Wingless von Elena_Jenkins (Leseprobe) ================================================================================ Kapitel 14: *Ohne Titel* ------------------------ „Ach Mike, hör doch endlich damit auf!“, drang es wütend von oben zu ihm herunter. „Womit denn? Ich weiß gar nicht, was ich getan habe!“, warf Mike nur zurück. Nathan schüttelte den Kopf. Niemals hätte er gedacht, dass Seth laut werden konnte. Vor allem hatte er auch nicht erwartet, diesen biestigen Unterton in der Stimme des Älteren hören zu können. Er speicherte das Dokument zwischen, klappte den Laptop zu und erhob sich von seinem Platz, stieg die Treppe zum Erdgeschoss dann soweit hinauf, dass man ihn nicht sehen konnte, auch wenn die Tür offen stand, er aber mehr hören konnte. „Du weißt ganz genau, was ich meine. Soll das alles wieder so anfangen, wie vor Jahren, oder was?“ „Seth. Ich kenne dich verdammt lange. Aber was zur Hölle willst du mir sagen? Ich verstehe es nicht!“, konterte Mike jedes Mal und klang von Wort zu Wort verzweifelter. „Bitte… Ich habe keine Ahnung, was ich falsch gemacht habe. Habe ich dich irgendwie gefühlstechnisch verletzt?“ Nathan schloss kurz die Augen. Er hasste es, wenn sich Leute um ihn herum stritten. Warum auch noch Seth und Mike? Reichte es nicht, dass er ewig zu Hause bei seinen Eltern diesem Stress ausgesetzt war? Warum auch noch jetzt? Was geht denn bei denen?, dachte Nathan bei sich, schlich die letzten Stufen nun auch noch nach oben und sah die beiden im Wohnzimmer stehen. Es war ein Bild, das man von ihnen bestimmt als letztes erwartet hätte. Sie standen sich so nah gegenüber, dass man beinahe meinen könnte, sie würden sich jeden Moment an die Kehle gehen. Selbst die Spannung war nahezu greifbar. Etwas versteckt blieb er hinter dem Durchgang stehen und verfolgte das weitere Geschehen aus sicherer Entfernung. Nicht dass man ihn auch noch irgendwie mit in diesen Streit involvierte. Darauf konnte er nämlich gut und gern verzichten. „Du bist ewig weg, wenn wir zu Hause sind.“ „Was? Ich bin doch meistens hier, bleibe bei dir. Oder wir gehen gemeinsam weg“, kam es sprachlos von Mike und man konnte sehen, wie die Spannung aus dessen Körper wich. Er wirkte mit einem Mal angreifbarer, verletzlicher. „Und wenn du weg bist? Wo bist du dann?“ Auch Seths Stimme wurde ruhiger, nahm das ruhige, tiefe Level ein, auf dem er sonst immer sprach. „Du weißt, dass ich dann meistens bei Sammy bin.“ „Meistens. Wo bist du, wenn du nicht da bist?“ „Seth, ich habe auch ein Leben.“ „Ja?“ „Fang nicht an, mich einzuengen, Seth. Sieh, wir spielen in derselben Band, wir sehen uns auf Tour jeden Tag, jede Nacht – über Wochen und gar Monate. Wir sind so gut wie nie getrennt. Ich brauche auch mal ein bisschen Abstand.“ „Zu der Beziehung zu mir?“ „Nein. Ich brauche ein bisschen Zeit für mich allein. Ich muss auch mal etwas mit Freunden unternehmen oder einfach nur allein irgendwo in einem Park oder einem Cafe abgammeln. Verstehst du das nicht? Wenn du allein sein willst, gehst du auch in dein ‚Arbeitszimmer’ und ich lasse dich. Aber du fängst an, mir die Luft zum Atmen zu nehmen.“ „Wo bist du denn gewesen, die letzten Tage? Bei Sammy?“ „Ich war auch mal mit David unterwegs oder einem der anderen. Seth…“ „Gehst du mir fremd?“ „Das ist es, auf das du hinaus willst?“ Nathan sah das schwache Nicken Seths und schloss für einen Moment selbst die Augen. Als ob Mike Seth jemals betrügen würde. Da gab es überhaupt keinen Grund zu. Sie waren doch glücklich miteinander – so lange der eine dem anderen Platz ließ, sein eigenes Leben zu leben. Mike ging in diesem Moment auf seinen Freund zu, legte ihm gar übervorsichtig die Hände auf die Wangen, fing an, leise auf ihn einzureden. So leise, dass Nathan nicht mehr in der Lage war, es zu verstehen. Aber es sah alles danach aus, als würde das Problem aus der Welt geschafft werden. Ein Grund, warum Nathan sich umdrehte, in die Küche ging und die Thermoskanne auf ihren Inhalt prüfte. Zu seinem Glück war diese sogar noch fast voll, weswegen er sich eine der Tassen vom Harken nahm und sich etwas von dem Kaffee in die Tasse schüttete, haufenweise Zucker landete in der dunklen Flüssigkeit, ehe er begann, darin herum zurühren. Seinen Blick vollkommen auf die kleinen Wellen fixiert, drifteten seine Gedanken ab. Zum einen war er sofort bei Sammy. Er müsste einen Zeitpunkt finden, an dem er mit ihr in aller Ruhe sprechen könnte. Da war etwas zwischen ihnen, dass sich langsam als Hindernis herauszustellen drohte, wenn sie es nicht klärten. Es … ja, es gefährdete ihre Freundschaft, wenn man es so sehen wollte, denn diese Freundschaft entwickelte sich langsam zu etwas bisschen mehr, als einfach nur eine normale Freundschaft. Wieder ein erstklassiger Beweis dafür, dass Mann und Frau nicht einfach nur befreundet sein können…, dachte er sich gar selbstironisch und schüttelte geistesabwesend mit dem Kopf. Dann war da noch Lindsay. Er hatte von ihr lange nichts mehr gehört. Das letzte Mal, als sie hier her gekommen ist, damit sie sich ein wenig unterhalten konnten. Damals, als das mit Ian war. Danach war der Kontakt rar geworden. Ob sein Erzeuger ihr den Kontakt verboten hatte? So würde auch die Information über Blakes Zustand nicht mehr zu ihm durchdringen und er würde nichts mehr darüber erfahren… Dabei wollte er so gern wissen, wie es ihm ging… Ob die Werte besser oder wieder schlechter geworden sind. Ob es wieder mehr Hoffung gab. All solche Dinge… Es blieben noch seine Eltern. Es war abzusehen, dass sie sich irgendwann scheiden lassen würden. Irgendwann… Ob dieses irgendwann nun war? Was wusste er schon? Was interessierte es ihn? Kümmern tat es ihn nur, da er wusste, dass es Lindsay sehr an die Nerven gehen würde. Das arme Mädchen musste schon viel zu viel mitmachen. Und dann blieben noch Mike und Seth als Schlusslicht der ganzen Sache. Es wäre die Hölle, wenn hier nun noch der Beziehungsstress losbrechen würde, wegen irgendwelchen wilden Annahmen über irgendwelche Nebenbeziehungen oder was auch immer. Uh, nein, dachte Nathan sich, schüttelte abermals den Kopf. Daran wollte er nun wahrlich nicht denken. Vor allem, da ihm gleich das Bild von Seth und Ian in den Kopf sprang, das er hatte, seitdem er die Band das erste Mal kennen gelernt hatte. Die Sache mit dem Helloween-Kuss oder was das war… Oder Mike und Ian – ein gruseliges Bild setzte sich in seinem Kopf fest, das er nicht einmal mehr so schnell wegbekam, wie er es gern gehabt hätte. Warum dachte er daran überhaupt? Herr Gott noch mal!, mahnte er sich selbst. „Was machst du denn noch hier?“ Die Frage riss ihn aus brutal aus seinen Gedanken, sodass er zusammenzuckte und beinahe seine Tasse auf den Boden fegte. Nathan drehte sich um, lehnte sich mit der Hüfte leicht gegen die Anrichte und blickte Mike an. Er sah grauenvoll aus. Und das war sogar noch untertrieben. Ihm waren die grauen Ringe unter dessen Augen gar nicht aufgefallen. Ebenso die ohnehin müde aussehende Augen, der traurige Blick in eben jenen und die herunterhängenden Schultern. „Ich hab euch hier oben streiten hören.“ „Tut mir leid.“ „Braucht es dir nicht, Mike. Wirklich nicht.“ 01. September 2011 Gelangweilt saß Nathan die Donnerstagssitzung ab, starrte aus den Fenstern des Gebäudes, in dem er seine Theoriestunden seiner Ausbildung hatte. Die Person vor ihm redete seiner Meinung nach nur Stuß und gab Informationen, die man nicht brauchte. Aber würde er hier nicht her kommen, würde Nicki ihm in den Arsch treten. Natürlich war es nicht erforderlich, eine komplette Ausbildung zu haben – vor allem gerade in diesem Bereich. Aber was, wenn diese Zeit irgendwann mal einbrach und er dann ohne Ausbildung dastand? Herr je, daran wollte er nicht denken und lauschte deswegen gelangweilt den Worten des Mannes vorn am Pult. Aber es war lange nicht so schlimm, als wenn er auf eine Universität gehen würde. Ewig nur lernen, lernen, lernen und noch einmal lernen. Vor allem was sollte er studieren? Darin hatte er kein Interesse. Er war nicht der Theoretiker, er gehörte eher zu der Art Mensch, die sich gern Handwerklich bestätigten und dazu brauchte man nicht reihenweise Lehrbücher, die einem Schritt für Schritt durch den Prozess leiteten. Ganz sicher nicht. Gegen halb fünf verließ er als einer der Letzten den Raum. „Nathan?“, sprach ihn die junge Frau an, die das Seminar leitete, in dem er nachmittags immer saß. „Ja?“, fragte er zurück, drehte sich zu ihr und blickte sie direkt an. „Was ist denn?“ „Die Klausur vor zwei Wochen“, begann sie. „Ja, was ist damit?“, wollte Nathan wissen. So schlecht konnte diese ja nicht ausgefallen sein. Wobei … er war sich in letzter Zeit ohnehin gar nicht mehr sicher. Egal was er tat, er dachte immer es wäre falsch. „Ich bin mit deiner Leistung zufrieden, das weißt du.“ „Ja, das kann sein. Ich weiß nicht…“ „Ich hab mir deine Klausur angesehen – und die Abschlusszeugnisse der Highschool…“ „Und?“ Er verstand den Zusammenhang dabei nicht. Worauf wollte die Seminarleiterin denn bitte hinaus. „Du bist ein Fünferschüler gewesen, was Mathe, Physik und Chemie angeht.“ „Ich kenne meine Abschlussnoten, die brauchen Sie mir nicht sagen.“ „Und deine Klausur ist oberen Bereich angesiedelt.“ „Super“, gab er nur von sich. Den Zusammenhang immer noch nicht verstehend, war er auch nicht so sonderlich begeistert von dem Tonfall, den die gute Frau an den Tag legte. „Dein Sitznachbar, hat ebenso eine recht gute Note aufs Papier gebracht.“ „Unterstellen Sie mir ernsthaft, die Ergebnisse kopiert zu haben? Nur weil ich im Thema Integralrechnung und diesem ganzen Mist auf der High versagt habe?“ „Mir bleibt nur Grund zu der Annahme, weswegen ich dich gern in eine Nachprüfung nehmen würde.“ „Soll mir recht sein.“ „Wirklich?“ „Ja. Ich habe weder bei meinem Kollegen abgeschrieben noch habe ich Angst, mich in eine Nachprüfung stecken zu lassen, Miss“, gab er ruhig von sich. „In zwei Wochen Donnerstag, nach der letzten Sitzung bleibst du bitte hier.“ „Geht klar. Aber jetzt muss ich los.“ „Schönen Tag noch, Nathan.“ „Hm…“ Kopfschüttelnd begab er sich zu seinem Auto, schmiss den Rucksack in den Kofferraum und lehnte sich erst einmal gegen seinen Wagen. Da kam auch jeden verdammten Tag etwas Neues dazu. Konnte es nicht einen Tag geben, an dem alles glatt lief? Zu Hause angekommen, hängte er seinen Schlüssel zu den anderen und schloss die Tür hinter sich. Stille herrschte in dem gesamten Haus. Dann waren die beiden wohl weg, entweder bei der Probe, bei irgendwelchen anderen beruflichen Dingen oder sie waren einfach nur aus. Ihm sollte es egal sein. Den Weg zur Kellertreppe einschlagend, hielt ihn jedoch das Telefon von seiner Unternehmung ab. „Ja?“, meldete er sich, nachdem er dieses schnurlose Ding endlich gefunden hatte. „Genau dich wollte ich erreichen“, ertönte er aus der anderen Seite. „Ian, was ist los?“ Er hatte die Stimme sofort erkannt. Wie auch nicht? Er kannte nur wenige Menschen, die am Telefon sympathisch klangen und Ian war komischerweise eine solche Person. Aber man musste ja erwähnen, dass Ian sich ihm gegenüber etwas aufgetauter verhielt, als es noch der Fall war, als sie sich kennen gelernt hatten. „Kannst du runter kommen?“ „Nach Miami?“ „Ja…“ „Warum? Ian, was ist los?“ „Es ist wichtig, reicht das?“ „Du klingst ein kleines Bisschen gehetzt.“ „Ich brauche deine Hilfe. Wirklich.“ „Du brauchst meine Hilfe? Wofür?“ Er ließ sich auf das Sofa sinken und lehnte sich zurück. Irgendwie verstand er das nicht. Heute verstand er ohnehin gar nichts. Es verwirrte ihn alles und gerade Ian schaffte es, seinen Speicher vollkommen zu überlasten. „Kannst du nun runter kommen, oder nicht?“ „Ich – also theoretisch hätte ich Urlaub.“ „Nichts theoretisch. Nathan, bitte… Beweg deinen Arsch zu mir.“ Nathan hatte gar nicht die Möglichkeit zu widersprechen. Ian gab ihm seine Adresse durch, ohne dass er dazwischen kam. Und nein sagen konnte er nicht. Es musste ja irgendwas passiert sein, dass gerade Ian ihn anrief und bat zu ihm zu kommen. Ian sagte sonst niemals Bitte. Er verlangte es einfach. Außer jetzt… „Ich pack kurz ein paar Dinge zusammen …“ „Wie lange brauchst du von Orlando nach Miami Beach?“ „Ohne mich an die Geschwindigkeitsbegrenzung zu halten oder mit?“ „Is’ mir egal, wie lange brauchst du?“ „Gib mir dreieinhalb Stunden und ich bin bei dir.“ „Danke…“ „Kein Ding. Bis gleich.“ Das Telefon wurde einfach auf den Couchtisch gelegt, ehe er aufsprang und in sein Zimmer hetzte. Die Tasche wurde gepackt, mit den nötigen Dingen die er brauchen würde für eine Nacht. Denn davon ging er aus, dass es nur eine Nacht sein würde. Eine Nachricht schrieb er nicht, eilte nur zu seinem Auto und fuhr los. Auf der Fahrt nach Miami Beach telefonierte er mit Mike. Es war abzusehen, dass der Screamer nicht gerade erfreut über die plötzliche Abreise reagierte, aber er zeigte Verständnis. Nicht zu letzt, weil jener sich wohl auch Sorgen zu machen schien, was Ian betraf. Nachdem das Telefonat erledigt war, konzentrierte Nathan sich ausschließlich auf die Straße, damit er bei einem Überholmanöver nicht in einen Truck oder etwas anderes raste, damit er nichts falsch machte. Obwohl die Geschwindigkeitsüberschreitungen wohl jedes Mal ein Fehler waren. Aber aus einem Grund war es ihm egal. Was wusste er denn schon, was Ian wieder für Scheiße am Hals hatte? Hatte Vincent eigentlich auch Leute unten in Miami? Wenn ja, dann hätte Ian nichts zu lachen, wenn er allein war. Mit Sicherheit nicht. Kurz schüttelte er den Kopf. Nein. Damit hatte es bestimmt nichts zu tun. Es durfte einfach nicht so sein. Aber was denn doch? Was sollte er dann machen? Was erwartete ihn unten in Miami? Unzählige Fragen schossen durch seinen Kopf, während er hoffte, dass die Milenangaben auf den Schildern kleiner werden würde. Es kam ihm vor, als würde die ganze Zeit auf der Stelle fahren, als würde er nicht vorankommen. Es war ein Fehler, gerade Nathan zurufen. Ich weiß das. Aber er ist der einzige, dem ich vertrauen kann. Ich weiß auch, dass das eine schwachsinnige Annahme ist. Man kann eigentlich niemandem vertrauen. Aber … aber ich will ihm vertrauen. Vor allem, da ich für ihn dasselbe tun würde. Klingt vielleicht komisch, das gerade von mir zu hören, aber ich würde alles tun. Ich kenne seine Story, er die meine. Wir sind uns so ähnlich, dass ich einfach nicht anderes tun konnte, als ihn anzurufen. Ich habe gehofft, dass er ans Telefon geht. Ich habe wirklich gebetet. Samantha konnte ich nicht anrufen. Sie war schon zu oft für mich da gewesen. Das kann ich nicht einmal mehr gut machen… Ich lehne mich mit dem Rücken gegen die Badewanne in meinem Bad, lasse den Kopf in den Nacken sinken. Mir ging es selten so scheiße, wie es mir jetzt geht. Alles tut weh, ich habe bestimmt das dritte Mal an diesem Tag meine Kleidung gewechselt, da es einfach nicht aufhört. Ich schwitze, dabei ist mir arschkalt. Mir ist schlecht, ohne dass ich etwas essen brauche. Essen – das habe ich schon aufgegeben. Ich brauche es nur sehen, dann krampft sich alles zusammen und ich hänge erneut über der Toilettenschüssel. Mein Kopf fühlt sich an, würde er platzen und ich kann nicht mehr. Meine Lider schließen sich, ich atme tief durch. Wie lange ist es her, dass ich ihn angerufen habe? Bestimmt schon zwei Stunden. Er hat gesagt, er braucht nicht lange… nur dreieinhalb Stunden. Nur noch anderthalb Stunden, sage ich mir selbst. Immer und immer wieder. Krampfhaft versuche ich mich hochzustemmen, scheitere bei den ersten Versuchen kläglich und stehe irgendwann zittrig auf meinen Gräten. Scheiße… Die Welt um mich herum beginnt sich zu drehen. Meine Hand fasst das Waschbecken, an dessen Rand ich mich gar festkralle und in den Spiegel sehe. Ich könnte in einem Tim Burton Film mitspielen. So grauenvoll wie ich aussehe. Blass, dabei wohne ich da, wo die Sonne beinahe den ganzen Tag nichts anderes tut, als vom Himmel zu brennen. Augenringe, so grau und dunkel, dass ich selbst Angst bekommen würde, würde ich dieses beschissene Bild von mir selbst nicht kennen. Ich kenne es bereits. Es ist erst ein paar Jahre her. Erst… Und jetzt? Wie bin ich hier überhaupt wieder hingekommen? In diesen Zustand von Leben? Es lief alles gut. Ich hätte nicht zurück nach Orlando gehen sollen. Ich hätte … Jeder Schritt ist ein Fehler. Es ist einfach ein Fehler… Ich hätte Vincent nicht auf den Schwanz treten sollen. Ich hätte … mich einfach nicht mit ihm anlegen sollen. Jetzt habe ich den Salat. Erst zusammengeschlagen, jetzt rückfällig. Scheiße verdammt! Meine Faust hebt sich, schlägt gegen dieses Ding, das sich Spiegel nennt. Er bricht in tausend Teile, fällt in das Waschbecken, auf den Boden und einige Splitter bleiben in meiner Hand stecken. Ich sehe das Blut. Das einzige, das nicht blass und fahl aussieht. Komisch eigentlich… Ich verliere den Halt am Becken, gerate ins Taumeln und stolpre unbeholfen aus meinem kleinen Bad, durch den kleinen Flur. Meine Wohnung ist nicht gerade groß, aber gerade jetzt kommt es mir vor, als würde ich in einem Luxusapartment wohnen. Ich weiß nicht, wie spät es ist, als ich die Tür höre. Sie klickt, als sie in das Schloss zurück fällt. Dann höre ich, wie etwas zu Boden geht, gefolgt von einem: „Ian!“. Mein Name dröhnt in meinen Kopf und ich brauche ein paar Minuten um zu realisieren, wer da ist. Nathan. Er ist hier. Endlich… Gott, ich hätte es nicht länger allein ausgehalten. Hat er … ja, er muss den Schlüssel gefunden haben. Gehetzte Schritte, er kommt direkt auf das Wohnzimmer zu. Die Tür geht auf, er steht im Rahmen und sieht auf mich hinab. „Ian was is-“ Er bricht ab und kommt auf mich zugehetzt. Ich sitze auf dem Boden vor meinem Sofa, sehe zu ihm hinauf und erschrecke kurz, als er sich einfach auf die Knie fallen lässt. Es knackt so grauenhaft. „Du siehst grauenhaft aus.“ „Ich weiß“, bringe ich hervor. Und wieder wird mir schlecht. Sein Blick fällt auf meine Hand, die ich auf meinem Bauch liegen habe. Das Blut ist bereits angetrocknet, nur noch die kleinen Splitter stecken in der Haut. Ich kann sie nur nicht rausziehen, da meine Hände so erbärmlich zittern. Ohne Worte, als würde er mich sofort verstehen, schafft er es, mich auf die Beine zu bekommen und trägt mich beinahe ins Bad. Wieder vor der Wanne sitzend, kniet er sich vor mich, nachdem er im Schrank das gefunden hat, was er suchte. Er spricht nicht mit mir. Er sieht mich auch nicht direkt an. Aber das braucht er nicht. Ich weiß, dass er da ist und das reicht. Angestrengt verfolge ich die Pinzette, mit der er die Splitter aus der Hand zieht, diese auf ein Stück Toilettenpapier legt und mir nachher vorsichtig das Blut von der Hand wischt. Das ist schon das zweite Mal, dass er mich versorgt. Ich sollte es nicht zur Gewohnheit werden lassen, wirklich nicht. Desinfektionsspray. Ich merke von dem Ganzen gar nichts. Zumindest kommt es mir so vor. Es tut kein bisschen weh … „Wie kommts?“, fragt er nur ruhig nach, steht auf, lässt mich sitzen. „Zu viele Freunde“, bringe ich nur heraus und hänge dann schon wieder über der Toilettenschüssel. Ich fühle mich mit jedem Moment schlechter. Hochwürgend, was nicht da ist, verkrampft sich einfach alles in mir. Die warme Hand, die mir über den Rücken streicht, gibt mir wenigstens ein bisschen Rückhalt. Er muss es nicht tun, dass weiß er genau. Aber dennoch ist er wirklich hier. Ich kann es immer noch nicht wirklich fassen. „Und du willst das allein durchziehen?“ „Deswegen hab ich dich angerufen“, sage ich, nachdem ich mir den Mund angewischt habe und mit seiner Hilfe auf die Beine zurückkomme. Es wundert mich kein bisschen, dass er weiß, was los ist. Er kennt das Milieu bestimmt genau so gut wie ich, nur nicht bis ins Detail. Ich gehe davon aus, dass er nicht in einer Drogensucht gesteckt hat… Hoffentlich. Denn erwähnt hat er es nicht. „Und du meinst, dass ich dir dabei zusehe, wie du dich alle fünf Minuten übergibst, aussiehst, wie eine Leiche aussiehst und kaum mehr aufnahmefähig bist?“ „Ich habs einmal geschafft.“ Ja, mit Samanthas Hilfe. Sie war damals der Anker gewesen. Mein Licht am Tunnel. Nach Amanda, nach dem ganzen Scheiß – nach einfach allem. Und nichts ist drauß geworden. Egal, wie sehr ich mich nachher angestrengt habe, sie für mich zu gewinnen. Und jetzt ist es Nathan, an den ich mich klammre. Er ist der erste, der sich wirklich um mich sorgt. Mehr oder weniger, wenn man es mal so betrachtet. Seine Handynummer habe ich immerhin immer noch nicht. Aber er ist hier. Und ich brauche etwas, an das ich mich halten kann, damit ich weiß, dass ich nicht allein bin. „Scheiß Heroin, was?“ Woher … Verwirrt gleitet mein Blick auf meine Arme. M-hm. Klasse. Ja. Ich bin der Held dieser Geschichte. Ich bin es wirklich. Ich bin nur zu einem schwachen Nicken in der Lage. Zwei Tage sind es bereits, bis ich endlich zum Hörer gegriffen habe. Allein bekomme ich es nicht hin. Zu groß ist die Versuchung im Moment – das Wissen, dass da noch was in meiner Kommode liegt. Willenskraft reicht da nicht aus. Wirklich nicht. Und es macht mich fertig. Sein Arm gleitet meinen Rücken herunter, während wir noch im Bad stehen. Kurz geht er etwas in die Knie, ich spüre seinen anderen Arm in meiner Kniekehle, dann hebt er mich an und mir wird von dem plötzlichen Positionswechsel bereits wieder übel und schwindlig. Ich kralle mich verzweifelt an ihn, schließe die Augen und finde mich wenig später in meinem Bett wieder. Stöhnend rolle ich mich zur Seite. Das geht doch so nicht. „Wo hast du noch was?“ „Kommode.“ „Sonst noch wo?“ „Nein.“ „Ian!“ „Nein, wirklich nicht… nur noch in der Kommode…“ Ich höre, wie die Schubladen nacheinander aufgezogen werden, ehe es raschelt, klimpert und alles aus eben dieser Schublade zusammengesucht wird. Das Tütchen, die Spritzen – alles. Ich bin so erbärmlich! Nathan verlässt den Raum, seine Schritte werden immer lauter, obwohl sie leiser werden müssten. Es ist einfach nur schrecklich. Meine Hand beginnt zu pochen und ich fühle mich, als wäre ich ein einziger Schmerz. Ich will das nicht mehr. Ich rolle mich zusammen, mache mich so klein, wie es nur geht und versuche, an etwas anderes zu denken. Neben mir gibt es das leise Geräusch, das entsteht, wenn man einen Eimer auf dem Boden stellt. Dann senkt sich die Matratze neben mir, er dreht mich auf den Rücken zurück, hilft mir, mich aufzusetzen. Nathan zieht mir das Shirt über den Kopf, lässt es auf den Boden fallen, öffnet dann meinen Gürtel und hilft mir aus der Jeans. Dann steht er wieder auf, kramt in meinen Schränken nach, bis er sich wieder zu mir setzt. Ich quäle mich mit seiner Hilfe in das Top und in die Jogginghose, bleibe dann aber halbtot im Bett liegen. „Willst du das wirklich durchziehen?“ „Ja.“ „Es gibt professionelle Hilfe, die das alles ein wenig erträglicher macht, Ian.“ „Vergiss die Scheiße. Das sind alles Wichser!“, fluche ich vor mich hin. Ich brauche keine Hilfe von Ärzten. Ich brauche keine Ersatzdrogen. Ich brauche einfach nur jemanden, der mir etwas hilft. Aber keinen Arzt. „Sht, sht, sht“, macht er nur, dann spüre ich etwas Kaltes, das auf meiner Stirn landet. „Ok.“ Ok? Mehr nicht? Nur Ok? „Dann bringen wir das zusammen hinter uns.“ Das war der Satz, den ich hören musste. Die Nacht über tat Nathan kein Auge zu. Natürlich war es abzusehen gewesen, aber dennoch war es hart. Ian schlief kaum, er warf sich von einer Seite zur andere, wachte immer wieder auf und übergab sich im viertel Stunden Takt. Erst gegen fünf Uhr in der Früh schien es ruhiger zu werden. Langsam und leise erhob sich Nathan zu dieser Zeit aus dem unbequemen Bett des Älteren, streckte sich. Wie man auf diesem Brett von Matratze nächtigen konnte, würde er wohl nie verstehen… Wenn Ian wieder klar in der Birne war, sollte er ihn mal fragen, ob er noch alle Latten am Zaun hatte… Auf so etwas zu pennen… Mit einem Seufzten wandelte er selbst einem Geist ähnlich mit dem Eimer ins Bad, leerte diesen aus und brachte ihn erneut ins Schlafzimmer, stellte ihn auf den Boden. Eigentlich war er nicht der Typ dafür. Er pflegte Kranke und Verletzte nicht. Dazu war er eigentlich nicht in der Lage. Vor allem auch, weil er eigentlich Erbrochenes nicht sehen konnte, ohne dass ihm selbst auch ganz anders wurde. Wie er das hier machte, war ihm selbst irgendwie nicht klar. Vielleicht lag es an dem ganzen Hintergrund, was auch immer. Kurz warf er einen Blick auf den im Moment ruhig Schlafenden, ehe er die Scherben im Bad beseitigte und schließlich in die Küche schlich und sich erst einmal einen Kaffee fertig machte. Immerhin war es ordentlich in der gesamten Wohnung, sodass er alles fand, was er suchte. Es war erstaunlich, aber jedes Mal überraschte es ihn. Er wusste, dass Ian allein lebte und dass es auch keine Frau in seinem Leben gab, die ihm hinterher räumte und dennoch sah es hier aus, wie geleckt. Ok, bis auf so ein paar kleine Schönheitsfehler, aber die waren angesichts der Tatsache, in welchem Zustand sich Ian selbst befand, einfach zu übersehen. Mit der Tasse in der Hand lehnte er sich an die Anrichte, richtete seinen Blick aus dem Küchenfenster und blickte in gar finstere Nacht. In einigen Fenstern brannte bereits Licht, aber die meisten waren noch abgedunkelt. Kein Wunder. Es war auch erst irgendwas kurz nach fünf. Wer auch immer um diese Zeit schon wach war, hatte entweder eine Schlafstörung oder aber befand sich in einem der undankbarsten Jobs der Welt. Und er stand nun auch hier. In einer fremden Wohnung, in einer fremden Küche, in einer fremden Umgebung. Das war nicht normal. Nicht um die Uhrzeit – nicht im Urlaub. Was mache ich hier überhaupt?, dachte er sich, fuhr sich mit den Fingerspitzen durch die Haare und nahm einen Schluck des schwarzen Kaffees. Es war ihm ein Rätsel. Er hatte soviel gehört, über einen solchen Entzug. Es war nicht gerade leicht. Anfangs war es schwer, dann würde es noch schwerer und dann wieder leichter. Die eigentliche Aufgabe war es ja, clean zu bleiben. Eigentlich, so dachte Nathan, war es für Ian nicht schwer gewesen. Er hatte keinen Kontakt zu solchen Leuten gehabt. Und, so wusste er, war der Ältere auch schon eine Weile clean gewesen. Bis er halt nach Orlando kam und hier her zurückkehrte. Wie bist du hier nur dran geraten, Ian, überlegte er, rieb sich müde über die Augen. Wie lange es dauern würde, war ihm unklar. Er hoffte einfach nur, für sich und für Ian, dass alles gut ging. Er wollte nicht, dass irgendwas schief lief und Ian nachher im Leichensaal endete. Solche Fälle hatte es ja auch bei einem solchen Entzug gegeben. Vielleicht war es alles ein Fehler. Ein großer Fehler… Vielleicht. Aber das wusste er ja nicht. Wie auch? Noch lief es den Umständen entsprechend gut. Langsam wurde die Stille jedoch unterbrochen. Schleichend kam Ian über den Flur geschlappt, betrat die Küche. Er sah grauenvoll aus. Das Top war durch und durch verschwitzt, die braunen Haare klebten ihm im Gesicht und die Hose saß auch nicht mehr wirklich an Ort und Stelle. Von dem Gesichtsaudruck einfach mal abgesehen, wirkte Ian eher wie jemand, der gerade aus der Anstalt entlaufen war. „Ich hab’n Kopf wie’n Rathaus“, war das erste, das ihm müde und vollkommen fertig entgegen gefaucht wurde. „Bekomm ich’ne Aspirin oder so was?“ „Vergiss es“, kommentierte Nathan das nur eiskalt. „Leg dich wieder hin.“ „Meine scheiß Beine tun weh.“ „Dann setz dich oder leg sie hoch.“ „Du bist’n dreckiges Arschloch, Nathan.“ „Du wolltest mich hier haben.“ „Als Hilfe, ja. Nicht als Foltermeister.“ „Gerade du solltest es besser wissen.“ Es folgte eine Weile Stille, in denen sie sich einfach nur ansahen. Stur entgegenblickten. Ian forderte, Nathan hielt dem entgegen. Es war egal, was Ian tun würde. Dass dieser junge Mann vor ihm aggressiv werden würde, war abzusehen. Bei Ian galt das Sprichwort: Stille Wasser sind tief. Und es stimmte. Hinter dieser eiskalten Mauer, die der Ältere vorher hatte, steckte so viel mehr. Diese coole Art war einfach nur ein Panzer gewesen. Nathan hatte es geschafft, diesen anzubrechen, sonst wäre er nicht hier. Soweit war das bisher schon einmal klar. Und wenn er eines gelernt hatte, aus den Erzählungen seines damaligen Umgangs, dann war es, dass jeder anderes reagierte. Mal waren es ganz ruhige Vertreter, die es über sich haben ergehen lassen, jede Hilfe annahmen und dann waren da Leute wie Ian. Ruhig nach außen, aber sobald es auf solche Dinge wie diese hier hinauslief, mutierten sie zu den geborenen Arschlöchern der Welt. Und Nathan kam damit klar. Es war ja nicht so, als wäre Ian vorher die netteste Person gewesen. Eher dass Gegenteil – wie erwähnt. „Hast du’s den Abfluss herunter gespült gestern?“ „Das Klo runter, ja.“ „Oh man.“ Ian fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht, ehe er sich wirklich setzte. „Wirklich?“ „Ja. Habe ich. Gibs doch zu. Du hast dir die letzten Tage trotzdem immer wieder einen Schuss verpasst?“ „Nein … ach, was weiß ich…“ „Damit ist jetzt Schluss. Entweder du ziehst es durch ohne zu jammern, oder aber ich bewege meinen Arsch in mein Auto und fahre zurück nach Hause und genieße meinen Urlaub.“ Er würde, was das angeht, einfach hart bleiben. Das ging nicht anders. Und dieses Gejammer wollte er nicht. „Nathan … es geht mir beschissen.“ „Du bekommst keine Medikamente von mir, Ian. Vergiss es. Ich weiß nicht, was du dir da alles in die Vene gejagt hast. Denkst du etwa, ich riskiere, dass du mir krepierst? Vergiss es.“ Seine Tasse auf die Anrichte stellend, nahm er eine weitere vom Harken und füllte diese mit Kaffee. „Trink erst einmal was.“ „Ich kann nicht – mir wird jetzt schon schlecht…“, kommentierte der Brünette die Worte, musterte die Tasse vor sich skeptisch, ehe er sie etwas von sich schob. „Wasser?“ „Gar nichts, Nathan.“ „Ja, ne. Das ist total klar. Trink die Scheiße, Junge. Ansonsten muss ich mir überlege, wie ich dich zum Trinken bekomme. Scheißdrauf, was es ist.“ „Bier vielleicht?“ „Ja, genau. Daraus machen wir dann gleich dein Hauptnahrungsmittel, was? Und dann kann ich dich nachher einsperren und erneut zum Entzug zwingen, weil du dann auf einmal Alkoholiker bist oder was?“ „So schnell geht das gar nicht.“ „Nein. Das weiß ich selbst.“ „Also warum sagst du es dann.“ „Du versteht mich nicht, oder? Ich mache das hier nicht zum Spaß.“ „Dann fahr doch verdammt noch mal wieder in dieses abgefuckte Kaff Orlando. Werd glücklich da!“ „Nein. Ich bin jetzt hier bei dir.“ „Ich hab dich nicht drum gebeten, wirklich hier zu bleiben.“ „Doch, das hast du getan. In dem Moment, in dem du mich angerufen hast und mich gebeten hast, hier her zu kommen. Und jetzt bleibe ich hier.“ „Du kannst Sammy aber nicht ersetzen.“ „Ich weiß das. Ich bin nicht Sammy. Ich bin nicht deine aus dem Ziel verlorene Ersatz - Traumfrau. Aber ich bin dein Kumpel.“ „Pah. Du bist auch nur einer von diesen vielen Idioten.“ „M-hm, genau. Einer von diesen vielen Idioten“, wiederholte Nathan nur, kam auf Ian zu und hockte sich vor diesen auf den Boden. „Und genau deswegen, weil ich nur einer von diesen vielen Idioten bin, bin ich hier“, erklärte er ihm und legte seine Hände auf Ians Knie. „Du gehst jetzt erst einmal duschen, ich werde gleich einmal in die Stadt gehen. Dein Kühlschrank ist leer bis auf ein paar halbvolle Flaschen und Lebensmittel, die auf Pfiff hören.“ „Wie lange wirst du weg sein?“ „Keine Ahnung. Ich kenne mich hier ja nicht aus…“ „Verirr dich nicht.“ „Werde ich schon nicht. Und jetzt ab mit dir ins Bad.“ Damit erhob sich auch Nathan aus seiner hockenden Position. Um halb neun verließ er dann das Haus und versuchte, den nächsten Supermarkt zu finden. Es dürfe ja nicht so schwer sein, oder? Supermärkte gab es schließlich überall wie Sand am Meer. Suchend wurde er fündig, nachdem er gut eine viertel Stunde durch die Stadt gefahren war. Ein wenig komisch war ihm dennoch. Er wollte Ian nicht zu lange allein lassen und vor allem wusste er nicht einmal, was ihn hier alles erwarten könnte. Wer weiß, was und wer in den Gassen lauerte? Wenn das hier an sich alles überstanden war, würde er ins Black fahren und Vincent einen kleinen Besuch abstatten. Natürlich erst, nachdem er Lindsay sicher bei Samantha untergebracht hatte. Er stellte seinen Wagen auf dem Parkplatz ab, stieg aus und ging seinen Weg ins Innere des Ladens. Es war doch wirklich immer dasselbe Schema, das einen erwartete, sobald man durch die Schiebetüren trat. Gelangweilt manövrierte er den Einkaufswagen durch die Gänge, ließ das, was man zum leben brauchte, in eben jenen Wagen fallen und hoffte, schnell wieder hier heraus zukommen. Noch ein paar andere Besorgungen erledigend, ging er die Bürgersteige in der Stadt entlang, schleppte die Tütchen durch die Gegend. Auch wenn er sagte, er würde Ian ohne Medikamente auskommen lassen, konnte er es nicht mit sich selbst vereinbaren, den Brünetten leiden zu lassen. Er wollte einfach nicht, dass Ian litt. Weswegen er die verschiedenen Drogerien abklapperte und Apotheken aufsuchte. Durch die Blume fragte er die Damen hinter dem Tresen nach Medikamenten, die man auch ohne weiteres verabreichen konnte. Bekommen hatte er meistens keine Antwort. Allein deswegen waren es so viele Läden, die er hinter sich brachte. Nur in zweien war er bisher fündig geworden und machte sich nun auf den Weg zurück zu seinem Wagen. Die abgelegeneren Gassen die er dabei durchquerte, hätte er wohl nicht nehmen sollen. Ian meinte immerhin, dass er sich nicht ‚verlaufen sollte’. Und genau das war es wohl, was er meinte. Nachdem er nämlich leider einmal falsch abgebogen war, fand er sich dort wieder, wo er sich auch in Orlando immer wieder gefunden hatte. Diese schäbigen Gassen mit den verruchten Gebäuden, die man lieber nicht betreten würde. Es war zwar helligster Tag, aber dennoch fand man schon die ein oder andere Alkoholleiche im Hauseingang liegen. Stimmen drangen zu ihm durch: Streit, Klagen, Angst. Aber es interessierte ihn nicht. Er hoffte einfach nur, hier schnell heraus zu kommen. Bei seinem Glück würde er früher oder später noch jemanden über dem Weg laufen, den er nicht treffen wollte. Weiter die Gasse hinunter kam er an einer Bar vorbei. Von außen sah das Gebäude normal aus, sogar recht renoviert und ordentlich. Dirty Talk nannte sich das Ganze. Kreativ, dachte Nathan sich und versuchte nicht einmal weiter darüber nachzudenken, was in diesem Gebäude vor sich ging, so bald die Sonne untergegangen war. Als er zurück in die Wohnung kam, die Ian sein eigen nannte, empfing ihn das Geräusch des Fernsehers, leise Stimmen und ebenso ein leises Schnurren, Maunzen. Seine Augenbrauen hoben sich leicht an, während er die Tür mit dem Fuß zurück ins Schloss schob und die Einkäufe dann in den Schränken und ihm Kühlschrank verstaute. Die Packung Kopfschmerztabletten, die er in einer der Drogeriemärkte auftreiben konnte, nahm er gleich mit und ging ins Wohnzimmer. „Du hast wieder ein wenig Farbe im Gesicht. Geht’s dir einigermaßen?“, fragte er, stellte den Fernseher ab und blieb auch gleich vor jenem Gerät stehen. „Es geht. Meine Beine tun nicht mehr weh, die Kopfschmerzen sind nicht mehr ganz so schlimm und meine Übelkeit ist im Moment verschwunden. Und bist du zufrieden, wenn ich dir sage, dass ich den Flascheninhalt der Pullen im Kühlschrank vernichtet habe?“ „Hm, ob ich zufrieden bin“, wiederholte Nathan und warf dem Älteren die Packung zu. „Zwei, Maximum.“ „Wo warst du so lange?“, erhielt er nur die Frage, nachdem der andere die Packung in die Hand nahm und den Rückentext las. „In der Stadt…“ „Hast dich nicht verlaufen?“ „Absichtlich vielleicht. Sagt dir das Dirty Talk vielleicht etwas?“ „Ja, tut es. Wag es nicht, da noch einmal vorbei zu gehen.“ „Hatte ich nicht vor.“ Er bewegte sich aus dem Sichtfeld auf den Fernseher, trat auf die Wand hinter dem Sessel zu. Warum er sich nicht dorthin verwirren sollte, hinterfragte er nicht weiter und ließ es einfach so stehen. Es handelte sich mit Sicherheit nur um eine Absteige, die dem Black nicht sonderlich unähnlich zu sein schien, weswegen er lieber das Thema wechselte: „Woher kommt die Katze?“ Die schwarze Fellkugel, die es sich auf Ians Bauch zusammen gerollt hatte und es genoss, von diesem gestreichelt zu werden, knurrte glücklich vor sich hin und schenkte Nathan keinerlei Beachtung. „Wednesday. Sie lebt bei mir, seitdem ich hier lebe.“ „Ach, Wednesday heißt sie.“ „Ja, nach dem kleinem Miststück aus der Addams Family.“ “Du bist ein Freak.“ „Ich weiß.“ Nathans Blick glitt kurz über seine Schulter, dann auf die Fotos, die in verschiedenen Rahmen an der Wand hingen. Er sah Ians Brüder, seine Mutter und wohl seinen Vater. Er erkannte zwei junge Frauen – wohl seine Schwester. Von der Augenpartie her und auch von der Nase… Dann war da diese Katze – Wednesday. Ebenso Bilder mit Mike, Seth und den Jungs der Band. „Bist du mit denen eigentlich richtig gut befreundet?“ „Es geht… mit David verstehe ich mich recht gut, solange er mich nicht langweilt und nervt. Ansonsten … Mike ist ein guter Kumpel, aber mehr auch nicht. Sie alle wissen nur so viel von mir, wie ich von ihnen – also fast gar nichts.“ Nathan nickte, ließ seinen Blick erneut über die Wand gleiten, sah ein paar gerahmte Bilder von Samantha. Unter anderem auch ein paar Bilder, auf denen Sammy noch wesentlich jünger aussah. „Wann war das?“ „Als ich noch in Orlando bei meinem Vater gewohnt habe. Ein paar Jahre bestimmt schon.“ „Gott, wie sie da noch aussieht…“ „Niedlicher. Damals war sie wohl irgendwie sechzehn gewesen oder so etwas in der Art.“ „Hm … hast du sie in letzter Zeit mal wieder gesehen?“ „Nein. Ich habe mich auch nicht bei ihr gemeldet. Wegen dieser Sache.“ Ian fuhr sich mit der Hand über sein Gesicht, seufzte. Das hörte Nathan, sah es auch durch die Gläser der Bilder. „Sie war einmal dabei gewesen – damals war es schlimmer gewesen. Ich wollte nicht, dass sie es mitbekommt.“ „Hm…“ Sein Blick wanderte weiter. Auf einem weiteren Bild erkannte er Amanda. Damals hatte sie noch lange blonde Haare. Als er sie das letzte Mal sah, war sie hellbrüntt und hatte einen kurzen Bobschnitt getragen. Sie war eine solch schöne Frau, auch jetzt noch… Daneben erkannte er ein ‚Familienbild’ im engeren Sinne. Amanda, Ian und ein kleines brünettes Mädchen mit einem glücklichen Lächeln. „Cassy, nehme ich an“, sprach er es an und drehte sich wieder zu Ian um. „Ja, als sie vier war.“ „Sie war wirklich von dir?“ „Was soll das denn heißen?“ „Sie ist viel zu hübsch um von dir sein zu können.“ „Ha, ha“, kam es leicht angepisst von Ian zurück. „Das war echt mies, Nath.“ „Sie wär neun, oder?“ „Ja… wäre sie. Sie hätte im August Geburtstag gehabt. Sie mochte Schmetterlinge und liebte diesen Kinderfilm Däumeline. Du glaubst nicht, wie oft ich den sehen musste. Alle zwei Tage, bevor sie ins Bett musste… Amanda mochte lieber König der Löwen sehen. Ich musste mir also erst Däumeline ansehen und dann König der Löwen.“ „Schwer mit zwei Frauen, was?“ „Ich hätte gern noch einen Sohn gehabt. Meinetwegen auch noch eine Tochter. Aber … nun ja…“ „Das hat dich mitgenommen, oder? Ich meine, so richtig?“ „Was denkst du? Es hat Amanda in die Nervenklinik getrieben und mich in die Szene… Ich weiß nicht, normalerweise bin ich nicht so anfällig für diesen Gruppenzwang. Nur damals war es so, dass Vincent eine unheimliche Macht hatte, da ich auch noch angeschlagen und völlig fertig war…“ „Verständlich.“ Nathan setzte sich, lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und sah den Älteren vor sich an. „Wie bist du dieses Mal daran gekommen?“ „Ich bin von Orlando hier her zurück, zwei Tage später war ich im Dirty. Es war eigentlich auch nicht meine Bar, die ich gern besuche. Aber es hat mich dahin gezogen. Gibt den besten Vodka da und ich hatte das Bedürfnis, mir einmal wieder richtig die Birne wegzudröhnen. Die Dinge, die in Orlando passiert sind, ich wollte sie wegspülen. Irgendwie muss es dann passiert sein. Ich weiß nur, dass ich mich irgendwann bei einem der Dealer wiedergefunden hatte. Grauenvoll… Ich hatte nie Angst vor Spritzen, das war wohl ein Fehler… Dinge, vor denen ich Angst habe, ziehe ich nicht durch.“ „Ist das so?“, fragte Nathan nach, spürte den Blick Ians drohend auf sich. „Ich erzähl doch keine Scheiße, Arschloch.“ Dafür hatte Nathan jedoch nur ein müdes Lächeln über. „Schmeiß dir eine Pille in den Kopf, damit du mir hier ruhiger wirst. Auf wüste Beschimpfungen habe ich keine Lust. Ich geh Essen machen.“ „Du kannst nicht kochen.“ „Habe ich das jemals behauptet, dass ich nicht kochen kann?“ „… Nein?“ „Richtig. Also sei still.“ Die nächsten Tage wurden zu Mal zu Mal erträglicher. Woran es lag, wusste Nathan nicht so genau. Es war allgemein irgendwie merkwürdig. Als Ian so zusammengeschlagen vor seiner Haustür saß und zwei Tage quasi bei ihm geschlafen hatte, war es anders gewesen, als es jetzt ist. Und das lag nicht allein an dem Umstand, dass sich Ian in einem Entzug befand. Nein. Ganz sicher nicht. Es war einfach anders. Die Nächte wurden ruhiger, Ian weigerte sich nicht mehr, etwas zu essen. Immerhin musste er es nicht gleich wieder wegbringen. Er bekam mehr und mehr Farbe ins Gesicht zurück. Nur die leichten Ausraster hatte er immer noch nicht hinter sich. Ebenso wechselte er des Öfteren am Tag die Kleidung, da diese ewig vollkommen durchgeschwitzt war. Vor allem nachts. Aber es normalisierte sich im Gegensatz zu allem, was Nathan bisher gehört hatte, relativ schnell. Vielleicht lag es daran, dass diese Abhängigkeit nicht ganz so lange gedauert hatte und Ian gewillt war, es zu beenden, weil er wusste, dass es ihm nichts brachte. Was wusste er schon? Er konnte nicht in Ians Kopf gucken und das wollte er auch gar nicht, wenn er ehrlich war. Das einzige, was wirklich merkwürdig war, war, dass Ian so gut wie gar nicht mit ihm sprach. Nur morgens, dann während des Essens und ansonsten schwieg er sich beharrlich aus. Es war Donnerstagabend, eine Woche die Nathan hier verbracht hatte, war beinahe beendet. Freitag könnte er noch bleiben, Samstag auch noch, danach müsste er wieder nach Orlando fahren. Es gab eben Dinge, die ihn an diese Stadt banden, nicht zu letzt seine Schwester, sein Job, Samantha… Die Couch, seit einer Woche ausgeklappt und nicht wieder eingeklappt, war ordentlich aufgeräumt und Wednesday hatte es sich in der Mitte der beiden jungen Männer bequem gemacht, ließ sich von Nathan kraulen, während sie drei die Nachrichten verfolgten, die wie erwartet nichts Interessantes beinhalteten. Wie auch? Es passierte ja nichts. „Gibst du mir bitte die Decke?“, fragte Ian. Seine Stimme klang müde und seine Augen verrieten die Müdigkeit nur zu deutlich. Ohne ein Wort zu verlieren, reichte Nathan ihm die violette Sofadecke rüber, die auch gleich ausgefaltet und um die Schultern geschlungen wurde. „Geht’s dir nicht gut?“ „Ein wenig kalt… aber es geht.“ „Dann geh doch ins Bett. Du siehst müde aus, ist mit Sicherheit nicht gerade fördernd, damit du wieder vollkommen auf die Beine bekommst.“ „Das Schlimmste haben wir ja hinter uns. Du kannst am Samstag beruhigt wieder nach Hause fahren…“ „Sicher? Willst du nicht mitkommen?“ „Was? Nein“, kam es humorlos lachend von Ian zurück, der die Beine an den Körper zu und die Arme um diese schlang. „Diese Stadt werde ich erst einmal meiden… Vor allem habe ich eine Tanzschule zu leiten – irgendwo muss ich ja mein Geld her bekommen…“ „Du willst in dem Zustand arbeiten gehen?“ „Es ging auch, als ich drauf war. Nicht gerade gut, aber es ging… Man hat es nicht gemerkt.“ „Hm, ein wunderbarer Schauspieler.“ „Gebe ich nur zu gern zurück.“ „Wie kommst du darauf?“ „Wenn du nachts geschlafen hast, war ich manchmal wach, habe eine geraucht, wenn ich nicht schlafen konnte. Die Küche liegt genau gegenüber vom Wohnzimmer…“ „Und? Woher kommt deine Schlussfolgerung?“ „Du hast mir so viel erzählt, als ich bei dir in Orlando war, Nath. So viel. Und wenn du schläfst, erzählst du noch viel mehr, glaub mir. Ich habe schon längst hinter deine Maske geschaut.“ „Ich habe dir ja auch einen Blick dahinter gewährt.“ „Aber noch lange nicht alles.“ „Wir stehen uns nicht nahe genug, damit wir beide die Vorhänge herunterlassen, Ian. Merk dir das.“ „Nein?“ „Nein“, gab Nathan nur als Antwort. Es folgte ein Nicken des Älteren, dann herrschte eine Weile Stille zwischen ihnen. Irgendein Actionfilm lief im Fernsehen an, Wednesday verzog sich ins Schlafzimmer und Ian fielen mehr und mehr die Augen zu. Jedoch einschlafen tat er nicht. „Die Sache macht dir zu schaffen“, begann der Brünette und zuckte leicht die Schultern. „Du redest im Schlaf darüber.…“ „Sorry.“ „Schon ok. Hast mich ja nicht geweckt oder so… es ist nur interessant, was du von dir gibst… Vor allem, wenn du deinen Vater dabei hast.“ „Wie?“ „Vor zwei Tagen hast du irgendwas von deinem Vater erzählt. Du hast einen unheimlichen Wortschatz, was Flüche anbelangt… Und dann dein Bruder… Hast du davon eigentlich mal wieder etwas gehört?“ „Nein. Lindsay geht nicht mehr an ihr Handy, ich habe es des Öfteren probiert – erfolglos, leider… Richard hats ihr wohl verboten und eine neue Handynummer besorgt.“ „Geile Familie, wirklich. Da ist meine ja beinahe Gold wert gegen… Mein Dad ist war auch’n Arsch, aber deiner topts echt.“ „Deiner hat dich ja wohl auch verprügelt.“ „Manchmal… aber er hatte auch Grund dazu. Irgendwie hat er’s immer begründet.“ „Trotzdem ist das nicht ok.“ „Ich habs halt beschissen erwischt. Eine Hobbyhure als Mom, einen Irren als Dad. Also was solls? Meine restlichen Geschwister hatten es halt nur mit der Mom falsch getroffen. Die Väter sind alle recht ok.“ „Wirklich?“ „Ja. Die meisten kenne ich ja. Nicht gut, aber ich kenne sie.“ „Wenn du das sagst“, kam es nur ruhig von Nathan zurück, der nun auch die Beine anwinkelte, sich an die Rückenlehne sinken ließ. „Würde es dich stören…“ “Hm?“ „Wenn ich heute hier pennen würde?“ „Warum?“ „Weil ich mir den Arsch abfriere. Es wird meiner Meinung nicht warm im Bett und selbst jetzt friere ich trotz Decke, als würde ich in der Arktis campen…“ Perfectly Hopeless Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)