Des einen Traum; des anderen Realität
Hey Leute :-)
Es folgt nun eine ganz andere Perspektive, die aber nicht grundlos gewählt wurde. Ich denke, dass ihr den Sinn und Zweck des Ganzen im Laufe des Lesens heraufinden werdet.
LG
TDR
PS: Danke für all die tollen Kommentare, ab jetzt werde ich auch wieder strukturiert antworten :D In letzter Zeit war echt viel zu tun, nochmal sorry!
An diesem Montagmorgen wurde mit einem Mal zu einem deutlich verspäteten Zeitpunkt die Tür aufgeschlagen. Seit knapp zehn Minuten sprach unser Lehrer in Hülle und Fülle, schwärmte von dem neuen Thema und alle - einschließlich Naruto - waren verwundert, dass eine ganz bestimmte Person seit geraumer Zeit das erste Mal zu spät kam.
Meine Augen folgten der Person, die gerade an uns allen wortlos vorbeischritt, bis sie sich schließlich an ihrem Platz niederließ und lediglich mit ihren leisen Schritten, die innerhalb des Raumes widerhallten, die plötzlich eingebrochene Stille unterbrach.
Selbst Herr Umino brachte in jenem Moment kein einziges Wort über die Lippen, sondern verfolgte nur ebenfalls den wandelnden Körper des eigentlichen Musterschülers Sasuke Uchiha, der eine Entschuldigung für sein Zuspätkommen anscheinend für überflüssig hielt.
In dem Augenblick, als er, ohne von mir Kenntnis zu nehmen, an mir vorbeischritt, erhaschte ich ein genaueres Bild von ihm: Er sah verschlafen aus. Aber auch verärgert und irgendwie eine Spur melancholisch, wie ich fand. Er befand sich in einer Stimmlage, in der man das Gespräch mit ihm eindeutig und zu seiner eigenen Sicherheit meiden sollte, soweit dies möglich war.
Und dieser Fakt entging auch unserem verdutzten Lehrer nicht, weshalb auch er, entgegen seiner Norm, ohne jegliche Belehrung mit seinem Unterricht fortfuhr.
Dennoch herrschte ab diesem Zeitpunkt eine erdrückende Atmosphäre in unserer Klasse. Alle schienen neugierig auf Sasukes Verhalten zu sein, hatten vermutlich auf die Nachfragen des Lehrers gehofft, weil sie sich trotz ihrer Neugier nicht trauten den Schwarzhaarigen direkt anzusprechen.
Nicht einmal Naruto, der bekanntlich den innigsten Umgang mit dem Uchiha pflegte - worüber Hinata und ich jedoch besser informiert waren, als der Rest - ignorierte jenen gekonnt, obwohl er neben ihm saß. Sie sahen sich nicht einmal an.
Früher waren immer wieder Blicke oder kurzweilige Gespräche ausgetauscht worden, heute herrschte eine eisige Stimmung zwischen den beiden. Als wären sie beiderseits bemüht, den anderen bestmöglich auszublenden.
Es kam an diesem Tag kein einziges Mal zur Konfrontation. Das mochte zwar für Sasuke nicht ungewöhnlich sein, für Naruto allerdings schon. Er war im Gegensatz zu dem Uchiha nicht der Typ, alles in sich hineinzufressen. Lieber reagierte er direkt und schaffte auf diese, zugegeben oftmals nervige, aber auch hilfreiche Art und Weise, die Probleme zügig aus der Weltgeschichte.
Doch in Gegenwart des anderen schien er mit einem Mal ein völlig anderer zu sein. Viel distanzierter, als man es von dem quirligen Blondschopf gewohnt war und erwartete.
"Sakura", ertönte nun hinter mir die Stimme des Besagten und ich wandte mich gleich darauf zu ihm herum, sah in seine ausdrucksstarken blauen Augen und das freundliche Gesicht, wobei mir auffiel, dass ich den Schulschluss offensichtlich etwas verpasst hatte. Denn auch die letzten Schüler waren gerade dabei das Klassenzimmer zügig zu verlassen.
"Was ist?", fragte ich sofort und setzte gleich darauf ein ebenfalls liebevolles Lächeln auf. Narutos Miene stimmte mich einfach freudig. Jedes Mal. Auch wenn ich nie mit Sicherheit sagen konnte, ob er sich wirklich gerade so fühlte, wie er sich präsentierte.
"Magst du noch mit zu mir kommen?", hakte er nach, wandte aber gleichzeitig den Blick von mir ab. Anscheinend war ihm jene Frage trotz unserer Freundschaft unangenehm.
"Meinst du, das geht in Ordnung?", konterte ich jedoch vorerst mit einer Gegenfrage, da ich nicht wusste, wie Sasuke darauf reagieren würde, der ja voraussichtlich noch immer bei Naruto wohnte.
Doch der Blonde winkte beruhigend ab.
"Keine Sorge. Sasuke ist sowieso nicht Zuhause. Der trainiert", erklärte er kurz und knapp und bedeutete mir danach mit einem Nicken, dass ich mich erheben sollte. Ebenfalls nickend kam ich seiner Bitte nach und schulterte direkt meine Tasche, um nun neben ihm herschreitend das Klassenzimmer zu verlassen.
Zwar hatte ich keinerlei Auskunft bekommen, warum er mich einlud, doch eigentlich konnte ich mir den Grund dafür auch schon denken: Vermutlich wollte er die Zeit einfach nicht alleine verbringen. Seine Einstellung konnte ich sogar nur zu gut nachvollziehen. Denn als ich vor ein paar Jahren meine aussichtslose Liebe zu Sasuke verarbeitet hatte, da war ich, sobald ich alleine war, immer wieder in Gedanken versunken; hatte mir Vorwürfe gemacht und mich selbst in den Abgrund namens Selbstmitleid gestoßen.
Das war wohl auch einer der Gründe dafür, weshalb mir für eine lange Zeit der Umgang mit Jungs recht schwer gefallen war.
"Wenn du magst, kann ich dir gleich was kochen. Oder ich mache dir einen Salat. Ganz wie du willst", bot Naruto zuvorkommend an und ich nahm sein Angebot lächelnd entgegen.
"Klingt gut. Aber vorher muss ich noch Zuhause Bescheid sagen, dass ich später komme", erklärte ich und zog kurzerhand mein Handy aus der Tasche heraus. Schnell tippte ich unsere Telefonnummer ein und schilderte meiner Mutter zügig die Situation, dass ich noch mit zu einem Freund gehen wollte. Wie immer wies sie mich darauf hin, dass ich vorsichtig sein und um Himmels willen bloß verhüten sollte. Ich stempelte ihr Verhalten jedes Mal wohlwollend als die Wahnvorstellungen einer liebenden Mutter ab, die dennoch ganz schön meine Nerven strapazierten.
"Alles klar, Mum. Ja, ich liebe dich auch. Bis heute Abend", säuselte ich noch ins Telefon, um sie ruhig zu stimmen und legte dann als Letztes auf. Kurz seufzte ich entnervt in Richtung Himmel und verstaute dabei wieder mein Handy in der Schultasche.
"Warum so gestresst? Sei doch froh, dass sich deine Mutter sorgt", hörte ich Narutos Stimme neben mir und meinte nur unüberlegt: "Wenn man das jeden Tag hört, dann nervt das irgendwann. Da hätte ich es lieber, würde sie sich überhaupt nicht mehr sorgen. Dann hätte ich zumindest mal meine Ruhe."
Kurz lachte mein blonder Freund auf, weshalb ich einen Moment zu ihm schielte, jedoch schnell wieder beschämt den Blick abwandte, als ich seine dennoch traurige Miene bemerkte. Das war eindeutig das falsche Thema.
"Ich nehme dann gleich einen Salat, wenn's recht ist", lenkte ich ab und Naruto versicherte mir, dass er mir einen besonders leckeren zubereiten würde. Das habe er in den vergangenen Woche oft genug machen müssen.
Nachdem wir unser Ziel erreicht hatten, begaben wir uns umweglos in die Küche und ich nahm dort auf einem der wenigen Stühle Platz, wobei ich Naruto bei seiner Arbeit beobachtete.
"Und ich soll dir wirklich nicht helfen?", fragte ich noch einmal nach, doch ich erkannte von hinten, wie er seinen Kopf schüttelte, während er bereits den Salatkopf unter den Wasserstrahl hielt.
"Nicht nötig. Du bist schließlich mein Gast", entgegnete er und begann den Salat nun in mundgerechte Stücke zu schneiden. Er wirkte dabei so besonnen und auf die Perfektion seiner Arbeit konzentriert, als würde er jene gar nicht für mich machen.
Alles, was er tat und sagte; seine ganzen Handlungen und sein Sein drehten sich immer nur um dasselbe.
Immer. So schien es mir jedenfalls.
Wann tat er überhaupt einmal etwas nur für sich selbst?
Mein Blick wanderte über den Küchentisch, musterte die Maserung und mir wurde selbst gar nicht wirklich bewusst, wie trüb mein Augenausdruck dabei wurde, bis Naruto mich schließlich mit seinem herzlichen Lachen und dieser unverwechselbar neckischen Art darauf hinwies.
Inzwischen schlug mir mein Herz bis zum Hals.
Mit einer knappen Handbewegung stellte er die Salatschüssel, sowie ein Glas Wasser und Besteck vor mir ab, ehe er selbst mit einem Glas Cola vor mir Platz nahm und daran nippte.
Er wirkte so abwesend. Dennoch vernachlässigte er mich eigentlich in keinster Weise. Naruto war wirklich ein einzigartiger Mensch. In allem. Es war nahezu bewundernswert.
Vermutlich würde ich das, was er durchstand, niemals ertragen. Damals hatte ich so oft um Sasuke getrauert, teilweise in meinem kranken Liebeswahn an Selbstmord gedacht. Natürlich niemals ernsthaft. Heute glaube ich, dass es immer nur ein verzweifelter Schrei nach seiner Aufmerksamkeit war. Ein Hilferuf, der zu aller Zeit nur in meinem Innersten stattfand.
Dabei hatte ich Sasuke niemals gekannt. Nur blind einem schönen Bild vor meinen Augen nachgejagt. Ich hatte niemals erfahren, wie es sich anfühlt, wenn Sasuke die eigenen Gefühle zumindest ein Stück weit erwidert. Deshalb fragte ich mich, was momentan in Naruto vorgehen musste. Vor allem da ich glaubte, dass Naruto eine andere Liebe für Sasuke empfand, als ich damals.
Bei meiner Liebe war es oftmals nur um mich gegangen. Ich hätte ihn gerne besessen. Um mit ihm zu prahlen oder einfach um einen schönen, begehrten Menschen um mich herum zu haben. Damit konnte Naruto nicht angeben. Niemand wusste von ihrer Beziehung und würde es die Klasse doch irgendwann erfahren, dann wäre es wohl auch kein Anlass zum Prahlen. Viel mehr würde es ein Spießrutenlauf werden.
Aber all das akzeptierte Naruto.
Diese Liebe schien so einfach und war gleichzeitig so unendlich kompliziert, dass es mir die Kehle zuschnürte. Mir wäre eine solche Liebe zu unhandlich. Vielleicht auch zu anstrengend.
Ob Sasuke wohl ähnlich dachte?
Kurz erinnerte ich mich an Narutos Erklärung. Sasuke hatte ihn mit einem anderen Mann betrogen. Zudem mit seinem Chef. Das hatte wohl weniger damit gemein, dass ihm die Art von Beziehung zu kompliziert war. Es war ganz einfach ein Betrug.
"Was ist eigentlich genau passiert?", hakte ich nun gedankenversunken, aber mit ehrlichem Interesse nach, womit ich zudem endlich diese eingekehrte Stille durchbrach.
Im ersten Moment blinzelte Naruto überrascht, doch schnell fing er sich wieder und grinste ein Grinsen, das eine Mischung aus Erheiterung und Hohn darstellte.
"Kann ich dir sagen", leitete er ein und nahm noch einen kräftigen Schluck von seiner Cola, woraufhin er sein Glas mit einem Knall auf dem Tisch abstellte. Als wolle er mich damit vorwarnen, dass das Kommende kein Zuckerschlecken war.
"Sasuke ist ein Mann, der mehr Wert auf seinen beruflichen Erfolg als auf alles andere legt. Ich denke, das liegt einfach daran, dass sein Vater ihn nicht wirklich leiden kann und er ihm trotzdem oder gerade deshalb beweisen möchte, dass er eben doch ein richtig Toller ist", grinste er hämisch und verschränkte die Arme abweisend vor der Brust.
Ihm fiel das Gespräch wohl doch schwerer, als er zugeben wollte.
"Er hat Probleme in seinem Elternhaus?", fragte ich nach und konnte mir das fast gar nicht vorstellen. Sasuke machte immer einen so makellosen Eindruck. Und jener übertrug sich selbstverständlich auch auf das Bild seiner Familie.
"Ziemliche sogar. Sein Bruder wird hochgelobt, während er immer getadelt wird, er solle sich ein Beispiel nehmen. Egal, wie sehr er sich bemüht. Das spielt keine Rolle. Damals..." Für einen Moment hielt Naruto bei diesem Wort inne und schnaubte einmal abfällig über seine eigene Formulierung.
"Von wegen damals. Das klingt ja, als ständen wir uns schon eine Ewigkeit nahe. Vor ein paar Wochen hat sein Vater uns mehr oder weniger in flagranti erwischt", erklärte er ganz offen und ich lief bei jenen Worten vor Scham etwas rot an. Klar, eigentlich wusste ich, dass sie intim miteinander wurden, aber es aus seinem Mund zu hören, war doch etwas anderes. Es war irgendwie so absolut.
Es war kein Spekulieren mehr, sondern ab dem Moment eine Tatsache.
"Deshalb ist Sasuke auch ausgezogen", fuhr er fort und ließ mich damit wieder aufsehen. "Er hat sein Elternhaus für mich verlassen. Glaubte ich zumindest immer. Ich dachte, das sei sowas wie ein Liebesbeweis. Tja, bin ich ganz schön auf die Schnauze gefallen", lachte er nun gedämpft und weckte in mir das Bedürfnis, ihn einfach nur zu umarmen.
Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass Naruto so etwas fehlte. Beim besten Willen konnte ich mir nicht vorstellen, dass er diese Art von Zuneigung häufig von Sasuke erhalten hatte. Diese Nähe, die nicht auf sexueller Basis beruhte.
"Trost spenden", dachte ich bei mir und stellte mir vor, dass Naruto sehr wahrscheinlich immer der Trostspendende in der Beziehung gewesen war.
Aus diesem Grund erhob ich mich von meinem Stuhl und überbrückte rasch die Distanz zwischen uns, um ganz unverbindlich meine Arme um diesen Körper zu legen, der diese Art von Fürsorge dringend nötig hatte.
"Sakura?", fragte Naruto nahezu tonlos, erwiderte meine Umarmung jedoch zügig. Nahezu sehnsüchtig. Nicht nach mir. Sondern nach dieser Geste.
Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass er seinen Gefühlen so freien Lauf lassen konnte, doch Naruto blieb völlig gefasst.
Er erzählte sogar lieber weiter, anstatt zu weinen.
"Sasuke hatte immer den Traum, bei dieser großen Agentur zu arbeiten. Und nach unserem minimalen Erfolg im Showbusiness wurden wir tatsächlich zu einem Vortanzen eingeladen und letztlich sogar angenommen. Aber zu einem anderen Preis, als ich dachte. Er hat sich für seinen Traum prostituiert. Anders kann man das nicht sagen. Das war wohl der Deal für unsere Aufnahme. Irgendwann gab es keinen Zweifel mehr. Er hat es sogar zugegeben. Er merkt gar nicht, wie schlimm das ist, was er tut. Nicht nur für mich, sondern auch für sich selbst. Sasuke verliert die Kontrolle über die Situation", redete Naruto vor sich hin und hielt einen Moment inne.
"Als ob er sie jemals gehabt hätte", meinte er mehr an sich selbst gerichtet und verstärlte minimal den Griff um meinen Oberkörper. Ich wollte noch etwas erwidern, doch mit einem Mal schreckte ich hoch, als im Hintergrund das Telefon klingelte.
Träge erhob auch Naruto sich schließlich von seinem Sitzplatz, nachdem er ein paar Sekunden offensichtlich damit gerungen hatte, ob er überhaupt abnehmen sollte. Doch ein gewisses Interesse schien er an dem Anruf zu haben, obwohl er keinen zu erwarten schien.
"Uzumaki?", rief er in den Hörer und lehnte sich dabei gegen die Küchentheke. Doch nach ein paar Sekunden, in denen er aufmerksam lauschte, wandelte sich mit einem Mal sein Gesichtsausdruck: Ihm entgleisten nahezu die Züge.
"Nein, tut mir leid. Ich tanze nicht mehr", erwiderte er trotzdem energisch und wollte anscheinend seinen Gesprächspartner wegdrücken, hielt dann aber doch noch einmal aus mir unbekannten Gründen inne und hörte abermals zu. Plötzlich weiteten sich seine Augen und ich glaubte, seinen Puls bis zu mir an den Küchentisch schlagen zu hören.
"Alles klar. Ja, in einer Stunde", murmelte Naruto nun bedeutend ruhiger und legte endgültig den Hörer beiseite.
Mit fragendem Blick musterte ich seine trübe Miene und räusperte mich sogar einmal, um seine Aufmerksamkeit zu ergattern. Tatsächlich huschten seine Augen wachsam in meine Richtung und entlockten mir sogleich folgende Worte: "Wer war das?"
Eine Frage, die mir gar nicht wirklich zustand, aber das schien Naruto nicht zu kümmern. Denn er erwiderte monoton: "Jiraiya. Ich soll zu so einem komischen Vortanzen erscheinen."
Kurz zuckte er gleichgültig mit seinen Schultern, dann nahm er wieder seine Ausgangsposition ein, indem er sich vor mir niederließ.
"Warum hast du erst abgelehnt und dann doch zugestimmt?", hakte ich interssiert nach und betrachtete sein grübelndes Gesicht dabei eindringlich. Ganz aus seinen Gedanken gerissen, starrte er mich schließlich an, ließ aber nur Sekunden später sein allzeit präsentes Lächeln folgen.
"Es geht um ein neues Projekt. Eigentlich habe ich keine Lust, aber er meinte, dass ansonsten wohl ohnehin Sasuke den Auftrag bekäme. Er meinte wohl, das würde mich zufrieden stimmen, aber ganz im Gegenteil: Das will ich nicht."
Blinzelnd schweiften meine Augen über sein Gesicht, während ich bemüht war, seine Argumentation zu begreifen. "Warum nicht?", hinterfragte ich, da mir der Grund einfach schleierhaft erschien.
"Darum nicht", grinste er zurück und fügte dann hinzu: "Wir sollten uns auf den Weg machen. Sofern du mit willst. Ich muss mich noch kurz umziehen."
Nur einen Augenblick später knarrte bereits der Stuhl und seine Füße schlurften trotz dieser offensichtlich hervorragenden Chance lustlos über den Boden.
Dabei war das Tanzen immer sein Traum gewesen. Nun war er soweit gekommen und dennoch benahm er sich wie ein Mann, der einen Job ausführen musste, der ihm überhaupt nicht schmeckte. Wie jemand, der täglich dem gleichen Trott folgte und schon morgens den Feierabend herbeisehnte.
Es war kurios.
Nachdenklich blieb ich auf dem Stuhl sitzen und grübelte über das, was ich an diesem Tag erlebt hatte, bis mich letztlich Narutos laute Schritte wieder unsanft aus meinen Überlegungen rissen.
Gekleidet in eine schwarze Trainingshose, schwarze Schuhe und ein schwarzes Shirt auf dem in Neonschrift "Virgin" geschrieben stand, lehnte er im Türrahmen und grinste mir entgegen.
Warum grinste er bloß immer dieses Grinsen?
Langsam erhob ich mich also, damit wir starten konnten und als ich neben ihm ging, konnte ich die folgende Frage nicht länger unterdrücken: "Geht's dir gut?"
Bis zu seiner Antwort vergingen für mich Stunden, in denen mir der Wind bereits rücksichtslos ins Gesicht peitschte und meine Frisur vollends zunichte machte. Für diese sonnigen Sommertage war es wirklich ungewöhnlich stürmisch.
"Fabelhaft", erwiderte er jedoch, nachdem gerade einmal ein paar Sekunden vergangen waren. "Du siehst aber aus, als würdest du auf eine Beerdigung gehen", warf ich ihm dennoch vor und schielte einmal in seine Richtung, in der ich nur diese schwarze Farbe ausmachte, die gar nicht zu Naruto passte.
Es war sein helles, glockenklangartiges Lachen, das mich meine Vorwürfe und Bedenken vergessen ließ. Jedes Mal stand es im direkten Kontrast zu seinem sonstigen Auftreten. Sei es seine momentane Kleidung oder seine allgemeine Haltung.
"Wo müssen wir überhaupt hin?", stellte ich die nächste Frage, als wir in den Bus einstiegen und kam mir mit meiner ganzen Fragerei allmählich etwas lästig vor. Normalerweise musste man in Narutos Gegenwart nicht viele Fragen stellen, da er ohnehin alles direkt ausplauderte. Aber diese - seine gewohnte Art schien der Vergangenheit anzugehören.
Meine Gedanken waren haarsträuberisch. Eigentlich war er noch immer der wundervolle Naruto Uzumaki. Ein Mann, der mir zunehmend besser gefiel. Ein Mann, der zunehmend reifer wurde.
Mochte das etwa seine Wandlung sein?
"Zur SNAKE-Corporation", prustete Naruto nun haltlos heraus und ein weiterer Blick in seine Richtung verriet mir, dass er völlig abwesend war.
"Da findet das Vortanzen statt. Witzig, oder?", grinste er mir nun entgegen und forderte mich mit seinen blauen Augen zur uneingeschränkten Zustimmung auf.
"Ja, witzig", murmelte ich halbherzig und umfasste die Halterung etwas inniger. Naruto musste so unendlich schnell erwachsen werden. Sasuke nahm ihm dieses Kindliche, das dem Blonden über Jahre verblieben war. Zumindest im Moment.
Ich wusste nicht, wie Naruto mit der Zeit damit umgehen würde. Mit diesem Verlust, der ihn zur Zeit so sehr veränderte.
Nachdem wir nun auch einen kurzweiligen Fußmarsch hinter uns gebracht hatten, befanden wir uns vor diesem riesigen Glasgebäude, das Naruto mit einem abfälligen Schnauben begrüßte. Ich staunte wirklich nicht schlecht über die Größe dieser Agentur. Aber auch die schicke Inneneinrichtung ließ meine Kinnlade innerlich herunterklappen. Es sah alles so perfekt aus.
Der piekfeine Boden, die große Lounge und die wunderschöne Empfangsdame ließen mich schlucken. Kein Wunder, dass Sasuke hier arbeiten wollte.
"Guten Tag", begrüßte uns die Frau mit den schwarzen, schulterlangen Haaren und verzog ihre rot geschminkten Lippen zu einem ansprechenden Lächeln.
"Moin", erwiderte Naruto ganz gelassen und erkundigte sich anschließend, wo das Vortanzen stattfand. Für ein oder zwei Minuten blätterte die Dame in ihren Unterlagen, da der Raum wohl kürzlich verlegt worden war und während dieser Zeit schweifte Narutos Blick langsam aber sicher zur Seite ab.
Stillschweigend beobachteten ihn meine Augen dabei, wie sein Blick plötzlich trüber wurde und seine Lippen sich zu einem stummen Schrei verzogen. Es war ein Anflug von Sehnsucht, der nur dieser einen Person galt, die gerade durch den Gang schritt. Den Rücken hielt er zu uns gewandt, aber Sasukes Frisur war unverkennlich. Dieses Mal vollführte er seine Schritte allerdings nicht so anmutig wie gewöhnlich. Er wirkte viel mehr leicht beeinträchtigt. So wie auch schon heute Morgen. Für ein paar Sekunden beobachteten wir beide ihn, bis er schließlich in einer Tür verschwand und zudem die Empfangsdame wieder ihre Stimme erhob: "Einfach den Gang entlang und dann die Dritte rechts."
Sofort umspielte wieder dieses wunderschöne Lächeln Narutos Mundwinkel und er bedankte sich noch einmal bei ihr, ehe er sich in Bewegung setzte, um zum besagten Raum zu gelangen.
"Warum verstellst du dich so sehr?", wollte ich fragen, aber mir blieben die Worte im Hals stecken. Es war erdrückend zu sehen, wie Naruto bemüht war, sich selbst zu belügen.
Wie er versuchte, seine eigenen Gefühle zu unterdrücken, sie zu überspielen und zu verleugnen. Und das Schlimmste war wohl, dass er das einzig Richtige tat. An allem anderen würde er zerbrechen.
Weil er für derartige Probleme nicht geschaffen war. Für meine Begriffe besaß Naruto zwar einen starken und belastbaren Charakter, aber alles hat nunmal seine Grenzen.
Und seine begannen, sobald sich die Probleme um Sasuke drehten. Früher hatte Naruto immer nur herumposaunt, dass er irgendwann berühmt sein und uns alle seine Füße lecken lassen würde. Das hatte er oftmals mit genau diesem Wortlaut betont.
Heute glaube ich, dass ihn das alles nicht mehr besonders kümmerte. Er hatte etwas gefunden, das ihm wichtiger war, als es der Erfolg jemals sein konnte. Doch ich war mir nahezu sicher, dass ihm diese Tatsache selbst gar nicht so stark auffiel.
Nun betraten wir schließlich den Raum, der leicht abgedunkelt war und in dem sich mit Ausnahme von einer kleinen Bühne und ein paar Sitzplätzen nicht viel befand. Auf einem der Stühle saß ein Mann, der erst als wir nur noch wenige Meter von ihm entfernt waren, teilnahmslos zu uns aufblickte.
"Du bist der, den Jiraiya schickt, ja?", fragte er ohne jegliche Begrüßung nach und Naruto nickte daraufhin. "Fein, dann hör' dir das Lied an und stell' mir anschließend deine Interpretation vor", wies er an und obwohl er unfreundlich wirkte, konnte ich mir gut denken, dass seine momentane Stimmung nicht viel über seinen Charakter aussagte. Vermutlich hatte er in den letzten Tagen oder sogar Wochen viel sehen müssen und war es einfach satt, nicht das Richtige zu finden.
"Klar", meinte mein blonder Freund und ließ mich nun einfach stehen, um sich auf die Bühne zu bewegen. Gespannt nahm ich während das Lied anspielte auf einem der Stühle Platz und musterte Naruto aufmerksam. Mit geschlossenen Augen stand er dort und konzentrierte sich auf Rhythmus und Text des Liedes. Es handelte sich dabei um ein Partylied. Zudem noch eines von der Sorte, die mir gefiel. Und obendrein war es auch noch ein verdammt bekannter Interpret. Es war kaum zu glauben, dass Naruto möglicherweise für das Musikvideo performen würde, wie er mir auf dem Hinweg noch in zwei Sätzen erklärt hatte.
Dann, nach einer dreißigsekündigen Pause, wurde das Lied zum zweiten Mal angespielt und Naruto begann sich ganz ungezwungen auf der Bühne zu bewegen. Dabei sah er stets diesen Bewerter oder auch mich an. Mit diesen schönen blauen Augen, die das Scheinwerferlicht leicht reflektierten.
Seine Darbietung war an Faszination nicht zu überbieten. Dieses perfekt inszenierte Lächeln dabei. Wenn Naruto tanzte; wenn er tanzte, wie er in diesem Moment tanzte, dann war man dazu geneigt, sich abrupt und unsterblich in ihn zu verlieben.
Denn er tanzte wirklich in Perfektion. Teilweise erotisch, aber auch immer wieder mit einer gewissen Portion Humor, die wohl jedem zumindest ein leichtes Schmunzeln auf die Lippen zauberte. Außerdem tanzte er mit einer unvergleichlichen Leidenschaft, die von seinen Bewegungen ausging. Alles in allem war es ein regelrechtes Geschenk ihm zusehen zu dürfen.
Am besten, er würde jedes Mal alleine auf der Bühne stehen. Aber ihm konnte ohnehin niemand die Show stehlen. Denn heute bewegte er sich noch anders, als vor kurzem bei diesem Wettbewerb. Denn heute fand der eigentliche Wettbewerb statt.
Nachdem das Lied ausgeklungen war, vernahm ich neben mir ein leises, aber doch stetiges Händeklatschen, in das ich natürlich umgehend, aber um einiges euphorischer einstimmte. Ein breites Grinsen zierte nun meine Lippen, als Naruto leicht verschwitzt von der Bühne stieg.
Wenn ich ihn jetzt so betrachtete, dann war er in meinen Augen schöner, als es Sasuke jemals sein konnte. Früher war ich von Sasukes Unnahbarkeit fasziniert gewesen. Heute wusste ich, dass Naruto vermutlich noch um einiges unnahbarer war. Aber auf eine ganz andere Art und Weise. Niemals würde man von dem Blonden verstoßen werden, aber genauso wenig würde man jemals mehr als Freundschaft von ihm bekommen. Niemand, mit Ausnahme dieser einen Person, die in seinem Herzen war.
Sasuke war beneidenswert. Dass ausgerechnet er die Gunst dieses Mannes erlangt hatte. Dieses Mannes, den er mit Füßen trat.
Mein Klatschen ebbte langsam ab.
Warum war er genauso blind wie der Rest?
Eilig erhob ich mich nun von meinem Sitzplatz und umarmte Naruto zum zweiten Mal an diesem Tag. "Das hast du toll gemacht", lobte ich ihn und klammerte mich ganz fest an diesen Menschen, der so viel mehr verdient hatte, als das, was er all die Jahre bekommen hatte.
"Wirklich toll, Naruto", wiederholte ich, obwohl ich genau wusste, dass meine Anerkennung nicht zählte. Er wollte nur das Lob dieses einen Menschen. Nur Sasukes Lob.
Ich begann ihn dafür zu hassen, dass er Naruto nichts gab. Nichts, außer Vorwürfe und Probleme.
"Herr Uzumaki, ich bin begeistert", sprach dieser Mann nun meinen Freund beim Namen an und stand auf einmal derart breit grinsend neben ihm, als habe er soeben den Jackpot gewonnen.
"Wirklich, Ihre Art zu tanzen hat mich überzeugt. Nein, umgehauen möchte ich sagen!", lachte er zufrieden, wobei ich meine Umklammerung langsam löste und dennoch spürte, wie Naruto weiterhin einen Arm um meine Schultern legte. Seine Berührungen hinterließen ein angenehmes Gefühl. Obwohl es keinen Zweifel gab, dass es nichts zu bedeuten hatte. Rein gar nichts.
"Ich will Sie unbedingt für das Video. Sie sind perfekt. Dieses Natürliche und Unbeschwerte, das Sie beim Tanzen vermitteln, ist unnachahmlich. Sie sind einzigartig, nicht wie diese ganze Massenware. Jeden Tag sehe ich das Gleiche. Nirgends finde ich etwas Außergewöhnliches, aber Sie, Sie haben dieses gewisse Etwas, mein Freund!", plapperte er voller Erleichterung weiter, doch Naruto unterbrach ihn zügig und sorgte dafür, dass er urplötzlich verstummte: "Hunderttausend."
Es war nicht annährend eine Frage, sondern eine eindeutige Forderung. Überrascht blinzelnd sah ich zu ihm auf und blickte in dieses ernste Gesicht, das keineswegs zu scherzen pflegte.
"Ich will hunderttausend Euro für meine Arbeit", wiederholte er ruhig und verfolgte die Reaktion des anderen Mannes. Dieser schien das Gesagte zunächst verarbeiten zu müssen. Ein derart hoher Betrag schien nicht geplant zu sein, doch Naruto wirkte auch nicht, als würde er mit sich verhandeln lassen.
"Natürlich. Das war eh vorgesehen", erwiderte der Mann deshalb lächelnd, obwohl ihm der Schweiß von der Stirn perlte und bat uns, noch einmal zu ihm zu kommen.
"Also ich werde den Vertrag morgen aufsetzen und würde Sie deshalb bitten zur Unterzeichnung noch einmal zu mir zu kommen, damit wir das schnell abhandeln und mit den Aufnahmen beginnen können. Am besten Sie sind morgen zur selben Zeit wieder hier", schlug er vor und Naruto nickte zustimmend. Wieder folgte ein vages, zuversichtliches Lächeln des Geschäftmannes, der nun einmal Narutos und meine Hand schüttelte, um sich anschließend zügig von uns zu verabschieden. Anscheinend musste er noch telefonieren.
Für einen Moment blieben wir also alleine in diesem Raum zurück und mir schlug das Herz abermals bis zum Hals.
"Das lass uns feiern gehen", meinte Naruto nun, durchbrach damit die eingetroffene Stille und zauberte ein Grinsen auf meine Lippen, ehe ich heftig mit dem Kopf nickte.
"Ich ruf' direkt Hinata an!", stimmte ich zu und er nahm mich noch einmal hoch, um mich freudig durch die Luft zu wirbeln.
Stunden später befanden wir uns bereits mitten in Partystimmung und dachten überhaupt nicht mehr an den kommenden Schultag. Es war uns schlichtweg egal. Momentan gab es andere, wichtigere Dinge.
"Unglaublich, dass er tatsächlich darauf eingegangen ist", schmunzelte die angetrunkene Hinata nun schon zum dritten Mal in Folge und Naruto strich ihr daraufhin lachend durch das schwarze Haar.
"Als obsch misch mit so paa Kröten zufridden gebn würd", lallte nun der Blonde, den ich heute zum ersten Mal wirklich betrunken erlebte. Aber er hatte es sich auch verdient nach all den Strapazen.
"Isch binn dea König dea Weldd!", lachte er weiter und hob einmal wie zum Anstoßen sein Bier in die Höhe, was uns beiden ein Kichern entlockte. Irgendwie hatte Naruto etwas Süßes an sich, wenn er betrunken war. Auch er sah nun in unsere Richtung und stimmte in unser Gelächter ein.
"Mädelz, isch geh kurtsch vor de Tür, also laufta mir nescht weg!", zwinkerte er uns zu und erhob sich torkelnd von seinem Barhocker. Wir beide beobachteten ihn und mussten erneut lachen, als er einen anderen Gast plötzlich ungewollt anrempelte und diesen zu beruhigen versuchte.
Kopfschüttelnd wandte ich mich nun wieder zu Hinata, die ganz verträumt auf ihren Cocktail starrte. "Er hat mich heute öfters berührt als sonst, findest du nicht auch?", murmelte sie mit einem vagen Lächeln und fuhr mit dem Zeigefinger schüchtern an ihrem Glas auf und ab.
Sofort dachte ich über meine Wortwahl nach, dachte gleichzeitig aber auch an meine eigenen Erlebnisse und daran, dass das alles nichts zu bedeuten hatte. Naruto würde uns vermutlich nie so betrachten, wie er Sasuke sah. Momentan zumindest nicht.
"Er könnte heute Nacht bei mir bleiben", träumte Hinata vor sich hin und nippte anschließend an ihrem Getränk. Besser sie schlug sich diese Flausen zügig wieder aus ihrem hübschen Kopf heraus.
"Wir haben morgen Schule. Also sollten wir besser demnächst schlafen gehen", appellierte ich nun doch an die Vernunft und nahm ebenfalls einen Schluck von meinem Caipirinha.
"Hast ja recht. Hast ja recht", schmunzelte Hinata vor sich hin, als sei ich ihre besorgte Mutter und ich wunderte mich immer wieder darüber, wie sehr sie für ihre Begriffe aus sich herauskam, wenn sie etwas getrunken hatte. Auch wenn das, woran sie dann dachte, nicht immer positiv war.
Kurz schwieg ich nun, doch nach ein paar weiteren Minuten verzog ich leicht genervt den Mund und grummelte nur: "Ist der Kerl ins Klo gefallen oder wie, ey?"
Sofort grinste Hinata und meinte: "Vielleicht prügelt er sich auch mit dem Nächsten, den er angerempelt hat?"
Schnaufend, da ich mir diesen Umstand nur zu gut vorstellen konnte, erhob ich mich kurzerhand von meinem Hocker und winkte ab, als Hinata mich überrascht musterte.
"Ich guck', was der Idiot treibt. Warte hier einen Moment", murmelte ich und ließ Hinata zurück, indem ich mich mit zügigen Schritten von der Lärmquelle entfernte. Bei den Herrentoiletten angekommen, hielt ich schließlich inne und stemmte beide Hände in die Hüfte.
Ich beschloss noch, für die nächsten dreißig Sekunden ausschließlich durch den Mund zu atmen, dann öffnete ich die Tür und hielt nach dem Blonden Ausschau. Nirgends war er zu sehen und die Toiletten nicht verschlossen. Nur ein Mann mittleren Alters, der sich gerade tatsächlich die Hände wusch, musterte mich verdutzt und kassierte dafür meinen ausgestreckten Mittelfinger, ehe ich die Tür wieder hinter mir zuschlug und einmal tief einatmete.
"Wo steckst du bloß?", murmelte ich leise für mich und begann mir allmählich Sorgen zu machen. Wer wusste schon, wo Naruto in seinem Zustand alles hingetorkelt war und auf was für Ideen er womöglich kam.
Seufzend schritt ich den Gang weiter entlang, bis ich an einer Tür ankam, die nach draußen führte. Kurzerhand öffnete ich auch diese und trat in die kalte Abendluft hinaus. Wie ich feststellte war der Himmel klar und präsentierte mir stolz den heutigen Vollmond, während ich meinen Oberkörper leicht umklammern musste. Gerade als ich mich wieder in das warme Gebäude zurückbegeben wollte, verharrte ich in meiner Bewegung und spitzte die Ohren, als ich neben mir ein paar leise Geräusche vernahm. Es hatte etwas von einem Pfeifen und ging in den Lauten des Windes, der durch meine Ohren blies, nahezu unter.
"Naruto?", rief ich einmal und wagte mich dann, ein paar Schritte weiterzugehen. Um ehrlich zu sein, fühlte ich mich bei dem, was ich tat, nicht sonderlich wohl in meiner Haut. Schließlich wusste ich nicht, wer oder was dort in der Dunkelheit auf mich wartete.
Doch zu meinem Glück war die Hauswand beleuchtet und so erblickte ich relativ schnell die blonde Quelle der beängstigenden Geräusche, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Mit angezogenen Knien ruhte er an der Wand, bettete seinen Kopf darauf und schlang die Arme um seine Unterschenkel, während seiner Kehle diese bebenden Laute entglitten. Dieser Anblick, den ich zuvor noch nie bei ihm gesehen hatte, entriss mir alle Gefühle.
Lediglich meinen Herzschlag hörte ich laut pulsieren und die stärkere Kälte auf meiner feuchten Haut wüten. Schnell blinzelte ich die Tränen davon, wischte einmal mit dem Handrücken darüber hinweg und sprach zu mir selbst, dass ich jetzt für ihn stark sein musste. Dennoch war Narutos Weinen nicht minder ansteckend, als sein sonstiges Lachen.
Unermüdlich strich der Wind durch sein Haar und verschluckte immer wieder diese Töne, die aus seiner heiseren Kehle stammten. Seine Stimme schwankte unruhig hin und her, wurde mal laut, mal leise. Solange, bis ich mich durchgerungen hatte, an ihn heranzutreten und sein Gesicht in meine Hände zu nehmen.
Als ich darauffolgend in diese verweinten Augen blickte, zitterten zum ersten Mal meine Mundwinkel und raubten mir schlichtweg den Atem.
Normalerweise war ich nicht derart anfällig für die Gefühle anderer Menschen, aber der Hintergrund für Narutos riss selbst bei mir Wunden auf. Und wieder wurde mir bewusst, dass er lediglich seine wahren Gefühle überspielte. Der Alkohol brachte die Wahrheit jetzt ans Licht. So hatte er zumindest eine gute Funktion.
"Ist schon gut", versuchte ich zu beruhigen und streichelte dabei vorsichtig seine kalte Wange.
Wieder folgte zur Antwort dieses Lächeln. Dieses Mal jedoch ebenfalls zitternd. Er war nicht im Stande, es aufrecht zu erhalten. Seine ansonsten so makellose Maskerade zerbröckelte in diesem Moment direkt vor meinen Augen.
Ganz fest zog ich ihn deshalb schützend in meine Arme und spürte, dass er sich zum ersten Mal mit aller Kraft an mich drückte. Er schnürte mir beinah die Luft ab. Es tat weh. Aber vermutlich nicht annährend so sehr, wie es Naruto schmerzte.
Wenn du das hier sehen könntest, Sasuke.
Was würdest du sagen? Wäre es dir egal? Würdest du womöglich sogar gehen?
Ich weiß es nicht.
Aber ich will, dass du es weißt. Ich will, dass du weißt, was du zerstörst.
Und deshalb werde ich es dir bei Gelegenheit erzählen.