Die vergängliche Natur der Dinge von Elster (Sherlock BBC) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Es ist seltsam – beunruhigend; der Verdacht, dass etwas nicht stimmt mit der Welt. Als ob ein Naturgesetz außer Kraft gesetzt wurde und die Realität nun Risse zeigt. Es ist allumfassend und entzieht sich der Wahrnehmung, der Erklärung. Sherlock liegt wach in der Dunkelheit, lauscht auf die Geräusche von oben. John wird für eine Stunde oder zwei still sein, dann beginnen gedämpfte Laute, manchmal ein paar erkennbare Worte, manchmal ein Schrei, aber nichts Schlüssiges, sachte quietschende Geräusche, wenn John sich im Bett bewegt, einige Schritte auf knarzenden Dielen, wenn er aufsteht. Albträume, kein Geheimnis. John kommt nicht herunter. Sherlock fühlt sein Herz zu schnell schlagen. Vielleicht hat er Angst. Es ergibt keinen Sinn. Vor John hatte er sein Leben im Griff. Es war nicht perfekt, aber es war unter Kontrolle, es war seines. Zum ersten mal seit früher Kindheit hatte er ein Gefühl der Stabilität, einer Balance, die aufrechtzuerhalten weder harte Arbeit noch harte Drogen erforderte. Er würde in Mrs. Hudsons Haus ziehen. Sie könnte bei ihm soweit nach dem Rechten sehen, dass Mycroft ihm ein bisschen von der Pelle rücken könnte. Lestrade würde ihn weiterhin den einzigen beratenden Detektiv der Welt sein lassen und seine Augen in belustigter Verzweiflung verdrehen, wenn er den Titel benutzt. Es war gut. Sherlock würde Rätsel haben, die seinen Geist beanspruchen, er würde Recht haben und außergewöhnlich sein und man würde sich dafür an ihn erinnern. Das war seines Ermessens nach, was er vom Leben erwarten konnte. Das war, was er erreichen konnte, ohne zu hoch zu steigen und zu tief zu fallen. Es war möglich. Es war Unabhängigkeit. Es war das beste, was er bewerkstelligen konnte. Die Spitze der Welt. Manchmal, wenn John keine Zeit hat, bei einem Fall an Sherlocks Seite zu sein, ertappt sich Sherlock dabei, wie er über seine Schulter sieht, ein Grinsen mit John teilen will oder eine erhobene Augenbraue, bevor ihm mit einer eigenartigen Mischung aus Verärgerung und was er nur als Zuneigung bezeichnen kann, einfällt, dass John nicht da ist. Er erwischt sich dabei, ungeduldig darauf zu warten, dass John für die Jagd zu ihm stößt oder nach Hause kommt, damit Sherlock ihm zumindest seine interessanteren Schlussfolgerungen mitteilen kann. Er erwischt sich dabei, wie er auf Johns Lob mit einem Lächeln reagiert. Der alte Plan ist inzwischen undenkbar. Irgendwie falsch. Er erinnert sich, er weiß, wie er sich gefühlt hat, als er dachte, das wäre, was er für den Rest seines Lebens wollte. Es gibt keinen offensichtlichen Fehler, der alte Plan war solide, und dennoch, wenn er jetzt darüber nachdenkt, ist er nicht wünschenswert, eingeengt. Die Welt hat sich verschoben, erinnert er sich selbst, Naturgesetze haben sich verändert. Sie ist gewachsen und hat sich ausgestreckt, mag immer noch expandieren, und Sherlock sucht nach einem Bezugspunkt. Er wünschte er wüsste, wie er in dieser neuen, unmöglichen Welt leben kann. John missbraucht in seinen E-Mails und SMS Satzzeichen, um sie zu albernen grinsenden Gesichtern zu formieren. Es ist eine schreckliche Angewohnheit, weshalb Sherlock sich nicht erklären kann, warum er stets zurücklächelt. John macht es manchmal auch auf Papier, wenn er Sherlock Notizzettel hinterlässt. Immer noch mit der 90°-Drehung, als hätte er einen Doppelpunkt und eine Klammer benutzen müssen. Das ist beruhigend, denkt Sherlock, denn er hat eine Sonate für John komponiert und die Melodie steckt in seinem Kopf fest, aber wenn er für ihn spielt, benutzt Sherlock die Töne toter Komponisten, niemals seine eigenen. Es gibt nun eine zusätzliche Dimension und irgendwie ist es Johns Schuld. Der alte Plan hatte zweit Teile: den Tod und die Zeit bis dahin. Sherlock wusste, es war wahrscheinlich, dass er einen gewalttätigen und verhältnismäßig frühen Tod sterben würde. Er hat sich nicht lange damit aufgehalten, der Gedanke war nie sehr interessant. Er hätte etwas angemessen dramatisches gemocht, aber sah ein, dass es für ihn letztendlich aus offensichtlichen Gründen keine Rolle spielen würde. Das war also der alte Plan: eine abrupt endende Gegenwart von unbekannter Länge, die mit Beschäftigung gefüllt werden musste. Der Plan war zu klein für John und all die Eventualitäten, die er mit sich bringt. Es ist jetzt komplizierter und da ist ein ausgeprägter Einfluss der Zeit. Das 'Wann' ist plötzlich von Bedeutung und das 'Wie'. Es ist nicht alles eine einzige gleichförmige Gegenwart bis zum Ende, es gibt Zeitpunkte von Interesse dazwischen, eine Zukunft, und sie ist plötzlich wichtig und driftet wie Treibgut auf dem Meer; alles scheint unsicher. Draußen tobt ein Sturm, in der Nacht, in der John ins Wohnzimmer herunterkommt. Sherlock fühlt Erleichterung, weil er die Geräusche von Johns Albträumen bei dem heulenden Wind nicht hören konnte. Es gibt einen Fall zu lösen, er sollte alle wesentlichen Indizien haben, aber eine Verbindung zwischen ihnen fehlt und er kann sich, wie es scheint, heute Nacht nicht konzentrieren. Er hebt seine Füße an, sodass John sich setzen kann, lässt sie dann wieder fallen, sodass sie in Johns Schoß liegen. John beschwert sich nicht, nimmt nur die Decke, die er Sherlock vorhin übergeworfen hat und zieht sie ein bisschen runter, damit seine eigenen Beine auch bedeckt sind. Sherlock gräbt einen seiner kalten Füße in die angenehme Wärme zwischen Johns Pullover und dem alten T-Shirt, dass er zum Schlafen trägt, und findet plötzlich die Worte 'verlass mich niemals' auf seiner Zungenspitze. Es ist nicht das erste mal, manchmal tippt er sie auf dem Handy, aber er sagt sie niemals und sendet sie niemals. Es ist, so findet er, keine Forderung, die man jemals stellen sollte. Eines Tages wird er möglicherweise 'ich war unglücklich ohne dich' sagen, was er nach reiflicher Überlegung für wahr befunden hat. Aber was jetzt, nach langem inneren Kampf, aus seinem Mund kommt, klingt wie etwas, das Mycroft sagen würde. “Ich habe die vergängliche Natur der Dinge nie so bedauert wie in deiner Gegenwart.” Sherlock runzelt die Stirn und blickt in die Dunkelheit, wo die Worte hängen, ungelenkt und klobig, und verflucht seine Feigheit. John gähnt. “Tut mir leid”, sagt er dann, oder fragt es vielleicht, leise und mit einem verwirrten kleinen Lachen. “Nein”, sagt Sherlock rasch, “muss es nicht.” John brummt zustimmend, nur halb wach, und zieht Sherlocks anderen Fuß näher, um den Pullover auch darüber zu ziehen. “Erzähl mit von dem Fall.” Und das tut Sherlock, arbeitet sich methodisch durch die Beweislage, seine Stimme ruhig und seine Sätze ein wenig langsamer als gewöhnlich. Als er die Lösung findet, ist John bereits eingeschlafen, sein Kopf auf der Rückenlehne, eine warme Hand um Sherlocks Knöchel gelegt. Sherlock starrt in die Dunkelheit und spürt, wie die Welt zur Ruhe kommt. John schnarcht leise mit seinem Kopf nach hinten gebogen wie jetzt, Regen klopft gegen die Scheiben und in diesem Moment scheint alles klar zu werden. Sherlock ist in dem weichen, unzuverlässigen Stadium zwischen Schlaf und bewussten Gedanken, als, zum erstem mal seit Monaten, die Welt wieder Sinn zu ergeben scheint. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)