Tage wie diese von Karo_del_Green (Novembertage) ================================================================================ Kapitel 1: Novembertage ----------------------- Novembertage Kapitel 1 Noch immer war es dunkel, als sein Wecker gegen halb 6 klingelte. Wie jeden Tag tastete er sich über den kleinen Nachtschrank. Langsam aber sicher schwang er seine Beine aus dem Bett und trottete Richtung Badezimmer. Es war Mitte November und die Tage vergingen wie im Flug. Es war Dunkel wenn er aufstand und wenn er abends aus der Bibliothek nach Hause kam. Trostlos. Seit Wochen versuchte er das Ende seiner Hausarbeit zu schreiben, aber genauso lange saß er auf den unbequemen Stühlen der Bibliothek und versuchte sich nicht mehr darauf zu Konzentrieren wie ihm der Hintern weh tat. Das grelle Licht im Badezimmer gab ihm den allmorgendlichen Rest und er wusste, dass dieser Tag genauso laufen würde wie die Letzten. Vor etwa 3 Jahren hatte er sein Studium der Psychologie begonnen. Der Campus lag in einem kleinen, fast schon lauschigen Städtchen. Hier war nie viel los, abgesehen von den verrückten Studentenparties, die hin und wieder stattfanden. Hier konnte man nicht mal ins Kino gehen. Die einzige vernünftige Diskothek lag eine Meile außerhalb der Stadt und war nach 1 Uhr kaum mehr zu erreichen, da selbst die Taxifahrer keine Lust zum langen Arbeiten hatten. Nur Bars gab es unzählige. Verqualmte alte Schuppen, aber auch modernisierte Lokale mit hippen Drinks und Cocktails. Immer versteckt hinter der ruhigen Fassade der Stadt. Nachdem er sich angezogen hatte, dürstet es ihm nach etwas Warmen. Die Fliesen in der Küche waren kühl und ein leichter Schauer durchfuhr seinen Körper. Er setzte Wasser auf und durchforstete seine Teevorräte. Er fand nicht einen Teebeutel. „Klasse“, murmelte er in sich hinein und kochte eine Kanne Kaffee. Danach sammelte er die verbliebenen Lebensmittel aus dem Kühlschrank. Milch, Käse und die Reste einer nicht mehr ganz erkennbaren Wurstart. Seine Hausarbeit verlangte seine gesamte Aufmerksamkeit und so schaffte er es selten die Vorräte wieder aufzufüllen. Auf seine Mitbewohnerin war da auch kein Verlass. „Guten Morgen...“ Mehr gähnend als redend bog die besagte Mitbewohnerin um die Ecke und griff nach dem frisch gebrühten Kaffee. „Morgen“ antwortete Vincent und fischte nach der Toastpackung. Lynn, seine Mitbewohnerin trug nur eine knappe graue Hotpants und ein schwarz Tanktop. Er betrachte ihre schlanke Silhouette, während sie die Tasse ansetzte. „Vinc, es ist echt nett gemeint, dass du Kaffee kochst, aber der schmeckt nicht.“ Vincent hob abwehrend seine Tasse. „Teetrinker“, sagte er desinteressiert. „Das ist keine Entschuldigung.“ Sie schaute angewidert auf die braune Brühe und seufzte. „Ich muss gleich los, bin aber in etwa zwei Stunden wieder da. Ich muss zum Studienrat und mein Arbeitsthema verteidigen.“ Ihre nackten Füße patschten über den kalten Kachelboden, als sie zurück in ihr Zimmer ging. „Bist du nachher noch da?“ „Nein, ich hab Vorlesung...“ Er biss in seinen Toast, während er zu sah wie seine schöne Mitbewohnerin verschwand. „Bist du wenigstens heute Abend dabei? Wir wohnen zusammen und sehen uns gar nicht. Findest du das nicht auch seltsam?“ Noch einmal steckte sie ihren Kopf durch die Tür und sah Vincent forschend an. „Wir haben eben viel zu tun.“ ,antwortete er schulterzuckend und fragte. „Was ist heute Abend?“ „Sag nicht, dass du es schon wieder vergessen hast“ Sie kämmte sich energisch die Haare und band dann einen Pferdeschwanz. „Lindsay fliegt doch in die USA für zwei Semester und Martins, Anjas und Phils Geburtstagfeier.“ Sie legte eine dramaturgische Pause ein. „ Also eine Abschieds-Dreier-Geburtstagsfeier.“ „Wie konnte ich das nur vergessen“, sagt er mit ironischem Unterton und verdrehte die Augen. Er erinnerte sich an die vorangegangen Mischparties und verspürte wenig Lust daran teilzuhaben. „Phil hatte doch gefeiert, letzten Mittwoch“ platzte aus ihm heraus während er das Toastbrot verschloss und sein Geschirr zur Seite räumte. Lynn hatte bereits begonnen sich die Schuhe zu zubinden und hüpfte nun aufgebracht umher. „Was meinst du damit -Er hat gefeiert-?“ fragte sie. Sofort merkte er das er einen Fehler gemacht hatte und versuchte zur beschwichtigen. „Na ja, ich dachte, weil er einigen aus dem Seminar noch einen Kaffee spendiert hatte… und.“ Er bereute sofort den Mund aufgemacht zu haben. Seine kleine Lüge war sehr unglaubwürdig. In Wirklichkeit hatte Phil am Abend einige Drinks und Annehmlichkeiten ausgegeben. Vincent war nicht lange geblieben, hatte aber dennoch eine nette Zeit mit Phil und ein paar anderen genossen. An der Stille, die sich im Flur ausbreitete, merkte er das Lynn mit sich rang „Ich habe es sicher nur falsch aufgefasst...“ „Egal, du wirst schon Recht haben. Ich hab jedenfalls sein Geschenk für heute gekauft. Wir sehen uns.“ Ohne seine Antwort abzuwarten verschwand sie aus der Wohnung und Vincent blieb zurück. Er hatte einen Fehler begangen. Innerlich schellte er sich für seine Unbedachtheit, denn er wusste wie sehr Lynn Phil mochte. Gerade bei solchen Feiern buhlte sie um seine Aufmerksamkeit. Es war immer wieder interessant zusehen, wie sehr sie sich doch in ihrer eigentlich emanzipierten Art zurück nahm um ihm zugefallen. Es war fast eine Farce. Nachdem er alles weggeräumt und seine Sachen zusammen gesammelt hatte, machte er sich auf zur Vorlesung. Es nieselte und nur wenige Studenten hatten sich bei diesem Wetter aus dem Bett gewagt. Er war sich sicher, dass auch die Vorlesung nur mäßig besucht sein würde. Vorsichtig schob er seine kalten Finger in die Hosentaschen und zog die Schultern hoch. „Warte auf mich!“ Er erkannte die Stimme und drehte sich um. Kay kam auf ihn zu gerannt und blieb prustend vor ihm stehen. Regentropfen liefen über seine Stirn und seinen Schläfen. Sie glitzerten im Licht der Laternen. Kay war ein relativ groß gewachsener, aber dünner Kerl. Seine blauen Augen und seine blonden Haare machten das nordische Äußere perfekt. „ Na, was macht die Kunst?“ Spielerisch legte Kay seinen Arm um Vinc Schultern und verlagerte sein Fliegengewicht. Vincent war ein gutes Stück kleiner als Kay, aber eindeutig schwerer. „Sie liegt auf Eis!“ witzelte Vinc weiter und gemeinsamen setzten sie ihren Weg fort. „Ich hätte nicht gedacht, dass du zu Winemeisters Vorlesung kommst. Du warst sicher die letzten 3 Wochen nicht da.“ Kurz schaute er auf um dann seinen Blick wieder abzuwenden. „Ja, schuldig!“ Er grinste. „Ich hab zwei Klausuren nachholen müssen und die haben mich etwas Zeit gekostet. Hey, aber jetzt geht’s wieder rund“ Das Grinsen wurde noch breiter. Als sie den Hörsaal betraten, war dieser noch fast leer. „Das war nicht anderes zu erwarten“ Sie ließen sich in einer der mittleren Reihen nieder. Sorgsam bereitet Vinc seine Jacke neben sich aus um zu gewährleisten, dass sie danach auch wieder getrocknet war. Er ließ seinen Blick wandern. Die meisten Gesichter kannte er, doch hin und wieder besuchten Gasthörer oder Fremdstudenten die Vorlesungen. So auch jetzt. Er blickte auf das konzentrierte Gesicht eines jungen Mannes, der in einer der vordersten Reihen saß. Er starrte auf einen Laptop. Was dieser wohl studierte? Studierte er überhaupt? Er erschrak, als plötzlich der Stuhl neben ihm nach oben klappte. „Ich gehe mir noch einen Kaffee besorgen. Willst du auch was?“ fragte Kay und war bereits aus der Reihe getreten. „Ja, bring mir einen grünen Tee mit.“ Er mochte eigentlich alle Teesorten, nur war sein Kaffeeersatz eben grüner Tee mit einem Spritzer Zitrone. Es gab nicht besseres. Als Kay verschwunden war, lehnte sich Vincent zurück, schloss für einen Moment die Augen. Er war müde. Die letzten Wochen hatten ihn wahnsinnig erschöpft. Zurzeit tat er einfach nichts anderes als recherchieren, tippen und lesen. Mittlerweile glaubte er, die Bücher bereits am Geruch erkennen zu können. Als er fast am weg dämmern war, bewegten sich neben ihm die Holzsitze. Sie quietschten. „Ist ja wahnsinnig voll heute“ kicherte Mariann und ließ sich auf den Sitz neben Vinc nieder. Ihre blonden Locken kringelten sich um ihren Hals und rahmten ihr rundliches, aber sehr hübsches Puppengesicht ein. „Wo ist Kay?“ fragte sie und zog sich dabei die schwere Wolljacke von den Schultern. „Der holt Kaffee“, sagte Vincent ohne seine Augen auf zu machen. „Hey, keine Müdigkeit vortäuschen“ Sie stupste ihm gegen das Knie und lehnte sich ebenfalls in die harten Holzbänke. „Das ist nicht vorgetäuscht“, sagte er müde und setzte sich wieder aufrecht. „Ich schlafe schlecht und vor allem zu wenig“ „Weil du dir immer so viel Stress machst. Vielleicht solltest du mit Yoga anfangen. Ich habe damit sehr gut Erfahrungen gemacht. Ich bin ruhiger und sehr viel gelenkiger.“ Das breite Grinsen in ihrem Gesicht schrie förmlich nach Perversitäten. „Ich spare mir mal meinen Kommentar.“ „Kommentar zu was?“ Kay kam gerade mit den Getränken balancierend zurück in den Vorlesungssaal. Er reichte Vinc seinen Tee und drückte Mariann einen Kuss auf die Wange. „Ich habe ihm gerade von meinen Yogakünsten berichtet. Er war begeistert“ Sie kicherte erneut. „Wer wäre das nicht“ witzelte Vinc und fuhr sich durch die Haare. „Irgendwie ist das bei der Männerwelt noch nicht angekommen“ erwiderte sie beleidigt. „Vielleicht brauchen die mehr Kostproben.“ „Vinc“ Empört stieß sie erneut ihr Knie gegen das seinige und zog eine Schnute. Doch wäre das nicht genug, bekam er von Kay auch noch einen nicht gerade zaghaften Stoß gegen die Schulter. „Autsch, sagt mal!“ Verwundert sah er zur Kay und dieser blickte überrascht zurück. „Sorry Alter, aber so etwas schickt sich nicht!“ Er konnte regelrecht dabei zusehen, wie das relativ bleiche Gesicht des Größeren rot anlief. „Genau so etwas schickt sich nicht“ Wiederholte Mariann immer noch etwas empört und schlug vorsichtig die Beine übereinander. Vincent schaute noch immer zur Kay und begann langsam zu grinsen. Er wusste warum dieser so reagiert hatte. Doch bevor er noch etwas sagen konnte ertönte ein heiseres Räuspern und das Licht wurde etwas runter gedreht. „Willkommen meine Damen und Herren. Ich bin doch sehr erstaunt wie viele trotz diesem furchtbaren Wetter hierher gefunden haben. Nun dann, wollen wir dort ansetzten wo wir letzte Woche endeten.“ Professor Edward Winemeister war ein Mitte 60 jähriger Halb-Franzose, der gern mal ein Glas Rotwein zu viel konsumierte. Schon des Öfteren war er zu einer Vorlesung mit roter Nase und säuselnden Wortlaut erschienen. Das einzige Gute daran war, dass die Vorlesungen dann nicht total trocken waren. Seine lichten dunkelblonden Haare standen kraus um seinen Kopf und seine Brille hing schief auf seiner Nase. Er hatte Wortwitz und einen Hang zum Abschweifen. Das einzige Problem war seine Stimme. Sie war träge und neigt zur tiefen Monotonie. Vincents Müdigkeit wurde schlimmer und es viel ihm schwer die heraus gefilterten Informationen lesbar aufs Papier zu bringen. „Es ist so öde“ Kay stöhnte und ließ seinen Kopf auf den ausklappbaren Tisch fallen. Ein leichtes Plonk-Geräusch war zu hören und Mariann verkniff sich ein Lachen. „Ach komm, das ist noch immer besser als bei der alten Strigg. Die ist so penetrant und abschweifend. Kannst du dich je daran erinnern, wann sie mal eine ganze Einheit fertig bekommen hat. Sie schafft gerade mal 20% ihrer Folien. Das ist ermüdend.“ Sie schüttelte den Kopf. „Sie ist eben sehr mitteilungsbedürftig und hat viel Freude an ihrem Beruf.“, verteidigte Vincent die wuschige alten Strigg und grinste bei dem Gedanken, wie sie wild an ihren Tafeln hin und her rannte und versuchte ihre wirren Äußerungen verständlich zu notieren. „Ja, aber man kommt einfach nicht hinterher...“ Etwas lauter als eigentlich gewollt, pfefferte Mariann ihre Ansicht durch den hellhörigen Raum. Prompt drehten sich alle Gesichter zu ihnen und auch der Professor rümpfte fragend die Nase. „Miss Arthur, was kann ich tun damit sie besser hinterher kommen? Vielleicht sollte ich meine Vorlesungen noch etwas langsamer abhalten.“ Ein leises Raunen ging durch den Saal und Mariann schrumpfte in sich zusammen. „Verzeihung,...“ murmelte sie halblaut. „Nun dann fahren wir fort.“ Vinc und Kay kicherten. Die Vorlesung verließen sie gemeinsam. „Komm, ich spendier euch einen Kaffee.“ Grinsend legte Kay seinen Arm um Mariann und führte sie langsam Richtung Mensa. Sie ließ ihn ohne Widerstand gewähren. „Kommst du auch?“ Vincent lehnte dankend ab. „Nein, ich muss noch weiter. Die Bibliothek wartet.“ Er winkte den beiden zum Abschied und verschwand Richtung Bücherhölle. Er war zu sehr in Gedanken um zu sehen, dass jemand rückwärts aus der Tür trat. Sie stießen hart aneinander und mit einem lauten Geräusch landete der Laptop des anderen jungen Mannes auf dem harten Fliesenboden. Er konnte noch ein Plastikteil über den Boden rutschen hören, während sein Rucksack von seiner Schulter glitt und ebenfalls zu Boden ging. „Verzeihung...Entschuldigung, das tut mir sehr leid“ Fast sofort entflohen Vincent die Entschuldigungstiraden und vorsichtig hob er das beschädigte Gerät vom Boden auf. Eine Ecke war abgesplittert und man konnte tief in das Innere des Gerätes schauen. „Ah, kein Ding...was renne ich auch mit dem Arsch zuerst durch die Tür.“ Der Fremde fasste sich noch immer an den Kopf und tastete kniend nach dem abgebrochenen Teil des Laptops. Vincent konnte sich ein kurzes Grinsen über den Kommentar nicht ganz verkneifen. Dennoch tat es ihm Leid um das teure Gerät. Als sein Gegenüber aufblickte, sah Vincent zum ersten Mal in die tief grünen Augen und geriet einen Moment ins Stocken. „Es tut mir leid...ich... ich wollte ihn nicht…“ Er stockte erneut und ärgerte sich über sein Gestotter. Schnell wand er den Blick ab und drehte den Laptop einmal in alle Richtungen. „Hey wirklich kein Problem. Alles okay?“ Der Fremde legte seine Hand auf Vincents Arm und blickte ihn eindringlich an. Er musste dessen verwirrten Blick falsch verstanden haben, denn er deutete genau auf die Stelle, wo sie mit den Schädeln zusammen gestoßen waren. „Ach so, nein..ja, es ist alles okay. Mein Kopf dröhnt nur ein bisschen, aber das macht er eigentlich schon den ganzen Tag“ witzelte Vincent wenig überzeugend. „Kümmere dich lieber um deinen Laptop. Ich glaube, der ist hinüber.“ Er reichte ihm das kaputte Ding und fühlte sich etwas hilflos, als er zusah, wie auch der andere ratlos das Loch begutachtete. „Ich werde ihn gleich mal anmachen “ sagte er schulterzuckend und steckte das abgesplitterte Teilchen in die Jackentasche. Vincent begann in seiner Tasche nach einem Zettel zu kramen und schrieb seine Telefonnummer drauf. „Hier, ich gebe dir mal meine Nummer. Falls der Rechner kaputt ist, melde ich es meiner Haftpflicht, dann bekommst du ihn ersetzt.“ Da er keine Widerrede duldete, drückte er dem Fremden nur schnell den Zettel in die Hand und schob sich an ihm vorbei. Mittlerweile war ihm bewusst geworden, dass es der Fremde aus dem Hörsaal gewesen war, den er da um gerannt hatte. Er rieb sich über den Nasenrücken und versuchte so seine Kopfschmerzen zu vertreiben. Ständig musste er an die tiefen grünen Augen denken. Es war lange her, dass er ein solch merkwürdiges Gefühl empfunden hatte. Neugier und Faszination. Das feine Kribbeln in seinen Gliedern war wunderbar. Er hatte geglaubt in diesen Augen zu versinken. Das leise Surren der PCs in der Bibliothek hatte etwas Beruhigendes. Einschläfernd. Er hatte eine totale Blockade und fühlte sich unsagbar kraftlos. Seine Laune sank extrem in den Keller. So kannte er sich selbst nicht. „Ach man“, flüsterte er zu sich selbst und fuhr sich durch die Haare. Er überlegte Mittagessen zu gehen, entschied sich aber dagegen. Vielleicht hätte er aufhören sollen, sich einfach einen Tee holen und in seine kleine lauschiges WG-Zimmer gehen sollen. Doch das tat er nicht. Als er das nächste Mal auf die Uhr blickte, war es bereits 19 Uhr. Es waren nur noch wenige Studenten im Computersaal und draußen wurde es immer dunkler. Immerhin war es Freitagabend und das sorgte für einen kurzen Moment der Freude. Sein Handy begann zu vibrieren als er seine Unterlagen zusammenpackt. „Ja, einen Moment ich ruf gleich zurück“ Ohne auf die Nummer zu schauen, drückte er das Gespräch weg und verschwand aus der Bibliothek. Draußen angekommen betrachtete er den grauen Himmel und spürte, dass es noch kälter geworden war. Fahrig angelte er in seiner Tasche nach dem Telefon und wählte den Rückruf. Ihm war nicht mal bewusst, wen er da anrief. „Hi, hier ist Vincent“ Zu seiner Erleichterung meldete sich Lynn. „Hi, ich wollte eigentlich nur wissen, wann du nach Hause kommst und ob ich dich mit zur Feier nehmen soll.“ Sie musste den scharfen Luftzug gehört haben, den Vincent am anderen Ende der Leitung von sich gab, denn sie klang sofort genervt als sie weiter sprach. „Du hast es doch schon wieder vergessen! Das gibt es doch nicht. Wo hast du den deinen Kopf.“ „Das frage ich mich zur Zeit ständig“ ,sagte Vinc klein laut und ließ eine Pause entstehen. „Hör zu, ich bin in 15 Minuten da.“ Er hoffte sich weiteres Gemecker ersparen zu können und legte schnell auf. Eine Viertelstunde später war er in der Wohnung. Seine Begrüßung bestand aus einem genervten Blick und trommelnden Fingern. „Ich beeile mich “ sagte Vinc und eilte in sein Zimmer. Der Abend überforderte ihn jetzt schon. In seiner Vorstellung hätte er sich jetzt einfach in sein Bett gelegt, hätte den Fernseher eingeschaltet und irgendeine sinnfreie Quizshow angeschaut. Nun musste er seine guten Klamotten aus den Schrank holen, seine Haare machen und den ganzen Abend damit kämpfen, nicht einzuschlafen. Geschenke hatte er auch keine. In diesem Moment nahm er sich vor, besser zu zuhören. Als er ins Badezimmer verschwand, konnte er einen kurzen Blick auf Lynn werfen, die noch immer ungeduldig im Flur stand. „Gleich“ warf er schnell in den Raum und spritzte sich etwas Wasser ins Gesicht. Augenringe nahmen sein halbes Gesicht ein. So wirkte es jedenfalls. „Oh man“ Noch einmal kaltes Wasser. Kaum Veränderung. „Fertig?“ fragte sie. „Jaja, von wem werden wir überhaupt abgeholt?“ „Von Paul, er klingelt mich an, wenn er unten ist.“ Sie richtete sich wiederholt die Haare und sah umwerfend aus. „Ganz schön kurz dein Rock.“ Er reichte nur knapp über ihren Hintern. Sehr grenzwertig. „Du könntest auch einfach sagen, dass ich gut aussehe. Das würde mir auf jeden Fall mehr helfen.“ Er wusste, was sie meinte und streichelte ihr versöhnlich durchs Haar. „Du siehst klasse aus, das weißt du doch.“ Ihr Handy klingelte. „Das wird Paul sein, hast du alles?“ Er nickte. Sie packte ihre Tasche und gemeinsam verließen sie die Wohnung. Sie fuhren eine Viertelstunde aus der Stadt heraus. Der Verkehr war flüssig. Er blickte auf die leeren Straßen, blickte gen Himmel. Vollmond. Ob das ein Zeichen war? Ihm überkam der Gedanke, dass der Abend vielleicht nicht so ätzend werden würde, wie er glaubte. Vor dem großen Einfamilienhaus von Phils Eltern blieben sie stehen. Die weiße Fassade strahlte in die Nacht. Seine Eltern waren zurzeit im Urlaub. Auf der Straße und dem Gehweg standen bereits eine Unmenge an Autos. Die Bude war überfüllt, aber genau das machte ja den Charme dieser Parties aus, so behauptete es jedenfalls die Mehrheit der Studenten. Scheinbar hunderte Menschen drängten ihnen entgegen, als sie versuchten sich durch den schmalen Flur zu drücken. Sie kamen lachend aus der Küche, bereits maßlos betrunken. Es roch nach Bier und Zigarettenrauch. Die Musik war laut und dröhnte durch das gesamte Haus. Typische Party-Musik. Lynn drängelte sich durch die Massen und suchte akribisch nach Phil. Sie fand ihn in der Küche, umzingelt von drei Blondinen und etlichen anderen. Vincent konnte sehen wie sich ihre Schultern strafften, regelrecht verspannten. Jemand rempelte ihn an, doch er nahm es gar nicht richtig wahr. Lynn war mittlerweile bei Phil angekommen, lächelte und wurde von ihm fast schon sanft umarmt. Kurz blickte sich Vinc um, konnte jedoch auf die Schnelle niemanden sehen den er kannte. Die Musik wechselte. Synthi-Pop. Das mochte er nicht. Jemand mit einem Sechser Bier lief an ihm vorbei, doch bevor dieser ganze verschwinden konnte, hielt ihn Vincent auf. „Halt, lass eins bei mir!“ Er fühlte sich mit dem ersten Schluck besser. Nachdem er sich vorgenommen hatte, das komplette Bier auszutrinken und danach erst in die Party einzusteigen, schlängelte er sich durch die Massen und ließ sich auf einen Sessel nieder. Er war hart und der Stoff kratzte unter seinen Fingern. Die ausgelassenen Leute und die hektischen Bewegungen konnten Vinc nicht richtig mitreißen. Noch nicht. Neben ihm begann ein Pärchen zu knutschen. Er wollte es nicht mit anschauen und holte sich aus der Küche noch ein Bier. Lynn hatte mittlerweile einen Platz bei Phil gefunden, kämpfte mit den drei Blondinen um seine Aufmerksamkeit. Phil wirkte selig. Wer würde das nicht zwischen so vielen attraktiven Frauen. Kurz kreuzten sich Lynn und sein Blick. Sie lächelte. Er bemühte es. Eine Viertelstunde hatte er es in der Küche ausgehalten, danach flüchtete er in die oberen Räumlichkeiten. Er schloss die Tür hinter sich und stand nun allein in dem Arbeitszimmer des Vaters. Es war aufgeräumt und starr. Keine Bilder oder Fotografien der Familie. Seine Finger strichen über den schweren Holztisch. Teak, sehr teuer und exklusiv. Er war schon mal hier drin gewesen und hatte über den erlesenen Geschmack gestaunt. Die Tür zum Arbeitszimmer öffnete und schloss sich. Er hatte nicht erkennen können, ob jemand hereingekommen war, doch sein Herz hämmerte in seiner Brust. Er nahm einen Schluck aus der Flasche und ging zum Fenster. Es war immer noch bewölkt, doch er öffnete das Fenster und sog die frische Regenluft ein. Als er sich vor lehnte, nahm er einen weiteren Schluck Bier. Seine Haut war bereits kühl, als er das nächste Mal auf sein Handy blickte. Kurz nach 10 Uhr. Er fröstelte leicht und trank den Rest seines Biers in einem Zug. Es schmeckte schal. Danach versank er erneut in Gedanken. Nur das Schließen der Tür nahm er wahr und ließ beinahe die Flasche fallen. Vincent sah nur einen schwarzen Schatten. „Ich wusste nicht, dass jemand hier ist.“ Ebenfalls ein erschrockener Klang in der Stimme. Doch dann ein leichtes Stocken. „Was machen sie hier drin?“ „Der Party entfliehen.“ sagte Vincent und konnte sich ein schiefes Lächeln nicht verkneifen, auch wenn der andere es wahrscheinlich nicht mal sah. Das plötzliche Licht erschreckte ihn. Mit der Hand schirmte er seine Augen ab und blinzelte. Es brauchte eine Weile bis sich er an die Helligkeit gewöhnt hatte. „Ich wollte nirgendwo eindringen. Ich hab nur einen ruhigen Platz gesucht...“ So langsam erkannte er seinen Gegenüber und war überrascht. Diese grünen Augen. „Wieso kommt man zu einer Party, wenn man Ruhe sucht?“ Er setzte sich auf den Rand des Tisches und musterte den erwischten Eindringling. „Na ja, die Kombination von zeitweiser Verwirrung und verrückt gewordener Mitbewohnerin. Ich bin übrigens Vincent“ Er reichte dem anderen die Hand. „Jakob“ Zögernd reichte er dem anderen ebenfalls die Hand. „Lass mich raten, die Brünette bei Phil?“ Vincent nickte, nicht überrascht, das Lynns Annäherungen so offensichtlich waren. „Man müsste blind sein, ihre Avancen nicht zu erkennen.“ „Phil scheint blind zu sein“ Vinc stellte die Flasche zur Seite. „Und wie geht es deinem Laptop?“ Den Themenwechsel nahm er ganz bewusst vor, denn er wollte keine so intimen Themen von Freunden mit Fremden besprechen. Das hatte Lynn nicht verdient. Außerdem hatte er die Brünette heute schon genug verärgert und er war schließlich derjenige, der noch eine Weile mit ihr zusammen wohnen musste. „Ich denke, der ist hinüber...“ „Was?“ In Gedanken versunken hatte Vinc nicht richtig zugehört und den Faden verloren. „Der Laptop..?“ sagte Jakob fast schon fragend. „Oh ja, entschuldige...ich war in Gedanken. Ich hab dir ja meine Nummer aufgeschrieben, vielleicht rufst du mich morgen an und dann gebe ich dir meine Versicherungsangabe durch...du weißt ja..“ Jakob winkte ab. „Vergiss es,...“ „Nein nein, ich bestehe darauf. Diese Geräte sind heutzutage sehr teuer und...“ „Vincent, ich sagte vergiss es...es ist okay. Er war sowieso ein altes Modell.“ Vinc hasste es so überfahren zu werden und wurde etwas wütend. Ein Biss auf die Unterlippe und er griff nach der leeren Bierflasche. Er konnte schwer mit so etwas umgehen. „Na gut, du hast ja die Nummer falls du es dir anderes überlegst. Entschuldige mich.“ Schnell schob er sich an den anderen vorbei nach draußen. Etwas verkrampft hielt er die Flasche in der Hand, schlängelte sich durch die tanzenden Massen und trat vor die Tür. Tief holte er Luft. Seine Jacke war noch drinnen. Er wollte nicht wieder rein. Warum hatte er sich bloß breit schlagen lassen? Er ging wieder hinein und sah sich nach seiner Jacke um. Grade als er sich entschied ohne nach Hause zu laufen, kam Jakob die Treppe herunter. „Fuck!!“ murmelte er und versuchte sich schnell zu verdrücken. Auf Konfrontationen hatte er jetzt einfach keine Lust. „Vinc...“ Es war nicht Jakob, sondern Mariann die seinen Namen rief. Sie kleckerte mit ihrem Drink und leckte sich den Alkohol von den Fingern. „Hey, du bist ja auch da. Toll!“ Sie hing sich an seinen Arm und lächelte breit. „Ich muss dir was erzählen. Ich bin ganz aufgeregt!“ Sie plapperte ohne Punkt und Komma, zog ihn ohne Widerrede ins Wohnzimmer. „Er hat mich gefragt, ob ich mit ihm ausgehen will. Ist das nicht toll?“ Sie strahlte. „Wer hat dich gefragt“ Er war etwas verwirrt. „Na, Kay. Er hat mich heute nach der Vorlesung gefragt. Wir waren doch noch einen Kaffee trinken, und wir haben uns wirklich toll unterhalten. Er ist so aufmerksam und wirklich nett.“ Sie zog ihn auf die Couch, doch er stand wieder auf. „Toll!“ Quietschend und wenig überzeugend. „Kay ist wirklich ein ganz lieber Kerl, aber ich wollte gerade gehen... Sei mir nicht sauer…“ Sie blickte ihn enttäuscht an. Er fühlte sich prompt schlecht. In dem Moment als er sich wegdrehte wurde er angerempelt. Ein halber Liter Bier übergoss ihn schwallartig. „Sorry, Alter.“ Der Übeltäter grinste nur breit und tänzelte weiter. Mariann stand neben ihm kramte in ihrer Tasche nach einem Taschentuch. „Alles okay? Hier, vielleicht bekommst du es ja damit bisschen trocken.“ Sie lächelte amüsiert. Schadensfreude war eine der schönsten Freuden. „Danke und entschuldige. Ich freue mich wirklich für dich, nur heute kann ich über sowas nicht reden. “ „Schon okay,...“ „Ich werde mal einen Abstecher ins Bad machen.“ Noch tropfend deutete er in eine Richtung und ließ sie stehen. Das Bad war ein typisches Frauen Badezimmer. Er suchte nach einem Handtuch womit er sich abtrocknen konnte. Doch überall standen nur kleine Parfümfläschchen und Kosmetikartikel. Sie gehörten mit Sicherheit Phils kleiner Schwester Kim. Vor ein paar Monaten hatte er sie kennen gelernt. Ihr 16. Geburtstags. Furchtbar aufregend und natürlich gab es eine riesige Party. An dem Abend hatte er mit Phil an einem gemeinsamen Referat gearbeitet. Ständig war seine Schwester hereingeplatzt, hatte wieder und wieder in anderen Kleidern da gestanden. Eines kürzer als das andere. Sie gehörte zu der Sorte, die nicht mit ihren Reizen geizte, egal wie jung sie doch eigentlich noch war. Phil hatte sie irgendwann rausgeworfen und sie hatten sich mindestens 10 Minuten lauthals angebrüllt. Geschwister eben. In einem ruhigen Moment, als Phil in der Küche war und Nervennahrung besorgte, hatte sie sich wieder ins Zimmer geschlichen und Vincent gefragt, ob er sie nicht auf ihren Abschlussball begleiten würde. Er lehnte dankend ab und schwor sich, Phil niemals etwas davon zu erzählen. Er blickte in den Spiegel und war nicht begeistert. Sein Gesicht war abgespannt und irgendwie wirkte er auch etwas eingefallen. Der Stress bekam ihm nicht. Nachdem er seine Klamotten etwas getrocknet hatte, schloss er die Badezimmertür hinter sich. „Du schon wieder“ Erschrocken blickte er auf. Sein Herz hämmerte heftig gegen seine Brust, als er Jakob erneut aus dem Schatten treten sah. „Man, erschrecke mich doch nicht immer so.“ Er biss sich auf die Unterlippe. „Ich brauchte nur ein Handtuch.“ Jakob grinste und verschränkte die Arme vor der Brust. „Unfreiwillig baden gegangen?“ „Nicht ganz, ich hab eine Bierdusche abbekommen.“ Jakob lehnte sich nach vorn, schnupperte und grinste weiter. „Ja, riecht man. Ich kann dir ein trockenes Shirt holen. Phil hat sicher etwas da, was dir passt.“ „Danke geht schon, ich verschwinde eh“ Sein Gegenüber runzelte die Stirn und zuckte dann mit den Schultern. „Wie du meinst!“ Vincent merkte selbst, wie passiv er war. Es gab nichts, was dagegen sprach sich ein T-Shirt zu leihen. „Man erschrickt sich...“ sagte Vincent und wand sich zum Gehen. Jakob schwieg und blieb am Treppenabsatz stehen, während er hinunter ging. Er stank nach Bier und nicht mal die frische Luft konnte den Geruch nicht von ihm tilgen. Erst nachdem Vincent schon auf der Hälfte des Weges nach Hause war, begann Lynn nach ihrem Mitbewohner zu suchen. Sie fand jedoch bloß Mariann. „Hast du Vincent gesehen?“ Sie zog an ihrem Strohhalm, schlürfte ihren Tequila Sunrise. Mariann nickte nur kurz und wand sich dann wieder ihrer anderen Gesprächspartnerin zu. Sie konnten sich nicht ausstehen. „Ja und wo ist er?“ Lynn zog sie an der Schulter wieder in ihre Richtung. „Er ist in eure Wohnung zurück“ Mariann wusste das Lynn diejenige war, die Vinc dazu überredet hatte her zu kommen. Er tat viel zu viel nur ihretwegen und das ging Mariann ziemlich gegen den Strich. Sie war der Meinung das Lynn ihn nur ausnutzte und seine Hilfe nicht verdiente, da sie blind und egoistisch war. Sie konnte sehen wie sich Lynns Kauleisten aufeinander bewegten und sich eine Hand zu einer Faust ballte und die andere zu ihrem Handy griff. Mariann wurde wütend. „Wage es nicht ihn anzurufen und eine Szene zu machen. Er war nur wegen dir hier. Du weißt ganz genau, dass er viel zu tun hat.“ Sie war aufgesprungen und funkelte Lynn herausfordernd an. „Du hast mir nicht vorzuschreiben was ich tun kann und was nicht. Er hätte ja nur mal einen Ton sagen können.“ „Ach und du hättest das so einfach hingenommen? Du bist doch viel zu sehr damit beschäftigt, dich Phil vergeblich an den Hals zu werfen.“ Es sprühten Funken. Er hatte einen Bus erwischt. Dennoch war es weit nach Mitternacht als er die Wohnung erreichte. Seine Schlüssel warf er in die grüne Schale neben der Tür und seine Schuhe einfach nur in den Garderobenschrank. Müde ließ er sich auf die Couch nieder und schloss für einen Moment die Augen. Warum hatte er so blöd auf Jakobs Hilfe reagiert? War er wirklich so geknickt, dass dieser seine Hilfe nicht angenommen hatte. Verärgert über sich selbst setzte er sich wieder auf. Er brauchte eine Dusche. Vielleicht wurde das ja seinen Gedanken beruhigen und vor allem ordnen. Das warme Wasser auf seiner Haut war eine Wohltat. Für ein paar Minuten schaltete er ab, konnte alle Gedanken beiseiteschieben. Nach ausgedehnter Körperpflege legte er sich ins Bett, schlief aber nicht gleich ein. Die Gedanken kehrten zurück und er konnte sie nicht verscheuchen. Mariann bandelte mit Kay an, Lynn hing an Phil wie ein Parasit am Wirt und er war allein. Es war nicht so, dass er es den anderen nicht gönnte, dazu kam, dass er kein Interesse an einem der Vieren hatte. Sie waren seine Freunde, auch wenn einige ihrer Aktionen mehr als fragwürdig waren. Er drehte sich auf die Seite und schloss die Augen. Es dauerte einige Zeit bis er endlich eingeschlafen war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)