bin. „Scheiß Heroin, was?“ Woher … Verwirrt gleitet mein Blick auf meine Arme. M-hm. Klasse. Ja. Ich bin der Held dieser Geschichte. Ich bin es wirklich. Ich bin nur zu einem schwachen Nicken in der Lage. Zwei Tage sind es bereits, bis ich endlich zum Hörer gegriffen habe. Allein bekomme ich es nicht hin. Zu groß ist die Versuchung im Moment – das Wissen, dass da noch was in meiner Kommode liegt. Willenskraft reicht da nicht aus. Wirklich nicht. Und es macht mich fertig. Sein Arm gleitet meinen Rücken herunter, während wir noch im Bad stehen. Kurz geht er etwas in die Knie, ich spüre seinen anderen Arm in meiner Kniekehle, dann hebt er mich an und mir wird von dem plötzlichen Positionswechsel bereits wieder übel und schwindlig. Ich kralle mich verzweifelt an ihn, schließe die Augen und finde mich wenig später in meinem Bett wieder. Stöhnend rolle ich mich zur Seite. Das geht doch so nicht. „Wo hast du noch was?“ „Kommode.“ „Sonst noch wo?“ „Nein.“ „Ian!“ „Nein, wirklich nicht… nur noch in der Kommode…“ Ich höre, wie die Schubladen nacheinander aufgezogen werden, ehe es raschelt, klimpert und alles aus eben dieser Schublade zusammengesucht wird. Das Tütchen, die Spritzen – alles. Ich bin so erbärmlich! Nathan verlässt den Raum, seine Schritte werden immer lauter, obwohl sie leiser werden müssten. Es ist einfach nur schrecklich. Meine Hand beginnt zu pochen und ich fühle mich, als wäre ich ein einziger Schmerz. Ich will das nicht mehr. Ich rolle mich zusammen, mache mich so klein, wie es nur geht und versuche, an etwas anderes zu denken. Neben mir gibt es das leise Geräusch, das entsteht, wenn man einen Eimer auf dem Boden stellt. Dann senkt sich die Matratze neben mir, er dreht mich auf den Rücken zurück, hilft mir, mich aufzusetzen. Nathan zieht mir das Shirt über den Kopf, lässt es auf den Boden fallen, öffnet dann meinen Gürtel und hilft mir aus der Jeans. Dann steht er wieder auf, kramt in meinen Schränken nach, bis er sich wieder zu mir setzt. Ich quäle mich mit seiner Hilfe in das Top und in die Jogginghose, bleibe dann aber halbtot im Bett liegen. „Willst du das wirklich durchziehen?“ „Ja.“ „Es gibt professionelle Hilfe, die das alles ein wenig erträglicher macht, Ian.“ „Vergiss die Scheiße. Das sind alles Wichser!“, fluche ich vor mich hin. Ich brauche keine Hilfe von Ärzten. Ich brauche keine Ersatzdrogen. Ich brauche einfach nur jemanden, der mir etwas hilft. Aber keinen Arzt. „Sht, sht, sht“, macht er nur, dann spüre ich etwas Kaltes, das auf meiner Stirn landet. „Ok.“ Ok? Mehr nicht? Nur Ok? „Dann bringen wir das zusammen hinter uns.“ Das war der Satz, den ich hören musste. Die Nacht über tat Nathan kein Auge zu. Natürlich war es abzusehen gewesen, aber dennoch war es hart. Ian schlief kaum, er warf sich von einer Seite zur andere, wachte immer wieder auf und übergab sich im viertel Stunden Takt. Erst gegen fünf Uhr in der Früh schien es ruhiger zu werden. Langsam und leise erhob sich Nathan zu dieser Zeit aus dem unbequemen Bett des Älteren, streckte sich. Wie man auf diesem Brett von Matratze nächtigen konnte, würde er wohl nie verstehen… Wenn Ian wieder klar in der Birne war, sollte er ihn mal fragen, ob er noch alle Latten am Zaun hatte… Auf so etwas zu pennen… Mit einem Seufzten wandelte er selbst einem Geist ähnlich mit dem Eimer ins Bad, leerte diesen aus und brachte ihn erneut ins Schlafzimmer, stellte ihn auf den Boden. Eigentlich war er nicht der Typ dafür. Er pflegte Kranke und Verletzte nicht. Dazu war er eigentlich nicht in der Lage. Vor allem auch, weil er eigentlich Erbrochenes nicht sehen konnte, ohne dass ihm selbst auch ganz anders wurde. Wie er das hier machte, war ihm selbst irgendwie nicht klar. Vielleicht lag es an dem ganzen Hintergrund, was auch immer. Kurz warf er einen Blick auf den im Moment ruhig Schlafenden, ehe er die Scherben im Bad beseitigte und schließlich in die Küche schlich und sich erst einmal einen Kaffee fertig machte. Immerhin war es ordentlich in der gesamten Wohnung, sodass er alles fand, was er suchte. Es war erstaunlich, aber jedes Mal überraschte es ihn. Er wusste, dass Ian allein lebte und dass es auch keine Frau in seinem Leben gab, die ihm hinterher räumte und dennoch sah es hier aus, wie geleckt. Ok, bis auf so ein paar kleine Schönheitsfehler, aber die waren angesichts der Tatsache, in welchem Zustand sich Ian selbst befand, einfach zu übersehen. Mit der Tasse in der Hand lehnte er sich an die Anrichte, richtete seinen Blick aus dem Küchenfenster und blickte in gar finstere Nacht. In einigen Fenstern brannte bereits Licht, aber die meisten waren noch abgedunkelt. Kein Wunder. Es war auch erst irgendwas kurz nach fünf. Wer auch immer um diese Zeit schon wach war, hatte entweder eine Schlafstörung oder aber befand sich in einem der undankbarsten Jobs der Welt. Und er stand nun auch hier. In einer fremden Wohnung, in einer fremden Küche, in einer fremden Umgebung. Das war nicht normal. Nicht um die Uhrzeit – nicht im Urlaub. Was mache ich hier überhaupt?, dachte er sich, fuhr sich mit den Fingerspitzen durch die Haare und nahm einen Schluck des schwarzen Kaffees. Es war ihm ein Rätsel. Er hatte soviel gehört, über einen solchen Entzug. Es war nicht gerade leicht. Anfangs war es schwer, dann würde es noch schwerer und dann wieder leichter. Die eigentliche Aufgabe war es ja, clean zu bleiben. Eigentlich, so dachte Nathan, war es für Ian nicht schwer gewesen. Er hatte keinen Kontakt zu solchen Leuten gehabt. Und, so wusste er, war der Ältere auch schon eine Weile clean gewesen. Bis er halt nach Orlando kam und hier her zurückkehrte. Wie bist du hier nur dran geraten, Ian, überlegte er, rieb sich müde über die Augen. Wie lange es dauern würde, war ihm unklar. Er hoffte einfach nur, für sich und für Ian, dass alles gut ging. Er wollte nicht, dass irgendwas schief lief und Ian nachher im Leichensaal endete. Solche Fälle hatte es ja auch bei einem solchen Entzug gegeben. Vielleicht war es alles ein Fehler. Ein großer Fehler… Vielleicht. Aber das wusste er ja nicht. Wie auch? Noch lief es den Umständen entsprechend gut. Langsam wurde die Stille jedoch unterbrochen. Schleichend kam Ian über den Flur geschlappt, betrat die Küche. Er sah grauenvoll aus. Das Top war durch und durch verschwitzt, die braunen Haare klebten ihm im Gesicht und die Hose saß auch nicht mehr wirklich an Ort und Stelle. Von dem Gesichtsaudruck einfach mal abgesehen, wirkte Ian eher wie jemand, der gerade aus der Anstalt entlaufen war. „Ich hab’n Kopf wie’n Rathaus“, war das erste, das ihm müde und vollkommen fertig entgegen gefaucht wurde. „Bekomm ich’ne Aspirin oder so was?“ „Vergiss es“, kommentierte Nathan das nur eiskalt. „Leg dich wieder hin.“ „Meine scheiß Beine tun weh.“ „Dann setz dich oder leg sie hoch.“ „Du bist’n dreckiges Arschloch, Nathan.“ „Du wolltest mich hier haben.“ „Als Hilfe, ja. Nicht als Foltermeister.“ „Gerade du solltest es besser wissen.“ Es folgte eine Weile Stille, in denen sie sich einfach nur ansahen. Stur entgegenblickten. Ian forderte, Nathan hielt dem entgegen. Es war egal, was Ian tun würde. Dass dieser junge Mann vor ihm aggressiv werden würde, war abzusehen. Bei Ian galt das Sprichwort: Stille Wasser sind tief. Und es stimmte. Hinter dieser eiskalten Mauer, die der Ältere vorher hatte, steckte so viel mehr. Diese coole Art war einfach nur ein Panzer gewesen. Nathan hatte es geschafft, diesen anzubrechen, sonst wäre er nicht hier. Soweit war das bisher schon einmal klar. Und wenn er eines gelernt hatte, aus den Erzählungen seines damaligen Umgangs, dann war es, dass jeder anderes reagierte. Mal waren es ganz ruhige Vertreter, die es über sich haben ergehen lassen, jede Hilfe annahmen und dann waren da Leute wie Ian. Ruhig nach außen, aber sobald es auf solche Dinge wie diese hier hinauslief, mutierten sie zu den geborenen Arschlöchern der Welt. Und Nathan kam damit klar. Es war ja nicht so, als wäre Ian vorher die netteste Person gewesen. Eher dass Gegenteil – wie erwähnt. „Hast du’s den Abfluss herunter gespült gestern?“ „Das Klo runter, ja.“ „Oh man.“ Ian fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht, ehe er sich wirklich setzte. „Wirklich?“ „Ja. Habe ich. Gibs doch zu. Du hast dir die letzten Tage trotzdem immer wieder einen Schuss verpasst?“ „Nein … ach, was weiß ich…“ „Damit ist jetzt Schluss. Entweder du ziehst es durch ohne zu jammern, oder aber ich bewege meinen Arsch in mein Auto und fahre zurück nach Hause und genieße meinen Urlaub.“ Er würde, was das angeht, einfach hart bleiben. Das ging nicht anders. Und dieses Gejammer wollte er nicht. „Nathan … es geht mir beschissen.“ „Du bekommst keine Medikamente von mir, Ian. Vergiss es. Ich weiß nicht, was du dir da alles in die Vene gejagt hast. Denkst du etwa, ich riskiere, dass du mir krepierst? Vergiss es.“ Seine Tasse auf die Anrichte stellend, nahm er eine weitere vom Harken und füllte diese mit Kaffee. „Trink erst einmal was.“ „Ich kann nicht – mir wird jetzt schon schlecht…“, kommentierte der Brünette die Worte, musterte die Tasse vor sich skeptisch, ehe er sie etwas von sich schob. „Wasser?“ „Gar nichts, Nathan.“ „Ja, ne. Das ist total klar. Trink die Scheiße, Junge. Ansonsten muss ich mir überlege, wie ich dich zum Trinken bekomme. Scheißdrauf, was es ist.“ „Bier vielleicht?“ „Ja, genau. Daraus machen wir dann gleich dein Hauptnahrungsmittel, was? Und dann kann ich dich nachher einsperren und erneut zum Entzug zwingen, weil du dann auf einmal Alkoholiker bist oder was?“ „So schnell geht das gar nicht.“ „Nein. Das weiß ich selbst.“ „Also warum sagst du es dann.“ „Du versteht mich nicht, oder? Ich mache das hier nicht zum Spaß.“ „Dann fahr doch verdammt noch mal wieder in dieses abgefuckte Kaff Orlando. Werd glücklich da!“ „Nein. Ich bin jetzt hier bei dir.“ „Ich hab dich nicht drum gebeten, wirklich hier zu bleiben.“ „Doch, das hast du getan. In dem Moment, in dem du mich angerufen hast und mich gebeten hast, hier her zu kommen. Und jetzt bleibe ich hier.“ „Du kannst Sammy aber nicht ersetzen.“ „Ich weiß das. Ich bin nicht Sammy. Ich bin nicht deine aus dem Ziel verlorene Ersatz - Traumfrau. Aber ich bin dein Kumpel.“ „Pah. Du bist auch nur einer von diesen vielen Idioten.“ „M-hm, genau. Einer von diesen vielen Idioten“, wiederholte Nathan nur, kam auf Ian zu und hockte sich vor diesen auf den Boden. „Und genau deswegen, weil ich nur einer von diesen vielen Idioten bin, bin ich hier“, erklärte er ihm und legte seine Hände auf Ians Knie. „Du gehst jetzt erst einmal duschen, ich werde gleich einmal in die Stadt gehen. Dein Kühlschrank ist leer bis auf ein paar halbvolle Flaschen und Lebensmittel, die auf Pfiff hören.“ „Wie lange wirst du weg sein?“ „Keine Ahnung. Ich kenne mich hier ja nicht aus…“ „Verirr dich nicht.“ „Werde ich schon nicht. Und jetzt ab mit dir ins Bad.“ Damit erhob sich auch Nathan aus seiner hockenden Position. Um halb neun verließ er dann das Haus und versuchte, den nächsten Supermarkt zu finden. Es dürfe ja nicht so schwer sein, oder? Supermärkte gab es schließlich überall wie Sand am Meer. Suchend wurde er fündig, nachdem er gut eine viertel Stunde durch die Stadt gefahren war. Ein wenig komisch war ihm dennoch. Er wollte Ian nicht zu lange allein lassen und vor allem wusste er nicht einmal, was ihn hier alles erwarten könnte. Wer weiß, was und wer in den Gassen lauerte? Wenn das hier an sich alles überstanden war, würde er ins Black fahren und Vincent einen kleinen Besuch abstatten. Natürlich erst, nachdem er Lindsay sicher bei Samantha untergebracht hatte. Er stellte seinen Wagen auf dem Parkplatz ab, stieg aus und ging seinen Weg ins Innere des Ladens. Es war doch wirklich immer dasselbe Schema, das einen erwartete, sobald man durch die Schiebetüren trat. Gelangweilt manövrierte er den Einkaufswagen durch die Gänge, ließ das, was man zum leben brauchte, in eben jenen Wagen fallen und hoffte, schnell wieder hier heraus zukommen. Noch ein paar andere Besorgungen erledigend, ging er die Bürgersteige in der Stadt entlang, schleppte die Tütchen durch die Gegend. Auch wenn er sagte, er würde Ian ohne Medikamente auskommen lassen, konnte er es nicht mit sich selbst vereinbaren, den Brünetten leiden zu lassen. Er wollte einfach nicht, dass Ian litt. Weswegen er die verschiedenen Drogerien abklapperte und Apotheken aufsuchte. Durch die Blume fragte er die Damen hinter dem Tresen nach Medikamenten, die man auch ohne weiteres verabreichen konnte. Bekommen hatte er meistens keine Antwort. Allein deswegen waren es so viele Läden, die er hinter sich brachte. Nur in zweien war er bisher fündig geworden und machte sich nun auf den Weg zurück zu seinem Wagen. Die abgelegeneren Gassen die er dabei durchquerte, hätte er wohl nicht nehmen sollen. Ian meinte immerhin, dass er sich nicht ‚verlaufen sollte’. Und genau das war es wohl, was er meinte. Nachdem er nämlich leider einmal falsch abgebogen war, fand er sich dort wieder, wo er sich auch in Orlando immer wieder gefunden hatte. Diese schäbigen Gassen mit den verruchten Gebäuden, die man lieber nicht betreten würde. Es war zwar helligster Tag, aber dennoch fand man schon die ein oder andere Alkoholleiche im Hauseingang liegen. Stimmen drangen zu ihm durch: Streit, Klagen, Angst. Aber es interessierte ihn nicht. Er hoffte einfach nur, hier schnell heraus zu kommen. Bei seinem Glück würde er früher oder später noch jemanden über dem Weg laufen, den er nicht treffen wollte. Weiter die Gasse hinunter kam er an einer Bar vorbei. Von außen sah das Gebäude normal aus, sogar recht renoviert und ordentlich. Dirty Talk nannte sich das Ganze. Kreativ, dachte Nathan sich und versuchte nicht einmal weiter darüber nachzudenken, was in diesem Gebäude vor sich ging, so bald die Sonne untergegangen war. Als er zurück in die Wohnung kam, die Ian sein eigen nannte, empfing ihn das Geräusch des Fernsehers, leise Stimmen und ebenso ein leises Schnurren, Maunzen. Seine Augenbrauen hoben sich leicht an, während er die Tür mit dem Fuß zurück ins Schloss schob und die Einkäufe dann in den Schränken und ihm Kühlschrank verstaute. Die Packung Kopfschmerztabletten, die er in einer der Drogeriemärkte auftreiben konnte, nahm er gleich mit und ging ins Wohnzimmer. „Du hast wieder ein wenig Farbe im Gesicht. Geht’s dir einigermaßen?“, fragte er, stellte den Fernseher ab und blieb auch gleich vor jenem Gerät stehen. „Es geht. Meine Beine tun nicht mehr weh, die Kopfschmerzen sind nicht mehr ganz so schlimm und meine Übelkeit ist im Moment verschwunden. Und bist du zufrieden, wenn ich dir sage, dass ich den Flascheninhalt der Pullen im Kühlschrank vernichtet habe?“ „Hm, ob ich zufrieden bin“, wiederholte Nathan und warf dem Älteren die Packung zu. „Zwei, Maximum.“ „Wo warst du so lange?“, erhielt er nur die Frage, nachdem der andere die Packung in die Hand nahm und den Rückentext las. „In der Stadt…“ „Hast dich nicht verlaufen?“ „Absichtlich vielleicht. Sagt dir das Dirty Talk vielleicht etwas?“ „Ja, tut es. Wag es nicht, da noch einmal vorbei zu gehen.“ „Hatte ich nicht vor.“ Er bewegte sich aus dem Sichtfeld auf den Fernseher, trat auf die Wand hinter dem Sessel zu. Warum er sich nicht dorthin verwirren sollte, hinterfragte er nicht weiter und ließ es einfach so stehen. Es handelte sich mit Sicherheit nur um eine Absteige, die dem Black nicht sonderlich unähnlich zu sein schien, weswegen er lieber das Thema wechselte: „Woher kommt die Katze?“ Die schwarze Fellkugel, die es sich auf Ians Bauch zusammen gerollt hatte und es genoss, von diesem gestreichelt zu werden, knurrte glücklich vor sich hin und schenkte Nathan keinerlei Beachtung. „Wednesday. Sie lebt bei mir, seitdem ich hier lebe.“ „Ach, Wednesday heißt sie.“ „Ja, nach dem kleinem Miststück aus der Addams Family.“ “Du bist ein Freak.“ „Ich weiß.“ Nathans Blick glitt kurz über seine Schulter, dann auf die Fotos, die in verschiedenen Rahmen an der Wand hingen. Er sah Ians Brüder, seine Mutter und wohl seinen Vater. Er erkannte zwei junge Frauen – wohl seine Schwester. Von der Augenpartie her und auch von der Nase… Dann war da diese Katze – Wednesday. Ebenso Bilder mit Mike, Seth und den Jungs der Band. „Bist du mit denen eigentlich richtig gut befreundet?“ „Es geht… mit David verstehe ich mich recht gut, solange er mich nicht langweilt und nervt. Ansonsten … Mike ist ein guter Kumpel, aber mehr auch nicht. Sie alle wissen nur so viel von mir, wie ich von ihnen – also fast gar nichts.“ Nathan nickte, ließ seinen Blick erneut über die Wand gleiten, sah ein paar gerahmte Bilder von Samantha. Unter anderem auch ein paar Bilder, auf denen Sammy noch wesentlich jünger aussah. „Wann war das?“ „Als ich noch in Orlando bei meinem Vater gewohnt habe. Ein paar Jahre bestimmt schon.“ „Gott, wie sie da noch aussieht…“ „Niedlicher. Damals war sie wohl irgendwie sechzehn gewesen oder so etwas in der Art.“ „Hm … hast du sie in letzter Zeit mal wieder gesehen?“ „Nein. Ich habe mich auch nicht bei ihr gemeldet. Wegen dieser Sache.“ Ian fuhr sich mit der Hand über sein Gesicht, seufzte. Das hörte Nathan, sah es auch durch die Gläser der Bilder. „Sie war einmal dabei gewesen – damals war es schlimmer gewesen. Ich wollte nicht, dass sie es mitbekommt.“ „Hm…“ Sein Blick wanderte weiter. Auf einem weiteren Bild erkannte er Amanda. Damals hatte sie noch lange blonde Haare. Als er sie das letzte Mal sah, war sie hellbrüntt und hatte einen kurzen Bobschnitt getragen. Sie war eine solch schöne Frau, auch jetzt noch… Daneben erkannte er ein ‚Familienbild’ im engeren Sinne. Amanda, Ian und ein kleines brünettes Mädchen mit einem glücklichen Lächeln. „Cassy, nehme ich an“, sprach er es an und drehte sich wieder zu Ian um. „Ja, als sie vier war.“ „Sie war wirklich von dir?“ „Was soll das denn heißen?“ „Sie ist viel zu hübsch um von dir sein zu können.“ „Ha, ha“, kam es leicht angepisst von Ian zurück. „Das war echt mies, Nath.“ „Sie wär neun, oder?“ „Ja… wäre sie. Sie hätte im August Geburtstag gehabt. Sie mochte Schmetterlinge und liebte diesen Kinderfilm Däumeline. Du glaubst nicht, wie oft ich den sehen musste. Alle zwei Tage, bevor sie ins Bett musste… Amanda mochte lieber König der Löwen sehen. Ich musste mir also erst Däumeline ansehen und dann König der Löwen.“ „Schwer mit zwei Frauen, was?“ „Ich hätte gern noch einen Sohn gehabt. Meinetwegen auch noch eine Tochter. Aber … nun ja…“ „Das hat dich mitgenommen, oder? Ich meine, so richtig?“ „Was denkst du? Es hat Amanda in die Nervenklinik getrieben und mich in die Szene… Ich weiß nicht, normalerweise bin ich nicht so anfällig für diesen Gruppenzwang. Nur damals war es so, dass Vincent eine unheimliche Macht hatte, da ich auch noch angeschlagen und völlig fertig war…“ „Verständlich.“ Nathan setzte sich, lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und sah den Älteren vor sich an. „Wie bist du dieses Mal daran gekommen?“ „Ich bin von Orlando hier her zurück, zwei Tage später war ich im Dirty. Es war eigentlich auch nicht meine Bar, die ich gern besuche. Aber es hat mich dahin gezogen. Gibt den besten Vodka da und ich hatte das Bedürfnis, mir einmal wieder richtig die Birne wegzudröhnen. Die Dinge, die in Orlando passiert sind, ich wollte sie wegspülen. Irgendwie muss es dann passiert sein. Ich weiß nur, dass ich mich irgendwann bei einem der Dealer wiedergefunden hatte. Grauenvoll… Ich hatte nie Angst vor Spritzen, das war wohl ein Fehler… Dinge, vor denen ich Angst habe, ziehe ich nicht durch.“ „Ist das so?“, fragte Nathan nach, spürte den Blick Ians drohend auf sich. „Ich erzähl doch keine Scheiße, Arschloch.“ Dafür hatte Nathan jedoch nur ein müdes Lächeln über. „Schmeiß dir eine Pille in den Kopf, damit du mir hier ruhiger wirst. Auf wüste Beschimpfungen habe ich keine Lust. Ich geh Essen machen.“ „Du kannst nicht kochen.“ „Habe ich das jemals behauptet, dass ich nicht kochen kann?“ „… Nein?“ „Richtig. Also sei still.“ Die nächsten Tage wurden zu Mal zu Mal erträglicher. Woran es lag, wusste Nathan nicht so genau. Es war allgemein irgendwie merkwürdig. Als Ian so zusammengeschlagen vor seiner Haustür saß und zwei Tage quasi bei ihm geschlafen hatte, war es anders gewesen, als es jetzt ist. Und das lag nicht allein an dem Umstand, dass sich Ian in einem Entzug befand. Nein. Ganz sicher nicht. Es war einfach anders. Die Nächte wurden ruhiger, Ian weigerte sich nicht mehr, etwas zu essen. Immerhin musste er es nicht gleich wieder wegbringen. Er bekam mehr und mehr Farbe ins Gesicht zurück. Nur die leichten Ausraster hatte er immer noch nicht hinter sich. Ebenso wechselte er des Öfteren am Tag die Kleidung, da diese ewig vollkommen durchgeschwitzt war. Vor allem nachts. Aber es normalisierte sich im Gegensatz zu allem, was Nathan bisher gehört hatte, relativ schnell. Vielleicht lag es daran, dass diese Abhängigkeit nicht ganz so lange gedauert hatte und Ian gewillt war, es zu beenden, weil er wusste, dass es ihm nichts brachte. Was wusste er schon? Er konnte nicht in Ians Kopf gucken und das wollte er auch gar nicht, wenn er ehrlich war. Das einzige, was wirklich merkwürdig war, war, dass Ian so gut wie gar nicht mit ihm sprach. Nur morgens, dann während des Essens und ansonsten schwieg er sich beharrlich aus. Es war Donnerstagabend, eine Woche die Nathan hier verbracht hatte, war beinahe beendet. Freitag könnte er noch bleiben, Samstag auch noch, danach müsste er wieder nach Orlando fahren. Es gab eben Dinge, die ihn an diese Stadt banden, nicht zu letzt seine Schwester, sein Job, Samantha… Die Couch, seit einer Woche ausgeklappt und nicht wieder eingeklappt, war ordentlich aufgeräumt und Wednesday hatte es sich in der Mitte der beiden jungen Männer bequem gemacht, ließ sich von Nathan kraulen, während sie drei die Nachrichten verfolgten, die wie erwartet nichts Interessantes beinhalteten. Wie auch? Es passierte ja nichts. „Gibst du mir bitte die Decke?“, fragte Ian. Seine Stimme klang müde und seine Augen verrieten die Müdigkeit nur zu deutlich. Ohne ein Wort zu verlieren, reichte Nathan ihm die violette Sofadecke rüber, die auch gleich ausgefaltet und um die Schultern geschlungen wurde. „Geht’s dir nicht gut?“ „Ein wenig kalt… aber es geht.“ „Dann geh doch ins Bett. Du siehst müde aus, ist mit Sicherheit nicht gerade fördernd, damit du wieder vollkommen auf die Beine bekommst.“ „Das Schlimmste haben wir ja hinter uns. Du kannst am Samstag beruhigt wieder nach Hause fahren…“ „Sicher? Willst du nicht mitkommen?“ „Was? Nein“, kam es humorlos lachend von Ian zurück, der die Beine an den Körper zu und die Arme um diese schlang. „Diese Stadt werde ich erst einmal meiden… Vor allem habe ich eine Tanzschule zu leiten – irgendwo muss ich ja mein Geld her bekommen…“ „Du willst in dem Zustand arbeiten gehen?“ „Es ging auch, als ich drauf war. Nicht gerade gut, aber es ging… Man hat es nicht gemerkt.“ „Hm, ein wunderbarer Schauspieler.“ „Gebe ich nur zu gern zurück.“ „Wie kommst du darauf?“ „Wenn du nachts geschlafen hast, war ich manchmal wach, habe eine geraucht, wenn ich nicht schlafen konnte. Die Küche liegt genau gegenüber vom Wohnzimmer…“ „Und? Woher kommt deine Schlussfolgerung?“ „Du hast mir so viel erzählt, als ich bei dir in Orlando war, Nath. So viel. Und wenn du schläfst, erzählst du noch viel mehr, glaub mir. Ich habe schon längst hinter deine Maske geschaut.“ „Ich habe dir ja auch einen Blick dahinter gewährt.“ „Aber noch lange nicht alles.“ „Wir stehen uns nicht nahe genug, damit wir beide die Vorhänge herunterlassen, Ian. Merk dir das.“ „Nein?“ „Nein“, gab Nathan nur als Antwort. Es folgte ein Nicken des Älteren, dann herrschte eine Weile Stille zwischen ihnen. Irgendein Actionfilm lief im Fernsehen an, Wednesday verzog sich ins Schlafzimmer und Ian fielen mehr und mehr die Augen zu. Jedoch einschlafen tat er nicht. „Die Sache macht dir zu schaffen“, begann der Brünette und zuckte leicht die Schultern. „Du redest im Schlaf darüber.…“ „Sorry.“ „Schon ok. Hast mich ja nicht geweckt oder so… es ist nur interessant, was du von dir gibst… Vor allem, wenn du deinen Vater dabei hast.“ „Wie?“ „Vor zwei Tagen hast du irgendwas von deinem Vater erzählt. Du hast einen unheimlichen Wortschatz, was Flüche anbelangt… Und dann dein Bruder… Hast du davon eigentlich mal wieder etwas gehört?“ „Nein. Lindsay geht nicht mehr an ihr Handy, ich habe es des Öfteren probiert – erfolglos, leider… Richard hats ihr wohl verboten und eine neue Handynummer besorgt.“ „Geile Familie, wirklich. Da ist meine ja beinahe Gold wert gegen… Mein Dad ist war auch’n Arsch, aber deiner topts echt.“ „Deiner hat dich ja wohl auch verprügelt.“ „Manchmal… aber er hatte auch Grund dazu. Irgendwie hat er’s immer begründet.“ „Trotzdem ist das nicht ok.“ „Ich habs halt beschissen erwischt. Eine Hobbyhure als Mom, einen Irren als Dad. Also was solls? Meine restlichen Geschwister hatten es halt nur mit der Mom falsch getroffen. Die Väter sind alle recht ok.“ „Wirklich?“ „Ja. Die meisten kenne ich ja. Nicht gut, aber ich kenne sie.“ „Wenn du das sagst“, kam es nur ruhig von Nathan zurück, der nun auch die Beine anwinkelte, sich an die Rückenlehne sinken ließ. „Würde es dich stören…“ “Hm?“ „Wenn ich heute hier pennen würde?“ „Warum?“ „Weil ich mir den Arsch abfriere. Es wird meiner Meinung nicht warm im Bett und selbst jetzt friere ich trotz Decke, als würde ich in der Arktis campen…“ Perfectly Hopeless Kapitel 15: *mir gehen die Titel aus* ------------------------------------- „Wenn’s denn sein muss“, schmunzelte Nathan vor sich hin. „Aber nur, weil ich weiß, dass du’s bist.“ Bei anderen – außer bei seinem eigenen Bruder – hätte er wohl nein gesagt. Er hasste es, mit einem anderen das Bett zu teilen. Es störte ihn ungemein. Aber er machte bei Ian eine Ausnahme. „Und nur so lange deine Finger bei dir bleiben.“ „Ich hab gar kein Interesse an dir, Nath…“, kam es nur zurück. „Nein?“ „Nein…“ „Darf ich dich jetzt mal was fragen?“, wollte Nathan wissen und sah den Älteren an. „Hm? Nur raus damit.“ „Was war das damals mit den Typen?“ „Experimentelle Phase. Ich weiß nicht genau, wie ich darauf kam. Weißt du, Amanda war weg und Samantha eine Frau, die niemals meine sein konnte. Ich war verzweifelt, dachte, Frauen sind nicht meins. Also wechselte ich das Ufer… Für kurz.“ „Und?“ „Alexej war ganz ok. Er war nett, fürsorglich – so die typische Klischeeschwuchtel, wenn du verstehst, was ich meine.“ Nathan nickte nur darauf. Also jemand, der sich verhielt wie eine Frau, sich gern kümmerte und gern putzte. Alles klar, dachte Nathan. Das hätte er Ian dann ja nicht zugetraut. „Hielt aber auch nicht lange. Ich war recht schnell genervt von seiner Art. Mike ist an seinen schlimmsten Tagen purer Luxus gegen Alexej… Und dann war da Jason. Er ist oder war, was auch immer, Kfz-Mechaniker.“ „Der, der dir mit dem Porsche geholfen hat?“ „Richtig, der. Er war in etwa so drauf, wie du. Recht cool, lässig und immer gechillt in seiner Art. Muss wohl am Beruf liegen oder so. Unter stress lief er zu Hochtouren auf und hat sich immer um mehrere Dinge gleichzeitig kümmern können. Nur hat er auch nichts von dem mitbekommen, was mit mir war. In einer Beziehung ist es für mich – so komisch es klingt – wichtig, auf den jeweils anderen zu achten. Jason hat gar nichts mitbekommen. Ihm ist auch nie etwas aufgefallen. In der Beziehung war er eher so der Gefühlsklotz. Ich mochte ihn, kein Zweifel. Aber eher wie einen Kumpel – deswegen wurde es auch nicht mehr als das… Ich bin einfach nicht der Kerl, der sich mit anderen Typen sieht… weißte?“ „Es hieß vor kurzem in Jacksonville noch, du seiest Bi.“ „Gelogen. Das war gelogen… Sorry dafür, aber… Die Wahrheit ist die, die ich dir gerade gesagt habe. Andere können machen, was sie wollen, aber ich bin nicht dafür gemacht, neben einem Kerl aufzuwachen, neben einem Kerl einzuschlafen und das über Monate, Jahre… Nein. Da sehe ich morgens doch lieber ein hübsches Mädchen, das in meinem Armen morgens aufwacht und mich süß anlächelt.“ „Also doch hetero. Puh…“ „Bist’e doch schwulengeschädigt?“ „Seitdem ich bei Mike und Seth wohne? Ja, ich glaube schon. Ich bin so froh, unter Männern zu sein, die sich gern über Frauen unterhalten. Ich genieße die Zeit mit meinen Kollegen richtig – auch wenn mein Ausbilder eine Frau ist… Aber ich habe bei Gott nichts gegen diese Menschen!“ „Habe ich auch nicht gedacht. Aber nach so einer gewissen Zeit weiß man, was man an Kumpels hat, die Frauen hinterher sehen, was?“ „Ja. Ich muss gestehen, ich bin froh, dass du nicht auch noch schwul bist.“ „Hey, man kann Schwule bekehren! Vivian war Jahre mit Dean zusammen, jetzt hat er eine Freundin.“ „Wunder gibt’s immer, Ian.“ „Ein Glück!“ 13. September 2011 Dienstags konnte man in der Regel davon ausgehen, dass einen nichts in der Werkstatt überraschte. Das Komplizierteste an einem solchen Tag war ein Reifenwechsel, wenn überhaupt. Ansonsten blieb es alles an und für sich ruhig. Nur an diesem Dienstag brach die Hölle los. Erst vor wenigen Minuten hatte er einen Abschleppdienst einweisen dürfen. Jetzt stand ein zusammen geschobener Mercedes auf dem Hof. Ein weiterer Wagen wurde von zwei jungen Frauen her geschoben, er sei ihnen doch nur ein paar Meter vor der Werkstatt verreckt, sagten sie. Zudem kam noch jemand mit einer zersplitterten Heckscheibe, ein anderer fragte sich, warum der Wagen so viel Wasser brauchte. Kurz gesagt war Nathan nur am rotieren. Er hetzte von A nach B, versuchte von einem Kunden zum anderen zu kommen, einem Kollegen zu helfen und nebenbei noch mit Cooper zu telefonieren. Und ausgerechnet heute war nur Nicki, sein Kollege und er selbst hier. Ansonsten herrschte hier immer Überbesetzung und heute? Es schien einfach kein Ende zu nehmen. Gerade stand er mit einer Kundin zusammen, klärte mit ihr ab, was an ihrem Wagen gemacht werden musste und was das in etwa kosten würde, als er sein Namenskürzel quer durch die Halle geschrieen hörte. „Einen Moment, bitte“, entschuldigte er sich lächelnd bei der Dame und verschwand aus dem provisorisch eingerichteten Büro in die Werkstatt und sah Nicki mit Lindsay dort stehen. Seine Schwester wirkte schon auf die Entfernung gehetzt und nervös und Nicki sah eher aus, als würde sie gleich Amok laufen. Langsam kam er auf die beiden Frauen zu, kam nicht einmal dazu, ein Wort zu sagen, da seine Schwester ihm gleich zuvor kam. „Endlich finde ich dich!“, sagte sie, völlig außer Atem. „Ich war über all gewesen! Die letzte Woche über habe ich dich gar nicht gesehen! Und die letzten Tage warst du auch nie zu Hause!“, warf sie ihm vor. „Was ist denn?“, fragte er ruhig nach – zumindest versuchte er ruhig zu sein. „Blake-“ Weiter kam Lindsay an dieser Stelle dann aber auch nicht. „Was ist mit ihm?“ „Er – ich wollte dich anrufen. Die ganze Zeit! Aber du bist ja nicht dran gegangen!“, fuhr sie ihn an, war den Tränen nahe. „Was ist mit ihm?“, fragte er noch einmal nach, fasste sie an den Schultern, als sie begann, von einem Fuß auf den anderen zu treten. „Er ist wach, verdammt! Er ist wach!“ Es war wie Slowmotion. Slowmotion und Mute in einem. Die Welt um ihn herum blieb mit einem Mal stehen, er hatte das Gefühl, sein eigenes Herz um einiges schneller Schlagen zu hören und alles um ihn herum war still. So still… Blake – er war wach. Und er erfuhr erst jetzt davon? Erst jetzt! In Miami hatte er sein Handy ausgeschaltet gehabt und dann, als er wieder hier war, hatte er sich in der Sporthalle verkrochen gehabt, neben dem Training hatte er dort die Ruhe gefunden, für die Nachprüfung zu büffeln. Und dabei hatte er dieses Gefühl ignoriert, das er gehabt hatte. Dieses Gefühl, das irgendwas passiert war. „Nicki, streich meine Überstunden weg.“ „Du wirst nicht abhauen, Nathan!“, wetterte seine Ausbilderin ihm hinterher, doch er ignorierte sie. Lindsay fasste derweil seine Hand und zog ihn in Hektik hinter sich her, setzte sich auf den Beifahrersitz des Chevrolets. Nathan steckte nur den Schlüssel ins Zündschloss und sah zu, dass er vom Hof kam. Scheiß auf die Unterbesetzung, scheiß auf die Standpauke, die er so oder so bekommen würde. Alles war unwichtig, was nicht mit Blake zutun hatte. „Nathan, mach dir keine Hoffnungen“, begann Lindsay zögerlich, während sich ihre Nägel in die Polster des Sitzes krallten. „Warum?“ „Er wird dich nicht erkennen… er erkennt niemanden von uns. Wir waren nicht da gewesen, als er vor knapp acht Tagen wieder wach wurde. Wir waren nicht da. Erst als der Arzt uns angerufen hatte und wir dort hin sind … der Schock war so verdammt groß…“, fuhr sie fort, sah ihren Bruder von der Seite her an. „Du siehst grauenvoll aus, weißt du das? Du hast da überall Motoröl und so“, versuchte sie vom Thema etwas abzulenken. „Weißt du wie scheiß egal mir das ist?“ Die eigentlichen knappen dreißig Minuten waren schnell hinter ihnen und es dauerte auch gar nicht lange, bis er beinahe in die Parklücke driftete, die sich am nächsten beim Hospital befand. Schnellen Schrittes bewegte er sich ins Innere, wurde von seiner Schwester eingeholt und in die Richtung geführt, in welcher sich die Station befand, auf welcher Blake nun lag. „Dad ist da…“ „Und?“ Er drückte die Klinke der Tür ohne zu klopfen herunter und betrat das Zimmer. Er sah seine Mutter, seinen Vater und zum Schluss fiel sein Blick auf seinen Zwillingsbruder. Die schmächtige Gestalt in dem großen Bett mit der hellen Bettwäsche. „Raus hier - aber sofort!“, brach sein Vater los, ging auf ihn zu, jedoch wurde er unbeachtet einfach zur Seite gedrückt und Nathan ging näher auf die schwarzhaarige Person im Bett zu, die ihn so überrascht mit den selben blauen Augen ansah, die er selbst auch jeden Tag im Spiegel sah. „Nathan!“, brüllte sein Vater weiter auf ihn ein. Er schien wohl keine Rücksicht auf seinen gerade eben erst aus dem Koma erwachten Sohn nehmen zu wollen. Es schien ihm gar egal zu sein. Hauptsache er war Nathan los. Nur ließ dieser sich kein bisschen von dem Geschrei, den Gebrüll und den fiesen Worten beeindrucken, viel eher blieb er direkt vor seinem Zwilling stehen. Gott, dieses Gefühl konnte man gar nicht beschreiben. Ihn hier lebend zu sehen… „Hey“, kam es nur erleichtert lächelnd von ihm, als er sich auf die Bettkante setzte. „Hey“, wurde von Blake zurückgegeben. Es wurde still im Raum. Sein Vater verstummte, hörte auf zu fluchen… „Gott, du bist wirklich wieder da.“ Er könnte heulen. Wirklich einfach losheulen vor Glück, vor Erleichterung – vor einfach all diesen Gefühlen. Diese Welle… Seine Hand fuhr langsam über die helle Haut der Wange seines Bruders. „Ich hab dich so vermisst…“ Es waren nur Sekunden, die dann folgten. Vorsichtig nahm er seinen Bruder in den Arm, schlanke, gar weiße Finger gruben sich in den schwarzen Stoff des Overalls, den Nathan trug. Verzweifelt? Ängstlich? „Nathan“, flüsterte Blake nur schwach, kaum hörbar. „Ja.“ „Sehen Sie gefälligst zu, dass Sie ihn von meinem Sohn wegbekommen!“, drang dann jedoch die Stimme seines Vaters wieder an Nathans Ohren und er blickte sich leicht um. Dort stand Richard, in Begleitung eines anderen Mannes und einem Arzt. Langsam stand Nathan wieder auf, fuhr sich durch die Haare und blickte seinen Vater an. „Ich gehe nicht“, hielt er an seiner Überzeugung fest. Nein. Niemand würde ihm mehr verbieten können, dieses Zimmer zu betreten, nicht jetzt. Niemals. Langsam kam der bullig gebaute Wachmann auf ihn zu. „Ich würde Sie bitten, mit mir zu kommen“, sprach dieser ihn an. „Nein. Ich werde nicht gehen.“ „Ich bitte Sie, mit mir zu kommen. Sie sind nicht befugt, sich hier aufzuhalten.“ Eine Hand legte sich auf seine linke Schulter. Sein eigener Vater ließ ihn aus dem Krankenhaus entfernen, baute eine Mauer zwischen ihm und seinem Zwilling. Nein, das ging einfach nicht. „Lassen Sie mich los. Ich kann auch allein gehen“, zischte er nur. Die Wut, die sich auf einmal aufstaute, war zu viel. Der Herzenswunsch, jetzt auf seinen Erzeuger loszugehen und diesem seine geballte Faust gegen den Kiefer zu donnern, wuchs mit jedem Moment mehr ins Unermessliche. Und er würde diesem Wunsch noch nachkommen. Spätestens wenn sie alle das Krankenhaus verlassen würden, dann könnten sie seinen Vater gleich hier behalten und mit der Schnabeltasse ernähren. So sehr er sich dagegen gesträubt hatte, sich gegen seinen Vater zu wehren, so sehr würde er es jetzt alles nachholen. „Man läuft sich immer wieder über den Weg, Dad“, spie er ihm voller Hass vor die Füße und wollte sich vom Bett entfernen, als die kühle Hand Blakes die seine umfasste. „Nein“, kam es leise von dem Sitzenden. „Nein.“ „Sehen Sie einen Sinn darin, ihren Sohn hier heraus schaffen zu lassen, wenn er die einzige Bezugsperson Ihres anderen Sohnes zu sein scheint?“, mischte sich nun der junge Arzt ein, der Nathan schwer an diesen Gehilfen House’s erinnerte. Dieser Blonde, der in den ersten Staffeln dabei war. „Ja, sehr wohl.“ „Nein, das sehe ich nicht so. Wenn Sie eine schnelle Genesung Ihres Sohnes wünschen, so sollten Sie auch das tun, was das Beste für ihn ist, finden Sie auch, Mister Jester?“ „Richard“, wisperte seine Mum dazwischen. „Komm Schatz … einen Moment, bitte“, bat sie ihn und schaffte es sogar ihren Mann unter Motzen und Potest aus dem Krankenzimmer zubekommen. „Lindsay, Schätzchen, kommst du?“, fragte sie noch und nahm auch gleich das junge Mädchen mit sich. Auch der Wachmann verließ den Raum, einzig der Arzt blieb und schloss die Tür hinter sich. „Ich würde es begrüßen, wenn Sie die nächste Zeit in etwas pässlicherer Kleidung kommen würden“, lächelte ihn der Arzt an, gab Nathan die Hand und stellte sich als Dr. Richards heraus. Ein Arzt aus Kanada. „Es musste schnell gehen und in der Werkstatt war zu viel los, als dass man da sauber bleibt. Kommt nicht mehr vor.“ Nathan ließ sich zurück auf die Bettkante sinken, verschränkte die schlanken Finger seines Bruders mit den seinen und lächelte diesen kurz an. „Dies hier wäre ein wunderbarer Fall für die Zwillingsforschung…“, begann Dr. Richards mit seiner Rede. „Warum?“ „Ich beschäftige mich schon länger mit Komapatienten, gerade mit Fällen wie Ihren Bruder. Schwere Hirnverletzungen, Gedächtnisverlust … Bisher ist es mir nur zwei Mal untergekommen, dass unter diesen Umständen jemand erkannt wurde…“ „Sie sind auch noch nicht lange Arzt, oder?“ „Nein“, lachte Dr. Richards. „Vier Jahre. Natürlich, da hat man noch nicht so viel erlebt. Aber es ist doch faszinierend, was für ein Band zwischen Zwillingen gesponnen ist… Glauben Sie mir.“ „Hm, kann sein. Dieser Fakt ist mir egal. Sagen Sie mir eher, was nun Tango ist.“ „Tango ist“, lächelte ihm der blonde Arzt entgegen. „ … dass Ihr Zwilling seine eigene Familie nicht erkennt. Er litt beinahe unter Panikattacken, als Ihre Mutter auf ihn zukommen wollte. Er wusste gerade noch, wie er hieß und dann mussten wir ihn auch schon wieder ruhig stellen, da der Besuch Ihrer Familie ihn so angegriffen hatte… das er sich nur langsam gewöhnen konnte, diese Menschen zu sehen.“ „Doch so schlimm…“, murmelte Nathan vor sich hin, richtete seinen Blick wieder auf Blake. Er hatte sich zurück gelehnt, die Augen geschlossen, aber er schlief nicht. „Tragisch, wenn Sie mich fragen… es wird Jahre dauern, bis er alle Erinnerungen zurück hat, sich alles merken kann, bis alles wieder funktioniert.“ „Was funktioniert nicht?“, wollte Nathan wissen, ohne den Blick abzuwenden. „Die linke Hand – er ist Linkshänder, richtig?“ „Ja.“ Ein leises Lachen. „Er ist Linkshänder, im Gegensatz zu mir. Es wird ihn unheimlich nerven.“ „Sie nehmen das recht locker hin, oder?“ „Soll ich mich hinsetzen und heulen? Irgendwas musste ja kommen, das tragischer ist, als Gedächtnislücken. Aber dafür werde ich auch Zeit finden.“ „Wir haben eine erstklassige Ergotherapie im Haus.“ „Er wird ja nicht ewig hier bleiben können…“ „Sie arbeiten, richtig?“ „Ja.“ „Dann können Sie sich nicht nebenbei auch noch um Ihren Bruder kümmern.“ „Ich kann mich vierteilen, wenn es sein muss, Dr. Richards. Ich würde alles für ihn tun. Alles, hören Sie? Und wenn es heißen würde, meinen Job auf Eis zu legen. Das klappt schon. Ich bekomme es auch hin zwischen Miami und hier zu pendeln, da werde ich Blake noch zwischen bekommen…“ „Wichtig ist ohnehin erst einmal, dass es eine Person gibt, die einfach auf ihn zugehen kann. Bemerkenswert, dass Sie wirklich hier reinkommen konnten und er sich von Ihnen hat berühren lassen.“ „Haben die Gedächtnislücken auch was mit dem Sprachzentrum zutun?“ Nathan hatte seinen Bruder ja noch nicht sprechen hören und es konnte ja gut sein, dass auch dort große Lücken geblieben sind… Wenn schon so viel im Gedächtnis fehlte… „Es wird dauern, bis alles wieder einwandfrei funktioniert. Wir sind aber alle erleichtert, dass er wenigstens seinen eigenen Namen aussprechen kann, daher ist es nicht ganz so tragisch, wie man vielleicht meinen möchte…“, erklärte ihm der Arzt vielleicht nicht ganz fachlich korrekt, aber dennoch so, dass er es verstand. „Braucht nur ein bisschen Öl und Starthilfe?“ „Richtig“, schmunzelte der Arzt, schob seine Hände in die Taschen seines Kittels. „Ich lasse Sie dann auch allein… wir sehen uns morgen?“ „Ja … nach meinen Überstunden … Besuchszeit ist doch nicht beendet um sieben?“ „Nein, nein…“ „Gut!“ Dr. Richards verließ das Zimmer, schloss leise die Tür hinter sich und kaum dass dieser weg war, öffnete Blake seine Augen, blickte seinem Bruder entgegen. Jetzt hatte er noch ein Problem mehr. Nein, eigentlich war es kein Problem, immerhin war es Blake – sein Zwilling. Aber es würde noch nicht leichter werden… noch nicht, leider. „Nicht wiederkommen“, flüsterte sein Bruder ihm dann zu. „Nie wieder.“ „Die sind deine Familie…“ „Nein....“ „Du wirst dich an sie erinnern.“ „Bei ihnen…“ „Wohnen?“, harkte Nathan nach und strich mit dem Daumen über Blakes Handrücken. Was folgte, war ein schwaches Nicken. „Wirst du aber müssen…“, versuchte er es ihm sanft zu erklären. Nur stellte es sich als schwerer heraus, als Nathan es gedacht hatte. „Hm…“, kam es kaum hörbar zurück. „Gehst du?“ „Ich muss eigentlich wieder zur Arbeit.“ „Bitte, nicht gehen.“ Nicki würde ihn umbringen, wenn er nicht wieder dort auftauchen würde. Sie würde ihn schlagen, vierteilen und in heißes kochendes Fett werfen! Ihre deutsche, beschissene Pünktlichkeit macht einem das Leben echt schwer. Diese Arbeitseinstellung muss in Europa eine ganz andere sein. Aber auf der anderen Seite konnte er Blake auch nicht wieder allein lassen. Allein unter Menschen, die er nicht kannte. Wenn er heute nach Hause kommen würde, würde er sich erst einmal einen Tagesplan erstellen. Es gab jetzt ein paar Dinge in seinem Leben, die geregelt verlaufen mussten. Er konnte nicht kommen und gehen, wann er wollte. Blake bräuchte in erster Linie erst einmal einen geregelten Tagesablauf, das wusste er bereits. Immerhin hatte er haufenweise Bücher gewälzt, nachdem Blake damals in Koma fiel. Dann war da neben seiner Arbeit das Training. Er hatte Cooper versprochen, die Stunden zu übernehmen, so lange Coop bei seiner Mutter war – seine Mutter hatte einen Herzinfarkt erlitten und war auf Hilfe angewiesen, bis es ihr besser ging. Das verstand Nathan, kein Ding… Nebenbei musste er noch die Arbeit unter den Hut bekommen und Ian musste auch kontrolliert werden. Zwar nur durch Anrufe, aber immerhin. „Ok, ein bisschen kann ich noch bleiben…“ Das klappt schon alles, irgendwie, begann er sich immer und immer wieder zu sagen. Es musste einfach. Eine andere Möglichkeit hatte er nicht. Seine Mutter würde Blake jetzt nur erdrücken. Mit ihrer ganzen Fürsorge, dem ganzen Bemuttern und ihrer Panik, dass ihm etwas passieren könnte. Sie würde ihn damit nur in die Enge drücken. Sein Vater würde ab jetzt beginnen, Nathan nur noch mehr von Blake fernzuhalten. Mit Sicherheit, egal, was Ärzte ihm sagen würden. Und Richard würde dafür sorgen, dass Blake in Watte gepackt werden würde. Es war klar, dass der Kampfsport für Blake gestorben war. Ob es überhaupt wieder möglich war, war eine andere Frage. Es war nur nicht mehr zu verantworten. Und Lindsay? Sie würde genau so anfangen, wie ihre Mutter. Sie war ja jetzt schon wie eine Glucke, die sich um alles und jeden kümmerte. Manchmal fragte sich Nathan wirklich, wie Derek es mit Lindsay die ganze Zeit aushielt. Natürlich mochte er seine Schwester. Sehr, sehr gern sogar. Aber die letzte Zeit war einfach nur anstrengend mit ihr gewesen. Seitdem er ausgezogen war, war es nur noch ein ewiger Kreislauf der Kontrollanrufe, der Besuche … Da war es doch kein Wunder, dass er selbst flüchtete. Und ehrlich gesagt, er hatte Angst. Angst um die ganze Familie, um seinen Bruder besonders. 16. September 2011 Es war kurz vor zehn Uhr am Abend. Aus dem Erdgeschoss des Hauses drangen die Stimmen aus dem Fernseher zu ihm herunter und brachen die Stille hier unten im Keller etwas. Als Nathan gerade runter gegangen war, nachdem er seinen Küchendienst hinter sich gebracht hatte, hatten Mike und Seth selig an einander gekuschelt auf der Couch gelegen. Von dem Stress, den sie vor ein paar Tagen hatten, war rein gar nichts mehr zu sehen. Aber das sollte ja vorkommen – in den besten Beziehungen, oder? Nathan saß derweil gar unbewegt auf seinem Bett, die Ellenbogen auf den Oberschenkeln gestützt, hatte er sein Gesicht in den Händen vergraben. Ian würde ihn schlagen. Sofort – windelweich. Und Nancy würde ihn auch fertig machen, genau wie Samantha es tun würde. Leise und frustriert seufzte er auf, schüttelte den Kopf, ehe er sich erhob und die Klamotten vom Bett nahm, die dort bereits darauf warteten, angezogen zu werden. Im Bad verschwindend, sprang er schnell unter die Dusche und wusch den Werkstattmief von sich. Das Lager aufräumen war nicht die schönste aber auch nicht die schlimmste Strafe, die Nicki ihm hätte geben können. Aber noch einmal müsste er das nicht haben. In Boxershorts vor dem kleinen Waschbecken stehend, blickte er seinem Spiegelbild missmutig entgegen. „Bereu’ das bloß nicht“, sagte er sich selbst, zog dann die schwarze, weite Hose an, faltete das schwarze Tanktop auseinander, zog es über und nahm das dunkelviolette Hemd vom Bügel und krempelte die Ärmel bis zu den Ellenbogen hoch. Mit gar zittrigen Fingern steckte er die Stäbe seiner Piercings durch seine Lippe und schaffte es die Kugeln darauf zudrehen, ohne diese in den Abfluss fallen zu lassen. Nervös fuhren seine Finger durch seine Haare, ehe er die schweren Boots schnürte, seine Autoschlüssel und sein Portmonee nahm und die Kellertreppe hinauf stieg. „Wo willst du hin?“ „Es ist Freitag. Ich dachte, ich gehe aus…“, gab er Mike als Antwort und blieb vor dem Durchgang ins Wohnzimmer stehen. „Ok. Keine Drogen, kein Alkohol – du fährst“, lachte Seth dann. „Keine Sorge. Ihr werdet mich schon in einem Stück wieder sehen“, sagte er nur und fügte aber ein ‚Hoffe ich doch’ innerlich hinzu. „Bye.“ Damit verließ er das Haus und setzte sich in seinen Wagen. Das Radio ging sofort an, kaum dass der Motor lief und jagte dunkle Bässe durch die Boxen. Das war genau die Art Abwechslung, die er benötigte. Seine Hände legten sich fest um das Lenkrad. Kalter Scheiß benetzte seine Handinnenflächen. Er hoffte wirklich, dass er in einem Stück zurückkehrte. Gar perfekte parkte er den Wagen vor dem Black und stieg aus. Lässig schloss er die Tür, schloss ab und drückte sich an den Personen vorbei, die vor dem Eingang der Kneipe standen. Ein Glück, dass Nancy heute keinen Dienst hier hatte. Dafür war er wirklich mehr als dankbar. Mit langen, Ziel gerichteten Schritten näherte er sich der verrauchten Ecke, in der sich Vincent mit seinem Gesindel aufhielt. Einige Gäste drückte er leicht an die Seite und blieb schließlich vor dem kniehohen Tisch stehen, auf dem sich die Gläser bereits stapelten. „Nathan“, erhob auch gleich Vincent seine Stimme. Er saß da, wie der König auf seinem Thron. Die Beine gespreizt und die Arme auf der Rückenlehne abgestützt, nahm er beinahe die gesamte Couch ein. Und der Blick, den er Nathan schenkte, war mehr als amüsiert. „Hat dir das kleine Geschenk damals nicht gereicht?“, folgte die wirklich amüsiert klingende Frage. „Wir haben eine Rechnung offen, Vincent.“ „Haben wir das?“ „Hm, genau wegen diesem kleinen Geschenk und auch wegen einer anderen Sache. Bekomm deinen Arsch hoch“, forderte er ihn mit Nachdruck auf und ließ keinen seiner Gesichtszüge entgleisen, während er ihn fordernd ansah. „Ich bekomme meinen Arsch gar nicht noch.“ Es folgte ein grauenhaft lautes Gelächter daraufhin, worauf Nathan jedoch nur die Schultern zuckte und die Hände in die Hosentasche steckte. „Ich habe Zeit“, folgte es nur. „Meinetwegen kann ich den ganzen Tag hier mit dir diskutieren“, meinte er weiter und nagelte Vincent mit einem einzigen Blick fest. „Aber ich würde dir raten, lieber jetzt aufzustehen, dann tut’s nicht ganz so weh, Wichser!“ Die Betonung fiel beinahe mit hundert Prozent auf die Beleidigung und man konnte mitverfolgen, wie sich Vincents Augen zu schmalen Schlitzen verzogen, in denen die Wut nur so aufblitzte, ehe er sich schwer vom Sofa erhob. „Wir haben uns schon einmal geschlagen.“ „Pff“, gab Nathan nur von sich und grinste eines seiner arroganten Grinsen. „Und? Ich hab dich einmal auf die Bretter geschickt.“ „Dir wird das Grinsen noch vergehen, Bastard.“ „Sorry, aber meine Eltern waren verheiratet, als sie gevögelt haben“, konterte er nur lässig von sich und rührte sich einen Millimeter, als Vincent direkt vor ihm Halt machte. „Ich denke mal, ich werde deine Schwester mal von der Schule abholen“, pfiff er Nathan direkt ins Gesicht. „Und dann werde ich ihr zeigen, was ein richtiger Mann mit einer Frau macht.“ „Ich denke, das weiß sie bereits. Ians Bruder besorgts ihr regelmäßig, glaub mir.“ Zwar gefiel es ihm überhaupt nicht, so über seine Schwester zu reden, aber das ließ es sich nicht anmerken. Viel eher hatte er im Hinterkopf, dass er Vincent zu hundertzwanzig Prozent Einhalt gebieten musste und das ging nur so. „Vor allem denke ich nicht, dass du noch dazu fähig bist. Soll ja im Alter abnehmen – die Potenz meine ich.“ „Du nimmst dir zu viel raus, Nathan.“ „Ich weiß. Das ist mein Ziel“, gab er trocken zu und hielt dem Blick Vincents, ohne mit der Wimper zu zucken, stand. „Was willst du hier?“ „Dir deine dreckige Fresse polieren. Glaub mir, darin bin ich gut.“ „Ein kleiner Junge, wie du es bist? Nicht einmal zwanzig Jahre alt?“ „Hat dir das eine Mal nicht gereicht, damit ich’s dir beweise? Ich sage es noch einmal: fass meine Schwester an, du bist tot und ich sage dir noch eins“, kam es ruhig von Nathan und er nahm seine Hand aus der Hosentasche und hielt den Zeigefinger in die Höhe. „Und ich sage es nur ein Mal! Höre ich noch einmal, dass Ian irgendwas zugestoßen ist oder dass ihm in sonst einer Art und Weise etwas passiert, bist du dran. Ich meine es ernst, was ich sage. Ich finde dich immer.“ Jedoch hatten seine Worte nicht das Ergebnis, welches er haben wollte. Lauthals brach Vincent in Lachen aus, sorgte dafür, dass alle anderen mit einstimmten und nahm ihn somit gar nicht ernst. Erst nach einer ganzen Weile, in welcher Nathan selbst unbeeindruckt dagestanden hatte, legte sich eine Hand schwer auf seine Schulter. „Nathan, süßer kleiner Nathan! Du kommst hier her“, begann Vincent und trat neben ihn, legte ihm sogar den ganzen Arm um die Schulter und tätigte eine ausladende Bewegung mit seiner freien Hand. „In mein Reich und meinst mit Vorschriften zu machen? Das ist wirklich sehr, sehr mutig von dir, weißt du das?“, belehrte er ihn beinahe väterlich und sah ihn von der Seite her an. „Es ist mir scheiß egal, was das ist. Ich will einfach nur sicher gehen, dass alles so ist, wie ich es haben will, wie es sein soll.“ Bestimmt schob er den schweren Arm von seinen Schultern und trat einwenig zur Seite. Es war ihm dann doch zu viel Nähe zu Vincent. „Du beschützt das, was dir wichtig ist.“ „Oh ja. Und deswegen bin ich sogar gewillt, dich von oben bis unten aufzuschlitzen“, kam es recht trocken von Nathan zurück, dass man sogar fast meinen konnte, er würde es Jahre lang machen. „Hast du’s schon einmal gemacht?“ „Ich wär bereit dazu.“ Ernst, kalt und fest sprach er diese vier Worte aus, sodass das amüsierte Gekicher des Gesindels verstummte und stattdessen ein anerkennendes Raunen durch die Sitzgruppe ging. „Wow“, gab nun auch Vincent von sich, fuhr sich über den geschorenen Kopf und umrundete Nathan einige Male überlegend. „Du beeindruckst mich doch ein wenig.“ „Das ändert nichts. Du und ich, wir haben eine Rechnung offen. Und ich mag offene Rechnungen nicht so sonderlich. Nur damit wir uns verstehen.“ „Ich gebe dir mein Wort.“ „Worauf?“, lachte Nathan dann jedoch und drehte sich leicht zur Seite, damit er in das Gesicht des Älteren sehen konnte. „Darauf, dass weder deiner Schwester noch deinem Bruder – ich weiß, du hast einen Zwillingsbruder – jemals etwas geschehen wird.“ „Das reicht mir nicht.“ „Darauf, dass auch Ian kein Haar mehr gekrümmt wird und keiner meiner Jungs ihm zu nahe kommt.“ „Weiter“, forderte Nathan standhaft. Es reichte ihm nicht, dass nur drei Personen aus seinem Bekanntenkreis aus allen ausgeschlossen wurden. „Mit Ian habe ich ein Problem, ok? Er hat Scheiße gebaut, dass es zum Himmel stinkt, was willst du mehr? Ich hätte ihn schon längst umgelegt!“, empörte sich Vincent jedoch mit einem Mal und seine ruhige Laune gewann deutlich an Aggressivität. „Jede Person in meinem Bekanntenkreis ist sicher. Passiert nur einem von ihnen was, bin ich wieder hier“, drohte Nathan ihm. „Und dann quatsche ich nicht erst freundlich mit dir herum, bis wir Wurzeln schlagen. Dann schlag ich dir gleich die nächste Pulle Whisky oder was mir gerade im Weg steht über deine hässliche Rübe.“ Ein kaltes Lächeln erschien auf seinen Lippen als er den Kopf schief legte und auf eine Antwort wartete. Jedoch folgte erst nur ein weiteres anerkennendes Pfeifen. „Das hätte ich von einer Schlampe wie dir nicht erwartet. Seid ihr nicht eigentlich immer so mindfucked, dass ihr nicht mehr aus euren Zimmern gekrochen kommt?“ „Treibs nicht zu weit, Vince. Noch bin ich nicht milde gestimmt.“ „Gibs zu, es ist eine berechtigte Frage, findest du nicht?“ „Sehr“, gab Nathan dann zu, auch wenn seine Antwort nur von Ironie durchwoben war. Doch wie sollte jemand wie Vincent das schon verstehen? „Und? Warum hast du die Eier in der Hose, dich hier her zu begeben?“ „Ich habe gar nicht die Zeit, mich in eine Ecke zu setzen und zu heulen“, zischte er ihm ins Gesicht. „Hm-hm… ich verstehe“, überlegte Vincent leiser vor sich hin, verschränkte seine Arme vor der breiten Brust und musterte Nathan eine Weile lang ausgiebig. Vielleicht ausgiebiger, als er es tun sollte. „Ian hätte damals so sein sollen, wie du es bist.“ „Pff. Was soll das heißen?“ „Du pisst dich nicht ein. Obwohl dich dein Leben wortwörtlich gefickt hat.“ „Wie gesagt, dazu habe ich keine Zeit. Ich kenne Amanda, ich kenne Gregory – ich kenne die ganze gottverdammte Sippe, die um dich herum steht und mit dir verbunden ist. Allein nur einen davon zu kennen, ist Strafe genug!“ „Und was willst du genau?“ „Das, was du gerade selbst aufgezählt hast, Vince.“ „Und was bekomme ich im Gegenzug dafür von dir?“, erhielt er die dreiste Frage und nun war es Nathan, der humorlos auflachte, den Kopf in den Nacken sinken ließ und ihn über die Seite wieder nach vorn rollen ließ. „Einen Aufenthalt im Krankenhaus, wenn du mich das noch einmal fragst.“ „Deine süße kleine Schwester würde mir besser gefallen.“ Langsam gruben sich Nathans Finger daraufhin in den Hemdkragen des gestreiften Hemdes welches Vincent trug und zog ihn näher zu sich. „Ließ von meinen Lippen, Motherfucker. Ich breche dir erst alles, bevor ich dir fein jedes deiner ranzigen Tattoos aus der Haut ritze, ehe ich dich in meinen Kofferraum schmeiße, mit dir aus der Stadt heraus fahre und dich irgendwo elendig verrecken lasse. Überleg es dir, ob du mich als Feind haben willst. Glaub mir, ich habe inzwischen jede Art von Skrupel über den Bordrand geworden und es ist mir so was von scheiß egal, was du jetzt sagst“, flüsterte er ihm beinahe schon zuckersüß zu und schenkte ihm noch einen passenden Blick. „Haben wir uns verstanden? Oder muss ich deutlicher werden?“ „Jo, Emoschwutte“, hörte er jedoch die kreative Beleidigung eines jungen Mannes, der recht nahe dort saß, wo er gerade mit Vincent sprach. „Was?“, pfiff er diesem entgegen, löste seine Finger aufgrund dessen von Vincent, stieß diesen leicht von sich und wandte sich in diese Richtung um. „Wir brauchen ’nen Fahrer.“ „Du kannst mich mal.“ „Hey, ich hatte eine Unterhaltung mit deinem damaligen Kumpel. Greg meinte, du bist einer der besten Fahrer, die man haben kann.“ „Und? Was soll das mir das nun sagen?“, knurrte er angefressen in die Richtung des anderen, welcher ihn gerade angesprochen hatte. „Nichts ist umsonst, Nathan“, grinste ihm der Sitzende zu und lehnte sich leicht über die Lehne des Sessels, während er zu Nathan aufsah. „Alles muss man bezahlen. Ob nun mit Geld, mit dem Leben oder mit Loyalität“, lachte er und atmete dabei so merkwürdig durch die Nase, dass es sich anhörte, als würde er dabei sein, den letzten Atemzug zu tun, bevor er diese Erde verlassen würde. Nathans Augenbraue jedoch hob sich dabei nur verwundert in die Höhe. „Natürlich.“ „Du könntest natürlich auch als Hure anheuern, musst du ja gut können.“ „Steh mal auf“, sagte Nathan dann jedoch nur ruhig und winkte ihn dann aus dem Sessel. „Los, komm steh auf.“ Und der andere tat, was Nathan von ihm wollte. Er stand auf, blieb auch ihm stehen und sah aus dieser Position aus, als wäre er ein Rasenmäherunfall. Die kurzen, ungerade geschnittenen Haare, die leicht demolierte Nase, die krummen Lippen und nicht zu vergessen die grauenvollen Segelohren. „Wiederhol das noch mal“, forderte er ihn auf. „Das mit der Loyalität?“, harkte der vor ihm Stehende nach. „Nein, nein“, lächelte Nathan ihn falsch an. „Das danach.“ „Du könntest auch als Hure anheuern.“ „Hm.“ Ein halbes Grinsen schlich sich auf Nathans Lippen, als er das hörte, ehe er ihm ohne Vorwarnung seine Faust ins Gesicht schlug. Taumelnd fiel er zurück in seinen Sessel und legte seine Hand überrascht und mit schmerzverzerrtem Gesicht auf die Seite, die von Nathan getroffen wurde. „Woh, Nathan!“, ging Vincent dazwischen, fasste den Schwarzhaarigen an den Schultern und zog ihn etwas nach hinten. „Bleib cool.“ „Ich warte nicht lange, ich quatsche nicht lange. Und jetzt lass mich los!“ Die Pranken des Älteren ließen von ihm und er drehte sich zu Vincent um. „Ich schwöre dir, hältst du dein Wort nicht, geht das“, seine Hand deutete auf den im Sessel sitzenden Geschlagenen, den Nathan selbst nicht einmal vom Namen, ehe er fort fuhr und meinte: „bei dir genauso schnell. Ich bin kein kleiner Junge, Vince. Ich bin auch niemand, den man herumschubsen und mit der Vergangenheit einschüchtern kann“, spie er ihm entgegen. „Merk dir das.“ Damit ging er an ihm vorbei, rempelte seine Schulter mit purer Absicht gegen die Vincents und verließ das Lokal mit derselben Coolness, wie er es betreten hatte. Doch kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, atmete er tief durch und fuhr sich durch die Haare, ehe er langsamen Schrittes die Straße herunter ging. Letztlich blieb er im Moon hängen, einer recht normalen Kneipe, in der man auch mal ein Bierchen trinken konnte, ohne von Drogenleichen und Schlägerein umgeben zu sein. Allein saß er an der Theke – es war hier nie sehr voll. Den Bierdeckel auf der Kante hin und her drehend, bemerkte er die Blicke des jungen Mannes, der hinter der Theke stand. Die Kippe zwischen den Lippen, während er ein Glas polierte und ihn die ganze Zeit beobachtete. „Soll ich dir’n Bild malen, oder was?“, fragte er irgendwann nach, nachdem es ihm doch ein wenig nervig wurde, die ganze Zeit nur angeglotzt zu werden. Das Handtuch landete auf dem Abtropfbecken der Spüle, die Zigarette wurde in den Aschenbecher geklemmt, ehe er auf ihn zukam. Die platinblonden Haare fielen ihm dabei ein wenig in die Augen, ehe er sich mit der Hüfte an den Bereich lehnte, in dem auch die Spüle eingelassen war. „Ich seh dich nur zum ersten Mal hier.“ „Tja, ist auch nicht meine Kneipe.“ „Gehst wohl eher in die Absteige, ein wenig weiter die Straße rauf, was?“, kam es auch amüsiert von der Blondine zurück. „Du hast mich auf einem ganz beschissenen Fuß erwischt, wenn du dumm labern willst, glaub mir“, gab er von sich und leerte sein Glas in einem Zug. „Man muss ja auch immer mit anderen Stress haben?“ „Ich bin ein friedlicher Mensch. Aber auch solche Menschen haben schlechte Tage und jetzt weiter polieren.“ „Joey.“ „Schön für dich“, murrte er nur vor sich hin. Hier würde er sicherlich nicht mehr hingehen, wenn alle Thekenjungen so nervig aufdringlich waren. „Normalerweise musst du mir deinen Namen auch-“ „Ich brauche keine Belehrungen. Ich muss nur sterben.“ Damit landete auch das Geld auf dem Tresen ehe er sich vom Hocker gleiten ließ. Er hatte ohnehin nicht lange bleiben wollen und Mike würde nur wieder vor Sorge nicht schlafen können. Und das wollte er nicht riskieren. Er bemerkte noch den merkwürdigen Blick, den der andere ihm zuwarf, jedoch ignorierte er dies und verließ das Lokal wenig später. Den Kragen seines Hemdes hochschlagend, schob er seine Hände in die Hosentaschen und lief auf dem mickrigen Rest des Gehweges im Halbschatten die Straße hinunter. Jetzt bereute er es jedoch, seinen Wagen recht weit weg geparkt zu haben. Aber ändern konnte er es ohnehin nicht und es war irgendwie auch nicht so schlecht, so hatte er noch ein wenig Zeit, die wirren Gedanken an der klaren Nachtluft noch einmal zu sortieren, ehe er dann bei Mike Rede und Antwort stehen durfte. Ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen, als er daran dachte. Er hatte jetzt alles, was er früher nie hatte. Er hat Menschen, die sich auf einmal um ihn kümmern – obwohl er wirklich schon erwachsen war, im weitesten Sinne, versteht sich. Mike fragte immer nach, sorgt sich um ihn und ist im Grunde das, was seine Mutter nie für ihn war. Und zwar ist Mike einfach nur da. Nathan kann zu ihm kommen, mit ihm reden – egal über was und das ist das, was Nathan wirklich zu schätzen weiß. Es könnte der letzte Scheißdreck sein, mit dem er dem Screamer auf die Nerven fallen wollte, aber dieser würde es sich anhören. Aber das ist ja noch nicht alles… Nein, es wird endlich gefragt, es ist Interesse an seiner Person da. Seth ist zwar eher so etwas wie der teuflische ältere Bruder, aber deswegen hat er ihn auch so gern. Die ewigen Anspielungen auf Samantha, die Küchendiensteinteilungen, das ewige Staubsaugen an einem Samstagmorgen, wenn sie alle eigentlich länger schlafen könnten. Die beiden waren einfach nur super. Ohne übertreiben zu wollen. Und er war Ian dafür dankbar, dass er ihm diese Jungs vorgestellt hatte. Manchmal war es ein wenig kompliziert, natürlich, aber das war immer und überall so. Egal wo man hinkam. Man gewöhnte sich auch daran, mit einem schwulen Pärchen zusammenzuleben, auch wenn es im Grunde nichts anderes war… Manchmal kam es ihm eher so vor, als würde er in einer Studenten-WG wohnen und nicht bei einem Paar. Sie verhielten sich einfach nicht so paartypisch, wie man das vielleicht denken mochte… Aber er mochte sie von allen Bandmitglieder J.R.T.Ds doch am liebsten. Vor allem aber deswegen, weil er mit ihnen am besten klar kam. Mit den anderen wusste er nicht wirklich etwas anzufangen, vor allem wenn man immer musternde Blicke von David erhielt, hatte man keinen Bock, mit diesem zu reden und … nun ja, dazu sparte man sich lieber den Kommentar. Dann noch Samantha – sie ist der wundervollste Mensch, den er bisher in seinem Leben kennengelernt hatte. Sie war einfach immer da, wenn man sie brauchte. Sie munterte einen auf, wenn es nicht Mike schon tat. Und sie war manchmal so unperfekt, dass sie wiederum nur perfekt war. Zu guter letzt nun einmal noch Ian. Der Kerl mit dem Scherbenhaufen als Leben. Der Kerl, mit den vielen Problemen und den vielen Gesichtern. Wenn man einmal hinter die Maske geschaut hat, erkennt man, wie facettenreich der junge Mann sein konnte. Wie viele Gesichter er eigentlich hatte und welche Story hinter jedem dieser Gesichter steckte. Inzwischen sah er Ian sogar als einen richtig guten Freund an. Warum? Das wusste Nathan selbst nicht so genau. Es war einfach so und geändert hatte es dieser eine Morgen beziehungsweise dieser eine Vormittag, an dem sie sich unterhalten hatten. An diesem Tag hatten sie beide die Vorhänge fallen gelassen. Vielleicht nicht ganz, aber auf jeden Fall ein Stück. Und dann die Woche, die er bei Ian selbst verbracht hatte… Der Vorhang lag beinahe. Es dauerte nicht mehr lange, dann würden sie sich einander besser kennen, als jeder andere es tun würde. Schon komisch, dachte Nathan sich und schüttelte sein Haupt. Seine ganze Familie, seine richtige Familie, war zerbrochen und die kleinen Teile, die übrig geblieben sind, haben sich verteilt. Lindsay wohnt quasi bei Derek und dessen Familie, während Blake im Krankenhaus liegt und sich nur langsam erholt. Er selbst ist gezwungenermaßen ausgezogen und seine Eltern lassen sich scheiden. Und wo hatte er seine Familie gefunden? Bei Mike und Seth, mit Samantha und Ian und dem ganzen Rest, der irgendwie daran hing. Nein, das Leben würde er nicht mehr aufgeben wollen. Egal wer da kommen wollte. Selbst für Lindsay – und er liebte seine Schwester – würde er das hier nicht mehr aufgeben. Nie wieder. Denn nun hatte er erst recht etwas, für das er sich einsetzen konnte und er hatte einen Grund, auf jemanden aufzupassen. Natürlich sorgte er sich auch um seinen Zwilling, sehr sogar. Es war immerhin sein Bruder, für den er sich auch ein Bein ausreißen würde. Und dieser zählte für ihn immer noch zur Familie, natürlich. Aber Blake war bisher immer die einzige Person gewesen, die ihm wirklich so viel bedeutet hatte, wie es jetzt eine ganze Hand voll Personen tat. Vertrauen zu lernen und Vertrauen zu bekommen, sind Dinge, die ihm gar immer gefehlt hatten. Zumal man ihm nie etwas zugetraut hat, da man ihn immer an Blake maß. Das tut nun niemand mehr… und irgendwie, so gemein es klingen mag, vermisste er diese Maßstange gar nicht mehr… Es war sein Leben geworden, in dem es sich auch wirklich mal um ihn als Person drehte und nicht um ihn als Blakes Zwillingsbruder. Langsam kam er seinem Wagen näher, zog schon einmal das Schlüsselbund heraus und suchte den Wagenschlüssel aus den vielen kleinen Schlüsseln hervor, ehe er aufsah und verwundert stehen blieb. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)