Kontakt von Niekas ================================================================================ Kapitel 10: Gern haben ---------------------- „Ich habe noch ein paar Adressen gefunden!“, sagte Feliciano glücklich. Erstaunt sah Antonio ihn an. „Was... wirklich? Du bist eine wahre Fundgrube, Feliciano!“ Feliciano lachte und wedelte mit einem Zettel in seiner Hand, der zerknickt und einige Male gefaltet worden war. „Ich dachte, ich hätte ihn weggeworfen... aber er ist schon ein paar Jahre alt. Ich habe keine Ahnung, ob irgendwelche Adressen davon noch gültig sind. Aber ich werde mich ein wenig erkundigen.“ „Ist irgendetwas von Alfred dabei?“, fragte Antonio. „Der steht als nächster auf unserer Liste.“ „Nein“, sagte Feliciano bedauernd. „Ich habe mich erst einmal auf diese Seite des Ozeans konzentriert, wenn du verstehst...“ „Ich verstehe.“ Antonio runzelte die Stirn. „Glaubst du, Alfred hat es wie alle gemacht und sich zur Ruhe gesetzt?“ „Das kann ich mir kaum vorstellen“, erwiderte Feliciano fröhlich. „Alfred und sich zur Ruhe setzen? Alfred und Ruhe in einem Satz?“ Antonio lachte. „Nein, du hast Recht. Dann wäre es vielleicht gut, in Washington nachzusehen...“ „Soweit ich mich erinnere, hat er New York auch geliebt“, sagte Feliciano eifrig. „Und Kalifornien. Und Florida. Nicht, dass er die Ost- oder Westküste bevorzugt hätte... oder die Nord- oder Südstaaten...“ Seine Miene wurde nachdenklich. „Warum ist Amerika nur so unheimlich groß?“ „Gute Frage“, sagte Antonio munter. „Aber ich denke, Gilbert und ich werden wirklich in Washington mit der Suche beginnen.“ „Vee... wolltet ihr nicht eigentlich...“, begann Feliciano und verstummte dann. „Was?“, fragte Antonio überrascht. „Ich dachte, Gilbert wollte eigentlich... eigentlich nicht Alfred suchen.“ „Nein, natürlich. Eigentlich wollen wir Ludwig finden... früher oder später. Aber wie du schon sagtest, Amerika ist unheimlich groß. Wenn einer sich dort zurechtfinden kann, ist es Alfred. Es wäre also nicht dumm, zuerst einmal ihn zu suchen.“ „Richtig... wo ist Gilbert überhaupt?“ „Hörst du ihn nicht?“ Sie verstummten beide. Aus einem anderen Zimmer konnte man gedämpft Stimmen hören, die sich anschrien. „Was ist jetzt schon wieder los?“, fragte Feliciano ängstlich. „Wahrscheinlich hat er sich mit Romano in die Haare bekommen. Über ein so wichtiges Thema wie... das heutige Fernsehprogramm.“ „Ich wünschte, sie würden nicht so viel streiten“, murmelte Feliciano. „Ach, du kennst Romano doch. Bis zum Abendessen wird er sich wieder beruhigt haben.“ „Wann wollt ihr eigentlich weg?“ „Sobald ein günstiger Flug nach Amerika geht. Apropos günstiger Flug...“ Antonio hustete leise. „Es wäre doch kein Problem für Romano und dich, uns beiden mit ein wenig Kleingeld auszuhelfen?“ „Ein wenig Kleingeld?“, wiederholte Feliciano und lachte. „Nein, kein Problem. Wirklich.“ „Danke. Ich habe nämlich...“ In diesem Moment flog die Tür auf und Gilbert stürmte wutentbrannt herein. „Leck mich doch einfach!“, schrie er. „Ja, du mich auch! Und dein verdammter Bruder dazu, richte ihm das aus!“, brüllte Romano, der hinter ihm im Flur stand. „Sag ihm, wenn er vorhat, hier aufzutauchen, lasse ich die Hunde los!“ „Wir haben keine Hunde, fratello“, sagte Feliciano ratlos und blinzelte. „Du wirst mich nicht daran hindern, West zu finden!“ „Nein, ganz bestimmt nicht! Aber wehe, du schleppst ihn hierher, denn dann kann er was erleben!“ „Was ist denn los?“, fragte Antonio und sah Gilbert an, der sich schwer auf das Sofa fallen ließ und die Arme hinter dem Kopf verschränkte. „Ich mache, was ich will“, sagte er störrisch. „Wenn ich West suchen will, tue ich das. Und wenn ich ihn wieder nach Hause hole, tue ich das auch.“ „Er wird keinen Fuß über unsere Türschwelle setzen“, sagte Romano gefährlich leise. „Ansonsten ist das das letzte, was er in seinem Leben tut.“ „Fratello, per favore non...“ „Und du fratellost mich nicht!“, fauchte Romano Feliciano an und schlug seine ausgestreckte Hand beiseite. „Ihr... ihr könnt mich alle... gern haben!“ Er fuhr herum und lief hinaus. „Ich habe dich gern, Romanito!“, rief Antonio ihm nach. „Verdammtes Arschloch“, knurrte Gilbert und schlug mit der Faust auf ein Kissen. „Romano ist kein Arschloch“, sagte Feliciano traurig. „Er meint es nicht so.“ „Nicht? Da hatte ich aber einen anderen Eindruck.“ „Er kann Ludovico nur nicht leiden, das ist alles.“ „Das ist alles?“, fragte Gilbert und schnaubte. „Das klang für mich aber anders.“ „Das ist alles“, beharrte Feliciano. „Lass dich nicht davon stören. Ihr beide... ihr findet ihn, oder? Ludovico?“ „Ja“, sagte Antonio. „Ganz sicher.“ Feliciano lächelte schüchtern und sah aus, als wolle er noch etwas dazu sagen. Letztendlich tat er es doch nicht, sondern wandte sich ab. „Ich gehe mal nach Romano sehen“, sagte er. „Er wird sich sicher bald beruhigen.“ Er verließ den Raum und ließ Antonio und Gilbert allein zurück. „Romano hat sie wirklich nicht mehr alle“, knurrte Gilbert. „Sag sowas nicht“, widersprach Antonio. „Ich habe ihn gern.“ „Ja, ich weiß. Es ist nur... er hat West immer gehasst, ja. Aber es kommt mir vor, als wäre das noch schlimmer geworden. Als ob West irgendetwas getan hätte, was Romano ihm nicht verziehen hat...“ Er lachte auf. „Aber was hätte er denn tun müssen, damit Romano ihn noch mehr hasst als vorher? Früher hat es schon gereicht, dass er existiert hat!“ Antonio zog die Schultern hoch und musste an Romanos Bemerkung bei ihrem ersten Abendessen denken. Nach dem, was der mangia-patate ihm angetan hat... „Ich frage mich auch, was er getan haben könnte“, sagte er. Es war passiert, als der seltsame kleine Mann mit der hohen Stirn aus dem Auto gestiegen war. Er hatte sich noch einmal kurz über die Schulter umgesehen, mit etwas wie hilfloser Wut in seinem Blick. Und plötzlich hatte das Kind den Drang gehabt, hinter ihm her zu schreien. Lass mich nicht allein, Feliks! Du kannst mich nicht allein lassen, nicht schon wieder! Lass mich nicht im Stich! Aber es hatte nicht geschrien. Es war still sitzen geblieben, wo es war. Die Autotür war ins Schloss gefallen und das Auto war wieder losgefahren. Das Kind fragte sich, wohin es diesmal ging. Hoffentlich an einen gemütlichen Ort, einen sicheren Ort. Die letzten Tage hatte es überwiegend in Autos verbracht, seitdem es eines Morgens auf der Rückbank aufgewacht war. Wie war es hierher gekommen? Die Nonnen mussten sich Sorgen machen, dachte das Kind. Die anderen Kinder aus dem Heim vielleicht auch. Vielleicht aber auch nicht. Natürlich hatte das Kind wie alle anderen Waisen davon geträumt, dass es irgendwo jemanden gab, der es vermisste. Eine große, glückliche Familie vielleicht, aus der es lediglich verloren gegangen war und die es irgendwann mit offenen Armen wieder aufnehmen würde. Wer träumte nicht davon, dass es eine Gruppe von Menschen geben könnte, zu der man gehörte? Und jetzt war tatsächlich dieser Mann aufgetaucht, der das Kind offenbar vermisst hatte, aber er war so fremd. Und dann war er wieder nicht fremd. Das war überhaupt das Seltsamste an der ganzen Sache. Das Kind schüttelte den Kopf. Alles war in letzter Zeit so kompliziert geworden. Warum hatte es plötzlich das Gefühl gehabt, Feliks (denn so hieß der seltsame Mann offenbar) würde es erneut im Stich lassen? Zum zweiten Mal – aber wann sollte das erste Mal gewesen sein? Bisher war das Kind davon ausgegangen, fünfeinhalb Jahre alt zu sein. Aber jetzt kam dieser Mann und erzählte irgendetwas von Nationen und davon, dass er ein alter Freund sei... ein alter Freund? Vielleicht war das Kind ja doch älter, als es glaubte. Unwillkürlich musste es lächeln und war selbst erstaunt darüber. Was passierte, war sehr verwirrend, aber aus irgendeinem Grund gefiel es ihm. Wie oft hatte es sich gewünscht, etwas Besonderes zu sein. Etwas Großes vielleicht. Du bist Lietuva. Also fang an, dich damit abzufinden, Liet. „Liet“, wiederholte das Kind leise für sich und kicherte. Das sollte also sein Name sein? Wie lustig. „Liet...“ Es sah aus dem Fenster, spielte mit seinen Fingern und summte zufrieden vor sich hin. „Liet, Liet, Liet...“ Es verstummte erst, als das Auto hielt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)