Bewilderment von abgemeldet (Lavi hasst Verwirrung) ================================================================================ Kapitel 1: Bewilderment ----------------------- Ein unglaublicher Druck riss ihn aus dem Schlaf. Was war das? Wieso zur Hölle fühlte sich sein Kopf so an, als würde ein Elefant darauf sitzen und ihn zerdrücken? Wo kam das her? Er hatte doch gar nichts getrunken, und wirklich überarbeitet haben konnte er sich auch nicht. Wie konnte er dann einen Kater haben? Was war überhaupt passiert? War er nicht mit Kanda auf einer Mission? War es nicht irgendwann um die Mittagszeit gewesen? Hatte er Yuu-chan nicht gerade eben noch versucht, in eines der Restaurants zu drängen, damit sie etwas essen konnten, weil sowohl sein, als auch Kandas Magen rebelliert hatten? Angestrengt versuchte er sich zu erinnern, was danach passiert war. Aber da war nichts. Nur der heftige Druck auf seinen Kopf erhöhte sich rapide bei dem Versuch, sich zu erinnern. Unweigerlich entwich seinen Lippen ein schmerzliches Keuchen und er wollte sich eine Hand an die Schläfe pressen, in der Hoffnung, den Schmerz so etwas zu unterbinden. Aber da kam nichts. Seine Arme hoben sich nicht. Sein Körper hörte nicht auf ihn. Wieso nicht? Verdammt! Was zur Hölle hatte er verpasst? „Usagi?“, dröhnte plötzlich die Stimme seines Kameraden in seinem Kopf und erneut drohte der Druck seinen Schädel zu splitten. Wieso musste Yuu-chan auch so laut sprechen? Wobei… hatte er überhaupt so laut gesprochen? Bei genauerem Nachdenken, konnte Lavi einen gewissen flüsternden Unterton in der Stimme Kandas ausfindig machen. Wieso kam es ihm dann so vor, als würde der Ältere ihn anschreien? Er holte langsam Luft, spürte, wie der Druck wieder anstieg, und gab die Luft etwas zittrig wieder frei, ehe er auch nur einen Gedanken daran verschwendete, seinem Freund zu antworten. „Y-Yuu…?“ Er erschrak vor seiner eigenen viel zu heiseren, brüchigen Stimme und vor dem elendigen Kratzen in seinem Hals, was ihn fast zum Husten brachte, doch konnte er sich dies verkneifen. Es wäre bestimmt alles andere als produktiv für seinen Kopf. Was zur Hölle war passiert, während er geschlafen hatte? Es kostete ihn einige Momente, in denen er sich voll und ganz darauf zu konzentrieren versuchte, was um ihn herum geschah. Da sein Körper nicht so wollte wie er, musste er sich eben damit behelfen, was ihm geboten war. Sein Sehvermögen konnte er vergessen, weil sein Auge sich einfach nicht öffnen ließ. Sein Lid war viel zu schwer, als hätte irgendwer Gewichte daran befestigt. Was vollkommen absurd klang, wenn man darüber nachdachte. Also musste er sich auf seine anderen Sinne verlassen. Er hatte immerhin genug davon… vermutlich. Sein Gehört half ihm nicht viel weiter. Es verriet ihm lediglich, dass irgendwo, ziemlich in der Nähe, jemand mit schweren Schritten durch den hohen Schnee stapfte. Nicht sonderlich hilfreich. Wobei… zumindest wusste er nun schon einmal, dass er sich nicht in einem Gebäude befand. Das war zumindest ein Anfang. Als Lavi jedoch versuchte, zusätzlich auch noch auf seinen Geruchssinn zuzugreifen, protestierte sein Kopf mit heftigem Schmerz und erneut entfloh ein schmerzliches Keuchen der Kehle des Rotschopfs. Verdammt! Nun verbot sein Kopf ihm schon, auf die einfachsten Sachen zurück zu greifen? Was sollte denn das? Gut, dann musste er das Ganze eben langsam angehen. Er blendete langsam alle Geräusche um ihn herum aus, und erst, als er wirklich sicher war, sein Gehör komplett abgeschottet zu haben, wagte er es, seine Nase zu benutzen. Es klappte, sein Kopf rebellierte nur mäßig. Sofort drang ihm der Geruch von Lotus, Jasmin und Blut in die Nase und ein wohliger Schauer jagte seinen Rücken hinab. Das war Yuu-chans Geruch. Eindeutig. Lavi würde ihn unter tausend anderen Gerüchen wieder erkennen. Da konnte man ihm noch so sehr seinen Kopf vernebeln. Yuu-chan würde er immer wiedererkennen. Aber wieso konnte er Yuu so intensiv riechen? Der Geruch war stärker als sonst, wenn er in der Nähe des Japaners war, oder in einem Raum mit ihm. Das war… ungewohnt. Aber Lavi konnte nicht bestreiten, dass es ihm gefiel, diesen Duft so intensiv wahr zu nehmen. Er mochte es, auch wenn er es niemals offen zugeben durfte. Bookman würde ihn nur wieder unnötig zurechtweisen. Gut, er war draußen, jemand stiefelte durch den Schnee und Yuu-chan war bei ihm. Vermutlich war es sogar Yuu, der da durch den Schnee stapfte. Aber dass seine Schritte zu schwer klangen, machte keinen Sinn. Yuu’s Schritte waren nicht schwer. Im Gegenteil. Der schwarzhaarige Exorzist hatte einen leichten, eleganten Gang. Nicht so plump, wie der, den Lavi zuvor gehört hatte. Also war es doch nicht Kanda, der durch den Schnee lief? Vielleicht einer der Finder? Vermutlich. Okay, soweit so gut. So gern Lavi sich noch länger von dem geliebten Duft Kandas einlullen lassen wollte, musste er sich jetzt auf etwas anderes konzentrieren. Er wusste immer noch nicht genau, was Sache war und das kratzte ihn dann doch ein wenig. Also blendete er den Geruch aus, bis er vollends verschwunden war und wendete sich seinem nächsten Sinn zu. Leider war das offensichtlich nicht die beste Idee. Sofort schlug eine Welle aus Schmerz über dem Rotschopf zusammen und er sog scharf die Luft ein, unterdrückte angestrengt einen Aufschrei, während sein gesamter Körper vor Schmerz ächzte. Was war nun kaputt? Es dauerte eine unbestimmte Zeit, bis er sich langsam an die Schmerzen gewöhnt hatte, und er es halbwegs auf die Reihe bekam, diesen aus seinem Kopf zu verbannen, sich auf die anderen Signale, die sein Körper empfing, zu konzentrieren. Ein sanfter, und doch entschiedener Druck lag auf seiner Brust, seinem Bauch und seinen Oberschenkeln. Ein seichter, warmer Wind fuhr in regelmäßigen Abständen über seine Wange. Atem? Vielleicht. Leichte Eruptionen erschütterten ihn in den Selben Abständen, wie der Atem seine Wange streifte, und mit jeder weiteren, wurde es schwerer, die Schmerzen auszublenden. Wurde er getragen? Das würde die wiederkehrenden, zarten Erschütterungen, den Atem und den merkwürdigen Druck an seinem Körper erklären. Wenn er nun in Erwägung zog, dass Yuu derjenige war, der ihn trug, dann würden auch die schweren Schritte des Japaners und der intensive Duft einen Sinn machen. So passte das alles zusammen. Aber… Das war absurd. Weshalb sollte Yuu-chan ihn tragen? Und selbst wenn er es machen würde, blieb immer noch die Frage nach diesen bescheuerten Schmerzen, die der Rotschopf sich einfach nicht erklären konnte. Egal was er verpasst hatte, es schien entschieden gewesen zu sein. Zumindest für ihn. So ein Scheiß. „Oi, Baka Usagi! Antworte gefälligst, wenn ich mit dir rede!“, drang plötzlich wieder die Stimme Kandas zu ihm durch, jedoch blieben die regelmäßigen Eruptionen erhalten. Auch der so geliebte Duft des Japaners stieg ihm wieder in die Nase. Anscheinend duldete sein Kopf nun endlich wieder den vollen Gebrauch seiner Sinne. Juhu, das war doch schon Mal ein Fortschritt. „S-Sorry, war n-nicht ganz d-da…“, murmelte er angestrengt und erneut musste er sich stark zusammenreißen, um nicht in einem Hustenanfall zu enden. „Che.“ Japp, das war eindeutig Yuu-chan. Wenn irgendetwas in ihm noch unsicher um die Identität der Person gewesen war, die mit ihm sprach, hatte er spätestens jetzt die Bestätigung, dass es sich wirklich um seinen Kameraden handelte. Was eine Erleichterung. „W-Was ist passiert…?“, versuchte Lavi nun von dem Japaner zu erfahren, warum er sich so verdammt scheiße fühlte. Er hätte ahnen müssen, dass er nur eine dieser von Kanda favorisierten, einsilbigen Antworten erhielt. „Akuma.“ „Das hilft n-nicht weiter…“ Das ‚Yuu-chan‘ das Lavi noch anhängen wollte, musste er sich verkneifen, um dem elenden Reiz in seinem Hals zu entkommen. „Später. Pass auf, dass du wach bleibst.“ Und damit kehrte wieder Stille ein. Nur das regelmäßige Knirschen des Schnees, und die damit verbundene Erschütterung erinnerten Lavi daran, dass sie sich noch bewegten. Er hatte Recht gehabt. Es war wirklich Yuu, der ihn trug. Seine Stimme war so unglaublich nah an seinem Ohr, dass es nicht anders sein konnte. Trotzdem missfiel es Lavi, dass er es einfach nicht auf die Reihe bekam, sein Auge zu öffnen. So schwer konnte das doch nicht sein, wenn er selbst sprechen konnte. Das nahm jawohl viel mehr Kraft in Anspruch, als so ein banales Augenöffnen. Stur wie er war, versuchte er es noch einmal. Und es funktionierte. Schwerlich, aber es klappte. Das Problem nur: Er sah weiterhin nur tiefschwarz. Da war nichts. Er war zwar an ein eingeschränktes Sichtfeld gewöhnt, aber an komplette Dunkelheit nicht. Und durch den Schnee, der ganz offensichtlich lag, war selbst die dunkelste Nacht ein wenig heller. Aber er sah Nichts. Rein gar nichts. Unweigerlich wurde er unruhig. Was, wenn das so bleiben würde? Wenn er nun komplett erblindet war? Verdammt, was sollte er dann machen? Er war der Nachfolger Bookmans, er brauchte sein Augenlicht verdammt nochmal. Eingeschränktes Sehen war nicht wild, gar nicht sehen schon eher! So konnte er nicht schreiben, nicht erkennen, nicht beobachten, nicht lesen… gar nichts! Er war aufgeschmissen! Ein Bookman ohne die Fähigkeit des Sehens war… war kein Bookman. Das passte nicht! Das ging einfach nicht. Als Exorzist wäre das nur ein geringeres Problem, dass hatte Marie zu genüge bewiesen. Aber er war nun einmal kein Exorzist. Er war der Nachfolger Bookmans und auf sein gottverdammtes Augenlicht angewiesen! Seine Muskeln verkrampften sich, und erneut zuckten Wellen des Schmerzes durch seinen Körper, drohten für Sekunden ihm die Sinne zu rauben und ihn in die Bewusstlosigkeit zu ziehen, doch hielt er sich gerade so vor dem Fall ab. Oder eher, das Chaos in seinem Kopf hielt ihn davon ab. „Y-Yuu-chan…“ Seine Stimme zitterte deutlich. Er hatte Angst. Und er wollte sie nicht verstecken. Nicht jetzt. Nicht mit diesem Wissen im Nacken. Ihm war egal, was Kanda von ihm denken würde. Verdammt, es ging um seine Zukunft. Vor dieser hatte sicher selbst ein Kanda Yuu irgendwo Angst, wenn sie wirklich so stark auf der Kippe stehen sollte. Bestimmt! „Mhm?“, kam es eher halbherzig von seinem Kameraden. „I-Ich… Ich kann nichts sehen…“ Kurz stockte der schwarzhaarige Exorzist, ehe Lavi meinte, ein leises Schmunzeln zu hören. Das war ganz und gar nicht komisch. Yuu war vielleicht oft ein Arschloch, aber so herzlos konnte nicht mal er sein, dass er sich darüber lustig machte. Lavi wollte schon wieder zu sprechen ansetzen, als die Stimme des Japaners ihn zum Schweigen brachte. „Baka. Mit einem Verband über den Augen könnte ich auch nicht viel sehen.“ Moment. Verband? Wieso Verband? Was sollte das nun wieder? War wirklich etwas passiert? Der Rotschopf spürte deutlich, wie Panik in seiner Kehle aufstieg und ein leichtes Zittern seinen Körper erfasste. „Y-Yuu?!“ „Bleib locker. Deinem Auge geht’s gut.“, schnitt Kanda ihm sofort die Worte ab. Hatte er geahnt, was in Lavi anstieg? Wohl kaum. Yuu konnte das doch gar nicht so ganz nachvollziehen. Dennoch spürte Lavi, wie die Anspannung etwas von ihm abfiel. Doch beschäftigte ihn nun die Frage, wozu er einen Verband trug. In dem Moment fiel ihm die erste Aussage des schwarzhaarigen Exorzisten wieder ein: ‚Akuma‘ „Wieso dann der Verband?“ „Später hab ich gesagt, Baka Usagi!“, knurrte sein Kamerad nun doch etwas gereizt und der Ton seiner Stimme brachte Lavi wirklich zum Schweigen. Und es wurde später. Nach einer gefühlten Ewigkeit, blieb Yuu stehen und Lavi spürte, wie der Griff um seine Beine sich langsam löste. Er hatte schon seit wenigen Minuten bemerkt, dass den Japaner so langsam die Kräfte verließen. „Kannst du laufen?“, kam auch keine Sekunde später die erwartete Frage. Lavi meinte die Erschöpfung des schwarzhaarigen Exorzisten herauszuhören, auch wenn dieser es zu verstecken versuchte. „Kann’s versuchen…“, antwortete der Rotschopf etwas unsicher. Er hatte zwar so langsam wieder etwas mehr Kontrolle über seinen Körper gewonnen, aber ob seine Beine sein eigenes Gewicht würde tragen können, wagte er noch zu bezweifeln. Und wirklich. Kaum, dass der Ältere ihn von seinem Rücken ließ und Lavi den Schnee unter seinen Sohlen knirschen hörte, gaben seine Beine auch schon nach und er fand sich auf dem Boden wieder. Es war ein verdammt kalter Boden. Scheiß Schnee. Ein tiefes Seufzen drang an sein Ohr, während er verzweifelt versuchte, sich wieder auf die Beine zu kämpfen. Ein Glück, dass zumindest die Schmerzen ihm die Prozedur nicht noch mehr erschwerten. Aber es ging trotzdem nicht. Seine Glieder fühlten sich an wie Pudding, als wäre kein einziges Knochen in ihnen. Aber da waren definitiv welche. Wie sonst hatte Lavi sich so oft in der Vergangenheit irgendwelche banalen Prellungen oder Brüche zuziehen können? „Soviel dazu…“, kam es genervt von seinem Kameraden, und Lavi musste kichern. „Sorry, Yuu. So war das nicht geplant.“ „Ich sollte dich einfach hier sitzen lassen, bis zu erfrierst.“, knurrte Kanda gereizt. Anscheinend juckte es ihn so langsam wieder, wenn Lavi ihn beim Vornamen nannte. Aber Lavi wäre nicht Lavi, würde er diese Tatsache nicht einfach übergehen. „Aber Yuu! Das kannst du nicht machen! Lena-chan und Allen wären böse mit dir, wenn du mich einfach zurücklässt. Und du weißt, Lena-chans Rache ist fürchterlich.“, scherzte der Rotschopf grinsend. „Moyashi kann mich mal!“, knurrte der Japaner. Aber das Thema ‚Lenalee‘ überging er gepflegt. Ja, mit Lenalee als Druckmittel konnte man den Guten schon zu so einigem zwingen. Warum genau, wusste Lavi nicht. Aber es war offensichtlich, dass Yuu genug Respekt vor der Exorzistin hatte, als dass er es sich mit ihr verscherzte. Kluger Schachzug, wie Lavi fand. Die Asiatin konnte verdammt unangenehm werden. Da brauchte sie nicht einmal ihre Dark Boots für, wie Lavi aus Erfahrung berichten konnte. Wider seiner Erwartung, spürte der Rotschopf, wie Yuu sich neben ihm niederhockte, einen seiner Arme nahm und diesen um seine Schultern legte. Unweigerlich breitete sich ein leichtes Grinsen auf Lavis Lippen aus. „Denk nicht mal dran, irgendeinen Kommentar loszulassen, Baka Usagi!“, zischte Kanda ungehalten, als er sich erhob und Lavi mit sich hochzog. Der Jüngere hatte kurz einige Probleme, sich aufrecht zu halten und stützte sich entsprechend ziemlich auf dem Japaner ab. Dieser ließ das Wortlos über sich ergehen, bis Lavi es dann endlich geschafft hatte, einigermaßen vernünftig zu stehen, mal von dem nervenden Zittern seiner Beine abgesehen. „Geht’s?“ „Aww, Yuu-chan macht sich Sorgen um mich.“ „Che!“ Hach, wie sehr Lavi diesen typischen Laut von Kanda doch liebte. Das war unmöglich zu imitieren. „Doch nicht um dich. Ich hab nur keinen Bock wieder die ganze Arbeit zu machen.“ „Sei doch nicht so gemein zu mir.“, jammerte Lavi gespielt und zog einen Schmollmund. Den Kanda gekonnt mit seinem ‚Che‘ quittierte. Schade. Yuu hätte da ruhig weiter drauf eingehen können, zumindest, wenn es nach Lavi gegangen wäre. Dann hätten sie ein Gesprächsthema gehabt und wären nicht wieder in diese eisige Stille verfallen. Yuu gewährte dem Rotschopf noch einige Momente, damit er seinen Stand noch etwas festigen konnte, eher er sich langsam in Bewegung setzte. Und es war wirklich langsam. Lavi hatte merklich Probleme damit, seine Schritte gezielt zusetzen. Er verfluchte sich selbst dafür und erneut schlich sich die Frage nach dem Geschehenen in seinen Kopf. Allerdings musste er für die Antwort wohl noch etwas warten, da Kanda immer noch keine Anstalten machte, ihm etwas zu erzählen. Gemeinheit. Das leise Knirschen des Schnees unter ihren Sohlen wurde kurz deutlicher, ehe es komplett verschwand und einem anderen Geräusch Platz machte. Es klang nach einer Art hallendem Klacken. Schritte auf Stein… Felsen? Eine Höhle? Yuu blieb stehen und zwang damit auch Lavi in seiner Bewegung inne zu halten. „Wir machen hier Rast.“, erklärte der Japaner kurz und ließ Lavis Arm los. Ein erleichtertes Seufzen entfloh den Lippen des Rotschopfs, ehe er nach einer naheliegenden Wand tastete und sich daran zu Boden rutschen ließ. Der Druck in seinem Kopf stieg langsam wieder an und mit einem leisen Knurren presste er sich eine Hand an die Schläfe. Seine Finger trafen auf etwas Weiches, Feuchtes. Der Verband? Wieso war er durchnässt? Es hatte doch gar nicht geregnet… Plötzlich legten sich kalte Finger auf seine und er zuckte leicht zusammen. „Gott, Yuu! Erschreck mich nicht so!“, jammerte er leise und ließ es zu, dass der Ältere seine Hand von dem Stoff wegzog. „Es hat immer noch nicht aufgehört…“ „Huh?“, entkam es Lavi verwirrt, als er Yuus Worte hörte. Was hatte noch nicht aufgehört? Gott, konnte der Japaner nicht mal klar machen, worum es geht? Und was zur Hölle passiert war? Der Druck des Verbands lockerte sich und Lavi stutzte. Was sollte das nun werden? „Yuu…?“, fragte er unsicher, wurde aber unsanft von dem schwarzhaarigen Exorzisten unterbrochen. „Klappe!“ Und dann verschwand die Dunkelheit um Lavi, als der Stoff endgültig fiel. Geblendet kniff der Rotschopf sein Auge zu und keuchte erschrocken auf. Es war hell. Zu hell. Taghell. Als ob er direkt in die Sonne starren würde. „Stell dich nicht so an.“, zischte Kanda vor ihm und Lavi musste schmunzeln. „Ich hab dich auch lieb, Yuu-chan.“ „Red keinen Scheiß, Baka Usagi!“, knurrte sein Kamerad und er musste leicht lachen. Er stockte, als ein Tropfen seine Wange hinab lief. Was war das? Probehalber öffnete er sein Auge einen Spalt breit, damit er sich an das Licht gewöhnen konnte, ehe er es vollends öffnete. Endlich konnte er seine Umgebung wieder sehen. Allerdings wirkte sie trotz allem verschwommen. Es war schwer, genaue Konturen zu erkennen. Die Farben vermischten sich etwas, anstatt klar voneinander getrennt zu sein. Nur langsam klarte seine Sicht auf und er erkannte seinen Kameraden vor sich und sein Anblick irritierte Lavi. Yuus rabenschwarzes Haar fiel ihm offen über den Rücken und wirkte leicht zerzaust und etwas stumpf. Die sonst so eiskalten blauen Augen des Exorzisten schienen etwas aufgetaut zu sein. Irgendetwas Sanftes -sei es auch nur verdammt schwer zu erkennen- spiegelte sich in ihnen, während er irgendetwas neben Lavi fixierte. Oder halt, nein. Er fixierte nichts neben ihm, sondern eher etwas direkt an ihm. Irgendetwas neben seinem Gesicht. Und seine Annahme bestätigte sich, als Yuus Finger seine Haare beiseite schoben und etwas Weiches auf seine rechte Schläfe drückten. Ein höllischer Schmerz nahm die Gedanken des Rotschopfs ein und er keuchte erschrocken auf, versuchte etwas von Yuu wegzurutschen. Der Japaner ließ dies natürlich nicht zu und folgte Lavis Bewegung. „Reiß dich zusammen!“, zischte er genervt, nutzte seine freie Hand, um den Rotschopf an einer weiteren Flucht zu hindern, und erhöhte den Druck auf den Jüngeren. Lavi winselte leise auf und versuchte Yuu wegzudrücken. Was war das? Warum tat das so schrecklich weh? Der Schmerz wurde immer heftiger und Lavis Kopf fühlte sich wieder so an, als würde er jeden Moment zerspringen. Aber er bekam Yuu einfach nicht weg. Er schaffte es einfach nicht, den Älteren von seinem Tun abzubringen. Es ging einfach nicht. Recht schnell nahm der Schmerz Überhand und ein bisher zurückgehaltener Schrei entfuhr der Kehle des Rotschopfs. Aus irgendeinem Grund stockte sein Kamerad daraufhin und Lavi nutzte es aus, um ihn wegzuschubsen. So schneller er konnte brachte er einige Meter zwischen sich und seinen Kollegen, ehe seine Beine wieder den Dienst quittierten und er auf die Knie sank. Der Druck war verschwunden. Der Schmerz nicht. Er pochte neckisch in seinem Kopf auf und entlockte ihm immer wieder ein leises Wimmern. Aus reinem Reflex presste er eine Hand an die Stelle, die Yuu zuvor malträtiert hatte, das Zentrum, von dem diese ganze Pein ausging. Er wollte, dass es aufhörte, machte es mit seinem Tun allerdings nur schlimmer. Warum? Was zur Hölle sollte das? Erst dann bemerkte er es. Irgendetwas warmes, feuchtes benetzte seine Haut, lief an seiner Wange hinab und hinterließ eine klamme Spur. Langsam ließ er seine Hand wieder sinken und musterte sie. Etwas Rotes klebte auf seiner Handfläche. Rot. Tiefrot. Eine Farbe, die ihm nur allzu bekannt war. Blut. Langsam begann sein Gehirn, über den Schmerz hinweg, wieder zu arbeiten, suchte die Zusammenhänge des Ganzen und langsam begann Lavi zu verstehen, was los war. Woher diese höllischen Kopfschmerzen und das Blut kamen… Was Yuu mit seiner vorherigen Aussage gemeint hatte… Es machte Sinn! Ihm wurde klar, warum er so lange gebraucht hatte, diese ganzen Kleinigkeiten, für die er sonst nicht mal eine Millisekunde und kaum Energie benötigt hatte, zu erkennen… Warum sein Körper ihm nicht so recht gehorchen wollte… Warum ihm Yuus Verhalten so merkwürdig vorgekommen war… Warum er sich nicht erinnern konnte, was passiert war… Es war so gottverdammt simpel und er war einfach nicht darauf gekommen. Und plötzlich änderte sich die Situation wieder. Lavis Gehirn brauchte eine Weile, bis es die neuen Umstände wieder klar erkennen konnte. Er lag mit dem Rücken auf dem Boden, Kanda saß auf ihm und hielt seine Hände mit einer Hand auf dem Boden über seinem Kopf fixiert und funkelte ihn finster an. Unter normalen Umständen hätte der Rotschopf jetzt Angst bekommen, doch hielt der pochende Schmerz in seinem Kopf nach wie vor an und übertrumpfte die Furcht um Längen. Einige Sekunden lang starrten sie sich einfach nur in die Augen und Lavi entdeckte etwas in den eiskalten Augen Kandas, das in deutlich verwirrte. War das Sorge? Ehrliche aufrichtige Sorge, die sich hinter diesem Vorhang aus Wut versteckte? Sollte Kanda Yuu sich wirklich Sorgen um ihn machen? Dann spürte er ihn wieder. Diesen elendigen Stoff, der erbarmungslos von Yuus Fingern auf seine Wunde gepresst wurde und die Schmerzen anfachte, wie der Wind das Feuer. Und diesmal gelang es dem Schmerz, seine Sinne vollkommen zu umnebeln. Er hörte einen Schrei. Er klang ziemlich weit entfernt, obwohl Lavi genau wusste, dass er es war, der diesen Laut von sich gegeben hatte. Er wusste es einfach. Anders machte es keinen Sinn. Auch Yuus Stimme konnte er entfernt hören. Der Japaner sprach auf ihn ein, doch konnte Lavi seine Worte nicht verstehen, zu leise waren die geknurrten Laute. Seine Sicht verschwamm, die Konturen seines Freundes verwischten, ehe die Farbe der blassen Haut Yuus sich mit dem Rabenschwarz seiner Haare vermischte. Ein merkwürdiges Bild, wie Lavi empfand. Der Schmerz schwoll langsam ab und mit ihm die Farben seiner Umgebung. Das tiefe Schwarz von Kandas Haaren schien sich auszuweiten und Lavis gesamtes Sichtfeld einzunehmen. Etwas an der entfernten Stimme seines Kameraden änderte sich. Sie klang lauter, drängender… Wenn Lavi den Japaner nicht besser kennen würde, würde er sogar behaupten, Yuus Stimme klang besorgt, fast panisch. Aber dann war die wohlbekannte Stimme seines Freundes weg. Ebenso wie die Schmerzen und die letzten Farben seiner Umgebung. Alles war still. Angenehm still. Nicht so bedrückend, wie die Stille auf einem Kampffeld, bevor einer der Kämpfer den ersten Schritt machte und das Massaker eröffnete. Nicht die Ruhe vor dem Krieg, dem Sturm. Nicht die Stille, die einkehrte, wenn ein Mensch einem Anderen das Messer in die Brust rammte… Sie war anders. Eine solche Stille, fand man nur an wenigen Plätzen. Sie war angenehm, beruhigend. Man wollte sie nicht brechen, nicht für die schönsten Dinge der Welt. Es war die Stille, wie man sie in einer Bibliothek fand. Lavi liebte Bibliotheken über alles. All diese vielen Bücher, die ihm ihre Geschichten erzählen wollten, ohne dabei einen Laut von sich zu geben. Es war wie ein Traum, immer, wenn er eine dieser Räume betrat. Insbesondere die Bibliothek im Black Order hatte der Bookman Junior ins Herz geschlossen. Er hatte schon jede Menge Archive gesehen, schon so einige durchstöbert und erkundigt. Aber keiner dieser Orte war so voll von Wissen und Weisheit, wie die Bibliothek des Ordens. Er war nun schon zwei Jahre dort, hatte jede freie Minute, die er nicht mit Training, Essen, oder Schlafen zugebracht hatte, dort verbracht und in den Büchern gelesen. Und doch war er bis heute nicht durch. Er hatte noch nicht all diese Bücher gelesen. Nicht annähernd das gesamte Wissen aus diesen beschriebenen Seiten herausgeholt. Er hatte noch große Lücken in dem Wissen, dass ihm durch diese Bibliothek geboten wurde und er wollte sie schließen. Bookman hatte ihm bestätigt, dass er dafür genug Zeit haben würde. Der heilige Krieg würde noch anhalten, sie würden noch länger beim Black Order bleiben, um dessen Geschichte festzuhalten und Lavi würde genug Gelegenheiten haben, all das Wissen aus der Bibliothek des Ordens herauszuholen. Er hatte sich gefreut, als der Alte ihm das erzählt hatte. Jedoch nicht nur, wegen des Wissens, dass er noch einholen konnte. Nein. Das war nur einer der Aspekte, die ihm an dieser Information gefielen. Der andere Aspekt durfte seinem Meister niemals zu Ohren kommen. Bookman durfte niemals erfahren, weswegen Lavi sich noch freute, dass sie eine lange Zeit beim Orden bleiben wollten. Denn wenn Bookman davon erfuhr, würde er seinem Nachfolger wieder vorhalten, wie falsch das war. Wie sehr er sich von einem solchen Fehler blenden ließ. Bindungen waren nichts für einen Bookman. Sie existierten für ihn nicht. Ein Bookman besaß kein Herz, hatte keine Verwendung für ein solches. Und doch hatte Bookman Junior sich auf die Menschen im Orden eingelassen. War ihnen zu nahe gekommen und hatte sich mit ihnen angefreundet. Allen, Lenalee, Kanda, Komui, River, Johnny, Krory, Miranda, Marie, Chaoji… All diese Menschen, die für ihn lediglich eine Geschichte zusammenstellen sollten, die niemals mehr als Tinte auf dem Papier für ihn darstellen sollten, waren ihm wichtig geworden. Er hatte sie lieb gewonnen, ohne es wirklich zu merken, ohne es wirklich zu wollen. Aber er hatte es zugelassen. Er hatte es von einer Noah vor Auge geführt bekommen und hatte gesehen, dass es zu spät war, um umzukehren. Und das machte ihn verrückt. Und das Wissen, dass diese Menschen, die ihm ans Herz gewachsen waren, irgendwann verschwinden sollten, nur noch als die geschrieben Worte, die er in den Geschichtsbüchern lesen würde, existieren würden, machte ihn krank. Er wollte sie nicht mehr verlieren, auch wenn er wusste, dass das absurd war. Man konnte hier nicht einfach sagen „Wir sehn uns, wenn du zurück bist“ und sich hundert Prozentig sicher sein, dass der Andere auch wiederkam. Jeden Tag konnte es heißen, dass einer der Exorzisten oder der Finder getötet wurde. Jeden Tag konnte es passieren, dass das Leben eines Kameraden an einem seidenen Faden hing. Jeden verdammten Tag wachte man in dem Wissen auf, dass irgendjemand von ihnen nicht so viel Glück, wie man selbst, hatte und den neuen Tag nicht begrüßen konnte. Und jeden gottverdammten Morgen tat es aufs Neue weh. Bookman Junior hatte einen Fehler begangen. Und dieser Fehler war es ‚Lavi‘ einfach gewähren zu lassen. Er hätte früher eingreifen sollen. Er hätte dem ganzen früher ein Ende bereiten sollen und ‚Lavi‘ in seine Schranken weisen. Aber er hatte es nicht getan. Er hatte sich blind gestellt vor dem, was so offensichtlich war, wie die Tatsache, dass Allen wer weiß wie viel Essen verspeisen konnte, oder dass Komui einen viel zu großen Beschützerinstinkt seiner kleinen Schwester gegenüber besaß. Er hätte früher reagieren sollen. „Und dafür zahlen wir nun den Preis, Lavi.“, durchstieß eine wohlbekannte Stimme die Stille und Lavi zuckte leicht zusammen, öffnete verwirrt die Augen. Der Raum um ihn herum war dunkel und doch konnte er alles um sich herum deutlich erkennen. Er kannte diesen Ort. Er war bereits oft hier gewesen, meist alleine. Nur einmal hatte er jemanden bei sich. Einen Eindringling, der viel zu viel Schaden angerichtet hatte. Der ihm alle möglichen Illusionen vorgespielt hatte, der versucht hatte, seinen Verstand zu töten. Road Kamelot hatte viel Schaden angerichtet. Sie hatte ihm gezeigt, wie stark er bereits in das Netz verwickelt war, dass den Black Order umgab. Sie hatte ihm bewiesen, dass er nicht mehr der rational denkende Nachfolger Bookmans war, der er hätte sein müssen. Ihr hatte er es zu verdanken, dass er seine Fehler erkannt hatte, aber auch nichts mehr daran ändern konnte. Es war zu spät. Diesen Gedanken verwerfend drückte Lavi sich hoch, ließ seinen Blick schweifen. Jede Bewegung war so einfach, so gewohnt. Vollkommene Routine, die ihm vor einigen Minuten noch verwehrt geblieben ist, weil jede Muskelanspannung ihm Schmerzen bereitet hatte. Aber jetzt waren sie alle weg. Es war, als wäre nichts geschehen. „Warum bin ich hier?“, fragte er sich selbst und fixierte dann die Person, die vor ihm auf dem Boden saß. Die roten Haare, die wirr in die Stirn hingen und das prüfende, berechnende, grüne Auge, das auf ihn gerichtet war, waren ihm nur zu bekannt. Er saß sich selbst gegenüber, und wiederum war diese Person vor ihm nicht er. Es war Deak. Die Persönlichkeit, die vor ‚Lavi‘ kam. Die Persönlichkeit, die Bookman Junior abgelegt hatte, um ‚Lavi‘ zu erschaffen und um die schlimmsten Fehler seiner Laufbahn zu begehen. Aber Deak musterte ihn nicht anklagend, wie damals, als Road seinen Verstand eingenommen und hatte. Die 48ste Persönlichkeit saß einfach nur da, und musterte ihn, ein leicht ironisches Lächeln auf den Lippen. „Überleg doch.“, antwortete er schließlich und Lavi runzelte die Stirn. „Lavis Zeit ist noch nicht...“, setzte er sofort an, wurde jedoch durch ein Schmunzeln Deaks zum Schweigen gebracht. „Lavis nicht. Aber unsere vielleicht.“ „Wie meinst du das?“ „Wir sterben, Junior.“ Was?! Fassungslos beobachtete er sein Gegenüber, wie er sich erhob. Kurz blitzte etwas in dem sonst so rationalen Auge auf. Furcht. Die Furcht vor dem Verschwinden. Deak meinte es ernst? Das war doch ein Witz. Niemals. „Ich hab vorhin noch mit Yuu-chan gesprochen. Mir geht’s blendet…“ Kurz überdachte Lavi seine Worte noch einmal, ehe er fortfuhr: „Naja, okay. Vielleicht nicht blendet. Aber so schlimm steht es nun auch wieder nicht. Das heilt schon ab. Braucht vielleicht eine Weile, aber das ist nicht das erste Mal, dass ich verletzt wurde. Mach da nicht so ein Drama draus.“ Deak musterte ihn kurz, ehe er ihm eine Hand hinhielt, um ihm aufzuhelfen. Lavi ließ es zu und fand sich schnell wieder mit seiner vorherigen Persönlichkeit auf einer Augenhöhe. „Überleg. Was glaubst du, warum die Schmerzen weg sind?“ Da brauchte Lavi nicht lange zu überlegen: „Weil ich hier bin. Ich schlafe…“ „Unser Körper atmet nicht mehr. Alles ist noch vollkommen funktionsfähig, aber wir haben aufgehört zu atmen, Junior.“ „Yuu-chan wird sich da sicherlich drum kü…“ „Er hat von sowas keine Ahnung!“, unterbrach Deak ihn erneut grob. „Er kennt nur die groben Grundlagen der ersten Hilfe, dass solltest du besser wissen, als ich. Seine Wunden heilen schnell und unter normalen Umständen braucht er das Wissen, einen anderen Menschen zu beatmen, in seinem Umfeld nicht, weil es keine Körper gibt, die beatmet werden müssten. Das Gift zerstört die Zellen, ehe er auch nur die Chance bekommen würde. Kanda Yuu hat keine Ahnung davon. Also rede dir nicht ein, dass er dich rettet, Lavi! Du setzt schon wieder zu viel auf deine ‚Kameraden‘!“ „Und was soll ich deiner Meinung nach tun? Einfach hier rumsitzen und warten, bis ich verschwinde?! Warum lässt du mir nicht die Chance, wenigstens ein wenig Hoffnung zu haben? Ich bin nicht du!“, fuhr er seinen Gegenüber an. Deak hatte es tatsächlich geschafft ihn zu reizen. Sogar ohne Road war seine 48ste Persönlichkeit eine Nervensäge und ein Realist. Verdammt, Lavi war sich dieser ganzen Umstände sehr wohl bewusst. Aber irgendwo hoffte er eben doch, dass das Ganze gut ausgehen würde, dass Yuu-chan schon einen Weg finden würde. „Stimmt, du bist nicht ich. Und das ist der Fehler im System, Lavi.“ Und damit verschwand Deak im Nichts. In Lavi zog sich alles zusammen. Wieder kehrte Stille ein. Doch aus der zuvor so angenehmen, beruhigenden Ruhe war die Stille geworden, die Lavi verachtete. Die Stille, die Tode ankündigte, die Blutbäder mit sich brachte und Menschen Trauer schenkte. Die Ruhe, auf die die totbringenden Stürme folgten. Er biss sich auf die Unterlippe. Nein. Er hasste diese Stille. Er hasste sie abgrundtief. Und er wollte sie nicht hören. Instinktiv legte er sich die Hände über die Ohren, doch es half nichts. Die Stille ließ ihn nicht los. Plötzlich befiel die Angst ihn. Die Angst, die Deak zuvor in ihren Klauen gefangen hielt und sich nun ein neues Opfer gesucht hatte. Die Angst vor dem Tod. Einfach zu verschwinden. Ohne, dass er etwas erreicht hatte. Ohne irgendwas geschafft zu haben, von dem er sagen konnte „Hey, darauf kann man stolz sein“. Einfach so im Nichts, in einer Senke verschwinden. Nicht einmal mehr ein Name auf dem Papier zu sein… Tränen rannen seine Wange hinab. Nein, das konnte es doch nicht sein. Das durfte es nicht sein. So wollte er nicht enden. So durfte das alles nicht enden. Er konnte sie doch jetzt nicht alle alleine lassen. Er hatte eine Aufgabe zu erfüllen. Sowohl als zukünftiger Bookman, als auch als Exorzist. Er durfte jetzt nicht einfach gehen. Panda-Jiji würde böse mit ihm sein, weil er sich solch eine Mühe mit seiner Erziehung und Lehre gegeben hatte und Lavi dann einfach starb. Lena-chan würde wieder weinen, wegen ihm. Weil sie wieder einen Teil ihrer Welt verlieren würde. Allen würde es nicht wahr haben wollen. Ebenso, wie er den Tod von Cross Marian nicht wahr haben wollte. Und er würde sich Vorwürfe machen. Und Yuu-chan… Ja, was würde Yuu-chan machen? Es einfach hinnehmen? Vielleicht. Lavi wusste es nicht so recht. Er hatte einiges über Yuu erfahren. Einige der anfänglichen Vorurteile, dass Kanda sich einen Dreck um seine Kameraden kümmerte, waren in Lavis Augen widerlegt worden. Dazu hatte Yuu sowohl ihm, als auch Allen und den Anderen zu oft geholfen. Würde Yuu trauern? Vielleicht. Aber wenn, dann auf seine Art, alleine, in seinem Zimmer eingeschlossen. Er würde niemanden an sich ran lassen, bis er darüber hinweggekommen war. Er würde seine Trauer in diesem Raum einsperren und niemals vor den Augen der anderen eine Träne vergießen. Yuu hielt es für eine Schwäche, zu weinen. Er hatte Lavi erklärt, dass weinen nur zeigte, wie zerbrechlich die menschliche Seele doch war. Und er hatte Recht. Trotzdem hatte Yuu geweint. Auch vor Lavi. Der Rotschopf war die einzige Person im Orden, die jemals die Tränen des Japaners gesehen hatte. Der Einzige, der ihn trösten durfte und ihm sagen, dass das alles bald zu Ende sei. Lavi wusste nicht, wie genau Yuu darüber dachte, aber er glaubte schon, dass der schwarzhaarige Exorzist ihn als Freund ansah. „Rabi…“ Lavi stockte. War das nicht Yuus Stimme? Wieso konnte er den Anderen hier hören? Das war seine eigene Welt. Die Welt in seinem Kopf. Wie sollte er seinen Kameraden da hören können? Absurd. Sicherlich hatte er sich das bloß eingebildet. „Jetzt hör ich schon Gespenster…“, murmelte er leise und lachte etwas über sich selbst. So lächerlich. „Rabi!“ Schon wieder. Diesmal klang die Stimme des Japaners lauter, drängender. Und Lavi musste schmunzeln, als ihm der Akzent auffiel. Aber dann stockte er. Wieso hatte Kanda wieder diesen ausgeprägten Akzent? Das war schon seit eineinhalb Jahren nicht mehr der Fall. Sie hatten zusammen daran trainiert, dass der schwarzhaarige Exorzist endlich akzentfrei Englisch sprechen konnte. Und sie haben es geschafft. Wieso hatte Yuu ihn dann jetzt wieder? Hatten sie etwa umsonst geübt? „Du enttäuschst mich, Yuu-chan.“, murmelte Lavi leise und hob den Blick. Immer wieder drang die Stimme des Japaners zu ihm durch. Immer wieder klang sie drängender, lauter… besorgter… Machte Yuu sich Sorgen? Um ihn? Unweigerlich schlich sich ein Lächeln auf die Lippen Lavis und ihm wurde etwas wärmer. War es überheblich sich darauf etwas einzubilden, dass Yuu sich vielleicht um ihn sorgte? Der Yuu? Kanda Yuu? Der, der im Orden dazu verschrien war, dass er sich nur um sich selbst und seinen Job kümmerte? War es ihm wirklich schlecht anzurechnen, dass er sich ehrlich darüber freute, dass Yuu-chan sich um ihn sorgte? Lavi schloss langsam die Augen. Es war ein schönes Gefühl, zu wissen, dass Yuu sich um ihn sorgte. Die Furcht war verschwunden und hatte diesem einmaligen Gefühl Platz gemacht. Es war so viel einfacher für ihn zu wissen, dass er stirbt, wenn er auch weiß, dass man ihn vermisst wird, dass es Leute geben wird, die ihm nicht vergessen werden, dass er Freunde hat, die ihn nicht sofort verdrängen werden, wie die Leute, die er sonst in seiner Vergangenheit getroffen hatte. Langsam löste sein Körper sich auf. Lavi brauchte nicht einmal die Augen öffnen, um es zu bemerken. Er konnte es genau spüren, doch sein Lächeln wich nicht. Schon eine ziemliche Ironie, ging es dem Bookman Junior durch den Kopf, ehe er vollkommen verschwand. „Inai shinu, Rabi!*“ Mit einem Mal waren all die Schmerzen wieder da, schlugen wie eine Welle über dem Rotschopf zusammen und ließen ihn hilflos nach Luft schnappen. Seine Lungen füllten sich ruckartig mit dem so lebensnotwenigen Sauerstoff und vor Schreck musste er husten. Der Hustenanfall ließ ihn erst spät los. Nach Atem ringend saß er einfach da und versuchte sich zu beruhigen. Was war passiert? Wieso war er noch hier? Wieso lebte er noch? Und wieso hatte er heute so verdammt viele Fragen, auf die er nur sehr spät eine Antwort erhielt? Der Tag war einfach viel zu verwirrend geworden. So ein Scheiß auch. Lavi hasste es, verwirrt zu sein. Leider konnte er daran jetzt erstmal nichts ändern. Er spürte eine Hand auf seinem Rücken und eine Zweite an seinem Arm, die ihn leicht zur Seite zog. Lavi war nicht in der Lage, sich gegen diese zu wehren und so ließ er sich von dieser Hand leiten und spürte keine Sekunde später einen warmen Körper. Sofort lehnte Lavi sich dagegen. Ihm war egal, welche Auswirkungen das haben würde. Er war müde und er wollte nicht mehr Kraft verbrauchen, als nötig. Er merkte, dass ein leichtes Zittern den anderen Körper eingenommen hatte. „R-Rabi…?“, kam es leise von der anderen Person und Lavi musste leicht lächeln, als er das Herz des anderen schlagen hörte. Es schlug schneller, als es üblich war. Yuu-chan hatte sich wohl wirklich Sorgen gemacht… „Englisch… Yuu…“, murmelte er leise, wunderte sich darüber, dass die Worte überhaupt zu hören waren. Augenblicklich erstarb das Zittern des Anderen und der Rotschopf konnte spüren und hören, wie sein Kamerad tief Luft holte. Kanda rang ganz offensichtlich um seine Fassung. Wenn Lavi nicht so erschöpft wäre, hätte er dazu jetzt gewiss einen dummen Spruch abgelassen. Aber ihm war nicht danach. Er spürte, wie eine Hand vorsichtig durch seine Haare strich und einen Arm, der sich um ihn lege und ihn näher an den Körper des Anderen zog. Träge öffnete er sein Auge. Schwarzroter Stoff begrüßte ihn und Lavi wusste sofort, dass er nicht sicherer sein konnte. Da, wo er jetzt war, war wirklich der sicherste Platz auf der ganzen Welt, zumindest, wenn man die Katzenmutter, alias Kanda Yuu, auf seiner Seite hatte. „Baka…“, kam es leise von Yuu. Das hatte der Ältere jetzt nur gesagt, um sich der Aufforderung zu widersetzten. Ha, so leicht zu durchschauen war Yuu selten, selbst für Lavi. „Mach das nie wieder.“ Das war nun wirklich eine Steilvorlage für Lavi. Wieso musste Yuu ihm diese gerade jetzt geben? „Aww… Yuu-chan hat… sich Sorgen… um mich… gemacht…“ Gott, sprechen war vielleicht anstrengend. Lavi hatte nie gedacht, dass seine Zunge so träge sein könnte. Nicht mal seinen Lieblingssatz konnte er jetzt in einem Rutsch durchbringen. Wie lästig. Yuu erwiderte nichts darauf. Gott, er ließ sich diesen Spruch gefallen! Irgendwas konnte nicht stimmen. Kanda Yuu ließ diesen Spruch niemals kommentarlos über sich ergehen. Da musste erstmal die Welt untergehen, ehe er darauf nichts sagte. Das war so untypisch für ihn. Wieso verwirrte er Lavi jetzt nur so gnadenlos? Hatte der arme Rotschopf nicht schon genug Verwirrung für ein ganzes Jahr über sich ergehen lassen müssen? Und das an einem einzigen Tag? Aber Yuu sagte wirklich nichts mehr darauf. Er zog Lavi nur etwas näher zu sich, als befürchtete er, dass der Rotschopf ihm gleich wieder entglitt und ihn doch noch alleine ließ. „Ich will… nach Hause…“, murmelte Lavi schließlich leise und schloss langsam sein Auge. Genug für eine Mission. Das Innocent hatten sie doch ohnehin schon lange sichergestellt. Warum waren sie noch mal in der Stadt geblieben? Ach ja, er selbst hatte Yuu dazu gedrängt noch etwas essen zu gehen, bevor sie sich davon machen würden. Toller Einfall. Lavi schwor sich, dass er nie wieder auf seinen Bauch hören würde, wenn eine Mission gelaufen war. Nie wieder. Einfach zurück. Jerrys Essen schmeckte ohnehin besser, als alles andere auf diesem Planeten. Soviel war sicher. Das sagten alle. Aber das war Lavi gerade ziemlich egal. Er wollte nur noch nach Hause, in sein Bett und schlafen. Kein lästiger Bericht, kein nerviges Gespräch mit Bookman, was passiert sei, keine Diskussionen über Dinge, die ohnehin nebensächlich waren… Einfach nur schlafen… „Komui weiß Bescheid. Er hat Moyashi und einige der Finder geschickt. Sie müssten bald hier sein.“, erklärte Yuu leise und strich weiterhin sanft durch Lavis Haare. Erneut bemerkte der Rotschopf, wie untypisch dieses Verhalten war, doch wollte er es nicht thematisieren. Dazu hatte er noch Zeit, wenn sie daheim waren und er endlich ausgeschlafen. „Allen kommt…?“, fragte er schon leicht benebelt und öffnete schwerfällig wieder sein Auge, um zu Yuu hochzuschauen. Augenöffnen kostete doch mehr Kraft als sprechen. Lavi hatte sich offensichtlich vorher geirrt. Gut, dass sollte er sich für die Zukunft merken. Der schwarzhaarige Exorzist nickte leicht und ließ seinen Blick immer wieder über den Jüngeren gleiten, als wolle er sicher gehen, dass er wirklich nicht einfach verschwand. „Er soll ein Tor zur Arche öffnen. In deinem jetzigen Zustand kann man dich nicht sicher über weite Strecken transportieren.“ „Hat vorhin… doch auch geklappt…“ „Vorhin ist deine Atmung ja auch noch nicht zusammengeklappt, Idiot!“ Ah, da war der gereizte Unterton wieder. Fand Yuu seinen sonstigen Biss endlich wieder? Wurde aber auch Zeit. „Aber… jetzt geht’s doch wieder…“, grummelte Lavi leise und schmiegte sich leicht an seinen Kameraden. So warm… Langsam ließ Bookman Junior sein Auge wieder zufallen. Yuu war so schön warm... Das passte nicht zu ihm. Er wirkte doch sonst immer so eiskalt und seine Hände waren auch kalt. Aber der Rest nicht. Der Rest seines Körpers war so unglaublich schön warm… „Lavi?“ Der Jüngere reagierte nicht auf die Frage. Yuu würde schon weiter sprechen, wenn es etwas Wichtiges war. „Oi, Lavi?“ Wieder keine Reaktion. Warum sagte der Ältere nicht einfach, was er wollte? So war es doch viel einfacher und Lavi musste sich nicht unnötig bemühen. „Hey, nicht einschlafen!“ Lavi stutzte innerlich. Hatte er gerade einen Anflug von Angst in Yuus Stimme gehört? Oder bildete er sich das im Halbschlaf bloß ein? Egal wie man es dreht und wendete, Yuu fiel vollkommen aus dem Rahmen. Er war aktuell irgendwie nicht ganz er selbst. Gut, eigentlich war er gar nicht er selbst, immerhin duldete er, dass Lavi sich an ihn lehnte. Und allein das brachte den Rotschopf sonst schon fast ins Grab. „Bin aber… müde…“, gab er schließlich, nach einer erneuten Ermahnung Yuus von sich. Yuu verkrampfte leicht, dass spürte Lavi genau. Aber warum? Eine Weile herrschte Stille und Lavi war bereits wieder kurz davor abzudriften, als Yuu seine Frage stellte: „Versprichst du wieder aufzuwachen?“ Ah, daher wehte also der Wind. Yuu hatte wirklich Angst. Lavi musste leicht lächeln: „Ja…“ „Schwöre!“ „Hm?“ Was wollte Yuu bitte von ihm? Einen Schwur? Also bitte. Reichte es nicht, wenn er es ihm versprach? „Schwöre auf alles, was dir lieb und teuer ist.“ Eine simple Forderung. Zu simpel. „Das… geht nicht…“, brachte Lavi im Halbschlaf zustande. Gott, warum musste der Schlaf ihn gerade jetzt übermahnen? Das war so ungerecht. „Wieso nicht?“ Kanda klang entrüstet, schon fast beleidigt. „Weil es… unfair wäre, wenn… ich auf… dich… schwöre… Yuu-chan…“ Lavi hätte Yuus Reaktion wirklich zu gerne miterlebt, allerdings gewann die Müdigkeit ihren kleinen Wettstreit und zog Bookman Junior in den Tiefschlaf, mit dem Hintergedanken, dass er auf jeden Fall wieder aufwachen musste. Er hatte es immerhin versprochen. Ein leichter Wind strich über seine Wange und zog ihn aus dem Schlaf. Ein leises Murren entfuhr ihm, als der Wind ein weiteres Mal über ihn hinweg strich und ihm eine Gänsehaut verpasste. Sofort zog er seine Decke höher. Oder eher: Er versuchte es, scheiterte jedoch kläglich, weil irgendetwas das blöde Ding da fixierte, wo es war, zumindest einseitig. Missbilligend öffnete er langsam sein Auge und linste zu dem Störenden etwas. Er stockte, als er Yuu erblickte. Der Japaner saß neben dem Bett auf einem Stuhl, die Arme auf dem Bett –und der Bettdecke- verschränkt und den Kopf darauf abgelegt. Er schlief. Ein Lächeln legte sich auf Lavis Lippen, als er den entspannten Ausdruck auf dem Gesicht des Älteren sah. Das stand Yuu. Er sollte öfter mal entspannen. Doch langsam machte Verwirrung sich in Lavi breit. Was machte Yuu-chan hier? In seinem Zimmer? Nein. Nicht in seinem Zimmer, korrigierte der Rotschopf seine Gedanken. Das konnte nicht sein Zimmer sein. Es roch nicht nach Tinte oder alten Büchern. Es roch steril, viel zu steril. Lavi verzog sein Gesicht. Es roch nach Krankenhaus. Aber gewaltig. Nun ließ er seinen Blick durch das Zimmer wandern. Weiße Wände, weiße Gardinen, ein paar weitere Betten, natürlich alle weiß bezogen… Das sah verdächtig nach der Krankenstation des Ordens aus. Verdammt. Er hatte den ganzen Spaß verpennt. Er hatte doch tatsächlich den gesamten, vollständigen Spaß verpennt. Er hatte nicht mitbekommen, wie Allen und die Finder sie gefunden hatten, er hatte Yuus Reaktion auf seine letzte Aussage verpennt. Einfach Alles! Das war so unfair! Dabei hätte er das alles so gerne mit verfolgt. Ein enttäuschtes Grummeln entglitt seiner Kehle. Mit einem ergebenden Seufzen ließ er seinen Blick wieder zu Yuu wandern. Die rabenschwarzen Haare des Älteren waren wieder in dem typischen strengen Pferdeschwanz gebunden, der sich zu Yuus Markenzeichen gemausert hatte. Schade. Es stand Yuu wirklich, wenn er die Haare offen trug. Das brachte seine feminine Seite noch stärker zum Ausdruck. Lavi würde das so natürlich niemals sagen. Aber das Yuu mit offenen Haaren besser aussah, das hatte er dem Japaner schon des Öfteren gesagt. Das Ergebnis: Ein weiteres Treffen mit Mugen. Hach, mittlerweile hatte er das Katana recht lieb gewonnen, so oft, wie sich ihre Wege kreuzten. Kanda konnte ihn so oft er wollte mit Mugen bedrohen, solange Lavi ihm immer wieder sagen durfte, was er von Yuu dachte. Er machte immerhin nie ein Geheimnis daraus. Deswegen glaubte ihm auch keiner wirklich, dass er Yuu richtig gut leiden konnte. Gerade weil der schwarzhaarige Exorzist so verschlossen und abweisend war, mochte Lavi ihn. Yuu war eine Herausforderung, die Bookman Junior nur zu gerne angenommen hatte. Und nach dem, was er in Erinnerung hatte, schien er gewonnen zu haben. Ein triumphierendes Grinsen schlich sich auf Lavis Lippen. Ja, er hatte gesiegt, denn Yuu hatte sich wirklich Sorgen um ihn gemacht. Sein Blick erhaschte eine dunkle Fläche neben ihm und er identifizierte diese recht schnell als eine Mappe. Neugierig schnappte er sich den grauen Hefter und blätterte ihn auf. Ein Missionsbericht. Um genauer zu sein, der Missionsbericht ihrer Mission. Yuu-chans Bericht. Die Schrift war deutlich als die des Japaners zu erkennen. Jeder einzelne Buchstabe war einem kleinen Kunstwerk gleich. Dazu musste Kanda nicht mal in Kanji schreiben. Yuu hatte wirklich eine schöne Schrift, das war Lavi bereits oft aufgefallen. Dennoch stand die schöne Schrift in einem krassen Kontrast zu dem, was der schwarzhaarige Exorzist schrieb. Er benutzte gerne Schimpfwörter. Oh ja, sehr gerne. In jedem zweiten Satz, der in diesem Bericht stand, kam mindestens ein Fluch vor. Lavi musste grinsen. Yuu konnte einfach nicht sachlich schreiben. Das klappte nicht. Hatte es noch nie. Sollte Yuu-chan jemals einen Text schreiben, der wirklich vom ersten bis zum letzten Wort sachlich und strukturiert blieb, musste Lavi diesen Tag auf ewig rot im Kalender ankreuzen und den Text einrahmen und aufhängen. Diese Gedanken beiseite schiebend blätterte Lavi durch den Bericht. Er wusste immer noch nicht, was geschehen war, nachdem er Yuu dazu gedrängt hatte, etwas essen zu gehen. Und hier würde es gewiss drin stehen. Yuu schrieb vielleicht nicht sachlich, aber er schrieb alles auf. Vom Verlassen des Hauptquartiers bis zur Heimkehr. Alles. Nun ja, wann und wie oft einer seiner Kameraden auf dem Klo verschwand vielleicht nicht. Aber alles, was irgendwie ausschlaggebend sein, oder hinterfragt werden könnte. Es dauerte auch nicht lang, da hatte Lavi die gesuchte Seite gefunden. Sie waren nicht essen gegangen, sondern zurück ins Hotel. Yuu wollte sofort nach Hause und so hatten sie ihre Sachen zusammengepackt und wollten gerade wieder verschwinden, als einige Akuma auftauchten. Die Kampfszene war nicht genauer beschrieben. Und auch die Anzahl der Gegner und deren Level hatte Yuu nicht verzeichnet. Sowas dummes auch. Genau diese Informationen waren es, die Lavi interessierten. Er bezweifelte nämlich ernsthaft, dass es sich dabei nur um Level Einer gehandelt haben konnte. Wäre dem so gewesen, hätte es ein anderes Ende genommen und er selbst wäre nicht auf der Krankenstation gelandet. „Du bist zu ungenau, Yuu…“, murrte er leise und ein Seufzen entfloh seinen Lippen. „Ich dachte mir, das würde eher in deinen Bericht rein passen, Mr. Ich-lese-alles-was-mir-in-die-Finger-kommt.“, erhielt der Rotschopf eine unerwartete Antwort und sah verwirrt auf. „Ah, ich dachte du schläfst!“ „Hör auf zu denken, Baka Usagi.“, knurrte der schwarzhaarige Exorzist und setzte sich auf. Ein leises Knacken verriet, dass ihm diese Schlafposition alles andere als gut getan hatte. „Naww, kaum bin ich wieder wach, bist du direkt gemein zu mir, Yuu-chan. Freust du dich etwa nicht?“ „Seh ich so aus?“ Kurz tat Lavi so, als würde er seinen Gegenüber angestrengt mustern, ehe er breit Grinsend antwortete: „Ja, eigentlich schon.“ „Pass auf, was du sagst! Sonst pennst du nochmal vier Tage durch, Usagi!“ Lavi stockte. „Vier Tage?“ Yuu nickte: „Ja, vier gottverdammte Tage. Du hast Lenalee riesige Sorgen gemacht, entschuldige dich gefälligst dafür bei ihr, wenn sie nachher kommt. Das Weib hat mich irre gemacht mit ihrem ständigen Gerede davon, du würdest nicht mal zucken, wenn man dich anspricht, oder berührt. Sie hat mich immer wieder gefragt, warum du nicht aufwachst. Ich hab jedesmal gedacht, ich erwürg sie gleich.“ Lavi konnte sich ein Kichern einfach nicht verkneifen. Japp, das klang ziemlich nach Lenalee. Die Gute war einfach viel zu besorgt, um ihre ‚Familie‘. Aber dass Kanda wirklich ernsthaft mit dem Gedanken gespielt hatte, ihr etwas anzutun, glaubte er nicht. Yuu mochte die Asiatin irgendwo. Lavi vermutete, sie hatte eine Art Schwestern-Status bei ihm. Soweit er wusste, kannten die zwei sich auch schon seit sie klein waren, was das ganze sogar erklären würde. „Ich denke, ich sollte mich erst bei dir entschuldigen, meinst du nicht auch?“, fragte Bookman Junior dann allerdings und lenkte das Thema in eine etwas andere Richtung. Kanda sprang sofort darauf an. „Bei mir? Wofür?“ „Na, ich hab vier Tage gebraucht, um mein Versprechen einzulösen.“ Stille. Das hatte Yuu anscheinend nicht erwartet. Wow, Lavi hatte es geschafft den Japaner sprachlos zu machen. Die Frage nun: War das positiv oder negativ zu werten? Lavi war sich bei beidem nicht ganz so sicher. Er suchte in dem Gesicht des Anderen nach einem Anhaltspunkt, aber da war nichts. Der Ältere musterte ihn einfach, schweigend. Als würde er warten. Langsam schlich sich ein entschuldigendes Lächeln auf Lavis Lippen: „Tut mir Leid, Yuu-chan…“ Und dann regte der schwarzhaarige Exorzist sich wieder, schnappte Lavi den Ordner weg und erhob sich. „Wa… Moment, ich bin noch nicht fertig mit lesen!“, versucht Lavi sich die Mappe zurückzuholen, doch misslang ihm der Versuch, da Kanda bereits bei der Tür war. „Du kannst später die Kopie lesen.“ Und damit war Yuu-chan auch schon aus der Tür. Prima. „Was hat den denn so plötzlich gebissen?“, fragte Lavi sich selbst und lehnte sich wieder zurück. Warum zur Hölle war Yuu jetzt so plötzlich abgehauen? War es falsch gewesen, sich dafür zu entschuldigen? Nein. Bestimmt nicht. Es war nie falsch, sich zu entschuldigen. Aber… was war es dann? So sehr Lavi sich auch den Kopf darüber zerbrach, ihm wollte einfach nicht einfallen, was los war. „Oh, Kanda-kun ist ja gar nicht da…“, riss ihn eine Frauenstimme aus den Gedanken und er sah zur Tür, ein Lächeln auf den Lippen. In der Tür stand Lenalee und sah ein wenig überrascht aus. „Du hast in knapp verpasst, Lena-chan.“, klärte er das Mädchen auf und kurz wirkte sie verwirrt, ehe sie ihren Blick zu Lavi wandern ließ. „Lavi!“ Augenblicklich hellte sich ihre Miene auf und sie lief zu ihm, ließ sich auf dem Stuhl nieder, auf dem Kanda zuvor gesessen hatte. „Wie fühlst du dich?“ „Ein… wenig allein gelassen? Yuu ist vorhin einfach abgehauen. Hab ich irgendwas angestellt?“ Das leise Kichern der schwarzhaarigen Exorzistin versicherte ihm, dass dem nicht so war. Was dann? „Nein, du hast nichts angestellt. Kanda-kun ist einfach ein wenig aufgekratzt. Du hättest ihn mal erleben sollen. Er saß die ganze Zeit hier und hat darauf gewartet, dass du wieder aufwachst. Nicht mal die Oberschwester hat ihn aus dem Raum bekommen. Er schien wie versessen darauf, zu warten. Er hat auch fast niemanden an dich herangelassen. Selbst die Ärzte nur bedingt. Ist was zwischen euch passiert, dass er so extrem reagiert?“ In ihrer Stimme klang echte Besorgnis mit. Verwirrt musterte er sie. Kanda hatte was getan? Okay, Lavi wusste ja, dass Yuu einen ausgeprägten Beschützerinstinkt hatte, wenn es Dinge betraf, die ihm heilig waren, wie zum Beispiel diese Lotusblüte in seinem Zimmer, oder Mugen. Aber dass es so weit gehen würde, dass Yuu diesen Instinkt auch auf ihn projizierte… das war ihm neu. Langsam schüttelte er den Kopf, als die Asiatin ihn immer noch auf eine Antwort wartend ansah. „Ich… weiß nicht. Ich mein, ich wüsste nicht was. Er wollte von mir eine Versicherung, dass ich auch wieder aufwachen würde… aber sonst…“ Lavi war verwirrt. Schon wieder. Gott, wie er das doch hasste. Gedanklich ging er das Gespräch durch, das sie geführt hatten, nachdem Lavi wieder aufgewacht war. Und bei diesem Schwur, den Yuu gefordert hatte, blieben seine Gedanken hängen. „Schwöre auf alles, was dir lieb und teuer ist.“ - „Das… geht nicht…“ - „Wieso nicht?“ - „Weil es… unfair wäre, wenn… ich auf… dich… schwöre… Yuu-chan…“ Lavis Auge weitete sich leicht. Könnte das der Grund für Yuus Verhalten sein? Dieser kleine Satz, denn er im Delirium einfach so frei von der Seele ausgeplaudert hatte? Verdammt! Er musste zu Yuu! Sofort! Ruckartig zog der Rotschopf die Decke weg und stand auf, wollte aus dem Raum laufen und nach seinem Kameraden suchen. Allerdings machte er die Rechnung ohne seinen Kreislauf. Er hätte ahnen müssen, dass der, nach vier Tagen vollkommener Ruhe, bei einer solch überstürzten Aktion protestierte. Für Sekunden wurde ihm schwarz vor Augen und sein Gleichgewicht verabschiedete sich. Er hört, wie Lenalee seinen Namen rief und ein Stuhl ruckartig zurückgeschoben wurde. Und dann waren da zwei Arme, die ihn davor bewahrten, ein Date mit dem Boden wahr zu nehmen. Das ging Lavis Kopf alles ein wenig zu schnell. Viel zu schnell. „Che! Du bereitest wie immer nur Probleme, Baka Usagi!“ Besagter brauchte noch einen Moment, ehe sein Kopf und sein Körper wieder bereit war, mit ihm zu kooperieren. Doch kaum, dass sein Hirn die Worte verarbeitete hatte, hob Lavi den Blick und erkannte die eisblauen Augen, die unverkennbar zu der Person gehörten, die er suchen gehen wollte. Er war wieder gekommen. Ein Glück. Ohne einen Gedanken an mögliche Konsequenzen zu verschwenden, vergrub Lavi die Finger in Kandas Oberteil und sah ihn halb flehend, halb entschuldigend an. „Yuu-chan, bitte. Wenn dich meine Worte verletzt haben… Es tut mir Leid! Ich hab’s doch gar nicht so gemeint. I-Ich war nicht ganz klar im Kopf. Ich hab‘s wirklich nicht so gemeint! Bitte, das musst du mir glauben. Ich…“ Sein Redefluss wurde abrupt unterbrochen und erneut brauchte sein Kopf zu lange, um das Geschehene zu verarbeiten. Yuu hatte ihn unterbrochen. Aber nicht irgendwie. Nein. Yuu drückte seine Lippen sanft auf seine eigenen. Kanda Yuu küsste ihn gerade wirklich. Der Kanda Yuu. Aus irgendeinem Grund wollte ihm das nicht in den Kopf. Passierte das gerade wirklich? Lavi meinte neben ihnen Lenalee leicht nach Luft schnappen zu hören, ehe der Kontakt ihrer Lippen brach und der Rotschopf sein Gegenüber ein wenig fassungslos ansah. „Du gehörst ins Bett, Usagi. Du redest zwar schon wieder so viel wie sonst, aber dein Kopf hängt noch ziemlich hinterher.“ Und wie sein Kopf zurückhing. Er hatte es immer noch nicht auf die Reihe bekommen, diesen einfachen Kuss zu verarbeiten. Was war daran bitte so schwer? Es war doch nur ein läppischer kleiner Kuss gewesen. Nichts Großartiges. Warum zur Hölle brach deswegen nur das komplette Chaos in seinem Kopf aus? Vielleicht wegen der Person, die diesen Kuss begonnen hatte? Langsam schüttelte Lavi den Kopf, um diese Gedanken abzuschütteln. So würde das nichts werden. „W-Wo warst du?“, fragte er schließlich, als er den Ort wiedergefunden hatte, an dem er seine Stimme hatte liegen lassen. „Komui. Der Bericht war überfällig.“, erklärte er knapp. „Und jetzt zurück ins Bett, oder muss ich dir Beine machen?“ „Aber Yuu-chan! Das kannst du nicht von mir verlangen. Ich hab mir schon den Rücken wund gelegen.“, jammerte Lavi gespielt und zog einen Schmollmund, sah den schwarzhaarigen Exorzisten unschuldig an. „Zurück ins Bett, Baka Usagi! Lieg von mir aus auf dem Bauch, oder wie auch immer. Aber du gehst zurück in dieses bescheuerte Bett.“ „Zwing mich!“ Hörte man die Herausforderung heraus? Hoffentlich. Ein leises Kichern ließ die Beiden innehalten und zu der dritten Person im Raum sehen. Beiden hatten sie das Mädchen schon fast vergessen. Aber wirklich nur fast. „Es freut mich zu sehen, dass alles wieder beim Alten ist.“, lächelte sie zufrieden und Lavi runzelte leicht die Stirn. ‚Alles beim Alten‘? Wie durfte er denn das jetzt verstehen? Es war noch lange nicht wieder alles beim Alten. Es bestand noch jede Menge Klärungsbedarf. Anfänglich mal damit, was nun eigentlich passiert war. Doch erneut kam Lavi nicht dazu, zu fragen, weil Yuu die Ablenkung nutzte, um ihn wieder auf das Bett zu verfrachten. Erschrocken quiekte der Rotschopf auf, als der Ältere ihn plötzlich hochhob und auf dem Bett ablegte. „Unfair!“ „Das Leben ist nicht fair. Gewöhn dich dran.“, erklärte Yuu und grinste ein wenig hinterhältig auf den Jüngeren hinab. Lavi schnaubte abfällig. „Lena-chan! Yuu ist gemein zu mir.“, versuchte er dann, die Asiaten auf seine Seite zu ziehen, doch sie schüttelte nur leicht den Kopf. „Du solltest dich langsam dran gewöhnt haben, Lavi.“ „Maaan, ihr verbündet euch gegen mich, gebt‘s zu! Ich hab euch durchschaut! Leugnen ist zwecklos.“ „Du hast also die ganze Zeit hier gesessen?“, fragte Lavi grinsend, nachdem Lenalee sich verabschiedet hatte, um ihre übliche Kaffeerunde zu machen. Yuu saß auf dem gegenüberliegenden Bett und hatte sich bereits seit einiger Weile nicht mehr gerührt. Manche Leute nannten sowas Meditieren, Lavi konnte es einfach nur als faulenzen abstempeln. „Bild dir nichts drauf ein, Baka Usagi.“, kam es trocken von dem schwarzhaarigen Exorzisten und Lavi rollte sich auf die Seite, stützte den Kopf auf einer Hand ab. Das Grinsen auf seinen Lippen wurde breiter. „Und auf den Kuss darf ich mir etwas einbilden?“ Lavi beobachtete, wie die Augenbrauen des Japaners leicht zuckten, ehe dieser die Augen öffnete und ihm einen der kältesten Blicke zuwarf, die sein Repertoire zu bieten hatte. Unweigerlich wurde das Grinsen des Rotschopfs noch breiter. Er hatte einen Nerv getroffen. „Che! Du hast damit angefangen.“ Was? Wie kam Yuu denn nun auf diesen Trichter. Langsam setzte Lavi sich auf, den Blick weiterhin auf seinen Kameraden gerichtet. „Wow, stopp! Hab ich gar nicht. Ich hab nur gesagt, dass du mir wichtig bist. Nicht dass…“ „Lavi, es war die Rede von allem, was dir lieb und teuer ist, nicht von dem, was dir ‚nur‘ wichtig ist.“ „Aber…“ „Nichts aber. Und jetzt leg dich wieder hin, bevor die Schwester kommt. Ich habe keine Lust, sie schon wieder auf die Palme zu bringen. Ich hab’s mir mit der Ziege schon für‘s nächste Jahrzehnt verscherzt.“, grummelte der Japaner knurrig und ließ seine Beine über den Bettrand baumeln. Anscheinend hatte er das Meditieren jetzt aufgegeben. Gute Sache. Dann würde Lavi garantiert nicht an Langeweile sterben. „Aww, Yuu-chan, sieh nicht immer alles so schwarz. Die Frau ist ganz nett, wenn man sie ihre Arbeit machen lässt.“ „Das ist das Problem.“ „Du hast doch wohl nicht…“ „Doch!“ Unweigerlich brach Lavi in schallendes Gelächter aus. Yuu schien das gar nicht lustig zu finden, und er verschränkte etwas unverständliches murrend die Arme vor der Brust. „Yuu, du bist ein hoffnungsloser Fall.“, brachte der Rotschopf schließlich nach Luft schnappend heraus. „Sie hatte eine Spritze in der Hand, verdammt! Die hätte damit sonst was anstellen können! Da hätte sonst was drin sein können! Und jetzt hör endlich auf zu lachen, Baka Usagi! Ich mein’s ernst, verdammt!“ ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~ *Inai shinu, Rabi (いない死ぬ, ラビ) = Nicht sterben, Lavi [bei Übersetzungsfehler dürft ihr mich wegen der fehlerhaften Anwendung von Google-Übersetzer verfluchen ] Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)