Kontakt von Niekas ================================================================================ Kapitel 19: Getrennte Wege -------------------------- „Da sind sie“, sagte einer der beiden Männer im Auto. Zwei Gestalten kamen aus der Haustür, Feliks und eine weitere Person. Ein recht großer junger Mann mit Brille, der ein Kind in einer zu weiten Jacke auf dem Arm trug. „Unsere Überwachungsobjekte und eine weitere Person. Sollen wir hinterher?“ Der zweite Mann schüttelte leicht den Kopf. „Warten wir weiter“, murmelte er. „Hast du das schon einmal gemacht?“, fragte Toris, während er hinter Raivis her die Treppen hinunter stieg. „Was?“ „Durchs Kellerfenster zu klettern.“ Raivis zuckte die Achseln. „Nein.“ „Woher willst du dann wissen, dass wir durchpassen?“ „Es war Eduards Idee, nicht meine. Aber du wirst sowieso keine Probleme haben, durchzukommen, Toris. Und ich schaffe das auch irgendwie.“ Toris nickte leicht, doch er wirkte nicht überzeugt. Er trug einen Pullover von Raivis, weil die Jacke, die Feliks ihm geliehen hatte, als Toris-Attrappe hatte herhalten müssen. Glaubst du, sie fallen darauf rein?, hatte er Eduard gefragt. Eduard hatte die Achseln gezuckt. Keine Ahnung. Aber es kann ja nicht schaden, ein wenig Verwirrung zu stiften. Feliks und ich schaffen es schon, sie abzuhängen. Raivis und du, ihr habt die kürzeren Beine. Ihr gebt uns zwei Minuten Vorsprung, dann schleicht ihr euch hinten rum raus. Raivis kennt den Weg. Zu Anfang hatte Toris Zweifel daran gehabt, ob das funktionieren würde. Zu seiner Erleichterung war bis jetzt alles gut gelaufen. Sie hatten atemlos zwei Minuten abgewartet und waren dann hinunter in den Keller gestiegen. Raivis kramte einen Schlüssel aus seiner Tasche und schloss eine der hölzernen Türen auf. „Hier“, sagte er leise. Seine Stimme hallte in dem steinernen Gewölbe. „Da ist das Fenster.“ Entmutigt betrachtete Toris das kleine Fenster unter der Decke. Raivis ging zielstrebig zu der alten Kommode, die darunter stand, und nickte. „Komm her. Ich hebe dich hinauf.“ Vorsichtig schlich Toris näher. Sein Herz schlug schnell. Raivis sah ihn überrascht an. „Hast du Angst?“ „Nein, nein“, erwiderte Toris und lachte nervös. „Ich bin nur ein bisschen... aufgeregt.“ Raivis kaute kurz auf seiner Unterlippe herum und lächelte dann. „Keine Sorge. Ich passe auf dich auf. Du bist doch mein kleiner Bruder.“ „Ich dachte, du wärst nicht mein Bruder“, murmelte Toris. Raivis ignorierte seinen Einwand, öffnete das Fenster mit einem leisen Quietschen, griff Toris unter den Armen und hob ihn auf die Kommode. Danach kletterte er selbst hinterher. „Ich hebe dich hoch, ja?“ „Kann ich mich draußen irgendwie festhalten?“ „Das Fenster liegt fast ebenerdig, du kannst einfach rauskriechen.“ Toris wollte noch etwas sagen, doch Raivis ließ ihm keine Zeit dazu. Vielleicht war das besser so. Bevor Toris es sich versah, steckte sein Kopf im Freien und die kalte Nachtluft blies ihm ins Gesicht. Er fröstelte. „Alles in Ordnung?“ „Alles klar“, keuchte Toris, stemmte sich mit den Armen hoch und zog die Beine nach. Es klappte besser, als er gedacht hatte. Er rappelte sich auf, klopfte Dreck von seinen Knien und sah, wie Raivis die Arme nach draußen streckte. „Warte, ich nehme deine Hand.“ „Danke“, murmelte Raivis und hatte einen Moment lang Schwierigkeiten damit, seine Schultern durch das Fenster zu zwängen, schaffte es dann aber. Leicht außer Atem hockte er sich neben Toris in den Schotter eines Hinterhofes und zog das Fenster behutsam wieder zu. „Das wäre geschafft.“ „Und jetzt?“, fragte Toris. „Wo müssen wir lang?“ Raivis stand auf und griff nach seiner Hand. „Ich weiß, wo lang. Zuerst müssen wir...“ Er verstummte und seine Augen wurden groß. Erschrocken drehte Toris sich um und erstarrte, als er die Gestalt sah, die an einer Ecke des Hauses stand. Sie stand einen Moment lang still, bevor sie sich schnell in Bewegung setzte. In ihre Richtung. „Komm mit!“, schrie Raivis, packte Toris' Hand und zog ihn hinter sich her. Toris stolperte beinahe, doch Raivis zog ihn wieder hoch. Sie rannten über den Hof, an der anderen Seite des Hauses vorbei und in eine dunkle Gasse. Hinter sich hörten sie einen lauten Ruf und das Starten eines Motors. „Wir müssen sie abhängen“, keuchte Raivis. „Zur U-Bahn schaffen wir es nicht... wir könnten einfach versuchen, Schleichwege zu nehmen...“ „Einfach?“, echote Toris, der schon nach dieser kurzen Strecke völlig außer Atem war. Raivis bemerkte es und opferte einige Sekunden, um stehen zu bleiben, Toris auf den Arm zu nehmen und weiter zu rennen. „Hey, das ist doch nicht...“ „So sind wir schneller“, brachte Raivis hervor, rannte aus einer Gasse heraus und zuckte heftig zusammen, weil er plötzlich direkt unter einer Straßenlaterne stand. Er sah sich gehetzt um, entschied sich für rechts und rannte weiter. „Weißt du, wo du hinwillst?“, fragte Toris und klammerte sich an seiner Schulter fest. „Ungefähr“, erwiderte Raivis vage und schnappte nach Luft. „Erstmal müssen wir sie abhängen, und dann... dann sehen wir weiter...“ Hinter ihnen erklang noch immer ein Motorengeräusch, aber es wurde immer leiser. Vielleicht war es auch schon gar nicht mehr das Auto, das sie verfolgt hatte, dachte Toris. Raivis wurde langsamer, immer noch keuchend vor Anstrengung. Toris rutschte von seinem Arm, als er ganz stehen blieb. „Lieber Himmel“, japste Raivis und presste eine Hand auf seine Seite. „Das war knapp.“ „Wo sind wir jetzt?“, fragte Toris und sah sich um. Um sie herum standen Häuser, aber er konnte keine Straßenschilder sehen. Von Laternen oder erleuchteten Fenstern ganz zu schweigen. „Weiß nicht. Aber wir haben sie abgehängt, das ist doch das Wichtigste...“ „Bist du sicher, dass wir sie los sind?“, fragte Toris angespannt und versuchte, in der Dunkelheit irgendetwas zu erkennen, das weiter weg lag als zwei Meter. „Hier finden sie uns nicht“, sagte Raivis. „Ich kenne diese schmalen Gassen, ich mag sie... zu eng, um mit dem Auto durchzukommen. Ich weiß, wo wir sind, weil ich mich hier auskenne. Aber wenn man sich hier nicht auskennt, ist man verloren.“ Toris nickte. „Du brauchst also keine Angst zu haben“, fügte Raivis beruhigend hinzu. „Ich habe keine Angst.“ Toris grinste ihn schief an. „Immerhin bin ich eigentlich schon groß, oder?“ „Als Großer darf man auch Angst haben“, erwiderte Raivis ernst. „Aber ich passe schon auf dich auf. Gehen wir jetzt? Wir müssen in diese Richtung, wenn wir zum Hafen wollen.“ „Gut“, murmelte Toris. Raivis nahm wieder seine Hand und schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. Wenn er ehrlich war, hatte Raivis selbst mehr Angst, als er Toris' zeigte. Zumindest hoffte er, dass Toris nichts bemerkte. Er kannte die Gegend nicht so gut, wie er behauptet hatte, und die Nacht war wirklich sehr dunkel. Wenn die Männer nun doch wieder auftauchten... „Wie weit ist es noch, Raivis?“, riss Toris ihn aus seinen Gedanken. „Oh... nicht mehr weit. Glaube ich.“ „Glaubst du?“ „Nicht mehr weit“, wiederholte Raivis, diesmal entschieden. Toris wirkte nicht überzeugt, aber er sagte nichts mehr. Er war so furchtbar klein, dachte Raivis und betrachtete ihn in dem wenigen Licht, das der niemals dunkle Himmel der Großstadt abgab. Würde er es schaffen, Toris zu beschützen, bis sie am Hafen waren? Denn dann war er sicher. Dort waren die anderen, Feliks und Eduard. Eduard wusste immer, was zu tun war. Es ging alles zu schnell, viel zu schnell. Im einen Moment überlegte er noch, welcher der kürzeste Weg zum Hafen war und wo genau er dort eigentlich Eduard finden sollte, und im nächsten Augenblick erklang ein lautes Scheppern dicht neben ihnen, das die Stille der Nacht brutal durchbrach. „Was war das?“, fragte Toris erschrocken, doch Raivis hielt sich nicht einmal mit dieser Frage auf. Er packte Toris' Hand fester und rannte los. Sicher nur eine Katze, die eine Mülltonne umgeworfen hat, erklärte sein Gehirn, doch seine Beine weigerten sich, ihm zu glauben. Sein Herz raste, als er durch die enge Gasse rannte, Toris hinter sich her ziehend – bis Toris stolperte und seine Hand mit einem Ruck aus der von Raivis rutschte. „Warte!“, rief Toris kläglich und versuchte, sich wieder aufzurappeln. Raivis rannte noch ein Stück weiter und bemerkte, dass er sich nicht mehr in der Gasse befand, sondern auf einer breiteren Straße. Er blieb stehen, sah zu Toris zurück und versuchte, zu Atem zu kommen, während er noch überlegte, warum er so überreagiert hatte. Die Anspannung vermutlich, die Angst, er war solche Angst nicht mehr gewohnt. Und plötzlich wurde es hell um ihn herum. „Raivis!“ Er hörte Toris' gellenden Schrei, dann ein Quietschen, als würde ein Auto eine Vollbremsung machen. Etwas traf schwer seine Seite, sodass ihm die Luft wegblieb. Er wurde ein Stück beiseite geschleudert und schlug auf dem Boden auf. Das erste, was er spürte, war, dass er sich die Hand aufgeschürft hatte. Dann waren die Schmerzen plötzlich in seinem ganzen Körper. Er japste nach Luft, aber er konnte sich nicht rühren. „Raivis! Was ist passiert?“ Toris kam angerannt und fiel neben ihm auf die Knie. Sein Gesicht war schockiert. Irgendwo öffnete sich eine Autotür und eine Männerstimme erklang. „Oh mein Gott, oh mein Gott, oh mein...“ Dann sprach eine Frau. „Reiß dich zusammen und ruf sofort einen Krankenwagen. Was ist passiert? Du meine Güte...“ „Raivis!“, sagte Toris und streckte zitternd die Hand nach seinem Kopf aus. „Es wird alles gut, ja?“ Raivis konnte sich nicht rühren, geschweige denn antworten. Toris streichelte tröstend über seinen Kopf. Schritte erklangen auf dem Asphalt. „Bist du verletzt, Mädchen?“, fragte die Frau und meinte Toris. Ihr besorgtes Gesicht tauchte verschwommen in Raivis' Blickfeld auf. „Mach dir keine Sorgen, in Ordnung? Der Krankenwagen kommt sicher bald.“ „Ist unterwegs“, erklang die Stimme des Mannes aus dem Hintergrund. Im nächsten Moment hörten sie ein zweites Auto näher kommen. „Auch das noch“, sagte die Frau atemlos, ging hastig an Raivis vorbei und stellte sich mitten auf die Straße. „Nicht weiterfahren! Wir hatten hier einen Unfall!“ Wir hatten einen Unfall, dachte Raivis. Wir. Das andere Auto hielt ebenfalls an. Toris hob den Kopf und wurde blass. „Nein“, flüsterte er. „Bitte nicht.“ „Was ist denn passiert?“, erklang eine weiche Männerstimme mit einem Akzent, den Raivis nicht zuordnen konnte. „Er ist es, Raivis“, flüsterte Toris mit vor Angst geweiteten Augen. „Das ist der Mann, der...“ „Wir haben... mein Mann hat diesen Jungen angefahren. Wir haben schon einen Krankenwagen gerufen.“ „Haben Sie versucht, Erste Hilfe zu leisten?“ „Ich... ich weiß gar nicht, wie...“ „Kommen Sie nicht her!“, schrie Toris den Mann an. „Gehen Sie weg!“ „Du brauchst keine Angst zu haben, Kleine“, sagte die Frau beruhigend, obwohl sie nichts von dem verstehen konnte, was Toris sagte, und davon ausgehen musste, dass er auch sie nicht verstand – womit sie falsch lag. „Er will deinem Bruder nur helfen.“ „Will er nicht!“, schrie Toris und wusste anscheinend nicht, ob er vor dem Mann zurückweichen oder bei Raivis bleiben sollte. „Beschützen Sie uns, bitte! Er hat uns die ganze Zeit schon verfolgt!“ „Ganz ruhig. Wir wollen euch beiden helfen, hörst du?“ Raivis lag da und hörte, wie die Schritte hinter ihm näher kamen. Er wünschte, er hätte sich bewegen können. Toris und er durften nicht so von den Männern erwischt werden. Doch nicht so. „Die Kleine hat sicher einen Schock“, sagte der Mann sanft und beugte sich über Raivis. „Das sieht nicht gut aus“, sagte er nach einem Blick auf ihn. „Wir sollten ihn ins Krankenhaus bringen. Wir können meinen Wagen nehmen.“ „Nein!“, schrie Toris. „Wir warten auf den Krankenwagen! Das ist besser, oder?“, wandte er sich verzweifelt an die Frau. Die Frau runzelte verwirrt die Stirn. „Sollten wir nicht lieber auf den Krankenwagen warten?“, fragte sie zögernd. „Mein Mann hat schon einen gerufen. Was, wenn der Junge etwas an der Wirbelsäule hat? So etwas kann sehr gefährlich sein, wenn man ihn jetzt einfach aufhebt und...“ „Was verstehen Sie denn davon?“, blaffte der Mann sie an. „Nicht viel“, gab die Frau zu, jetzt kühler und sicherer. „Aber dieses Mädchen steht offenbar unter Schock, wie Sie schon sagten. Ich würde lieber auf professionelle Hilfe warten, damit...“ „Das Mädchen ist nicht zurechnungsfähig! Wir können nicht hier sitzen bleiben und auf Hilfe warten, weil es dann zu spät sein könnte!“ Aus einiger Entfernung hörten sie ein Martinshorn näher kommen. „Sehen Sie“, sagte die Frau erleichtert und leise triumphierend. „Hilfe ist schon unterwegs. Du kannst ganz beruhigt sein, meine Kleine.“ Toris lächelte Raivis unsicher an und strich ein paar Haarsträhnen aus seiner Stirn. Raivis wünschte, er hätte das Lächeln erwidern können. Sie waren noch einmal davon gekommen, dachte er. Um ein Haar. Im nächsten Moment schlang sich ein Arm von hinten um Toris' Brust. Er schrie auf, als der Mann ihn vom Boden hoch riss und mit sich zerrte. „Was tun Sie denn da?“, rief die Frau fassungslos. „Lassen Sie mich!“, kreischte Toris, wand sich und trat um sich. „Lassen Sie mich los! Helfen Sie mir! Hilfe!“ „Lassen Sie sofort das Mädchen los! Was glauben Sie, was...“ „Helfen Sie mir!“, schrie Toris noch einmal, bevor der Mann ihn in das Auto stieß und selbst einstieg. Die Tür wurde zugeschlagen und Reifen quietschten, als der Wagen mit Vollgas davon fuhr. Raivis lag noch immer auf dem Boden und konnte nichts sehen als den Asphalt der Straße und einige verschwommene Bewegungen im Hintergrund. Er hörte das Klappern von Schuhen, als würde die Frau einige Schritte hinter dem Wagen her laufen, bevor sie es aufgab. Das Martinshorn war noch lauter geworden. Die Frau trat näher an Raivis heran und beugte sich zu ihm hinunter. „Es wird alles gut“, sagte sie und versuchte, unerschrocken zu klingen. „Mach dir keine Sorgen.“ Danach kehrte sie zu ihrem eigenen Auto zurück und klopfte an die Scheibe, damit ihr Mann sie herunter ließ. „Ruf auch noch die Polizei. Ich glaube, das war gerade eine Entführung.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)