Kontakt von Niekas ================================================================================ Kapitel 1: Va bene ------------------ Nach Rom, hatte er gedacht. Rom war der ideale Ort, um die Suche zu beginnen. Aber Rom war um diese Jahreszeit heiß und von Touristen überlaufen, es war eine Stadt, in der Autos des späten zwanzigsten Jahrhunderts an zweitausend Jahre alten Gebäuden vorbei rasten, eine seltsame Mischung aus Gegenwart und alter, ältester Vergangenheit. Vielleicht war das genau das Richtige, dachte er. Er brauchte dringend etwas, um Gegenwart und Vergangenheit zu verbinden. Nach Rom kam man nicht mal eben so. Er hatte sparen müssen, sein Verdienst war nicht der Rede wert bei seinem sprunghaften Lebenswandel und ohne gültigen Schulabschluss. Er hatte sich nie wirklich um die Schule gekümmert. Irgendwie hatte er immer gespürt, für etwas anderes geboren zu sein. Nach seinem Entschluss dauerte es noch fast drei Jahre, bis er es wagte, die ewige Stadt zu betreten und sich auf die Suche zu machen – ohne den geringsten Anhaltspunkt, wo er anfangen sollte. Aber er war hier, das war das Wichtigste. Als er am vorherigen Tag sein Zimmer bezogen hatte, war er milde enttäuscht gewesen, weil er aus dem Fenster nicht mehr sehen konnte als die Wand des Nachbarhauses. Von einem Hotel dieser Preisklasse konnte er wohl nicht mehr erwarten, hatte er sich gedacht und sich damit abgefunden. Umso mehr freute es ihn, als er am nächsten Morgen die Vorhänge öffnete und bemerkte, dass die Aussicht über Nacht um einiges liebenswerter geworden war. LIDO DI OSTIA. CI VEDIAMO ALLE 11. TI VOGLIO BENE, PICCOLA MIA! Strand von Ostia. Wir sehen uns um elf. Ich liebe dich! Wer auch immer sich da mit seiner Freundin hatte verabreden wollen, hatte es offensichtlich zu langweilig gefunden, einfach anzurufen. Es war eine auf eine schnodderige Art romantische Liebeserklärung, dachte Antonio lächelnd, die da in großen Buchstaben an die Hauswand geschmiert worden war. Während er sich anzog, überlegte er, wo er mit seiner Suche anfangen sollte. Wieso nicht an eben diesem Strand, Ostia, eine halbe Stunde vor der Stadt? Der Ort war sicher so gut wie jeder andere. Heute war es heiß, also würde der Strand voll sein. Und außerdem, dachte Antonio, war es vielleicht ein Zeichen. Irgendjemand hatte ihm ein Zeichen geschickt. Der Strand war so voll, wie es zu erwarten gewesen war. Kinder buddelten im Sand und tobten kreischend im Wasser. Ein junger Mann in Badehose schleppte seine schrill lachende und barfuß um sich tretende Freundin geradewegs in die Wellen hinein. Ein Windstoß wehte eine Zeitung beiseite, die jemand sich als Sonnenschutz über das Gesicht gelegt hatte. Antonio folgte dem davonfliegenden Papier mit dem Blick und riss die Augen auf, als jemand einige Meter weiter am Strand aufstand, um es aufzuheben. Sein Begleiter, der noch auf dem gemeinsamen Handtuch hockte, rief ihm irgendetwas nach und verschränkte missmutig die Arme vor der Brust. Die Körperhaltung und der einzelne Fetzen seiner Stimme, der an Antonios Ohren gedrungen war, genügten. „Romanito!“ Er rannte los, sodass der heiße Sand an seinen Beinen hoch spritzte. Romano hob den Kopf, als er seinen Namen hörte, seinen Spitznamen sogar, von dem er immer behauptet hatte, er könne ihn nicht ausstehen. Als er Antonio erkannte, klappte sein Mund auf. „Bas...“ Er schaffte es nicht, das Wort zu beenden, da Antonio ihm um den Hals fiel, Romano das Gleichgewicht verlor und auf dem Rücken landete. Er schrie wütend auf und versuchte, sich wieder aufzurappeln. „Bastard! Lass mich sofort los! Geh da runter!“ „Romano?“, erklang Felicianos verwirrte Stimme. „Was ist denn...“ „Ich habe dich wieder“, sagte Antonio und stemmte die Arme auf den Boden. Der Sand unter dem Handtuch gab unter seinen Händen leicht nach. Er zitterte, wie er feststellte, doch es war ihm egal. Genauso egal wie Romanos fassungsloser Blick. „Ich habe dich wieder... Romanito!“ „Antonio?“, fragte Feliciano perplex. „Bist du das? Wo kommst du...“ „Geh sofort von mir runter, Bastard!“, keifte Romano, der seinen Bruder fleißig ignorierte, und packte Antonios Schulter. „Wie sieht das überhaupt aus, was du hier machst?!“ Vielleicht wäre Antonio darauf eingegangen, hätte sich nicht in diesem Moment Feliciano heulend auf ihn geworfen und ihn dazu gebracht, mit seinem vollen Gewicht auf Romano zu landen, der ein ersticktes Japsen von sich gab. „Antonio! W-wo bist du gewesen? Wo kommst du her?“ Er hätte es nicht erklären können, wenn er gewollt hätte. Feliciano wollte ihn nicht mehr loslassen, Romano wollte atmen, und Antonio bemerkte, dass er nicht aufhören konnte, zu lachen. Sie rollten am Strand herum, bis Romano es schaffte, sich zu befreien, und wütend damit begann, Feliciano mit Sand zu bewerfen. Er zielte auf Feliciano, stellte Antonio fest. Nicht auf ihn. Eine geschlagene Stunde lang waren Feliciano und Romano in ihrer Küche herum gewuselt, ohne sich gegenseitig auf die Füße zu treten. Antonio saß am Küchentisch und konnte nur darüber staunen. Vor den Fenstern draußen wurde es schon dunkel, doch drinnen war es hell. Zwei Kerzen brannten auf dem Tisch. Gläser und Besteck für drei Personen hatte Romano schon bereitgelegt. Dazwischen lagen einige Brotstücke herum, ohne Teller, einfach auf dem weißen Tischtuch. Antonio griff nach einem davon, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und hörte zu, wie Feliciano und Romano sich unterhielten und mit den Töpfen klapperten. Er war zum ersten Mal in diesem Haus, aber er hatte sich schon lange nicht mehr so daheim gefühlt. „Fratellino, la pasta è pronta! Cominciamo! Ich hoffe, du hast Hunger, Antonio?“ „Und wie!“, sagte Antonio. Feliciano strahlte ihn an und füllte drei Teller mit je einem kleinen Häufchen Spaghetti. Zusammen mit Romano trug er sie zum Tisch hinüber. „Wein?“, fragte Romano und griff nach der Flasche auf dem Tisch. „Ja, gerne.“ Romano füllte die Weingläser reihum und setzte sich dann neben Feliciano, Antonio schräg gegenüber. „Also dann... buon appetito.“ „Buon appetito!“ „Wo bist du gewesen?“, fragte Romano, der Antonio noch kaum aus den Augen gelassen hatte. „Ja, genau!“, stimmte Feliciano zu, während er eifrig Nudeln auf seine Gabel wickelte. „Wo bist du die ganze Zeit gewesen, Spagna?“ Antonio war nicht danach, zu antworten. Er schob sich ein paar Spaghetti in den Mund, um sich Zeit zu erkaufen, und betrachtete interessiert die Tischdecke. „Es ist viel passiert, seitdem wir uns zum letzten Mal gesehen haben“, sagte er dann. „Wann war das letzte Mal überhaupt?“ „Irgendwann in den Zwanzigern muss das gewesen sein“, brummte Romano. „Oh, das ist furchtbar lange her! Das war vor...“, begann Feliciano und verstummte betreten. „Wovor?“ „Vor dem Krieg natürlich, Bastard“, knurrte Romano. „Sag bloß, du hast nichts davon mitbekommen.“ „Das kommt darauf an, was du unter mitbekommen verstehst“, erwiderte Antonio und lächelte, wurde aber gleich darauf wieder ernst. „Ihr hattet es sicher nicht leicht.“ „Das kannst du laut sagen, Bastard!“ „Es war so anders“, murmelte Feliciano, den Blick auf seine Nudeln geheftet. „Es war anders als alle anderen Kriege davor. Irgendwie gab es plötzlich so viele Wahnsinnige.“ „Fang nicht schon wieder an, dummes Zeug zu reden, Bastard“, brummte Romano und griff nach seinem Weinglas. „Das machst du immer, wenn wir über damals reden, also lass es einfach bleiben. Capito?“ „Vielleicht haben wir gedacht, es wäre eine Klassenfahrt“, fuhr Feliciano fort, ohne auf Romano einzugehen und ohne den Blick zu heben. „Und irgendwie müssen wir vergessen haben, dass es keine war. Dass jeder kleine Streit zwischen uns tausende von Menschen das Leben gekostet hat. Aber am Ende, als alles vorüber war, haben wir es bemerkt. Und danach... waren wir es irgendwie alle Leid.“ „Was wart ihr Leid?“, fragte Antonio besorgt. „Wenn wir das mal so genau gewusst hätten!“ Romano stellte missmutig sein Weinglas ab und stach die Gabel wieder in seine Spaghetti. „Die anderen waren echt depressiv drauf in dieser Zeit. Ich meine, gut, ich hatte selbst meine Wunden zu lecken, und mio fratello-bastardo hier noch mehr, nach dem, was der mangia-patate ihm angetan hat...“ „Was denn?“ Feliciano schüttelte leicht den Kopf. „Niente di importan-“ „Niente di importante?! Du spinnst wohl! Und ob es was Wichtiges war!“ „Nichts, was man beim Abendessen bespricht“, verbesserte Feliciano sich. Antonios Blick wanderte unsicher zwischen den beiden Brüdern hin und her. Früher hatten sie einander perfekt ergänzt, Romano der Miesepeter, Feliciano der Sonnenschein. Aber jetzt hatte sich eine Wolke vor Felicianos Sonne geschoben, und das schien auch Romano verändert zu haben. „Jedenfalls wollten die meisten von uns nicht mehr die Nationen sein, die sie gewesen waren“, fuhr Feliciano fort. „Sie wollten nicht mehr? Aber das ist doch keine Frage des Wollens.“ „Hab ich ihnen auch gesagt“, knurrte Romano. „Aber keiner wollte auf mich hören. Ich meine, es herrschte natürlich ein riesiges Durcheinander, vor allem hier in Europa. Jede Menge Trümmer und Zerstörung überall. Wir hatten ein letztes, inoffizielles Treffen. Nur wir Nationen, ohne Regierungsleute. Wir haben ausgemacht, dass jeder, der wollte, sich aus seiner Rolle zurückziehen würde – und dass niemand vom anderen verlangen würde, sie je wieder einzunehmen.“ „Aus seiner Rolle zurückziehen? Aber wie zum Teufel...“ „Einfach so tun, als wären wir normal“, erklärte Feliciano. „Nur noch unsere menschlichen Namen benutzen und so weiter. Uns nicht mehr in internationale oder politische Geschehnisse einmischen. Alles so was.“ Fassungslos starrte Antonio sie an. „So einfach war das?“ „So einfach haben wir es uns vorgestellt. Warum denn auch nicht? Wir waren müde, Spagna.“ „Ich wüsste gern, was eure Regierungen dazu gesagt haben.“ Romano lachte kurz auf. „Ich hab doch gesagt, es herrschte überall Chaos. Ein paar von uns sind sicher einfach untergetaucht und wurden vergessen. Vielleicht haben ihre Leute dann angenommen, sie wären in diesem verdammten Krieg gestorben. Andere haben sich mit ihren Regierungen geeinigt, soweit ich weiß. Es stand ja jedem frei, ob er sich zurückzieht oder nicht. Wir haben keinen Vertrag darüber geschlossen oder so. Nie wieder Verträge schließen, dannazione!“ „Und wieder andere“, murmelte Feliciano und griff nach einem Stück Brot, „wollte sowieso niemand mehr. Ludwig zum Beispiel.“ „Und uns beide“, knurrte Romano. „Hey, die Leute haben ihren Staat zu hassen gelernt. Sowas passiert. Da war es besser für beide Seiten, für uns und für sie, dass wir untergetaucht sind.“ Antonio legte den Kopf schief. „Wenn die Leute den Staat hassen, in dem sie leben, müssen sie das doch nicht gleich auf die Nation übertragen...“ „Du verstehst das nicht, bastardo“, sagte Romano trocken. „Es gab keinen Unterschied zwischen Staat und Nation mehr. Kurz nach diesem Krieg jedenfalls nicht. Nicht in den Köpfen der Menschen.“ Stille trat ein, während Feliciano mit dem Brot die übrig gebliebene Soße von seinem ansonsten leeren Teller wischte. Romano tat es ihm nach. Aufmerksam sah Antonio den beiden zu, wie sie in fast synchronen Bewegungen über ihre Teller wischten. Es war ein seltsam berührender Anblick. Feliciano und Romano hatten nie viel miteinander zu tun gehabt. Immer war der Kreis ihrer Vertrauten ein anderer gewesen, sie hatten sich an verschiedenen Stellen mit verschiedenen Nationen beschäftigt. Jetzt waren sie beide im eigenen Land ins Exil gegangen, wie es aussah. Und wenn das überhaupt irgendeine positive Auswirkung gehabt hatte, dann die, dass dieses Exil die Brüder zusammen geschweißt hatte. „Seid ihr glücklich?“, fragte Antonio. Die beiden hoben die Köpfe, wieder beinahe synchron. Dann wandten sie sich schweigend einander zu. „Siamo felici?“, fragte Romano leise. „Siamo felici?“, wiederholte Feliciano, zog die Schultern hoch und lächelte Antonio an. „Non lo so. Ma... va bene. Sì. Va veramente bene. Non vogliamo più, giusto?“ Romano schüttelte leicht den Kopf. „Non vogliamo più“, wiederholte er. „Ich weiß nicht, ob wir glücklich sind, bastardo. Aber... va bene. Es geht ganz gut, es geht eben irgendwie. Und mehr wollen wir nicht.“ „Und ihr glaubt, das wäre alles?“, fragte Antonio schockiert. „Mehr als ein va bene hätte das Leben euch nicht zu bieten?“ Keiner der beiden antwortete. Feliciano stand auf und räumte die Teller ab. Romanos und seiner waren so sauber, dass man sie wieder hätte in den Schrank stellen können. „Ich werde den Hauptgang holen“, murmelte er. (Titel: „Va bene“ bedeutet meistens „okay, alles klar“, wörtlich „es geht gut“. Ansonsten: Wenn Feliciano oder Romano Italienisch reden, wiederholen sie das Wichtigste nochmal auf Deutsch. Felicianos längerer Part am Ende bedeutet zum Beispiel: „Sind wir glücklich? Ich weiß es nicht. Aber... es geht gut. Ja. Es geht wirklich gut. Mehr wollen wir nicht, richtig?“ Der Strand ist recherchiert - ich wusste nur nicht, ob es Ostia Lido oder Lido di Ostia oder einfach Ostia heißt, verdammt. "Lido di" klingt in meinen Ohren am italienischsten. Aber wenigstens gibt's das Kapitel endlich in überarbeiteter Fassung. Zunächst wird euch diese Version wohl nicht weniger unwahrscheinlich vorkommen als die erste, aber das legt sich noch. Versprochen. In einem Forum hat jemand mal kritisch bemerkt, in Hetalia würde der zweite Weltkrieg wie eine Klassenfahrt dargestellt... daher Felicianos Äußerung dazu.) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)