Wingless von Elena_Jenkins (Leseprobe) ================================================================================ Kapitel 10: Die Vergangenheit holt einen immer ein Part 2 --------------------------------------------------------- Schmale, dunkle Augen sehen mir entgegen. Ich erkenne den ‚Fick dich Blick’ in ihnen und innerlich seufzt alles genervt auf. Dieses kantige, kanisterartige Gesicht hatte ich gerade verdrängt und jetzt sehe ich es direkt vor meinen Augen. Die schmalen Lippen, den widerlichen Dreitagebart, die Narbe am Kinn… Gedehnte Ohrlöcher. Tattoos auf unmenschlich breiten Oberarmen. Das schwarze Tanktop spannt über die breite Brust. Die silberne Kette um den mächtigen Hals schneidet nahezu in die Haut. Vor mir steht Vince, der dunkelste Schatten meiner Vergangenheit. Er ist fünf Jahre älter als ich, somit noch zweiunddreißig Jahre alt. Ich hab ihn gekennengelernt, als ich fünfzehn war. Er zog gerade in die Wohnung neben uns im Haus und bekam viel von meinem Familienchaos mit. Anfangs war er wie ein guter Kumpel für mich, nachher war er der Vaterersatz und mein Vorbild. Vor allem in der Zeit, in welcher ich bei meinem richtigen Dad und dessen ewig wechselten Frauen lebte. Durch ihn bin ich erst in diese ganze Scheiße rein geraten. Nicht, dass ich vorher der Engel war, nein, ganz sicher nicht. Aber Vince war der Weg direkt in die Hölle. „Hallo Ian“, dringt seine rauchig, kratzig Stimme an mein Ohr und seine Hand drückt ein wenig fester zu. „Lange nicht mehr gesehen.“ „Die Freude ist ganz meinerseits“, bringe ich lässig hervor, schiebe die Hand von meiner Schulter und drehe mich wieder zurück. „Begrüßt man so einen alten Freund?“, fragt er mich. Was will er? Verlangt er ernsthaft, dass ich mich freue, ihn wieder zu sehen? Ganz sicher nicht. Es ist eher das Gegenteil, treibt seine Anwesenheit mir doch die Galle hoch. „Wo ist denn das liebreizende Pärchen hin, mit dem du hier warst?“ „Weg, wie du siehst.“ „Oh.“ Es klingt rein gar nicht bedauernd, als er dieses Oh verlauten lässt. Viel eher höre ich in diesem Ausdruck so viel Spott, wie selbst ich nicht in einen ganzen Satz unterbringen könnte. Und genau das regt mich gerade noch mehr auf. „Seit wann bist du wieder hier?“ „Das geht dich einen Scheißdreck an“, zische ich ihm nur eiskalt entgegen. Wieder fasste er meine Schulter, dreht mich zu ihm um. Ich könnte mich gegen ihn wehren, aber ich weiß, dass ich nur ein Ästchen im Gegensatz zu Vinces bulligen Körperbau bin. Da brauche ich nicht einmal den Versuch starten, würde er mich doch in der Mitte fünf Mal brechen. „Du sitzt in unserer Stammkneipe, solltest du das vergessen haben, Ian. Wer war der Schwarzhaarige?“ „Was interessiert es dich? Ich habe nicht drum gebeten, dass du zu mir rüber kommst.“ Ich zucke die Schultern, wirke nach Außen hin so wie immer. Lässig, kühl, gar so, als würde mich das alles nicht jucken. Aber innerlich schwitze ich Blut und Wasser. Für Vince war es das Schlimmste, wenn man ihm den Rücken zukehrte. Das habe ich getan, als ich Amanda kennen gelernt habe. Für fünf Jahre. Danach hat er mich mit offenen Armen empfangen und mich sogar vor einem totalen Blackout bewahrt, aber ich habe ihm ein zweites Mal meine Rückseite zugewandt und das war mein Fehler. Es ist ja nicht nur Vince, nein. Es ist eine ganze Gruppe hinter ihm, die nun auch gegen mich ist. Ich sollte keine Fehler machen, das ist mir bewusst, aber dennoch lasse ich mich doch nicht von diesem Kerl dumm anmachen. Ich lasse mich also vom Stuhl gleiten, stehe ihm direkt gegenüber und kann ihm in die Augen sehen. Wir sind ungefähr gleichgroß, wenigstens etwas… „Ich bin enttäuscht von dir, Ian“, beginnt er. „Ja?“ „Ja. Ich habe so viel für dich getan und wie dankst du es mir? Du vergisst wo du her kommst. Denkst du jetzt, du wärst etwas Besseres?“ Ich lege mein gewohntes, arrogantes Lächeln auf und antworte nur: „Ja, das denke ich.“ Leichtsinnig? Das gebe ich offen zu, aber ich werde vor ihm keine Schwäche zeigen. „Du bist mutig. Seit wann hast du so eine große Schnauze? Warst du doch auch früher eher der stille Typ.“ „Zeiten ändern sich, Vince. Ich bin erwachsen geworden, etwas, das du nie werden wirst.“ Gekünstelt lacht er, wirkt beinahe so, als würde er sich damit abfinden. Mit dem, was ich sagte. Aber dem ist nicht so. Er dreht sich leicht zur Seite, sodass ich für einen Moment ins Grübeln komme, ob er geht. Aber mir wird erst bewusst, dass Vince niemals einfach nur geht, als er ausholt. Den Schmerz vorher ahnend, bleibe ich dennoch angewurzelt stehen. Ich bin nicht fähig mich zu bewegen. Erst als nichts kommt, richte ich vorsichtig den Blick zur Seite. „Schlag zu und du wirst mehr Schmerzen leiden, als er.“ Vince Handgelenk befindet sich in Nathans Griff. Er hält ihn einfach so davon ab, mir eine zu verpassen. Das hätte ich von ihm gar nicht erwartet. Wirklich nicht. Weder, dass er über diese Kraft verfügt, noch, dass er sich für mich einsetzt. „Wer bist du denn?“, zischt Vince, zieht seine Hand zurück und tritt einen Schritt auf Nathan zu. Auch Nath ist schmaler als Vince – eigentlich auch keine Kunst, aber doch scheint es sich Kräftemäßig nicht viel zu nehmen. Stur blickt Nathan in die kleinen, dunklen Augen des wesentlich Älteren und ich kann nichts anderes tun, als einfach nur zuzusehen. „Dein schlimmster Albtraum, solltest du hier eine Schlägerei anzetteln.“ „Ha, von dir Witzfigur oder was?“ „Nathan, lass gut sein“, mische ich mich ein. Ich will hier keine Prügelei. Vor allem, weil die ganzen Gäste hier nur noch Applaus leisten würden, anstatt dazwischen zu gehen. „Halt dich raus, Ian“, erhalte ich die Anweisung Vinces. Er befiehlt mir also immer noch? Wie damals… „Zurück zu dir…“ Sie standen sich direkt gegenüber. Nathan konnte den heißen, nach Alkohol riechenden Atem auf seiner Haut spüren. Er sah diese widerlichen Augen und hörte diese noch wesentlich widerlichere Stimme. „Bitte?“, gab er von sich, bewegte sich nicht, blieb nur aufmerksam. „Was fällt dir ein, dich in etwas einzumischen, das dich augenscheinlich nichts anging?“ „Es ging mich nichts an? Ich denke, wenn man Leute von mir anmacht, es ist meine Sache. Also hör mir auf damit.“ „Ich glaube ich kenne dich irgendwo her“, folgt dann auf einmal eine Feststellung. „Meinst du das?“ „Habe ich dich hier nicht schon öfters gesehen?“ „Kann sein.“ Rau lachte Vince auf, stemmte die Hände in die Hüfte. „Du hast echt Nerven, weißt du das eigentlich?“ „Sollte ich das?“ „Weißt du, wer vor dir steht?“, wollte Vince wissen, fuhr sich dann über den verbliebenen Rest seiner schwarzen Haare, oder besser noch Stoppeln. „Es interessiert mich einen Scheißdreck wer du bist. Dreh dich einfach nur um, und geh.“ „Du hast ein recht loses Mundwerk, Junge.“ „Ich habe nur einfach keine Angst vor dir. Andere scheißen sich vielleicht ein, ich nicht.“ „Große Worte für jemanden, der sich zweimal hinter mir verstecken kann.“ „Tja.“ „Sollen wir vor die Tür? Deine Fresse passt mir nicht, das muss ich ändern“, klärte Vince lässig auf, stand Nathan beinahe Stirn an Stirn gegenüber. „Das kann man auch hier drin regeln.“ „Nathan, komm. Lass sein, ich will dich nicht ins Krankenhaus fahren müssen.“ „Fresse, Ian“, wurde dem Brünetten von Vince entgegen gefaucht. Nathan jedoch störte sich gar nicht an der stetig aggressiver werdenden Stimme. Auch störte er sich nicht an der Hand, die sich in sein Shirt gräbt. Sein Blick glitt nur auf die Hand, dann wieder zurück in das Gesicht. „Du willst das hier mit mir regeln?“ Wieder zuckte Nathan nur die Schultern. Sollte es ihm doch egal sein. „Hast du gar keine Angst, dass ich dir was brechen könnte?“ „Du wärst nicht der Erste, der mir was bricht. Aber dabei blieb es dann auch. Glaub mir, bevor du mir ernsthaft was tust, liegst du und weinst nach deiner Mutti.“ Vinces Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen. „Du wirst mir immer unsympathischer.“ „Gleichfalls.“ Er würde den ersten Schlag nicht tätigen. Niemals, denn dann wäre es seine Schuld, dass alles aus dem Ruder lief. Viel eher ließ er andere für sich arbeiten. Sollte der Ältere doch zuschlagen. Es wäre ohnehin nur einen, den er kassieren würde. Nathan hatte den Gedanken gar nicht richtig ausgedacht, da spürte er auch schon, wie die Faust des anderen mit seinem eigenen Kiefer kollidierte. Leicht taumelte er zurück, stieß an die Theke an und sah das Grinsen auf dem Gesicht Vinces. Der metallische Geschmack von Blut machte sich auf seiner Zunge bemerkbar und die rote Flüssigkeit glitt über seine Lippen, als er seine Zunge über diese gleiten ließ. Mit dem Handrücken wischte er dieses beiseite, zog sein arrogantes Lächeln hervor. „Das war alles?“ Er ließ sich, nach allem, was er bisher hinter sich gebracht hatte, nicht einfach so von einem möchtegern Gangster ausschalten. Erst recht nicht nach einem Schlag. „Bitte, das war ein Witz.“ Er hörte hinter sich, wie Ian wieder auf ihn einredete, er solle doch Kleinbei geben. Innerlich konnte er das Puzzle nicht zusammensetzen, das das Bild komplettieren sollte, warum Ian gerade so erpicht darauf war, dass er aufhörte. Das Folgende, passierte binnen eines einzelnen Augenaufschlags. Die ersten Leute sammelten sich um sie, winkten ihre ebenso neugierigen Freunde und Begleiter heran, dass sich binnen weniger Sekunden ein Kreis um Nathan und Vince bildete. Vince, in seinem Stolz gekränkt, ließ es sich nicht zweimal sagen. In seinem Kopf schien sich irgendein Schalter umzulegen, so, wie sich sein Gesichtsausdruck veränderte. Es waren nur wenige Meter, die ihn von Nathan trennten. Diese kurze Distanz war schnell überwunden, die Hand zur Faust geballt und versucht zugeschlagen. Natahn jedoch schien in Vince wirklich keine ernstzunehmende Bedrohung zu sehen, so ging er doch einfach in die Knie, tauchte unter dem Schlag hinweg und kam zu Vinces Seite zum stehen, konnte so den wahllos gesetzten weiteren Schlag blocken und legte grinsend den Kopf schief. „Hast wohl doch nur eine große Fresse…“, grinste er ihm dreckig ins Gesicht, umfasste das Handgelenk des Älteren, zog den Arm somit ein wenig weiter nach unten und versenkte sein Knie im Magen des anderen. Hustend blieb dieser einen Moment stehen, rang nach Atem. Die Blicke der umherstehenden Leute lagen auf ihnen, musterten sie. Aber niemand versuchte einzugreifen. Es war normal, dass hier in der Kneipe ab und an die Fäuste flogen. Und ohne störend zu sein, war es sogar eher eine willkommene Abwechslung, die etwas Action brachte. „Na komm.“ Er war so verdammt froh, heute nicht in einer engen Röhrenjeans zustecken, wirklich. Schränkte diese Art von Hose doch die Bewegungsfreiheit erheblich ein, sodass man wirklich gucken musste, ob man die Beine wirklich so hoch bekam, wie man sie haben wollte… „Du…“ Schwer stürzte der Bär von Mann auf ihn zu, verfehlte ihn aber um Längen und kassierte einen Schlag auf den Hinterkopf. Nichts festes, nur ein bisschen, um ihn weiter zu provozieren. „Komm.“ Immer noch grinste Nathan vor sich hin, wirkte wie die Leichtigkeit in Person und brachte Vince mit jedem weiteren Augenblick weiter auf die Palme. Aus dem Augenwinkel konnte Nathan erkennen, dass Ian inzwischen resignierend, aber dennoch alarmiert an der Theke stand. Wieder ein Schlag, wieder ein Block. Eine einzige angewendete Technik und Vince lag auf dem Boden. Mit de Gesicht nach unten. Man hörte das schwere Keuchen, das schmerzhafte Stöhnen, als Nathan aufstand und somit sein Gewicht von dem Rücken des Liegenden verschwand. Nathan ließ die Hand frei, die er soeben noch mit Kraft auf den Rücken gedreht hatte und konnte dem Drang nicht widerstehen, einen Tritt hinterher zu setzen. Nur hatte er nicht damit gerechnet, dass Vince um einiges robuster war, als er aussah. Und Vince sah verdammt robust aus. Schwer atmend stemmte dieser sich wieder hoch, startete einen weiteren Versuch, Nathan anzugreifen. Hatte jener ihm doch den Rücken zugewandt. Das Murmeln und Raunen der umherstehenden Leute wurde größer. Die mächtige, zur Faust geballte Hand flog in Zeitlupe auf Nathan zu. Ein Grinsen legte sich auf Nathans Lippen. Schon lange hatte er sich nicht mehr jemanden geschlagen – außerhalb des Ringes. Da war der Reiz doch um Längen größer. Er wich nur minimal nach hinten weg, befand sich jedoch in der absolut perfekten Position. Mit einer halben Bewegung, die er bereits so verinnerlicht hatte, dass er sie im Schlaf beherrschte, beförderte er Vince erneut zu Boden. Diesmal blieb dieser aber auch liegen und es war ein überraschtes, staunendes Grölen das durch die Kneipe ging. Langsam ging er auf den am Boden Liegenden zu, beugte sich über diesen. „Ich warne dich. Komm noch einmal in meine Nähe und ich tu’ dir richtig weh”, versprach er, wischte sich abermals über die Lippen. Mürrisch betrachtete er das Blut. Super, da war seine Lippe wieder so aufgeplatzt, dass es Wochen dauern würde, bis sie wieder normal aussehen würde. Hart fassten ihn jedoch die Hände Ians, zogen ihn zurück und drückten ihn gegen die Tresenkante. „Bist du wahnsinnig?“, fragte dieser zischend, gar wütend nach. „Bist du noch zu retten?“ „Warum?“, lachte Nathan jedoch nur, spürte, wie Ian sein Kinn fest zu sich drehte und sich das Wunder ansah, welches Vince da angerichtet hatte. „Deswegen. Du weißt nicht, wer er ist.“ „Und?“ „Wie viel hast du getrunken, verdammt?“, wurde er angefaucht. „Keine Ahnung... Bei Mike nur ein Bier. Hier … keine Ahnung.” Er sah, wie Ian die Augen verdrehte, ihn auf dem Hocker Platz nehmen ließ und sich selbst auch setzte. „Junge! Du hast den Falschen angefahren.“ „Hättest du lieber eine kassiert?“, stellte nun Nathan die Frage, war wieder vollkommen ernst und blickte fest in die braunen Augen seines Gegenüber. „Das wäre nicht nur eine gewesen, glaub mir.“ „Wer war dieser Kerl?” Kurz sah er über seine Schulter, sah, wie Vince in einer der dunkelsten Ecken dieser Räumlichkeit verschwand. „Mein dunkler Schatten der Vergangenheit. Du hättest ihn einfach machen lassen sollen. Jetzt hab nicht nur ich Probleme! Du weißt nicht, was du getan hast!“ „So jetzt hör mir mal zu“, hinderte Nathan ihn am Weiterreden. „Erstens brauchst du nicht denken, dass ich nicht weiß, was hier alles herum läuft. Zweitens bist du lange nicht in der Lage, mir zu sagen, was ich zu tun und zu lassen habe und drittens, sei einfach froh. Ich denke, du weißt, dass diese Leute hier über Leichen gehen, wenn du mit diesem Arsch da irgendwas zutun hattest.“ „Was machst du überhaupt in diesem Milieu?“ „Man glaubt kaum, dass selbst ich eine Vergangenheit habe, was?“ Wieder erschien ein Grinsen auf seinem Gesicht. „Ich komme hier her, seitdem ich zwölf war. Falsche Freunde und dieser ganze Scheiß. Deswegen kann ich mir auch ausmalen, wozu dieses Wesen gerade gehörte. Nur damit das mal geklärt ist. Nancy, doppelten Vodka“, damit wandte er sich an die Bedienung und stützte sein Kinn auf die Handfläche auf. Die Schwarzhaarige nickte und verschwand kurz hinter unter dem Tresen. „Ich kann nicht nach Hause“, gab er dann irgendwann zusammenhangslos von sich. „Warum?“ „Mein Vater setzt gleich noch eine hinterher, wenn er mich sieht.“ „Na, so schlimm ist’s nicht…“ „Er geht davon aus, dass ich mich nicht mehr prügele… Außer im Verein. Ach was solls, wird ohnehin Stress geben…“ Das Glas mit einer klaren Flüssigkeit und zwei Eiswürfeln fand den Platz vor seiner Nase. Nancy lehnte sich etwas zu ihm rüber, hob die feine Augenbraue in die Höhe und grinste. „Du hast den schwersten Fehler deines Lebens begangen, Nath“, grinste sie ihm frech entgegen. „Das war Vincent.“ „Meinetwegen kann er der Satan persönlich sein, das geht mir am Arsch vorbei“, kam es nur knurrend zurück. „Es wäre vor allem nicht der erste Fehler meines Lebens. Einer davon warst du, Baby.“ „Hattet ihr was zusammen?“, fragte Ian auch gleich in seiner kühlen Manier nach, lehnte sich ebenso wieder auf den Tresen auf und sah zwischen den beiden hin und her. „Mehrmals sogar“, klärte Nancy ihn auf. „Und jedes Mal war so gut, dass ich es nicht bereue. Unverbindlichen Sex mit jemanden wie Nathan. Hm, der Himmel“, schwärmte sie. „Du glaubst das gar nicht. Er weiß, wie man eine Frau glücklich macht.“ „Das sind ja Seiten an dir, Nathan. Von denen hätte ich niemals gedacht, dass es sie gibt.“ Nathans Kopf drehte sich leicht zur Seite, seine Augen blickten Ian entgegen und ein leichtes Lächeln legte sich auf seine Lippen, wobei er diese Tätigkeit sofort wieder unterließ. „Weißt du, Ian. Ich sagte dir schon einmal, ich besitze auch eine Vergangenheit.“ „Lass mich raten: diese geht mich nichts an?“ „Richtig.“ Damit griff Nathan nach dem Glas, stürzte den Inhalt in einem Zug herunter und ließ den Kopf dann auf die Tischplatte sinken. „Ich glaub, mein Kiefer ist ausgerenkt.“ „Baby, du könntest dann sicherlich nicht mehr sprechen“, nickte Nancy vor sich hin, begab sich auf eine Höhe mit Nathan. „Hm? Lass dich nach Hause fahren.“ „Ich will aber nicht nach Hause.“ „Oh“, machte sie nur, legte ihre Hand auf seinen Kopf. „Dann fahr mit zu ihm, oder zu deiner Freundin oder was auch immer.“ „Sie ist nicht meine … Freundin.“ „Du fängst schon an zu lallen, Süßer. Ian, richtig?“ Ian nickte, nachdem Nancy ihn angesprochen hatte. „Fahr ihn heim. Oder was weiß ich, aber fahr ihn wohin, wo er schlafen kann…“ „Lass gut sein, Nancy. Mir geht’s gut.“ „Natürlich geht’s dir gut, Nath.“ Sie machte eine kurze Pause, blickte ihn tadelnd an. „Ich kenne dich“, kam es dann aber in einer ernsten Tonlage hinterher. „Besser als es viele andere tun, also fahr nach Hause, bitte.“ Eine Hand legte sich auf seine Schulter, träge hob er den Kopf und sah Ian. Dieser blickte ihm direkt ernst und drohend entgegen. Das war Ian… so wie er ihn kannte. Nicht einmal einen Ton brauchte dieser sagen und er verstand sofort, dass es ein Befehl war, der sich dort versteckte. Leise seufzte er, rutschte vom Hocker und zog sein Portmonee aus seiner Hosentasche, blätterte das Geld passend auf den Tisch, atmete dann tief durch und bewegte sich – gefolgt von Ian – auf den Ausgang zu. „Ruf mich mal an, wenn du Zeit hast!“, rief ihm Nancy hinterher. „Ich hab dieselbe Nummer wie vor Jahren….“ Nathan jedoch hob nur die Hand, gab somit sein Einverständnis, ihrer Bitte irgendwann nachzukommen. Mit gewohnter Leichtigkeit ließ sich die Tür öffnen, und ebenso grauenvoll krachend fiel sie auch wieder zu. „Nathan, wir müssen unbedingt reden.“ Er blieb stehen, als er die Stimme hinter sich hörte. Warum verlangte Ian, dass sie miteinander sprachen? Wo war der Sinn? Das war unnötig. „Wir haben uns nichts zu sagen, Ian“, brachte er heraus und spürte selbst, wie seine Zunge doch schon ein wenig schwerer wurde. Warum schlug bei ihm der Alkohol immer erst so spät an? Das war nicht fair. Und dann noch das widerliche Pochen seiner Lippe und seines Kiefers. Das machte ihn gar wahnsinnig. Abgesehen von den Kopfschmerzen, die sich von der Seite her auf seinem ganzen Kopf ausbreiteten und ihn auszuknocken schienen. „Doch das haben wir.“ Es waren nur ein paar Worte, die ihm einen eiskalten, unangenehmen Schauer über den Rücken jagten. Wie angewurzelt blieb er vor seinem Auto stehen, blickte zu Ian, der ihm gefolgt war. „Du weißt gar nicht, in was für eine beschissene Situation du dich gerade gebracht hast.“ „Weißt du, wie scheiß egal es mir ist, in was für einer Situation ich stecke? Oder stecken werde? Es geht mir am Arsch vorbei, ja? Also versuch nicht, mich aufzuklären. Das ist nun wirklich nicht dein Job.“ Gerade als er sich umdrehen wollte, fasste ihn erneut Ians Hand und riss ihn so brutal um, dass die Welt sich kurz vor Nathans Augen zu drehen begann. Sein Rücken kollidierte hart mit dem Wagen und er befand sich Ian direkt gegenüber. Das Gesicht des Älteren war dem seinen so nahe, dass er beinahe schon sagen würde, es wäre ihm zu nahe. „Wir haben was zu klären. Erst erklärst du mir, was dich dahin verschlagen hat und dann erklär ich dir, warum du mit Vince den Fehler deines Lebens begangen hast, haben wir uns verstanden?“ „Erfahre ich dann auch gleich mehr über dich?“ „Zwangsweise, ja.“ Nathan sagte daraufhin gar nichts mehr, löste nur Ians Hand von sich und stieg auf der Beifahrerseite ein, nachdem er aufgeschlossen hatte. Die Fahrertür öffnete er von innen, reichte den Schlüssel an Ian weiter und lehnte sich zurück. Doch so weit kamen sie gar nicht mehr. Nachdem sie beide bei Ian zu Hause angekommen waren, schaffte es Nathan gerade noch in dessen Zimmer und auf die ausklappbare Couch. „Nathan“, sprach Ian ihn an. „Du musst deinen Hintern noch mal hochbekommen.“ „Gib mir einfach nur eine Decke und ein Kissen“, nuschelte Nathan kaum verständlich vor sich hin und fummelte an seinen Sportschuhen herum, die er nachher einfach auf den Boden gleiten ließ. „Willst du-“ „Kissen und Decke, Ian!“, brachte Nathan es hinterher und entledigte sich umständlich seiner weiten Jeans. Er hörte, wie Ian irgendwas von sich gab, aber er verstand es nicht. Später landete ein Kissen in seiner Richtung, ebenso eine Decke. „Kotz mir nicht die Bude voll“, wies Ian ihn noch an, ehe dieser sich auch in sein eigenes Bett verkroch und Nathan mit seinem Schlafplatz allein ließ. Ohne weitere Worte, ohne eine Antwort, rollte sich der Jüngere auf der Couch zusammen, zog die Decke über sich und schloss die Augen. Als ob er die Bude voll kotzen würde, so weit käme es noch! Vorsichtig schüttelte jemand ihn an seiner Schulter. Wie spät war es? Wieder einmal fühlte er sich, als wüsste er gar nichts. Langsam öffnete er die Augen, blinzelte einige Male und erkannte dann Ian vor sich. Es wurde irgendwie langsam zur Gewohnheit, dass dieser Typ das erste war, was er sah. Und das war mit der Zeit echt verdammt gruslig. „Hm?“, gab er von sich, legte in alter Gewohnheit den Unterarm über die Augen, als er sich auf den Rücken gedreht hatte. „Dein Handy klingelt in regelmäßigen Abständen.“ „Ist mir egal, lass es klingeln.“ Warum musste das, was er als erstes am Morgen hörte, Ians gelangweilte Stimme sein? Warum? „Es ist dein Vater.“ „Noch ein Grund mehr, es einfach klingeln zu lassen… wie spät es ist eigentlich?“ „Kurz nach zwölf am Mittag“, erhielt er die Antwort und nickte minimal. „Willst du wirklich nicht wissen, was dein Dad will?“ „Würdest du ran gehen, wenn dein Vater anrufen würde?“, stellte Nathan die Frage, richtete sich dann doch langsam auf und blickte auf Ian herunter. „Nein.“ „Warum sollte ich also abnehmen?“ „Weil – ich weiß nicht!“ Ian erhob sich langsam aus seiner hockenden Position. „Vielleicht weil deine Familie eine ganze Familie ist?“ „Was weißt du schon von meiner Familie? Meine Familie ist kaputt, obwohl sie zusammen ist. Meine Familie gibt es seit Jahren nicht mehr und erst recht nicht mehr, seitdem das mit Blake war. Also hör auf darüber zu urteilen, ob meine Familie ok ist. Du hast keine Ahnung von meinem Leben.“ Stumm blickten sie sich einen Moment lang an. Ian schien zu überlegen, was er sagen konnte oder ob er es überhaupt tun sollte. Und Nathan selbst war noch damit beschäftigt, erst einmal richtig wach zu werden, ehe er sich weiter einer solchen Diskussion widmete. Es war bei weitem nicht so, dass er einen Kater hatte oder etwas, das ihm das Denken erschwerte. Es war eher so, dass es ihm auf die Nerven ging, dass Ian sich heraus nahm, so etwas zu sagen. Aber ehe auch nur einer der beiden dazu kam, erneut etwas zu sagen, klingelte Nathans Handy. Immer wieder blinkte das Display auf, immer wieder leuchtete ‚Dad’ auf und immer wieder spürte er Ians Blick auf sich. „Was, wenn etwas mit Lindsay ist?“ Plötzlich keimte Panik in ihm auf. Es waren nur ein paar Worte, die auf einmal alles durcheinander warfen und Panik aufkommen ließen. Daran hatte er gar nicht gedacht … Was, wenn Ian recht hatte? Ohne weitere Worte nahm Nathan das Handy vom Couchtisch, welches Ian wohl dort platziert hatte und nahm ab. „Dad, was ist los?“, fragte er auch gleich nach, hielt den Blick dann fest auf Ian gerichtet, welcher die Hände in die Taschen seiner Jogginghose steckte und ihn mit einem kühlen Lächeln musterte. „Wo bist du?“ , drang es ihm auch gleich aggressiv entgegen. „Bei einem Kumpel von mir. Ist gestern ein wenig spät geworden…“ „Du beschissenes Arschloch, du hast deinen Arsch nach Hause zu bewegen, wenn du schon tagsüber nie anwesend bist!“ Er hielt das Handy einwenig von seinem Ohr entfernt, so wie sein Vater ihn anbrüllte. „Wärst du anwesend, wüsstest du, was los ist. Aber du vergnügst dich lieber!“ Jedes Wort wurde ihm entgegen gespieen, als wäre er der schlimmste Unfall dieser Welt. So derart aggressiv hatte er seinen Vater schon lange nicht mehr erlebt… „Was ist denn?“, versuchte er es ruhig und lehnte sich auf der Couch zurück. Er wollte nicht zurück schreien, er wollte seine Stimme eigentlich gar nicht erheben. „Wir stellen die Geräte ab.“ Es schlug ein wie eine Bombe, wie eine alles vernichtende Bombe. Seine Gesichtszüge entglitten ihm mit einem Mal und das Handy glitt aus seiner Hand, fiel auf die Bettdecke, und blieb dort liegen. „Hast du gehört? Die Ärzte sagen, es hat keinen Sinn, er würde nur innerlich vor sich hin leiden und die Verletzungen am Kopf wären zu stark, sodass die Chancen darauf, dass er jemals wieder aufwachen würde, mit jedem Tag weiter gegen Null laufen.“ Wie durch einen Schleier hörte er das, was sein Vater ihm durch den Hörer entgegenbrüllte. Es war keine normale Stimmlage – bei weitem nicht mehr. „Nächsten Monat, am dritten. Beweg deinen Arsch gefälligst hier her. Deine Mutter will dich sehen.“ Er antwortete nicht. Er sagte keinen Ton und war auch gar nicht in der Lage, etwas von sich zu geben. Wie erstarrt sah er auf einen Punkt, der sich irgendwo neben Ian an der Wand befinden musste. „Nathan… Nathan!” Einige Male versuchte es sein Vater noch, ihn somit wieder ans Telefon zu bekommen, jedoch vergeblich. Was folgte war ein simples Tuten. Und erneut war es Ian, der vor ihm in die Knie ging und ihn ansah. „Nathan?“, hörte er seinen Namen. „Nathan, Alter, sieh mich an.“ Paralysiert richtete sich sein Blick auf den Brünetten vor sich. Er sah ihn an, sah ihn aber wiederum gar nicht. „Das können sie nicht machen…“ „Doch, können sie. Sie sind die einzigen Personen, die darüber die Entscheidungskraft haben.“ „Nein!“, platzte es leise aus Nathan heraus. „Nein! Das können sie nicht tun. Sie können ihn mir nicht wegnehmen. Er … er ist doch mein … Wir sind Zwillinge…“ „Ich weiß, Nathan. Aber du kannst an ihrer Entscheidung nichts ändern.“ Nur am Rand nahm er wahr, dass Ian seine Hände auf seine Knie legte, beruhigend darüber strich. Nicht einmal die Tränen bemerkte er, die ihm über die Wangen flossen. „Ich muss dahin... sofort!“ Wie verrückt sprang er auf einmal auf, beförderte Ian damit in eine sitzende Position auf den Boden und suchte seine Schuhe und seine Hose vom Boden. „Sofort“, wiederholte er. „Nathan“, sprach ihn Ian erneut an, kam sogar auf ihn zu. „Was?“ „Beruhig dich.“ „Es geht um meinen Bruder – da kann ich nicht ruhig bleiben.“ Fest fasste die Hand des Älteren seinen Oberarm, hielt ihn somit zurück. „Doch, kannst du. Es ist spät, da sind viele Autos auf der Straße und wenn du lospräscht wie ein Berserker, sehe ich dich das nächste Mal auf der Intensiv oder im Sarg. Beruhig dich“, hielt er ihn erneut an, sah ihm fest in die wässrigen Augen. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie sich das gerade anfühlt.“ „Glaub mir, das kann ich sehr wohl nachvollziehen.“ „Deine Tochter…“, kam es wispernd von Nathan und Ian nickte. „Tu dir einen Gefallen, beruhig dich.“ „Ich muss … Das…“ Nathan befand sich nicht mehr in der Lage, komplette Sätze zuformen. Seine Gedanken kreisten nur um das eine Thema, das ihm sein Vater vor nur wenigen Minuten so lieblos und brutal vor die Füße gespuckt hatte. Da konnte auch Ian nichts dran ändern. Ian drehte ihn zu sich, sodass Nathan ihn direkt ansehen musste, egal, ob er das wollte oder nicht. „Ich werde jetzt in die Küche gehen, du wirst mitkommen. Dann mache ich dir einen Kaffee und erst dann bekommst du deine Autoschlüssel von mir“, sprach Ian ruhig mit ihm. „Haben wir uns verstanden? Dann hast du dich beruhigt und kannst mit deinen Eltern darüber reden. So wird das nichts.“ Nathans Blick fuhr scanend über Ians Gesicht, dann nickte er leicht und atmete tief durch. Es war einfach alles zu viel. Gab es denn gar keinen Weg mehr nach vorn? War jeder Tag ein Schritt zurück in die Vergangenheit? Immer wieder trat er auf der Stelle, musste jedes Mal wieder einen Schlag einstecken, der ihn zurück warf. Jeden Tag auf ein Neues. „Komm.“ Mehr oder weniger freiwillig folgte er Ian aus dem Zimmer, die Treppe hinunter und dann in die Küche. Auf dem Weg dorthin musste er einigen Spielzeugen ausweichen und über Kuscheltiere hinweg steigen. Diese Wohnung war ein einziges Chaos… Nachdem der Ältere ihm mit einem Handzeichen andeutete, sich auf einen der Tresenhocker zu setzen, kam er diesem nach. Seine Hand stützte sein Kinn, während er Ian dabei zusah, wie dieser die altmodische Kaffeemaschine fertig machte und nebenbei lauschte er der angenehmen Stille. „Warum ist es so still?“, wollte er wissen, drückte seine Stimme in die richtige Tonlage zurück, auch wenn es ihm überhaupt nicht leicht fiel. Aber diese Schwäche so nach Außen kehren, gerade Ian gegenüber, wollte er dann auch nicht. „Miguelle ist mit seinem Vater weg, Niclas ist bei seinem Vater, Joel ist mit Derek auf den Footballplatz ein wenig trainieren und meine Mutter selbst ist … was weiß ich. Vielleicht vögelt sie sich gerade durch die Betten unserer Nachbarschaft. Was weiß ich.“ Es folgte ein unbeteiligtes Schulterzucken des Brünetten, ehe dieser sich zu Nathan umdrehte und sich an die Küchenzeile lehnte. „Du hast ja eine sehr hohe Meinung von deiner Mutter.“ „Sie ist nun mal das Miststück der Familie. Was kann ich denn dafür, wenn es eine Tatsache ist?“ „Hasst du sie so sehr, weil sie dich zu deinem Vater abgeschoben hat?“ „Ich habe, bis ich sechzehn war, in einem Loch von Wohnung gehaust. Meine Mum hielt es nicht für wichtig, sauber zu machen. Adriane kümmerte sich meistens um den Haushalt und ich kümmerte mich meistens um Nadine. Irgendwann hatte sie einen neuen Stecher, schmiss mich aus der Wohnung und schickte mich zu meinem Dad. Zu einer völlig fremden Person, die ich nie vorher gesehen habe.“ „Dann kommt dein Dad nicht von hier“, schlussfolgerte Nathan und versuchte sich auf die Sachen zu konzentrieren, die Ian ihm sagte. Eine Aufgabe, die nicht ganz einfach war, bei dem, was ihm im Kopf herum irrte. „Stell dir vor, mein Vater kommt aus Miami und kam nach Orlando nachdem er aus der Armee ausgetreten ist … sagt man das so? Egal, er war bei der Air Force.“ „Wie kam deine Mutter an ihn?“ „Was weiß ich… Ich weiß nur, dass er wesentlich mehr Geld auf dem Konto hatte, als wir damals als Familie.“ „Aber bei deinem Dad war es auch nicht besser?“ „Disziplin war bei ihm das A und O, aber lassen wir das.“ „Warum hast du dich nie gegen ihn gewehrt?“ „Was?“ „Warum du dich nie gegen deinen Vater gewehrt hast.“ „Meine Sache.“ „Du fängst schon wieder damit an.“ „Womit?“, begann Ian ihm entgegen zu zischen. Es schien, als wäre das Thema Familie wirklich ein sehr sensibles Thema. „Damit, dass du mir rein gar nichts von dir sagen willst und dass du schon wieder so grauenvoll kalt und aggressiv bist.“ „Mein Leben geht dich nichts an. Du erzählst mir doch auch nichts über dich. Verbleiben wir einfach so.“ „Und was war das gestern? Von wegen, wir müssten über irgendwas reden? Die Sache mit Vincent?“ „Mach deine eigenen Erfahrungen, du bist alt genug“, kam es nur trocken von Ian. „Ich bin immerhin nicht deine Nanny oder so was – nur weil du neunzehn bist, heißt es ja nicht, dass du einen Aufpasser brauchst!“ Ian nahm die Kaffeekanne, füllte zwei Tassen mit der braunen, dampfenden Flüssigkeit und stellte eine direkt vor Nathan auf den Tresen. „Du lässt mich also ins offene Messer rennen?“, fragte er rhetorisch nach. Natürlich wusste er, dass Ian dies tun würde. Er würde ihn hundertprozentig einfach auflaufen lassen und nachher lediglich die Blutlache wegwischen – wenn überhaupt. „Natürlich. Im Grunde ist es mir egal, was du tust und was du nicht tust.“ „Deine arktische Kälte wird mit Mal zu Mal schlimmer“, kommentierte Nathan nur trocken und seufzte nur tief durch. Konnte dieser Tag noch schlimmer werden? „Warum bekomme ich meinen Autoschlüssel noch nicht?“ „Weil das einfach so ist. Kaffee.“ „Junge, was willst du eigentlich von mir? Ich kümmere dich einen Scheißdreck, aber auf der anderen Seite versuchst du mich davon abzuhalten, mit mehr als hundert Sachen nach Hause zu fahren. Was ist los mit dir?“, fragte Nathan verzweifelt und etwas angefressen zugleich nach. „Ganz einfach: Ich habe keine Lust darauf, dass man mir vorwirft, daran schuld zu sein, dass du dir den Hals abgedreht hast.“ „Ich bin vernünftiger als du es bist.“ „Du prügelst dich auch einfach so mit einem Kerl, den du nicht kennst und der dir im Wesentlichen überlegen ist!“, begann Ian und senkte seine Stimme auf dein drohendes, kaltes Level, dass Nathan so noch nicht von ihm kannte. „Hm, im Wesentlichen überlegen“, murrte Nathan wiederholend vor sich hin, nahm einen großen Schluck von dem heißen Kaffee und hatte das Bedürfnis, die weiße Tasse, in der sich der kochend heiße Kaffee befand, einfach an die nächste Wand zu schmeißen. Und nur schwer schaffte er es, diesem Drang Einhalt zu gebieten. Was erlaubte Ian sich überhaupt? Erst sagte er, dass er nicht als Nanny fungieren wollte, aber im Umkehrschluss sorgt er sich dennoch um Nathan. Musste er das verstehen? Aber ohne weiter darüber nachzudenken, richtete er seinen Blick auf die Marmorplatte und konnte nichts dagegen tun, dass seine Gedanken mit einem Mal wieder zu Blake glitten. Erst als er die Hände Ians sah, die sich an der Tresenkante abstützten, sah er auf und blickte direkt in die kühlen braunen Augen des Älteren. „Wesentlich, ja. Das gestern, das war purer Zufall. Hinter ihm steht eine ganze Herde von Kerlen.“ „Und?“ „Und?“ Humorlos lachte Ian auf diese Antwort und Nathan verstand nicht, was das nun zu bedeuten hatte. Es machte für ihn keinen Sinn. Es war doch auch nur ein ‚Und’ wert. Mehr bedeutete dieser Vincent nicht für ihn. Wer auch immer das sein sollte, welche Rolle auch immer er spielte – es war Nathan schlicht und einfach egal. Mehr Probleme als er ohnehin schon hatte, konnte er kaum noch bekommen, daher war es ihm so derart egal… „Du ahnst nicht einmal etwas davon, wie dieser Kerl dich in die Scheiße reißen wird, wenn ihm deine Fresse nicht passt.“ „Die passt ihm bereits nicht. Und wenn, ist es mir auch egal. Noch schlimmer kann mein Leben gar nicht werden.“ Auch der letzte Rest des Kaffees wurde in einem Zug getrunken und Nathan streckte seine Hand mit dem Kommentar: „Schlüssel“, aus. Widerwillig, dass sah man Ian sofort an, gab dieser das Schlüsselbund mit dem Autoschlüssel an Nathan weiter. Jener strich sich die schwarzen Haare zurück, nickte und stieg vom Hocker herunter. „Ich bin ehrlich gerührt von deiner geheuchelten Fürsorge, Ian“, kommentierte Nathan staubtrocken, als er auf halbem Weg zur Tür noch einmal stehen blieb. „Aber so wie ich mich aus deinem Leben versuche herauszuhalten, halte du dich auch aus meinem heraus. Wir sind keine Freunde und unter diesen Umständen werden wir auch niemals welche werden.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)