Die folgenschwerste Entscheidung eines jungen Lebens
"Wer sichere Schritte tun will, muss sie langsam tun."
Johann Wolfgang von Goethe
In diesen wenigen Momenten, die mir zur Entscheidung blieben, als er mich mit seinen Händen zu sich zog, flog mein ganzes, bisheriges Leben noch einmal an mir vorbei. Die vielen Höhen und Tiefen.
Ich sah das, was mir wichtig war.
Und hörte die Worte, die mir meine Wahl erleichtern sollten.
"Ich will tanzen - breakdancen. Und damit will ich berühmt werden, richtig viel Geld verdienen und in allen Zeitschriften zu finden sein. Jeder soll meinen Namen kennen!"
Das hatte ich immer gewollt. Für dieses Ziel hatte ich gelebt, meinen Körper bis zum Exzess geschunden und diesen Wunsch niemals aus den Augen verloren. Bis heute hatte sich daran nichts geändert. Und jetzt bot sich mir die einmalige Chance all das auf einen Schlag zu erreichen.
"Wenn du wirklich erfolgreich werden willst, dann musst du alles aufgeben. Auch dich selbst, Sasuke."
Das hatte Itachi daraufhin zu mir gesagt. Damit wollte er mich auf den Boden der Tatsachen zurückholen. Er wollte mich vor dem Showbusiness warnen. Zu dem Zeitpunkt tat ich seine Worte jedoch als sinnlose Predigt ab. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es einmal soweit kommen würde. Dass ich mich selbst aufgeben müsse, hielt ich für lächerlich. Weil ich mir die Bedeutung - ja die Tragweite dieser Worte nicht ausmalen konnte. Und jetzt saß ich hier. Hier vor diesem Mann, der mir meinen einzigen Traum erfüllen konnte.
Mit meiner Einwilligung würde ich mich tatsächlich aufgeben. Den alten Sasuke. Den, der nichts auf die Beine stellen konnte. Dann wäre der neue Sasuke da. Der Sasuke, zu dem die anderen aufsehen und den sie bewundern würden.
Der Sasuke, der sich alles leisten konnte. Der Sasuke, der seinem Vater, der nie viel von ihm gehalten hatte, zeigen würde, wozu er fähig war.
Dass er ein wertvolles Kind war, auf das man stolz sein konnte.
Dann wäre ich endlich der Sasuke, der ich mein ganzes Leben lang sein wollte.
Doch plötzlich erfasste mich neben allen Zusprüchen, dieses Opfer zu bringen und mich diesem Mann hinzugeben, auch ein anderer Gedankengang:
"Für mich dienten sie lediglich als Statussymbol. Repräsentierten unseren Wohlstand. Ich hasste diesen Prunk. Ich bevorzugte das Schlichte und Unauffällige."
Mit diesen Worten beschrieb ich noch vor wenigen Wochen mein Elternhaus, das voll teurer Gemälde und Ikonen war. Seit dieser Zeit hatte ich mich verändert. Gravierend verändert. Heute wollte ich nicht mehr unscheinbar sein. Das war nicht länger meine Vorstellung von Schönheit. Damals wäre ich manchmal am liebsten im Erdboden versunken und nicht mehr aufgetaucht. Zu der Zeit wollte ich mich vor mir und der Welt verstecken.
Doch die Welt drehte sich weiter.
Denn jetzt wollte ich Anerkennung.
Ruhm.
Und letztendlich auch Geld. Viel Geld, das ich hier bekommen könnte.
"Ein wahrer Tänzer überzeugt mit seiner Kunst, nicht mit seinem Körper!"
Dieser Satz rüttelte mich hingegen ein wenig wach. Denn mit diesem Satz war ich Naruto mehrmals gegenüber getreten. Weil ich wollte, dass unser Talent an erster Stelle stand. Nicht unser Aussehen. Doch was wurde jetzt aus meinem Talent?
Es tat nicht zur Sache. Nicht einmal annährend.
Vielleicht hatte es nie zur Sache getan. Auch schon bei diesem Wettbewerb nicht, den Naruto und ich gemeinsam bestritten hatten.
Was war schon Talent? Etwas, das neben mir noch etliche andere besaßen. Das sah ich nun endlich ein. Durch die Worte dieses Geschäftsmannes, der von mir das forderte, was man niemals von einem anderen Menschen fordern sollte. Aber mir gleichzeitig auch im Austausch das geben konnte, das nur in seiner Macht stand.
All die Zeit hatte ich mir etwas vorgemacht. In dieser Branche war ich nunmal nichts Besonderes. Nicht so besonders, wie ich es gerne sein wollte. Ich war bloß ein Mann und Tänzer wie tausend andere auch. Nichts Außergewöhnliches. Das war die Realität - eine bittere Pille.
Und doch bot sich mir die einmalige Chance, aus meinem Leben doch noch etwas Besonderes zu machen. Nur diese eine. Keine zweite.
"Du musst über deinen eigenen Schatten springen, unzählige Opfer bringen und manchmal sogar über Leichen gehen. Dich darf niemand interessieren, außer du selbst."
Auch das waren Itachis Worte gewesen. Und mein Blick wurde trüb, als ich Narutos Gesicht vor meinem geistigen Auge auftauchen sah. Für mich würde er alles tun. Deshalb durfte ich ihn auch nicht schon wieder enttäuschen. Zumindest glaubte ich, dass es ihn enttäuschen würde, sollte ich abermals unsere Chance vergeuden.
Aber vor allem wollte ich mich nicht schon wieder selbst enttäuschen. Ich wollte in den Spiegel sehen und sagen können: Das bin ich. Und ich habe das erreicht, wovon der Rest nur träumen kann.
"Überstürz' nichts, Sasuke. Du kannst nicht von heute auf morgen berühmt werden. Das sind Ausnahmen. Und auch die haben ihren Preis. Denk' immer daran, dass dir auf dieser gottverdammten Welt nichts geschenkt wird."
Wie recht du doch hast, Itachi. Aber was würdest du sagen, wenn ich plötzlich zu deinen genannten Ausnahmen zählen würde?
Wärst du dann neidisch? Wärst du endlich einmal eifersüchtig auf deinen kleinen Bruder, dem du sonst nur Predigten über gutes Benehmen und die Risiken des Showgeschäfts halten konntest? Das wärst du mit Sicherheit. Und deshalb wolltest du mich auch von diesem Weg abbringen.
Weil du genau weißt, dass du dann zum ersten Mal im Schatten stehen würdest. Und zwar in meinem Schatten.
Das ist dein Problem. Nicht deine beschissene Sorge um mich.
"Und wenn ich dafür über Leichen gehen musste. Wenn sich mir nur ein einziges Mal die Gelegenheit bieten würde, schlagartig berühmt zu werden, ich würde sie nutzen. Koste es, was es wolle. Das würde jeder tun."
Das war meine damalige Antwort auf alles gewesen, worauf Itachi mich hinweisen wollte. Und an dieser Einstellung hatte sich bis heute nichts geändert.
Der Körper war nunmal das Kapital eines Tänzers. Und das anscheinend in vielerlei Hinsicht.
Und ich wollte schließlich nicht wieder zurück.
Nicht wieder zurück in diese beschissene Unbedeutsamkeit.
Ich wollte endlich eine Zukunft.
Und zwar eine lebenswerte. Eine Zukunft, auf die man stolz sein kann.
Eine Zukunft, auf die andere stolz sein können.
Und deshalb fand ich mich zehn Minuten später im angrenzenden Badezimmer von Orochimarus Büro wieder und spülte mir bereits zum dritten Mal den Mund aus.