So schnell von Niekas (Eine Geschichte, in der alle Kapitel übertrieben lange Titel haben, die sogar noch länger sind als dieser Untertitel) ================================================================================ Kapitel 5: Fünftes Kapitel, in dem Vogelfutter hoch im Kurs steht und man sich mit Kindheits-Traumata und der Bedeutung des Wortes „freiwillig“ auseinandersetzt ---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- Gilbert Auf der Suche nach Nahrungsmitteln ist es wohl klug, in der Küche anzufangen. Als ich durch die Tür zum Speisezimmer komme, steht Lorinaitis neben dem Tisch und hat eine Hand vor seine Augen gedrückt. Als würde er flennen, denke ich. Wie ein Mädchen. „Was ist passiert, Lorinaitis? Ist dir ein Nagel abgebrochen oder so?“ Er hebt den Kopf und starrt mich wütend an. Seine Augen sind nicht rot, stelle ich fest. „Lass mich in Frieden! Was weißt du schon?“ „Hey, hey, nur die Ruhe“, sage ich und hebe die Hände. „Ich suche nach Vogelfutter.“ „Vogelfutter? Wozu?“ „Dreimal darfst du raten. Um einen Vogel zu füttern, denk dir bloß.“ „Wir haben kein Vogelfutter im Haus“, sagt Lorinaitis und wendet sich ab. „Ich kann dir ein Stück trockenes Brot geben, wenn du willst.“ „Das wäre doch ein Anfang.“ Er nickt, ohne mich anzusehen. „Warte kurz.“ Während er in der Küche verschwindet, lasse ich mich auf einen Stuhl fallen. Trockenes Brot wird Gilbird sicher auch mögen. Hoffentlich sind Körner dran, die mag er. Plötzlich bemerke ich die Scherben auf dem Kehrblech, das neben dem Tisch herumliegt. Verdutzt betrachte ich die Bescherung. Das ist meine Bescherung. „Galante hat es aufgewischt“, sage ich, als Lorinaitis wiederkommt. „Wie bitte?“ Ich deute auf das Kehrblech. Er runzelt die Stirn und legt ein paar Scheiben altes Brot auf den Tisch. „Das war ich.“ „Du?“, frage ich. „Warum?“ Er schüttelt leicht den Kopf. „Warum, Lorinaitis?“ „Wieso gehst du nicht einfach deinen Vogel füttern?“ „Weil du meine Frage noch nicht beantwortet hast.“ „Ich habe es aufgewischt, weil Ivan es gesagt hat“, antwortet er knapp. „Alles andere geht dich nichts an.“ „Ach was!“ Ich runzle die Stirn. „Braginsky hat dich gebeten, mir den Arsch nach zu tragen?“ „Nicht in diesem Wortlaut, nein.“ „Aber im übertragenen Sinne schon, ja?“ „Lass mich in Frieden, Gilbert“, sagt Lorinaitis nur und klingt unglaublich müde. Ich fühle mich allerdings, als wäre ich gerade erst aufgewacht. „Was er wohl damit bezweckt, was meinst du? Ich dachte, du wärst sein Liebling und alles. Wie kommt es, dass er plötzlich...“ „Dass er dich plötzlich vorzieht?“, fällt Lorinaitis mir ins Wort, was verdammt unhöflich ist. „Dass du dich zu seinem Liebling entwickelst, vielleicht?“ „Zu seinem Liebling? Danke, darauf kann ich verzichten.“ „Nur schade, dass du keinen Einfluss darauf hast“, fährt er einfach fort. Seine Wangen glühen. „Und ich werde weder dir noch Ivan im Weg stehen, Gilbert. Ich werde liebend gern meine momentane Stellung aufgeben, glaub mir.“ „Schade, dass es dazu nicht kommen wird. Er hat zu viel in dich und deine Stellung investiert, glaubst du nicht?“ Lorinaitis sieht mich mit großen Augen an. „Hast du Angst?“, fragt er ohne Vorwarnung. „Angst?“ Ich schüttle den Kopf, weil der Gedanke so lächerlich ist. „Wovor denn wohl?“ „Davor, meinen Platz einzunehmen?“ „Ich habe vor gar nichts Angst, Lorinaitis. Halt dich gefälligst aus meinen Angelegenheiten heraus.“ „Ich soll mich heraus halten?“, ruft er aus und lacht kurz auf. „Aber du bist es doch, der mich nicht in Ruhe lässt, Gilbert! Du bist es, der ständig auf mir herum hackt! Warum tust du das, wenn nicht, weil du meine Aufmerksamkeit willst?“ „Du meinst, ich wäre ein Kind, das Aufmerksamkeit braucht? Ich bekomme alle Aufmerksamkeit, die ich brauche, Lorinaitis. Ich bin großartig!“ „Warum tust du es dann? Was für ein Problem hast du mit mir, Gilbert? Warum ignorierst du mich nicht, wie du es mit Eduard und Raivis auch tust?“ „Die beiden sind nicht wie du“, knurre ich. „Ach, nicht?“ „Mittlerweile sind sie es, aber früher gab es einen Unterschied zwischen euch. Streng mal deine grauen Zellen an, Lorinaitis.“ „Früher war ich frei“, antwortet er, ohne nachzudenken. „Heute sind wir alle drei Gefangene. Ist das der Unterschied?“ Ich starre ihn an. „Darauf willst du also hinaus?“, fragt er und zieht die Augenbrauen hoch. „Das ist alles?“ „Alles?“, zische ich. „Du hast doch keine Ahnung, Lorinaitis. Weißt du, dass ich bei allem Hass fast so etwas wie Respekt für dich hatte? Du warst der ewige Unbeugsame. Und dann ist Braginsky gekommen und hat dich mir nichts, dir nichts zu seinem Schoßhündchen gemacht? Einfach so?“ Lorinaitis sieht mich einen Moment lang an und verzieht die Lippen zu einem dünnen, fast spöttischen Lächeln. „Du hast Angst.“ „Haha! Als ob!“ „Davor, genau so zu enden wie ich. Du glaubst, du wärst unzerbrechlich, nicht wahr? Aber du hast vermutlich auch geglaubt, ich wäre unzerbrechlich, und hier stehe ich als der lebendige Beweis dafür, dass ich es nicht bin.“ „Und?“, schnaube ich. „Und?“, fragt Lorinaitis und lächelt noch immer. „Wenn ich es nicht bin, vielleicht bist du es dann auch nicht?“ Ich starre ihn an und weiß nicht, was ich sagen soll. Nach einer Weile tue ich das einzig Vernünftige, schnappe mir das Brot und gehe Gilbird füttern. Das ist jetzt erst einmal das Wichtigste. Ivan Vor den Fenstern ist es längst dunkel geworden. Ich nehme einen letzten Schluck Tee aus meiner Tasse und stehe aus meinem Sessel vor dem Kamin auf. „Ich werde jetzt ins Bett gehen. Gute Nacht.“ Raivis und Eduard heben die Köpfe von ihren Büchern. „Gute Nacht“, antwortet Eduard höflich, während Raivis nur irgendetwas Gedämpftes in sich hinein murmelt und mich von unten herauf anblinzelt. Ich reiße den Blick von seinem verängstigten Gesicht los und wende mich zur Tür. „Geht nicht zu spät ins Bett. Morgen ist wieder ein langer Tag.“ Sie nicken, und ich gehe hinaus. Morgen ist ein langer Tag, einer, an dem ich mich wieder mit Gilbert werde herumschlagen müssen. Noch warte ich darauf, dass mir endlich die zündende Idee kommt, was ich mit ihm anstellen soll. Vielleicht kommt sie heute Nacht, denke ich, im Traum. Oder vielleicht fällt Toris etwas ein... nein, ich möchte nicht mit Toris über dieses Thema reden. Ich möchte nicht mehr daran denken. Als ich gerade die Treppe erreiche, kommt mir jemand aus einem Gang entgegen. Gilbert ist barfuß, sein Schlafanzug (eine Leihgabe von mir) ist ihm zu groß. Er reibt mit einem Handtuch an seinen kurzen Haaren herum und sieht missmutig auf, als er mich bemerkt. „Gute Nacht, Gilbert.“ Er schnaubt, legt den Kopf auf die Seite und versucht anscheinend, etwas Wasser aus seinem Ohr heraus zu bekommen. Wenn sie nass sind, sind seine Haare von einem stumpfen Grau, nicht mehr dieses unnatürliche Weiß, das sie normalerweise haben. Das, die roten Augen und die empfindlich wirkende rosa Haut lassen ihn gruslig wirken. Vielleicht krank. „Braginsky. Kannst du mir verraten, warum in deiner Scheiß-Dusche das Wasser nicht warm wird?“ „Wie wäre es, wenn du auch Gute Nacht sagst?“ „Ich denke, du wirst so oder so eine haben“, erwidert er und lacht auf eine ziemlich dreckige Art. „Viel Spaß dabei.“ Verwundert lege ich den Kopf schief, sage aber nichts mehr dazu. Gilbert ist seltsam, das ist ja nichts Neues. Wenn er sich nur besser benehmen würde. Da ich nicht denke, dass es sich lohnt, noch mehr Worte an ihn zu verschwenden, steige ich die Treppe hinauf. Ich werde eine gute Nacht haben, denke ich. Toris sollte schon da sein. Ich habe ihm gesagt, er soll oben auf mich warten. Ihm kann ich vertrauen, denke ich. Er würde nicht in meinem Zimmer randalieren, während ich nicht hinsehe. So leichtsinnig wäre er nicht. „Guten Abend“, sage ich, als ich die Tür öffne. „Guten Abend“, antwortet Toris leise. Er sitzt auf der äußersten Kante des Bettes, ein Bein angezogen, das zweite herunter hängend, und schaut mich reglos an. Ich komme näher, setze mich neben ihn und schlüpfe aus meinen Wollsocken. Ein Geschenk von Yekaterina. Es geht doch nichts über warme Wollsocken. „Sie sind spät“, sagt Toris. Er sieht müde aus, überlege ich mitfühlend. Blass, kraftlos, die Augen nicht mehr vollständig geöffnet. „Es tut mir Leid, dass ich dich habe warten lassen. Ich wurde kurz von Gilbert aufgehalten.“ Warum habe ich das gesagt? Ich wollte doch nicht an ihn denken. Gerade von ihm wollte ich mich doch ablenken. „Wissen Sie“, sagt Toris und seine Lippen werden schmal. „Über Gilbert wollte ich sowieso noch mit Ihnen sprechen.“ „Ich nicht“, erwidere ich schroff. Er zieht die Augenbrauen hoch. „Aber...“ „Nein, Toris. Nicht heute Abend. Von mir aus können wir morgen darüber reden, aber nicht jetzt.“ „Warum nicht jetzt?“, fragt Toris. „Ich habe einen harten Tag hinter mir, Toris. Ich möchte mich davon erholen.“ In seinen Augen glänzt etwas, das mir nicht gefällt. „Wenn wir zuerst ein paar Dinge klären, können wir uns danach beide einfacher...“ „Toris!“, sage ich scharf. „Ich will nicht über Gilbert reden. Dafür sind wir nicht hier.“ „Ach nein?“, fragt Toris, der leicht zittert. „Warum geht es immer nur um Sie? Immer nur darum, dass es so geht, wie Sie es wollen? Warum können wir nicht einmal über das reden, was mir Sorgen macht?“ „Weil ich nicht darüber reden will! Ich will doch nur... vergessen, Toris. Ich will nicht an Gilbert denken. Ich will nur...“ „Sex“, sagt Toris schlicht. Ich starre ihn an, aber er verzieht keine Miene. „Und... und wenn es so ist?“, frage ich trotzig und rutsche auf meinem Platz hin und her. „Bisher hat es dich ja nicht... gestört.“ „Nicht gestört? Nicht gestört?“, wiederholt er, und seine Stimme wird immer schriller. „Wir haben eine Abmachung, Ivan! Eine sehr lose, eine ungeschriebene, aber immerhin eine Abmachung! Wenn Sie nichts tun, um mich vor Gilbert in Schutz zu nehmen, wenn Sie zulassen, dass er mich vor Ihren Augen demütigt, dann sehe ich nicht ein, meinen Teil der Abmachung noch länger zu erfüllen!“ Er rutscht vom Bett und richtet sich auf. „Wo willst du hin?“ „Schlafen gehen.“ „Du meinst...?“ Toris sagt nichts mehr, sondern geht zur Tür. Ich starre ihm nach und weiß nicht, was ich denken soll. In meinem Kopf ist ein riesiges Durcheinander. Ich will nicht an Gilbert denken, ich will mich endlich entspannen. Endlich etwas tun, das mich ablenkt. Ablenkung. Welches Recht hat Toris, mir meine Ablenkung zu verweigern? Bevor ich weiß, was ich tue, habe ich die schon geöffnete Tür vor seiner Nase zugeschlagen und ihn am Arm wieder zurück gezerrt. Er stolpert von dem groben Ruck und fällt mit einem schrillen Aufschrei auf den Boden, und ich bin im nächsten Moment über ihm. Eine Hand auf dem Teppich, die andere um sein Handgelenk geklammert. „Nein!“, kreischt Toris und versucht, mit der freien Hand nach mir zu schlagen. „Um Gottes Willen, bitte nicht!“ Sein Gesicht ist verzerrt, die Augen fest zugekniffen, aber trotzdem dringen die Tränen heraus. Sie quellen zwischen seinen geschlossenen Lidern hervor und laufen über seine geröteten Wangen. Ich hasse dieses verzerrte Gesicht. Alle Gesichter sehen gleich aus, wenn sie weinen. Es ist, als hätte ich an eine heiße Herdplatte gefasst. Noch bevor ich den Schmerz richtig spüre, mache ich einen Satz zurück, lande auf dem Rücken und starre Toris mit wild pochendem Herzen an. Dieses tränennasse Gesicht. „Katyusha“, flüstere ich. Toris ringt nach Luft, stemmt sich auf die Ellbogen hoch und schluchzt trocken auf, aber ich sehe ihn kaum noch an. Ich schlinge die Arme um die Knie, lege den Kopf darauf und versuche, mich zu verstecken. Verstecken vor der Welt. Was habe ich getan? Bin ich böse? Bin ich wie der kleine Mann, der unaufgefordert in Yekaterinas Zimmer gekommen ist, als die Fremden da waren? Der sie angefasst und die Zunge in ihren Mund gesteckt hat und sich danach verbeugt hat, verzeiht mir, werte Dame, als ob nichts weiter passiert wäre? „Katyusha“, würge ich hervor und spüre Tränen in meinen Augen brennen. „Verzeih mir, Katyusha... verzeih mir...“ Durch die Stille erklingt ein Knarren des Holzbodens, ein zaghafter Atemzug ganz in der Nähe, und eine Hand streicht zittrig über meine Schulter. Ich zucke zusammen und hebe den Kopf, aber es ist nicht Yekaterina. Natürlich nicht. Sie ist weit weg und in Sicherheit, Ivan. In Sicherheit. Toris scheint etwas sagen zu wollen, öffnet den Mund, schließt ihn dann aber wieder. Ich ziehe geräuschvoll die Nase hoch und wische mir mit dem Ärmel das Gesicht ab. „Es tut mir Leid“, flüstere ich. „Ich wollte das nicht. Ich wollte nicht... Toris... verzeih mir, bitte. Ich wollte dir das nicht antun. Ich könnte das auch gar nicht, das weißt du doch? Ich könnte niemals...“ „Ich weiß“, unterbricht Toris mich leise und lächelt. Es ist ein seltsam verletztes Lächeln, aber immerhin ein Lächeln, und ich liebe ihn dafür. Obwohl er aussieht, als würde er selbst sich dafür hassen. „Es ist, weil ich so unter Stress stehe“, murmele ich. „Das mit Gilbert, und mit... ich... ich weiß nicht mehr, was ich tun soll, Toris.“ Er nickt langsam. „Sie sollten ins Bett gehen“, erwidert er. „Das wird das Beste sein.“ „Bleibst du hier?“, frage ich hastig. „N-nur bei mir bleiben, sonst nichts! Nur, damit ich nicht allein bin. Mehr verlange ich gar nicht, Toris.“ Mehr kann und will ich auch nicht verlangen, nicht nach diesem Vorfall. Zu meiner grenzenlosen Erleichterung nickt Toris nach einem kurzen Zögern. „Danke“, sage ich leise und will ihn umarmen, lasse es dann aber bleiben. Nicht zu nahe kommen, wenn er es nicht tut. Es ist böse, Ivan, falsch und schmutzig und böse, und so willst du nicht sein. Du hast dir geschworen, niemals auch nur jemanden zu küssen, wenn er es nicht will. Dass du es mit Toris einmal ausprobiert hast, als du betrunken warst, genügt das nicht? War das nicht schon zu viel? Du willst nicht böse sein, also lass ihn in Frieden. Es sei denn, er spielt mit. Freiwillig. Das freiwillige ist der Trick dabei, Ivan. Erst, als wir neben einander unter der schweren Bettdecke liegen, nur eine Handbreit Abstand zwischen uns, frage ich mich, was freiwillig eigentlich bedeutet. Toris Beißender Rauch liegt in der Luft. Meine Hände, die den Griff des Schwertes umklammern, sind verschwitzt und zittern vor Entkräftung. In seinen Augen glänzt die pure Mordlust. Das Schneeweiß seiner Kleider ist schon von Dreck und Blut besudelt. Ich kann ihn nicht gewinnen lassen. Ich kann nicht verlieren. „Nimm dich in Acht, Heide! Deine Zeit ist abgelaufen!“ Ich stolpere und knicke mir den Fuß um, als ich stürze. Das Schwert rutscht mir aus der Hand, und ich habe nicht mehr die Kraft, nachzufassen. Im nächsten Moment trifft ein Tritt meine Seite. Stöhnend rolle ich auf den Rücken und blinzele in den hellen Himmel, der nur von ein paar Rauchschwaden verdunkelt ist. Die Klinge seines Schwertes liegt an meiner Kehle und drückt sich kalt in meine Haut, wann immer ich nach Luft schnappe. „Sieh dir das an. Ich bin stärker als du. Das wievielte Mal ist das nun, dass ich gewinne? Warum siehst du nicht ein, dass du nicht gegen mich ankommst? Warum unterwirfst du dich nicht wie deine Brüder?“ Sie sind nicht meine Brüder. Diese zwei blassen Jungen, die bei ihm leben, die nie einen Ton sagen, sondern sich still im Hintergrund herum drücken, kenne ich überhaupt nicht. „Sieh es ein. Du hast verloren, ich bin die Nummer eins. Warum machst du es dir selbst so schwer?“ Es ist dunkel und kalt. Irgendwo tropft Wasser oder irgendeine andere Flüssigkeit auf Stein. Meine Hände fühlen sich an, als würden sie gleich aus den Gelenken reißen. Ich bin erschöpft, zittrig von den Schmerzen, heiser vom Schreien. Ich kann seinen Atem an meinem Ohr spüren. Er flüstert mir schon die ganze Zeit zu. „Warum bemerkst du nicht, dass du dir hiermit selbst keinen Gefallen tust? Du bist der letzte Heide weit und breit. Niemand steht auf deiner Seite. Deine Zeit ist lange abgelaufen. Du bist allein. Völlig allein. Warum unterwirfst du dich nicht einfach?“ Allein. Völlig allein. Die Frage hallt in meinem Kopf wieder. Warum unterwirfst du dich nicht einfach? Warum? „Toris? Wach auf, Toris! Was ist denn passiert?“ Ich reiße die Augen auf und erkenne Ivans Gesicht direkt vor meinem. Er hat die Lampe auf dem Nachttisch angeknipst und sieht mich besorgt an. Eine seiner Hände umklammert meinen Oberarm. „Hattest du einen Albtraum?“ Ich hole tief Luft und versuche, mich zu beruhigen. „Ja. Aber es... es geht schon wieder.“ Ivan nickt leicht und lässt mich los. „Was hast du geträumt?“ Es ist ungewöhnlich, dass er es so genau wissen will. Einen Moment lang weiß ich nicht, was ich sagen soll. Ob ich die Wahrheit sagen darf. „Nichts weiter“, lüge ich und versuche, zu lächeln. „Irgendetwas Wirres. Ich kann mich nicht recht erinnern... nur daran, dass es mir Angst gemacht hat.“ Vielleicht merkt Ivan, dass ich lüge. Er sagt allerdings nichts mehr dazu, schüttelt nur den Kopf. „So ein Jammer. Mein armer Toris... dabei gibt es hier nichts, was dir Angst machen müsste.“ „Nein. Ich weiß.“ „Am besten versuchst du, weiter zu schlafen.“ „Das werde ich“, versichere ich, und er nickt und löscht die Lampe wieder. Sobald es dunkel ist, tastet er unter der Decke nach meiner Hand und drückt sie zaghaft. Als hätte er sich nicht getraut, das im Hellen zu tun, denke ich. Manchmal ist es rührend, wie schüchtern er ist. Rührend? Was denkst du da überhaupt, Toris? Wahrscheinlich wirst du doch langsam verrückt. All die Zeit in Ivans Nähe kann ja nicht gut für deine geistige Gesundheit sein. Die Dunkelheit im Zimmer beruhigt mich, anders als die in meinem Traum. Es ist doch wirklich alles in Ordnung. Wieso träume ich immer noch von meiner frühen, heidnischen Zeit, in der Gilbert hinter mir her war wie der Teufel hinter der armen Seele? Wir haben uns öfter bekämpft, als ich zählen kann. Manchmal hat er mich erwischt und in irgendeine seiner Burgen geschleift. Die Erinnerungen gehören nicht zu meinen liebsten, aber irgendwie habe ich immer überlebt. Und jetzt ist Gilbert hier, in Ivans Haus, seinerseits als praktischer Gefangener wie ich, und benimmt sich so seltsam, dass ich ihn nicht mehr verstehe. Ich, der ich ihn so lange kenne. Und du, Toris? Bist du denn ein Stück besser? Fast gegen meinen Willen versuche ich, mich in Gilberts Lage hinein zu versetzen. Was muss er von mir und vor allem von meiner Beziehung zu Ivan denken? Er versteht sicher nicht, worum es hier geht, er kann es nicht verstehen. Die ganze Sache mit Ivan ist eine rein pragmatische Aktion. Im schlimmsten Fall müssten Eduard oder Raivis dran glauben, wenn ich mich nicht von selbst anbieten würde. Und selbst wenn Ivan nicht so schlimm ist, wie es scheint, selbst wenn er niemanden dazu zwingen würde, zu tun, was ich freiwillig tue – warum sollte ich mir die Gelegenheit entgehen lassen, ihn bei Laune zu halten, ihn zu besänftigen, vielleicht sogar zu beeinflussen? Das ist doch alles, worum es geht. Man knüpft Bindungen, um sich gegenseitig zu beeinflussen. Beeinflussen, Toris, schön und gut. Aber glaubst du nicht, du gehst hier etwas zu weit? Ivan hätte dich vorhin beinahe vergewaltigt, und jetzt liegst du neben ihm im Bett, als wäre nichts dabei? Die Frage drängt sich auf. Unter den Umständen, mit denen ich zu kämpfen habe, kann man freiwillig nicht wirklich freiwillig nennen. Ich erhoffe mir einen Vorteil von dem, was ich tue, das ist alles – mit einem freien Willen hat das nichts zu tun. Andererseits warte ich in letzter Zeit oft auf einen Vorteil, der nicht kommt. Wenn Ivan mich nicht in Schutz nimmt, wenn er wirklich verlangt, dass ich hinter Gilbert her räume, wenn es ihm egal ist, wie ich mich dabei fühle... Aber selbstverständlich ist es ihm egal, wie du dich fühlst. Lieber Himmel, es ist immer noch Ivan! Du wirst doch nicht so etwas wie Zuneigung für ihn entwickelt haben? Du wirst ihm doch wohl nicht vertraut haben? Ich schüttle wütend den Kopf. Nein, ganz sicher habe ich das nicht, schließlich bin ich nicht verrückt. Ich lebe seit Jahrzehnten in diesem Haus. Es hat mich bis jetzt noch nicht kaputt gemacht, und es wird mich auch weiterhin nicht kaputt machen. „Was ist denn los, Toris?“, flüstert Ivan durch die Dunkelheit und drückt meine Hand. „Kannst du nicht schlafen?“ „Doch“, erwidere ich leise. „Gute Nacht.“ Ich höre, wie er mit der Decke raschelt und seufzt. „Gute Nacht, mein Toris.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)