Die Notlandung von Niekas ================================================================================ Kapitel 5: Zero --------------- Ivan schlug die Tür hinter sich zu wünschte sich, er hätte abschließen können. Wo waren nur die Schlüssel zu den Türen in diesem Haus? Vermutlich hatte Toris sie bei sich. Und wo steckte Toris? Es war nicht möglich, dass er einfach verschwunden war. Er würde wieder auftauchen, früher oder später. Wenn er wusste, was gut für ihn war, würde er eher früher wieder auftauchen. Langsam stieg Ivan die Treppe hinunter und öffnete die Tür zu Toris' Zimmer. Vielleicht war er zurückgekommen, dachte er hoffnungsvoll, aber als er das leere Bett sah, erlosch seine Hoffnung so schnell wieder, wie sie aufgeflammt war. Toris war nicht hier. Dabei war das hier sein Haus. Jedes Bild an der Wand, jeder Zentimeter des Bodens war mit ihm verbunden. Er war in Toris' Haus, und Ivan hätte sich wohlgefühlt (bei Toris fühlte er sich generell sehr wohl), wenn Alfred nicht gewesen wäre. Alfred machte alles kaputt, er machte das Netz schmutzig. Konnte er Ivan denn gar nichts lassen, was er liebte? Früher, ganz früher einmal hatte er sich Toris' Vertrauen erschlichen, damals, als Ivan noch nicht gewusst hatte, wie gefährlich Alfred war. Wenn er es damals schon gewusst hätte, hätte er Toris warnen können. Aber so... Seufzend setzte er sich auf das Bett und betastete die zerknitterte Decke. Sie war längst kalt. Toris sollte wiederkommen, dachte er. Ohne ihn war dieses Haus doch nicht dasselbe. Wenn er zurückkehrte, würde Ivan Alfred hinauswerfen und sich selbst in der Dachkammer einquartieren, und sie würden ein paar schöne Tage hier verbringen, Toris und er. Völlig egal, was Ivans Boss dazu sagte – das wäre es ihm wert. Hier war das Klima milder. Es würde schön werden, dachte Ivan und griff nach dem Kopfkissen. Wenn Toris doch nur hier wäre. Er hob das Kissen vor sein Gesicht und atmete ein. Vielleicht konnte er sich fühlen, als wäre Toris hier, wenn er ihn roch. Als wäre Toris ganz nahe... vielleicht sogar... Die Tür des Zimmers wurde zugeschlagen und klappernd von außen verschlossen. Danach erklangen Schritte, die die Treppe hinauf rannten. Ja, dachte Ivan noch, während er verwirrt das Kissen sinken ließ und zur Tür sah. Er konnte so tun, als wäre Toris wieder da. Zum zweiten Mal an diesem Tag öffnete Toris die Tür zur Dachkammer, schloss sie hinter sich wieder und lehnte sich mit dem Rücken dagegen, um zu Atem zu kommen. Er war blass und sah aus, als sei ihm schlecht. Vielleicht hatte er sich beim Rennen zu sehr verausgabt. Vielleicht lag es auch an seiner Angst. „Toris?“, fragte Alfred überrascht. „Da bist du ja wieder.“ Toris keuchte und versuchte, zu sprechen. „Du musst... raus hier. Ich ha... habe dafür gesorgt, dass...“ „Ganz ruhig“, unterbrach Alfred ihn. „Wo ist Ivan?“ „Nicht hier“, antwortete Toris, ohne ihn anzusehen, kam näher und stellte geistesabwesend den Stuhl wieder auf, den Ivan umgeworfen hatte. „Er wird uns nicht in die Quere kommen.“ „Nicht?“, fragte Alfred überrascht. „Wo ist er denn hin?“ „Unwichtig“, erwiderte Toris und wischte den Einwand mit einer leicht zittrigen Handbewegung beiseite. „Ich habe dir eine Mitfahrgelegenheit besorgt. Ein Nachbar bringt dich in die Stadt und wirft dich irgendwo in der Nähe deiner Botschaft raus. Die Botschaft dürftest du finden, oder?“ Alfred sah ihn mit großen Augen an. „Wie...?“, begann er. „Beeil dich“, sagte Toris, kam zu ihm hinüber und sah ihn zögernd an. „Kannst du aufstehen?“ „Sicher“, antwortete Alfred, obwohl er zugeben musste, nicht ganz sicher zu sein. „Aber... das geht jetzt alles ein bisschen schnell, glaubst du nicht, Toris?“ Toris lachte atemlos. „Es muss schnell gehen! Willst du warten, bis Ivan dich anzeigt?“ „Was ist mit diesem Nachbarn, von dem du gesprochen hast? Bist du sicher, dass man ihm trauen kann?“ „Ich kenne die meisten Leute hier schon ihr ganzes Leben lang. Der Mann ist eine gute Seele, und außerdem habe ich ihn mit Kaffee bezahlt. Er wird dich sicher in die Stadt bringen, ganz bestimmt. Wenn wir nur nicht zu lange warten, denn ewig wird er nicht mit dem Wagen vor der Haustür stehen bleiben. Zu riskant.“ Ohne auf eine weitere Reaktion von Alfred zu warten, zog er die Decke beiseite und griff nach dessen unverletztem Arm. „Ich werde dich stützen, in Ordnung? Glaubst du, es geht?“ „Habe ich denn die Wahl?“, fragte Alfred und grinste schief. „Sicher schaffe ich das, Toris. Ich bin ein Held. Warum kannst du mir nicht einfach vertrauen?“ „Beim letzten Mal, als ich dir vertraut habe, hast du mit deinem Flugzeug eine Bruchlandung im Wald hinter meinem Haus hingelegt.“ „Okay... kommt nie wieder vor.“ „Hoffentlich nicht“, sagte Toris und legte sich Alfreds Arm um die Schultern. „Und jetzt komm.“ Alfred seufzte leise. „Wenn nur Ivan nicht aufgetaucht wäre, hätten wir uns einen so schönen Tag machen können.“ „Aber er ist aufgetaucht“, sagte Toris schlicht. „Ich könnte...“, begann Alfred und hielt erschrocken die Luft an, als Toris ihn behutsam auf die Beine zog. Sein Kopf pochte vor Schmerzen und der gebrochene Arm war unnatürlich schwer. „Geht es?“, fragte Toris besorgt. „Klar“, brachte Alfred hervor. „Was wolltest du gerade sagen?“ „Dass ich...“ Sie machten einen Schritt vorwärts und Alfred zwang sich, trotz der Schmerzen weiter zu sprechen. „...dass ich bei Gelegenheit noch einmal bei deinem Haus notlanden könnte. Dann aber, wenn Ivan nicht kommt.“ Toris lachte fassungslos. „Ich hoffe, du meinst das nicht ernst.“ Alfred sagte nicht, dass er es ernst meinte, und auch nicht, dass er es nicht meinte. Stattdessen schloss er die Augen und kämpfte seine Übelkeit nieder. „Du schaffst das, Alfred. Nur die Treppe hinunter und in den Wagen. Es ist nicht weit.“ „Klar schaffe ich das... dann mal los.“ Toris nickte und angelte mit dem freien Arm nach der Fliegerjacke, die noch immer über der Stuhllehne hing. Sorgfältig legte er sie Alfred um die Schultern. „Jetzt erkennen deine Leute dich jedenfalls wieder... willst du das Schild auch wiederhaben?“ „Das kannst du behalten“, murmelte Alfred. „Als Andenken.“ „Danke“, erwiderte Toris leichtherzig. „Ich werde es über den Kamin hängen.“ Sie redeten über nichts, weil niemand über das reden wollte, was ihm eigentlich im Kopf herum ging, dachte Alfred. Bei ihm war es das Problem, dass er sich in seinem Zustand kaum auf den Beinen halten konnte. Und Toris' Problem war zwar gerade nicht anwesend, würde aber sicher wiederkommen. Und wie es das würde. Er hatte versucht, das Fenster zu öffnen, aber die Fensterläden schienen von außen verriegelt worden zu sein. Vielleicht auch mit irgendetwas verkeilt. Toris hatte an alles gedacht, stellte Ivan nachdenklich fest. Es gab keine Möglichkeit, hier herauszukommen, es sei denn, er würde die Tür aufbrechen – er war ziemlich groß und Toris' Haus war ziemlich klein. Wenn er es darauf anlegte, würde er sicher irgendwie hier herauskommen. Allerdings war Ivan sich nicht sicher, ob er sich diese Mühe machen sollte. Toris konnte ihn nicht hier einsperren, das war völlig lächerlich, und das müsste er auch wissen. Es würde Toris mehr schaden als nützen, und Ivan konnte es durchaus verkraften, eine Weile lang hier zu bleiben. Er hatte die Tasse Tee, und er hatte ein Kissen, das nach Toris roch. Das würde genügen, um sich für eine Weile zu beschäftigen. Kaffee, überlegte Ivan und zählte gedankenverloren an den Fingern ab. Unterbringung eines feindlichen Agenten und dadurch Behinderung des Kampfes gegen imperialistische Mächte. Und dann auch noch die kaum ernst zu nehmende, allerdings sehr respektlose Aktion mit der abgeschlossenen Tür. Langsam, aber sicher verspielte Toris seine Sympathien. Und das Schlimme war, dass er es geradezu darauf anzulegen schien. Ivan seufzte leise und schüttelte den Kopf. Manchmal war Toris ihm ein Rätsel, nach all den Jahren noch. Aber er war schon früher mit Toris fertig geworden, wenn er aufmüpfig wurde, nicht wahr? Es war kein Problem, zumindest kein großes. Morgen würden sie wieder nach Hause fahren, und dort würde er sich schon um Toris kümmern können. Es würde Toris nicht gefallen, und Ivan eigentlich auch nicht, aber er würde es trotzdem tun. Nur, damit Toris wieder der Alte wurde und Ivan ihn vor allem Bösen beschützen konnte. Vor Alfred, zum Beispiel. Vielleicht war Toris wirklich krank, überlegte Ivan. Schlechter Einfluss und fehlendes Urteilsvermögen, das war alles. Er würde Toris wieder gesund machen, beschloss er. Er hatte ihn lieb. Draußen dämmerte es schon. Der kleine Lieferwagen war auf der unbeleuchteten Straße nur als Silhouette zu erkennen. Ohne nach dem Fahrer zu suchen, führte Toris Alfred zum hinteren Teil des Wagens. Er öffnete die Türen und warf Alfred einen letzten Blick zu. „Also gut. Jetzt wird es ernst.“ Im Stillen fragte Alfred sich, inwiefern es noch ernster werden sollte, als es schon war. Sein Kopf fühlte sich an, als würde er bald vor Schmerzen zerspringen, aber das würde er sicher nicht zugeben. Toris half ihm, in den Wagen zu klettern. Im Inneren war es stockdunkel. „Hier“, sagte Toris, der ihm gefolgt war. „Du kannst es dir bequem machen. Hier liegt eine Decke.“ „Ich sehe gar nichts“, murmelte Alfred und tastete mit der rechten Hand nach vorn. Seine Augen gewöhnten sich trotz Brille nur langsam an die Dunkelheit. Verdammter Kopf. „Hier“, wiederholte Toris, bugsierte ihn in die hintere Ecke des Wagens und breitete eine Decke über seine Beine aus. „Ihr dürftet eine Weile fahren. Der Fahrer wird dich in sicherem Abstand zu deiner Botschaft absetzen... für ihn sicheren Abstand, meine ich. Sie ist schwer bewacht, aber das ist für dich ja eher ein Segen als ein Problem. Sie werden sich sicher um dich kümmern.“ Alfred nickte und zog die Decke über sich, die kratzig war und leicht nach Motoröl roch. Langsam tauchte Toris' Gesicht vor ihm aus der Dunkelheit auf. Es war ziemlich blass. „Deinen Arm musst du als allererstes untersuchen lassen“, fuhr Toris fort, als habe er jetzt, da der Abschied kurz bevor stand, plötzlich noch so viel zu sagen. „Und es würde mich nicht wundern, wenn du eine Gehirnerschütterung hättest. Schone dich besser eine Weile. Pass auf dich auf, in Ordnung? Keine unnötigen Heldentaten.“ „Echte Heldentaten sind nie unnötig!“ „Du verstehst, was ich meine.“ „Ja“, gab Alfred zu und grinste schief. „Keine Sorge.“ „Gut“, murmelte Toris und sah sich nervös um. „Ich sollte jetzt gehen. Nicht, dass jemand misstrauisch wird, man kann ja nie wissen...“ Er brach ab und biss auf seiner Unterlippe herum, als wisse er nicht, was er tun sollte, oder als habe er vor irgendetwas Angst. „Ja... geh besser“, sagte Alfred. „Und pass auf wegen...“ Er hatte wegen Ivan sagen wollen, doch der Gedanke, dass er Toris nicht beschützen konnte, machte ihn zu wütend. Ivan würde Toris sicher irgendetwas antun, weil er Alfred geholfen hatte (nein, Alfred wollte keine Details wissen), und er konnte nichts dagegen tun. „Wie soll ich dir jemals hierfür danken, Toris?“ „Bedank dich erst, wenn du in Sicherheit bist“, antwortete Toris und lächelte nervös. „Eines Tages wirst du auch etwas für mich tun können, ganz sicher.“ Er zögerte noch kurz und Alfred fragte sich verwundert, was diese Unsicherheit zu bedeuten hatte. Er wollte etwas sagen, tat es aber doch nicht, als Toris nach seiner unverletzten Schulter griff und ihm einen hastigen Kuss auf den Mund gab. „Bruderkuss“, erklärte er schnell, als Alfred ihn anstarrte, und lächelte verlegen. „Und... und jetzt verschwinde. Hals- und Beinbruch.“ „Gott bewahre!“, sagte Alfred und lachte. „Als ob der gebrochene Arm nicht schon reichen würde!“ Toris lächelte, drehte sich ohne ein weiteres Wort um und sprang aus dem Wagen. Nachdem er die Türen geschlossen hatte und sie mit einem Knacken eingerastet waren, wurde es dunkel. Alfred lehnte den Kopf gegen die Wand hinter ihm und seufzte leise. Hoffentlich konnte man diesem Mann, der ihn in die Stadt bringen sollte, trauen. Aber Toris vertraute ihm, und Alfred vertraute Toris. Das sollte eigentlich genügen, um sich sicher zu fühlen. Eigentlich hätte Alfred anderes im Kopf haben müssen, die Reise und seinen gebrochenen Arm und die peinliche Erklärung für den Absturz, die er seinem Boss schuldig war, selbst wenn er es schaffen sollte, die Botschaft unbeschadet zu erreichen... aber aus irgendeinem Grund war der Kuss alles, woran er denken konnte. Einige Dinge, die Ivan sich ausdachte, waren vielleicht gar nicht mal so schlecht, dachte Alfred. Das musste er bei allem Widerwillen zugeben. Selbstverständlich spielte Toris in Gedanken ein wenig herum, bevor er die Tür wieder aufschloss. Er könnte zum Bahnhof gehen und sich in irgendeinen Zug setzen, vielleicht zu Feliks fahren, den er seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte – immerhin war er nun gerade dabei, alte Freunde zu treffen. Er könnte in den Wald flüchten und dort im Verborgenen leben (es wäre schließlich nicht das erste Mal) und versuchen, Alfreds Flugzeug zu finden und wieder zu reparieren, um eines Tages damit fliehen zu können. Er könnte auch das Haus anzünden, einfach Feuer daran legen. Während Ivan noch darin war. Was für ein lächerlicher Gedanke. Der Schlüssel der Haustür passte ins Schloss wie eh und je. Toris strich über das Holz der Tür, über die Wand im Flur, betrachtete die Blumen auf der Fensterbank und die Bilder an den Wänden. Er liebte dieses Haus. Es tat weh, all das für ein Jahr hinter sich lassen zu müssen – vielleicht für noch länger. Wenn er Pech hatte, würde Ivan ihm seinen nächsten Urlaub streichen. Zuzutrauen wäre es ihm ja. Seine Schritte wurden immer langsamer, bis er vor der Tür zu seinem Zimmer stehen blieb. Die Tür sah nicht beschädigt aus. Langsam schob er den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn zweimal herum. Das leise Knacken, mit dem der Riegel zurück sprang, war so vertraut. Er würde es vermissen, dachte Toris wehmütig. Das würde er. Ivan saß auf dem Bett und sah Toris reglos an. Einige Sekunden lang schaffte Toris es, seinem Blick standzuhalten, doch dann senkte er den Kopf. Seine Finger schlossen sich fester um den Schlüssel. Langsam, fast behäbig stand Ivan auf, kam auf ihn zu und griff nach dem Schlüssel. Toris versuchte nicht, ihn festzuhalten. Der kleine Bund rutschte ihm aus den Fingern und verschwand spurlos in einer von Ivans Taschen. „Da bist du wieder“, sagte Ivan. „Ja“, antwortete Toris leise. Ivan sah ihn an, schüttelte leicht den Kopf und seufzte. „Du solltest nach Hause kommen“, sagte er. Zu Hause ist da, wo du sagst, dass es ist, hatte Feliks immer gesagt. Und niemand anderes kann bestimmen, wo dein zu Hause ist. Es ist schließlich deins. „Ich glaube, du bist krank, Toris. Zu Hause kann ich mich um dich kümmern, damit du wieder gesund wirst.“ „Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen“, sagte Toris und wünschte, er hätte sich noch eine Weile länger um Alfred kümmern können, bis er wieder gesund war. Ivan legte den Kopf schief und lächelte auf eine Art, die fast wehmütig wirkte. „Ja“, murmelte er. „Es wird Zeit, dass du nach Hause kommst.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)