Kontakt von Niekas ================================================================================ Kapitel 8: Vincas ----------------- Ein kalter Wind fuhr durch die Straße und ließ Feliks frösteln. Er schlug seinen Kragen hoch und verschränkte die Arme vor der Brust, bevor er seinen Weg fortsetzte. Jetzt nur noch nach Hause. Seit langem hatte er keinen so frustrierenden Tag mehr gehabt, und es ging hier immerhin um ihn, der das Pech anzog wie ein Kadaver die Fliegen. Aber seitdem die anderen Nationen sich nicht mehr um Politik kümmerten, hatte er, der bei seiner Rolle geblieben war, bei seiner Regierung einen schweren Stand. Es kamen Fragen auf. Eine personifizierte Nation? War das möglich? Und wenn ja, wieso hatten dann alle anderen Länder nicht jemanden wie Feliks, der sich überall einmischte und zu allem seinen Teil zu sagen hatte? Feliks schluckte ihr Misstrauen seit Jahren, seitdem die ältere Generation, für die Nationen noch völlig normal gewesen waren, verstorben war. Die Leute wollten ihm immer weniger glauben, dachte er. Vielleicht sollte er es wie die anderen Nationen machen und sich zur Ruhe setzen. Ein kleines Häuschen auf dem Land vielleicht, mit einem Garten und einem niedlichen Pony... oder zwei... Es begann, zu nieseln. Warschau war hässlich bei Regen, stellte Feliks nicht zum ersten Mal fest, aber das war wohl in jeder Stadt so. Missmutig zupfte er erneut seinen Mantel zurecht. Von hinten näherte sich langsam ein Auto. Feliks ging ein paar Schritte weiter und zuckte zusammen, als das Auto noch langsamer wurde und im Schritttempo neben ihm her fuhr. Einen Moment lang wollte er sich umdrehen und rennen. Der Wagen hielt und die Scheibe auf der Beifahrerseite fuhr nach unten. „Feliks Łukasiewicz?“ Feliks blieb stehen und starrte den Mann an, der in dem Wagen saß. Es war dunkel, doch er konnte sein Gesicht im Licht einer Laterne erkennen. Er war sich sicher, es noch nie gesehen zu haben. „Kenn ich nicht“, brachte er nach einer Weile hervor und wandte sich zum Gehen. „Guten Tag.“ „Ich an Ihrer Stelle würde bleiben.“ Alles in Feliks' Kopf schrie ihn an, zu rennen. Er war kein junges Mädchen, das nachts vom Bürgersteig gestohlen und ein paar Tage später tot in irgendeinem Waldgebiet gefunden wurde. Angst hatte er trotzdem. Du bist verletzlich geworden, Polska, flüsterte etwas in seinem Hinterkopf. Du hast Angst vor einem gewöhnlichen, einzelnen Menschen. Wie ist das nur passiert? „Wer sind Sie?“, fragte Feliks. Der Mann im Wagen lächelte dünn. „Steigen Sie ein.“ „Warum sollte ich?“ „Tun Sie es“, sagte der Mann, jetzt scharf. „Oder es wird Ihnen Leid tun.“ „Eeej, sprechen Sie nicht mit mir wie irgendso ein Gangster, ja? Ich hab keine Angst vor Ihnen!“ Natürlich log er. Feliks' Knie zitterten, doch er hoffte, dass der Mantel es verdeckte. Der Mann im Wagen sah ihn an, ohne auch nur zu blinzeln. „Auf dem Rücksitz werden Sie jemanden finden, den Sie schon vermisst haben dürften. Wenn Sie nicht einsteigen, werden Sie die besagte Person nicht mehr sehen. Jedenfalls nicht mehr lebendig.“ „Und wer soll das sein?“, fragte Feliks und lachte. Es klang etwas hysterisch. „Ich vermisse niemanden!“ „Sind Sie sich sicher?“, fragte der Mann ernst. Feliks holte tief Luft und versuchte, durch das Fenster einen Blick auf die Rückbank zu werfen. Dummerweise waren die Scheiben dunkel getönt, und bei dem schwachen Licht konnte er nicht einmal Umrisse erkennen. Plötzlich spürte Feliks etwas, das er seit Jahrzehnten nicht mehr gespürt hatte und deswegen nicht sofort deuten konnte. Es war kein schlechtes Gefühl, dachte er. Es war, als würde er nach Hause kommen. „Ich vermisse niemanden“, murmelte er. „Wenn Sie das wirklich nicht täten, würden Sie nicht mehr hier stehen.“ Feliks' Hand zitterte leicht, als er sie nach dem Griff der Tür ausstreckte. Nur einmal kurz sehen, was da drinnen war, dachte er. Nur einmal kurz. Das Gefühl wurde noch stärker, als er die Tür öffnete und atemlos einen Blick auf den Rücksitz warf. Jemand war hier. Jemand von den anderen. Jemand, der genau war wie er. Auf dem Rücksitz hinter dem Fahrer saß ein Kind, dem im Schlaf der Kopf auf die Schulter gesunken war. Sein gesamter Körper hing zur Seite über, nur gehalten vom Anschnallgurt. Es mochte fünf oder sechs Jahre alt sein, und Feliks konnte sich nicht erinnern, es jemals zuvor gesehen zu haben. Trotzdem wusste er, dass er es kannte. Es war sogar mehr als die Gewissheit, eine andere Nation vor sich zu haben. Es war die Anwesenheit einer Verbindung. Er musste wissen, wen er vor sich hatte. Beinahe stieß er sich den Kopf, als er in das Auto einstieg und auf den Platz neben dem Kind rutschte. Hastig streckte er die Hand nach einer schmalen Schulter aus. „Hey, du da. Hey! Wach auf!“ Hinter ihm wurde die Tür zugeschlagen, gleich darauf die Tür auf der Beifahrerseite, nachdem der Mann wieder eingestiegen war. Der Wagen fuhr los, sein Fahrer war lediglich als Schatten von hinten zu sehen. Feliks streifte ihn nur mit einem kurzen Blick. „Wach auf!“, sagte er noch einmal und rüttelte das Kind an der Schulter. Es zuckte zusammen und riss die Augen auf. „Liet“, flüsterte Feliks. Das Kind wich erschrocken vor ihm zurück, drückte sich an die Innenseite der Tür und musterte Feliks mit vor Angst runden Augen. Es hatte ein sanftes Gesicht und dunkle Haare, zu lang für einen Jungen, zu kurz für ein Mädchen. Das Gesicht war Feliks völlig unbekannt. Die Augen waren es nicht. „Liet“, sagte er noch einmal und bemerkte, dass er zitterte. „Was... was zum Teufel machst du denn hier? Und warum bist du so klein?“ „Wer bist du?“, entgegnete das Kind und begann, ebenfalls zu zittern. „Was willst du schon wieder von mir?“ „Schon wieder?“ „In letzter Zeit wollen komische Männer viele Dinge von mir“, antwortete das Kind und seine Augen füllten sich mit Tränen. „Ich will nach Hause!“ Feliks schüttelte verständnislos den Kopf. „Nach Hause? Aber... du bist Liet. Wenn das hier ein Scherz sein soll, Liet, dann ist es kein guter, okay? Ich weiß, dass du es bist!“ „Ich heiße Vincas!“, erwiderte das Kind schrill. „Und ich will nach Hause!“ „Eeej... ganz ruhig, ja?“, sagte Feliks und griff nach seiner Hand. „Ist doch alles gut, Liet.“ „Nenn mich nicht Liet! So heiße ich nicht!“ „Doch“, erwiderte Feliks entschieden. „Du hast es nur vergessen.“ Das Kind verstummte und sah ihn groß an. „Wie könnte ich denn meinen Namen vergessen?“ „Du bist gestorben“, sprudelte es aus Feliks hervor. „Es kann gar nicht anders sein. Wenn ich den erwische, der dich umgebracht hat... du bist gestorben, Liet, aber jetzt bist du wieder da. Weil du unsterblich bist, klar!“ „Die Nonnen sagen, meine Seele ist unsterblich.“ „Klar, das auch, aber das meine ich doch gar nicht. Warum erinnerst du dich denn nicht, Liet? Ich verstehe das nicht.“ Das Kind sah ihn hilflos an. „Bist du verrückt?“, fragte es. „Ich bin nicht verrückt, Liet. Es ist nur alles... alles hier ist komplett verrückt.“ Feliks schüttelte den Kopf und versuchte, zu verarbeiten, was er soeben erfahren hatte. Toris war gestorben, und offenbar erinnerte seine Wiedergeburt sich an nichts mehr. Feliks wusste nicht, welche von beiden Informationen ihn mehr schmerzte. „Vielleicht, wenn du aufholst“, sagte er hoffnungsvoll. „In ein paar Jahren, wenn du wieder so alt bist, wie du vorher warst. So ungefähr zwanzig... vielleicht erinnerst du dich dann wieder.“ Das Kind sah ihn noch immer mit großen Augen an. „Wie heißt du?“, fragte es. „Ich? Feliks natürlich“, sagte Feliks und lächelte. „Aber du kannst mich auch Polska nennen. Oder Po, weil du's bist.“ Das Kind blinzelte verständnislos. „Aber Polska ist kein Name. Es ist ein Land.“ „Tak“, sagte Feliks und nickte. „Ich bin ein Land, und du bist übrigens auch eins. Du bist Lietuva. Also fang an, dich damit abzufinden, Liet.“ Das Kind wurde sehr blass. „Du bist verrückt“, sagte es. „So etwas gibt es doch gar nicht. Ich bin kein Land.“ „Ach nein? Wieso verstehst du dann, was ich sage?“ „Ich... du sprichst doch mit mir. Wieso sollte ich dich nicht verstehen? Das ist doch völlig normal.“ „Normal?“ Feliks lachte kurz auf. „Du wurdest irgendwo in Litauen gekidnappt, und jetzt sitzt du hier bei mir in Polen und verstehst jedes Wort, das ich sage, und das nennst du normal?“ „Aber...“, begann das Kind und verstummte. Tränen stiegen in seine Augen. „Aber... i-ich heiße Vincas. Ich bin doch nur... nur...“ „Du bist mein alter Freund Liet“, brummte Feliks und wurde ein wenig rot. „Und ich... ich bin verdammt froh, dass du wieder da bist.“ Das Kind schluckte und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. „Ich will nach Hause“, sagte es zu sich selbst. „Wirklich.“ „Haben Sie es sich überlegt?“, erklang eine Stimme von vorn, die Feliks zusammen zucken ließ. „Was habe ich überlegt?“ „Ob Sie nicht doch jemanden vermissen“, sagte der Mann auf der Beifahrerseite und drehte sich zu Feliks und dem Kind um. „Jetzt vermisse ich niemanden mehr“, erwiderte Feliks und griff nach der kleinen Hand neben sich. „Sie werden es aber tun müssen, fürchte ich“, sagte der Mann. „Weil wir dieses Kind behalten werden, als Sicherheit.“ „Sicherheit?“, wiederholte Feliks. „Wofür? Was zum Teufel wollen Sie von mir?“ Der Mann hob abwehrend die Hände. „Nur keine Aufregung. Sie werden zunächst einmal brav wieder zu ihrer Regierung zurück gehen, als wäre nichts gewesen.“ „Meine Regierung? Eeej, sagen Sie nicht, ich soll spionieren oder so, weil ich das nämlich total nicht tun werde.“ „Aber nein, wo denken Sie hin? Wir brauchen keinen Spion mehr in ihrer Regierung.“ Feliks überlegte, ob ihn das beruhigen oder ihm eher Sorgen machen sollte, doch der Mann sprach einfach weiter. „Sie haben heute einen alten Freund getroffen. Wenn Sie wollen, dass es diesem Freund weiterhin gut geht, tun Sie genau, was wir sagen. Dann könnten Sie in nächster Zeit noch mehr alte Freunde treffen.“ „Vergessen Sie's“, sagte Feliks schlicht und tastete unauffällig nach dem Türgriff. „Ich lass mich nicht erpressen.“ „Die Kindersicherung ist drin“, erklärte der Mann ihm beiläufig. „Versuchen Sie erst gar nicht, die Tür zu öffnen. Sie kommen nicht hier weg, bevor Sie eingewilligt haben, mit uns zusammen zu arbeiten.“ „Und wenn ich nicht einwillige?“ „Dann verlieren Sie ihren Freund genauso schnell wieder, wie Sie ihn gefunden haben.“ Feliks lachte auf, obwohl ihm nicht zum Lachen zu Mute war – er wusste nur nicht, wie er sonst reagieren sollte. „Jetzt tun Sie nicht so. Sie werden Liet nichts antun.“ Schneller, als er reagieren konnte, hatte der Mann eine Pistole aus irgendeiner Tasche gezogen und richtete sie direkt auf das Kind neben Feliks, das zusammen zuckte. „Wollen Sie es darauf ankommen lassen?“ „Lassen Sie das!“, rief das Kind, klammerte sich an Feliks' Arm und begann, zu zittern. „Ich will nach Hause!“ „Um Himmels Willen, nehmen Sie die Waffe weg!“, brüllte Feliks. „Sie machen Liet Angst!“ Er beugte sich hinüber und nahm das Kind in den Arm. Es vergrub das Gesicht in seinem Kragen und schluchzte vor sich hin. Feliks war sich nicht sicher, ob es verstand, was vor sich ging. Vermutlich nicht. Aber gerade das musste ihm unglaubliche Angst machen. Feliks wünschte sich verzweifelt, Toris wäre wieder der Alte. Aber auch wenn er es nicht war: Es gab die Hoffnung, dass er es eines Tages wieder sein würde. Irgendwann würden seine Erinnerungen zurückkehren und er würde wieder Feliks' alter Freund Liet sein. Und bis dahin würde Feliks alles tun, um ihn davor zu beschützen, ein zweites Mal zu sterben. „Lassen Sie ihn in Ruhe“, sagte er verbittert und strich über Toris' Rücken. „Ich mache, was Sie wollen, aber lassen Sie ihn in Ruhe.“ Der Mann überlegte noch eine Weile lang, bevor er die Waffe langsam sinken ließ und nickte. „Ich nehme Sie beim Wort“, sagte er. „Sie werden alles tun, was wir wollen.“ „Das hab ich gesagt, oder?“ Feliks runzelte die Stirn und versuchte, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen. „Dürfte ich dann vielleicht endlich erfahren, was Sie wollen?“ Der Mann lächelte dünn. „Das dürfen Sie.“ „Ich will nach Hause“, murmelte Toris. (Vincas... den Namen habe ich in einer Liste mit litauischen Schriftstellern ausgegraben. Ich dachte, Toris mag doch Literatur und so. Naja. „Aber Polska ist kein Name.“ Hach, ist er nicht ein süßer kleiner Klugscheißer? Dass „Toris“ hier OOC ist, ist leider nicht zu vermeiden. Es wäre unlogisch, wenn er gleich wieder seinen alten Charakter hätte, bevor er sich auch nur im Geringsten an sein altes Selbst erinnern kann. Ich habe mal irgendwo gelesen, dass Polen, Litauen und China offiziell keine definierten Geschlechter besitzen. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Das nur, um die Anweisungen am Telefon zu erklären.) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)