Wahn & Sinn von Salamitaktik (Scheiße hält die Zähne sauber.) ================================================================================ Prolog: taking stock -------------------- Wahn & Sinn »and i'm singing: everything in you is poison, everything in you is broken.« Prolog. taking stock Als ich das Autoradio anstelle, läuft ein Lied von Casablanca, der Fahrtwind zerwühlt mein ordentlich gekämmtes Haar. The fundamental things apply as time goes by, ich bekomme keine Luft mehr und denke an die Zeilen, die in Hast auf ein Notizzettel geschmiert worden sind und ohne Absender auf meinem Küchentisch gelegen haben. Die Worte sind dünn gewesen, und tief in das Papier gedrückt. Meine Hand umschließt derart fest das graue Lenkrad, dass die Knöchel sich weiß darunter hervorarbeiten. Widerwillig fällt mein Blick auf die violette Schwellung an meinem Handgelenk – trotz der Tatsache, dass schon ein halbes Jahr vergangen ist, schmerzt und pocht dieses unschöne, madenartige Ding nach wie vor. Wie ein Schatten, wie Pech, das nicht vergisst. Ich lecke mir über die trockenen Lippen – meine Augen brennen. Mich friert und ich bin verloren. Das Lied hat sich ausgespielt und wird nun von der euphorischen Stimme des Moderators ersetzt, der über die nächste Party berichtet, die dieses Wochenende steigen wird und mit einigen hochkarätigen Disk-Jockeys auffahren wird. Ich möchte gerne dahin gehen. Aber die Adresse ist mir zu weit. Sie ist in meiner Heimat. Danach kommen die Nachrichten dran, ich erhöhe die Geschwindigkeit. „Topmeldung des Tages: … Leichnam geborgen, nach fünf Monaten … Motiv … unbekannt. Polizei … Eifersucht. Tatverdächtiger unauffindbar.“ Ich lächle dünn und fahre dann an den Straßenrand – der Nachrichtensprecher berichtet indes von einem Erdbeben in New Orleans, das eine ziemliche Katastrophe nach sie zog … ich schalte das Gerät ab. Nachlässig schnappe ich eine Trinkflasche vom Beifahrersitz und steige aus, gehe nach hinten, zum Kofferraum. Er öffnet sich knarzend. Er sieht müde aus. Wahnsinnig dünn und ungewohnt blass. Ich lege eine Hand auf seinen Schopf, der ehemals weich gewesen ist, nun aber wie eine verschwitzte, filzige Matte wirkt und platt an den Schädel gepresst ist. Er sieht mich trübe an, seine Augen, damals ausdrucksstark und niemals defensiv, sind blind wie eine ungeputzte Fensterscheibe. Fürsorglich lächelnd wandern meine Finger zu seiner Wange, ich beuge mich nach vorn, meine Lippen berühren sein Ohr: „Wenn du schreist, schneide ich dir den Schwanz ab.“ Er nickt ergeben, ist der geprügelte Hund, der seine Wunden leckt. Schnell reiße ich das Panzertape von seinen Lippen, er kann sich ein Keuchen nicht verkneifen. Ich schlage ihn mit der flachen Hand – er hat gesagt, meine Hände seien schön, fällt mir gerade ein. Ich sehe ihn herausfordernd an. Als ich keine Reaktion bekomme, zucke ich mit den Schultern, schraube den Flaschendeckel ab und halte die Öffnung an seine Lippen. Gierig schluckt er alles, einige Wassertropfen bahnen sich einen Weg zu seinem zuckenden Kehlkopf. „Dir macht es doch nichts aus, dass ich die Flasche mit dem Wasser einer Raststättentoilette abgefüllt habe, oder?“ Ich versuche, sanft zu lächeln, aber es fühlt sich eher an, als reißt mir jemand die Mundwinkel auseinander. Er zuckt kurz zusammen, trinkt dann aber weiter. „Du bist ein Tier“, sage ich ihm, dann ziehe ich die Flasche weg – für einen Moment sieht er aus, als wolle er sie wieder an sich reißen. Aber er weiß, dass dies ein fataler Fehler wäre. Rasch fingere ich eine Klebebandrolle aus meiner Hosentasche, ziehe ein Stück ab und verdecke wieder seinen Mund. Ich verstaue das Klebeband wieder und ziehe nun ein langes Jagdmesser aus meinem Hosenbund, für mich ungewohnt zärtlich streiche ich damit über eine hervorstehende Sehne an seinem Hals. Es gibt ein wunderbar schleifendes Geräusch und ich kann die Gänsehaut sehen, die sich über seinen nackten Körper ausbreitet. „Hm hm“, macht er und windet sich. „Magst du das?“ Ich spreche zu ihm, als sei er ein kleiner Junge. Ich muss an das Kinderlied Brüderchen, komm tanz' mit mir denken, obwohl wir gar nicht verwandt sind. Beinahe hätte ich sein Nicken verpasst – es erregt mich. Ich stöhne und merke, dass ich hart werde. Mein Blick fällt auf sein Gesicht und es scheint, als sei es gar nicht. „Was denkst du gerade?“, frage ich, „Liebst du mich noch?“ Ich stecke das Messer zurück, beuge mich ein weiteres Mal vor, küsse seine Schläfe und flüstere: „Träum' süß von mir. Lieb' mich für immer.“ Ich schlage die Klappe zu und entscheide, Richtung Osten zu fahren. Irgendwohin, wo die Sonne scheint. Kapitel 1: must be genius creating the rain ------------------------------------------- Wahn & Sinn »here we are! this is the rap of life where truth is god or might be not .« Kapitel 1 must be genius creating the rain „Eigentlich ist es wie durch den Regen zu gehen, verstehst du? Sicherlich, zuerst ist es kalt, nass und einfach nur ekelig, finde ich, aber nach 'ner Weile merkst du gar nichts mehr. Du läufst und läufst und läufst und dir ist nicht mehr kalt, ja, sogar irgendwie warm. Dich stört nichts mehr, du wanderst durch die graue Front, dir kleben die Kleider fest auf der Haut – vielleicht hast du 'ne Jacke vergessen, weil heute früh noch die Sonne schien – und du siehst kaum noch 'was, aber dich stört es nicht. Dann hagelt es oder es schneit – vielleicht kommt auch Schneeregen vom Himmel und du … du realisierst das einfach nicht. Deine Lippen werden blau, in deinen Wimpern verfängt sich Eis, dein Nasenwasser gefriert. Du hast steif gefrorene Hände, überhaupt überall Erfrierungen!, aber nichts in der Welt würde dich jetzt zurückbringen. Weißt du, warum? Weil du dann erst die Schäden erkennst und schwach wirst.“ Kaffee! Sein verschlafener, steifer Körper brauchte eine ganze Wagenladung jenes bitteren Gesöffs, um an diesem Tage halbwegs in die Gänge zu kommen. Kaffee! Er kam sich vor, wie ein Zombie, dessen unbändiger Hunger nach Fleisch sich in einer Mischung aus Gurgeln und Knurren bemerkbar machte. Fehlte nur noch, dass er geifernd und desillusioniert durch die Gegend torkelte. Angewidert wischte er sich getrockneten Speichel vom Kinn und rannte geradewegs gegen die Wand. Der Tag konnte nur scheiße werden. Sein blondes Haar stand in alle Himmelsrichtungen ab und er konnte deutlich die Schwere des gestrigen Weines und Schnapses in seiner Blutbahn spüren, ebenso in seinem Hirn, das pochte und hämmerte, als wolle es platzen. Na ja , dann würde sein Zwei-Zimmer-Apartment vielleicht einen neuen Anstrich bekommen. Sexy. Tief in seinen alkoholisiert übermüdeten Gedanken versunken, bemerkte er den schlafenden Haufen Knochen nicht, der vor ihm, schnarchend wohlgemerkt, lag. So kam es also, dass er sich in einem äußerst ungelenken Sturzflug auf die Fresse legte – mitten hinein in eine Anhäufung verschiedener, übel riechender Spirituosenbehältnisse. Krachend splitterte das Glas und Sanji rollte sich mehr aus Überlebensinstinkt, denn aus geistiger Anwesenheit, zur Seite, um sich nicht die Augen auszustechen. Schwer atmend lag er auf dem Rücken – diese Nahtoderfahrung hatte sein malträtiertes Hirn nur bedingt verkraftet. Mit säuerlich verzogenem Gesicht versuchte er aufzustehen. Ein Blick auf den Ursprung seines Unglücks verriet ihm, dass eben dieser nur seelenruhig weiter pennte. Aber so nicht! Nicht mit Sanji! Ein leicht zielloser, wenn auch nicht wirkungsloser Tritt manövrierte den schwarzhaarigen Gummikopf etwa zwei Meter weiter. Zuerst war alles still, doch dann vernahm Sanji ein schmatzendes Grunzen – der Mistkerl war doch aufgewacht. „Oi, morgen …“, nuschelte es, ehe sich ein verstrubbelter, rabenschwarzer Schopf in das Blickfeld des blonden Mannes schob. „Morgen!“ Keifte es zurück, um kurz danach von einem Jaulen ersetzt zu werden. „W – Was?“ Luffy hielt sich die schmerzende Schläfe und blickte mit leicht desorientiertem Blick zu ihm hoch. „Du …!“ Sanji holte tief Luft, „Ich hab dich doch gestern nach Hause geschickt, oder?!“ „Ja.“ Luffys Stimme war so derart arglos, dass es Sanji kurzzeitig den Atem nahm. Der meinte das doch nicht ernst? „Was zur Hölle tust du dann hier?“ „Äh … ? … äh …?“ Genau. Exakt. Sanji drehte sich um, strich sich eine lästige Strähne seiner zerstörten Haarpracht hinter das Ohr und marschierte in die Küche. Den verdatterten Blick seines compañeros im Rücken spürend. In der Küche angekommen, warf er gleich die Kaffeemaschine an und suchte im Kühlschrank nach irgendetwas Frühstückstauglichem – für sich, nicht für das merkwürdig stumme Balg im Nebenzimmer. Die Maschine ratterte munter vor sich hin und machte den Morgen zu etwas Gewöhnlichem, Angenehmem. Das Sonnenlicht brach sich in der Fensterscheibe und wurde von den weißen, sauberen Küchenmöbeln reflektiert, sodass der ganze Raum wie ein eigenes Reich wirkte. Als verberge sich kein gefräßiges Monstrum in der Nähe, das sich an ihn heranschlich und maunzte – Moment! Ein leichtes Stupsen und Streichen ließ Sanji aus seiner gedankenlosen Schwebe aufwachen. Nachlässig berührte er den weichen, kleinen Kopf von Grisham, kurz Ham. Der lebte also auch noch. Sanji erinnerte sich noch dunkel daran, dass sie einst im Zuge ihrer Trunkenheit seine vorherige Katze, Cognac – ein fettes, schwarzes Monstrum –, aus dem Fenster geworfen hatten. Er wohnte im zwanzigsten Stock. Und auch, wenn er Tiere eigentlich nur gehäutet, gedünstet, gebraten, zerhackt oder gekocht (einfach: als Speise) mochte, hatte er Grisham sehr lieb gewonnen – ansonsten war er der Meinung, dass so eine lebendige Fressalie in potenziellen Zeiten der Not doch recht nützlich war. Katze schmeckte nicht unbedingt schlecht. Er warf dem Tier ein Stück Wurst vor die Füße, das sofort und gnadenlos gefressen wurde. Noch immer schmerzte sein Schädel, was im übrigen nicht besser wurde, als Luffy doch anfing, sich an seine Fersen zu heften und nach Essen bettelte, sodass Sanji froh war, als er endlich hörte, dass der Kaffee durchgelaufen war. Er schnupperte an dem bitteren, schwarzen Gebräu, welches er inzwischen in seine Tasse gegossen hatte und ließ sich auch nicht mehr von Luffys kehligem Klagegeschrei stören – von wegen er fiele ihm noch vom Fleisch und stürbe eines jämmerlichen Hungertodes. Nebst Kaffee hatte er sich auch schon die erste, wohlverdiente Zigarette des Tages angezündet, die er sich in den Mundwinkel schob und tief inhalierte, wenn er gerade nicht trank. Luffy indes kugelte sich verzweifelt auf dem Boden – gefolgt von einem interessiert musternden, gelben Augenpaar – und flehte nach Nahrung. Natürlich könnte er einfach zum Kühlschrank gehen und sich an dortigen Lebensmitteln gütig tun, aber er gedachte Cognac und ließ es bleiben. Binnen einer halben Stunde, in der Luffy anfing, zu kreischen, war Sanji dann doch der Meinung, der Junge könnte was zum Futtern vertragen. Er kramte im Kühlschrank nach irgendetwas, das Luffys Ansprüchen an Quantität – definitiv nicht Qualität – standhielt und zauberte mehrere Sahnepuddings, eine Tafel Schokolade, eine angefangene Schachtel Partywürstchen und ein paar Scheiben Hinterschinken hervor. Das sollte erst einmal genügen. Sanji aß so 'was sowieso nicht. Er lud das Zeugs vor dem Jungen ab, der sofort begeistert anfing, sich all das querbeet hineinzuschaufeln. Die Hände waren überall und sein Mund schien, ähnlich seinen Augen, immer größer zu werden, um mehr und mehr in sich stopfen zu können. „Luffy …?“ Wollte Sanji ein Gespräch beginnen, wissend, dass es nichts brachte. „Hm?“ Kam es abwesend zurück, während Angesprochener gleichzeitig das letzte Stück Schokolade vertilgte. „Ich meinte das vorhin ernst; was machst du noch hier?!“ Sanji suchte krampfhaft die widerwärtigen Geräusche, die Luffy von sich gab, zu überhören. „Das – schmatz – weiß – schmatz – ich – schmatz – auch – schmatz – nicht – schmatz – Dude … – schmatz.“ Luffy nickte sich zu, lächelte Sanji breit an und fraß dann weiter. Entnervt – und das gerade mal um elf Uhr! – rieb er seine Nasenwurzel; die Liebe in Ehren, aber manchmal, ganz selten – so im Stundentakt – wollte er Luffy vermöbeln, dass dessen inexistentes Gehirn 'mal entstaubt und wieder funktionstüchtig gemacht wurde. Er störte sich nur geringfügig daran, dass Luffy ihm gerade das wegfraß, wozu er ungefähr ein dreiviertel Jahr brauchte, auch nicht, dass er es irgendwie wieder in seine Wohnung geschafft hatte. Nein, es macht ihn nur wahnsinnig, dass Luffy ein so derart unterbelichteter Volltrottel war. Und er selbst scheinbar so etwas wie dessen Fixpunkt war, an dem er all seine bodenlose Nervigkeit ausleben konnte. Blieb fraglich, ob unbewusst oder nicht. Sanji verabscheute diese Arglosigkeit, die so dreist war, dass sich seine Fußnägel einrollten, dieses ständige 'Woher soll ich das wissen, Dude' und am meisten seine eigene Inkonsequenz, dieses grenzdebile Marshmallowgehirn nicht schon längst ins Nirwana gekickt zu haben. Wobei Luffy wie ein Bumerang war, der immer und immer und immer und immer (…) wieder zurückkam – egal, wie weit man ihn von sich schleuderte. Kurzum; eigentlich war alles normal – Sanji nur besonders gereizt. Nach einer weiteren, etwas längeren Weile hatte Sanji es geschafft, seinen compañero aus der Wohnung zu befördern. Am liebsten wäre Luffy ja noch geblieben, ihm auf die Nerven gefallen oder, wie ein Spürhund, sich schnüffelnd auf die Suche nach Lebensmitteln begeben. Mit übertriebener Freundlichkeit und einer pochenden Ader an der Stirn schob Sanji den Jungen hinaus – ihn selbstverständlich nicht darauf hinweisen, dass an seinem Ellenbogen eine groteske, schleimige Pudding – Schinken – Mischung klebte. Sobald Luffy im Treppenhaus stand, schlug er die Tür vor dessen Nase zu, beachtete nicht das jämmerliche Kratzen von Fingernägeln auf Holz, und wanderte wieder zurück ins Wohnzimmer. Sich dabei eine weitere Zigarette ansteckend. Grisham wälzte sich auf dem rauen Teppich des Flures, beachtete nichts und niemanden, bemerkte auch nicht Sanjis Knurren, von wegen er bekäme die Haare nie wieder raus. Er warf einen Blick auf die Uhr – exakt zehn Uhr vierunddreißig – und es lag auf der Hand, was ein Neunzehnjähriger, ledig in einem Zwei-Zimmer-Apartment, lebensfroh und entspannt, machen konnte, ehe seine Schicht im Baratie anfing; putzen. Zuerst aber sollte er sich waschen und umziehen, wie ihn ein diskretes Schnüffeln an seinen, seit gestern getragenen Sachen riet – er stank nach Schnaps, Schweiß und Luffy. Eine blöde Mixtur, wenn man in einer durchaus gewöhnlichen, zivilisierten Bevölkerung ernst genommen werden wollte. Achtlos, er räumte es dann ja eh weg, warf er die von sich gestreiften Sachen auf den Boden und dackelte ins Bad – ein kleiner, quadratischer (Sanji liebte gleichmäßige Formen! Nichts war schlimmer als Asymmetrie) Raum, der gerade einmal für eine kleine Dusche, Toilette und ein Waschbecken Platz bot. Auf einer Anrichte standen Deodorants, Kämme und Duschbäder (alles schön fein säuberlich getrennt), der Boden war mit einem dunkelblauen Frotteeteppich ausgelegt. Als sich der junge Mann zum ersten Mal an diesem Tage im Spiegel betrachten konnte, wollte er sofort eine Kehrtwende machen – auf, Richtung Bett! Zu sagen, er sähe beschissen aus, wäre nicht ganz richtig – er wirkte eher, als hätte man ihn in einem Stück gefressen, wieder ausgewürgt, noch mal geschluckt, diesmal aber zerkaut, ein weiteres mal ausgekotzt und erst dann hätte man ihn beschissen. Um auf einen Nenner zu kommen. Seine Tränensäcke sahen aus wie Blutwürste, hingen entsprechend tief, seine Lippen waren spröde und sogar ein bisschen aufgeplatzt und das, was einst sein blondes, gepflegtes Haar darstellen sollte, war nun nicht mehr als ein Krähennest. Von den geplatzten Äderchen in seinen Augen wollte Sanji gar nicht erst reden. Verzweifelt, um zu retten, was rettungslos war, wusch und zog Sanji sich an. Sanji hatte etwa eineinhalb Stunden gebraucht, um sich als vorführbaren Menschen zu modellieren, den man nicht in die nächst beste Psychiatrie stecken wollte. Er steckte sich einen Glimmstängel an, schob ihn in seinen Mund, latschte in die Küche, stellte das dortige Radio an – es liefen gerade die neusten Songs, die besten Hits, wie ein Moderator, scheinbar auf GHB, mitteilte – und Sanji begann, er hatte noch gut zwei Stunden Zeit, seine Wohnung auf Vordermann zu bringen. Sich mit einer Mülltüte bewaffnend, sammelte er die Flaschen ein, die großzügig in dem ganzen Apartment verstreut lagen, einige, durch die Stolperfalle Luffy, zerbrochen. Sanji, geschickt wie er war, schnitt sich in den Fingern, dezimierte seine wertvolle Zeit durch Fluchen, ehe er die offene Wunde in den Mund steckte und das Blut ableckte, dabei, nun mit einer Hand, weiter putzend und dem sich wohnlich eingerichteten Dreck den Gar ausmachend. Er musste langsam los. Auf zur Arbeit! Noch einmal sein diesertags furchtbares Äußeres im Spiegel begutachtend, stopfte er sich Geld und Schlüssel in die Hosentasche – wie er es immer tat, auch, wenn es so schneller verloren ginge – und trat zum ersten Mal an diesem Samstag aus dem Haus in die Sonne. Ich fühlte sich, wie eine Leiche, die man ins Sonnenlicht gestellt hatte. Unwohl, geblendet … unmotiviert. Glück für ihn, dass er nicht faulte. Tatsächlich war es für den März ungewöhnlich warm, er konnte die Vögel im angrenzenden Park euphorisch zwitschern hören und überall waren freudige Stimme von Erwachsenen und Kindern zu hören – ein junges Mädchen lief an ihm vorbei, Sanji schenkte ihr sein freundlichstes und, soweit möglich, attraktivstes Lächeln(das es eher verdächtige Ähnlichkeit mit der psychotischen Grimasse eines Axtmörders hatte, verdrängt er mit einem Maß an Selbstbetrug ohnegleichen), das das hübsche Ding sogar fast ebenso strahlend(doch eher ängstlich? Verzweifelt? Verwirrt?) erwiderte. Rauchend und leise ein Lied vor sich herpfeifend, spazierte er in Richtung Baratie, welches er erreichte, wenn er den St. Petersburg Saturday Morning Market passierte. Dieser Markt war groß und stets von Familien überfüllt, die ein Schnäppchen nach dem anderen ergattern wollten – man brauchte meist Stunden, wenn man ihn durchqueren wollte. Aber da Sanji sich nicht zu den Soziopathen zählte, machte es ihm wenig aus, sich durch die Menschenmenge zu kämpfen – wer weiß, vielleicht rempelte er ja seine große Liebe an? Sanji war ein Romantiker. Deshalb liebte er Märchen – er mochte die Seligkeit, die damit einherging, dass schwarze Magie Suchen und weiße Finden war. In derartigen Erzählungen war die Welt ein Schachbrett ohne Figuren – schwarzweiß, schwarzweiß, schwarzweiß. Alles nebeneinander, ordentlich, ohne sich zu vermischen. Sanji hatte Angst davor, anders zu sein, als er eigentlich glaubte. Dass sich sein Kopf in eine andere Richtung drehte als der Tag. Dass er weniger als die Summe seiner Teile war. Dass er keine Rolle, sondern nur ein Wort war – ein Zitat, ein Dialog, einschließlich der Interpretationsfreiheit desselben. Vielleicht sogar nur eine Nummer; Ziffer, Zahl. Er fürchtete, statt des Prinzen, der er zu sein glaubte, den bösen Zauberer im Spiegel zu erblicken. Jeff, sein liebenswerter Ziehvater – im Ernst; Sanji hatte ihm mehr als genug zu verdanken –, wartete bereits, demonstrativ mit dem rechten Fuß auf dem Boden wippend und betont erleichtert aufatmend, als er ihn endlich sah, auf ihn. Dass der greise Hund, so als Besitzer eines florierenden Restaurants, nichts besseres zu tun hatte, als 'rumzustehen und wie ein Schießhund auf seinen Sohn zu warten. Nach der routinierten, warmen Begrüßung („Himmel, wer ist dir denn ins Gesicht gelatscht! So kann ich dich niemals auf die Kunden loslassen, Sanji“ – „Freut mich auch, alter Sack.“) gingen sie gemeinsam in den Laden; Sanji verschwand ihn den Umkleidekabinen, um sich seine Arbeitstracht anzuziehen, konnte aber noch ein „dem Jungen geht’s zu gut; fünf Minuten zu spät“ vernehmen. Darauf in keinster Weise Anteil nehmend, verfrachte Sanji alles Unnötige in den Spind und warf sich die Schürze über. Dicke bauchige Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben. * Entgegen des vielversprechenden, sonnigen Morgens hatte sich jetzt der Himmel verdunkelt, sodass es nun deutlich kälter war als noch vor einer guten Stunde. Ace, auf dem geräumigen Balkon seines Hauses stehend, beobachtete einen Vogel, der seine Kreise 'mal dicht über der Erde und dann wieder aufwärts, gen Himmel, zog. Eigentlich hatte Ace sich einen warmen Mittag erhofft, einfach, weil er es mochte, sich während des Essens in seinen Garten zu setzen. Aber was erwartete er, es war eben doch erst März? Entspannt atmete er noch einmal tief ein, ehe er sich auf den Weg ins Hausinnere machte. Über seine nackten Beine breitete sich ein warmes, angenehmes Kribbeln aus; verwundert stellte Ace fest, dass es ihm draußen kalt gewesen sein musste, denn sogar auf seinen verhüllten Armen hatte sich eine Gänsehaut gebildet. Gerade, als er sein Hemd zu knöpfte, schellte die Türklingel von unten. Wahrscheinlich sein Bruder, den er seit gestern früh nicht mehr gesehen hatte – Ace machte sich keine Sorgen, Luffy war immerhin fast erwachsen und bei all der Kindsköpfigkeit besaß er noch so viel Verstand, keinen groben Unfug anzustellen, der ihn den Kopf kosten könnte. Ohne Hast lief er die Treppe hinunter ins Erdgeschoss, um seinen kleinen Bruder in Empfang zu nehmen. Die Wände, die seine Treppe umschlossen, wurden von einigen kostspieligen Kunstdrucken und futuristisch anmutenden Originalen verziert. Dadurch, dass die Stufen mit einem weichen, roten Teppich ausgelegt waren, wurden seine Schritte derart gedämpft, dass es möglich war, leise wie eine Katze nach oben oder unten zu schleichen. Auch, wenn Ace in der Jugend und als junger Erwachsener das ganze Spießertum regelrecht verabscheute und ihm jegliche Zurschaustellung von Vermögen und Luxus anwiderte, hatte er sich dieses Schmuckstück von Stadtrandvilla kaufen müssen. Es war Liebe auf den ersten Blick – die freundliche, vielleicht teuer wirkende, aber keinesfalls protzige Fassade hatten es ihm angetan, der weitläufige Garten, der den Eindruck von Verwilderung erweckte, aber doch eine geheime, magische Ordnung zu haben schien. Die Zimmer im Inneren waren allesamt groß und soweit möglich so angelegt, dass zu jeder Tageszeit die Sonne hinein scheinen konnte. Nach wie vor war es merkwürdig, dass er mit annähernd vierzig Jahren (oh Gott, er hatte noch so viel vor! Grabstein kaufen, Beerdingunsgäste laden, …) alleine in einem großen Haus lebte, zumal Luffy zusehends flügge wurde, würde es wohl schon ganz schön einsam werden – überdies war Ace kein Verfechter der absoluten Isolation; so gern er sich 'mal zurückzog, brauchte er doch stets Gesellschaft. Und seine Nachbarn kamen dafür nicht infrage, da diese nur aus einem verschrobenen, älteren Ehepaar bestanden, die sich still und gelassen in ihr Selbst hineinlebten und Ace' streckenweise alternativen Lebensstil nicht derart befürworteten, dass ihre Freundlichkeit über ein 'Guten Tag' hinausging. Da hieß es wohl, sich wieder mehr intime Kontakte zu suchen (keine feste Bindung, um Gottes Willen …!). Es hatte ein weiteres Mal geklingelt, diesmal jedoch länger und scheinbar ungeduldiger. Hinter der Milchglasscheibe konnte Ace eine schmale Gestalt ausmachen, durch die breite Hutkrempe wusste er, dass es tatsächlich nur Luffy sein konnte. Er öffnete die Tür und wurde sofort von einer Flut an übereinander stolpernden Wörtern überrollt, sodass der ältere Mann weder zu einer Begrüßung noch zu einem einzigen Wort kam. „Wo bist du gewesen?“ Fragte er beinahe förmlich nach fünf Minuten verbalen Frontalangriffs. Luffy stoppte mit einem Male, schien sich dabei jedoch an ungesagten Wörtern verschluckt zu haben, sodass er nun hustete. „War bei Sanji.“ Ace fragte nicht, wer Sanji war. Wohl irgendein Freund. Luffy war aus dem Alter 'raus, dass er seinem großen Bruder jedes winzigste Detail aus dessen Leben darlegen musste. Nicht, dass Ace sonderlich viel Interesse dafür hegte. „Ich hab' Hunger!“ Krähte es plötzlich dem großen, dunkelhaarigen Mann entgegen – verwirrt blickte Ace ihn daraufhin an, obwohl sie verwandt waren und eine starke Verbindung zwischen ihnen bestand, bedeutete dies nicht, dass der ältere der beiden Brüder die teils konfusen Gedankensprünge Luffys nachvollziehen konnte. „Onii-chan!“ Sobald Luffy in seine Muttersprache, die er sich bruchstückhaft durch Selbststudium angeeignet hatte (man mochte es nicht glauben!), fiel, konnte das nur heißen, dass der Magen seines kleinen Bruders schon über den Knien hing. Sich durch das dichte, schwarze Haar streichend, trottete er in sein Haus zurück, dicht gefolgt von Luffy, der abermals einen schier infernalischen Monolog in die Gehörgänge Aces hämmerte, wobei dieser mit den Jahren gelernt hatte, eine Schublade in seinem Gehirn einzurichten, auf der groß und fett Exekution Luffys grenzdebiler Quasselstunde,die er nur zu öffnen brauchte und sogleich in wunderbare, geistige Absenz fiel, die jedoch nicht hinderlich war, um seine Wohnung zu durchqueren. Das Wohnzimmer, welches von allen das größte war, war möbliert in gedeckten Farben – braun, beige, kanariengelb – die linke Wand wurde vollständig von einem Regal eingenommen, dessen Inhalt Bücher über Bücher waren. Russische Literatur, europäische Gedichtbände, speziell spanische Poesie, amerikanische Kriminalromane, englische Komödien, Lexika, Atlanten, Fachbücher aus aller Welt, Reiseführer, Sammlungen allerlei Erzählungen; Sagen, Märchen, Fabeln, Schwänke und sonst, was es in aller Herren Länder und Sprachen zu finden gab, sogar eine Bibel versteckte sich in den dicht an dicht gedrängten Reihen. Gegenüber des Regal stand ein Fernseher – ein echter Blickfang mit seinen 42 Zoll und wunderbar Raum einnehmend, darunter stapelten sich DVDs und Videokassetten, Zeitungen und CDs – von denen noch einige aus seiner Punkjugend überlebt haben (nicht, dass er jetzt plötzlich auf Klassik umgestiegen war). Der Computer, der in der Ecke des Zimmers stand, wirkte irgendwie verstaubt und alleingelassen. Nun gut, er benutzte ihn auch äußerst selten. Während Luffy in sich hineinschaufelte, was er zu fassen bekam, stand Ace am Küchenfenster und ließ seinen Blick über den Garten wandern – vorwitzige Weidenkätzchen hatten sich sich bereits ihren Weg ins Licht gebahnt und bewegten sich nun sachte im aufkommenden Wind. Sich über die Wange kratzend und kurz über die rauen Lippen leckend, drehte er sich zu seinem kleinen Halbbruder um, der ganz selbstvergessen ein gekochtes Ei verdrückte. „Du, Luffy …?“ „M – hm, was 'n?“ Nuschelte er. „Willst du nicht 'mal Deine Mutter besuchen, huh?“ Ace wusste nicht, woher diese Frage kam, warum – es war wie ein flüchtiger Wimpernschlag, ein kurzer, nahezu unsichtbarer Gedanke. Ein Flüstern in seinem Ohr. Luffys Gesichtsdruck wechselte von erstaunt, ja, perplex zu euphorisch und dankbar. „Ja, ja, ja – gerne!“ Der Grund, warum Luffy nicht bei seiner Mutter in Hokkaido, Japan, sondern hier in Saint Petersburg, Amerika bei seinem Bruder lebte, war denkbar simpel; Luffys Mutter, Ito Yuna, war während der Geburt gerade einmal siebzehn gewesen, ihrerseits sogar jünger als Ace damals, und vollständig überfordert mit der Vorstellung eines eigenen Kindes und flugs darauf regelrecht in ihr Heimatland geflüchtet. Luffy blieb zurück und wurde ein D. Nur einige Jahre später, in der Mitte von Ace' Studium verstarb ihr Vater an einem Hirntumor, hinterließ ein anständiges Erbe, und Ace zog den Querulanten allein auf. Ace hatte diese Frau jahrelang verflucht und sich gleichzeitig gewünscht, sie möge sich um sie kümmern – erwachsen werden und ihm helfen. Immerhin war er auch noch fast ein Kind gewesen, verzweifelt und mit der Welt verfeindet; und letzten Endes war er gezwungen, zu lernen, dass er ein Leben an seiner Seite hatte, dass es nichts brachte, wütend zu sein und Autos anzuzünden, dass Parolen nicht satt machten. Er hat dreizehn Jahre gebraucht, um einigermaßen mit sich einig zu werden. Bis vor vier Jahren hatten sie keinerlei Kontakt zu Yuna gehegt, doch Luffys wachsendes Interesse und die Neugierde, die er für alles und jeden entwickelte, ließen Ace verzweifelt in allen möglichen Akten und Unterlagen nach der derzeitigen Adresse suchen. Er fand sie. Luffys Gesicht verfinsterte sich wieder, ernst schaute er in die Augen seines Bruders: „Aber du hast doch gar keine Zeit … oder?“ Wie ein Welpe starrte er Ace an, die Muskeln seines Gesichts zuckten und er schien sich nicht zwischen Vorfreude und Resignation entscheiden zu können. „Na ...“, Ace zögerte, pausierte in seinen Worten, „Nicht gleich, aber wenn du Ferien hast.“ Sein Lächeln fiel eine Spur zu schief aus – es war nicht der Mangel an Geld, keineswegs!, der ihn hinderte, sondern der Widerwille, dieser Frau, die er vor über siebzehn Jahren das letzte Mal gesehen hatte, gegenüber zu treten, und die allgemeine Verpflichtung, hierbleiben zu müssen, da es seine Arbeit forderte. Er gehörte zu den gefragtesten Verteidigern des Landes und wenn er sich erlaubte, zu einem wichtigen Termin nicht zu erscheinen, würde das, so armselig es auch klang, seinem Ruf oder gar seine Karriere schaden. Auch das Recht war eine Form des Publizismus' – wer nicht den Wellen folgte, wurde ausgesondert und Strandgut. Luffys Blick wich zur Seite aus, seine Pupillen flimmerten und kurzzeitig öffnete er der Lippen, als wolle er noch etwas sagen, schloss sie aber wieder, bevor ein Wort seinen Weg in Tönen fand. „Hm …“, brummte der Ältere weder zu sich selbst noch zu Luffy und wandte sich wieder dem Fenster zu, beobachtete ohne zu sehen das grüne Gras, das durch die Verdunkelung des Tages eine sattere und kräftigere Färbung bekommen hatte, als es normalerweise war. Eine rote Katze, die er schon oftmals hatte stromern sehen, schärfte ihre Krallen an einem Ahornbaum, der schon hier stand, bevor Ace eingezogen war. Ein junges Pärchen schlenderte über den Bürgersteig, ein kleiner, weißer Hund tippelte vor ihnen her. Der Tag atmete Harmonie – und doch sickerte eine unsichtbare, wenn auch dickflüssige Substanz in alle Ritzen. Luftdicht war sie, gierend. Ein selten schwüler Tag war es heute. „Ace …“, kam es irgendwann seitens Luffy, der wirkte, als fiele es ihm schwer, seine tausenderlei kindlich bunten, klugen Gedanken in Worte zu fassen. „Hm?“, fragte Ace seinerseits, der sich zwischenzeitlich die Zeitung vom Fußableger vor der Haustüre geholt hatte und nun, aufgrund der Tatsache, dass er es nicht vermochte, seinem Bruder direkt in die Augen zu sehen, seine Nase in die News des Tages steckte – dass er mehr als desinteressiert den Klatschbalken anstierte, tat nichts zur Sache. Bevor Luffy antwortete, kaute er auf einem Klumpen Frühstücksflocken herum, den er sich mit extra viel Milch und Sahne zusammengemischt hatte, „Du … war ich gestern eigentlich hier …?“ „Äh, nein“, die Frage verwirrte den Älteren, „Warum?“, schob er noch an. Luffy zuckte mit den Schultern: „Weil Sanji meinte, er habe mich weggeschickte – aber ich bin noch da gewesen, deshalb.“ Ace grinste. Es belustigte ihn irgendwie, auch wenn es ihm eigentlich Sorge bereiten sollte, dass sein Kleiner derart besinnungslos betrunken durch die Straßen taumeln könnte, dass er nichts mehr wusste. Es erinnerte an ihn selbst – vielleicht würde doch alles gut. Ace verstaute das Geschirr, das Luffy großzügig beschmiert hatte, in der Spülmaschine – ein Blick in den Kühlschrank sagte ihm, dass er dringend ein paar Besorgungen machen müsste. „Oi, Luffy – ich muss noch einkaufen, willste mitkommen?!“ „Nee“, rief es zurück, „ich hab' dann noch 'was vor.“ Ace nickte, wohl wissend, dass sein Bruder ihn nicht sehen konnte. Er zog sich eine dünne Übergangsjacke über, schulterte eine Tasche, worin er Portemonnaie und Telefon sowie den Hausschlüssel verstaut hatte, und ließ sein Haus hinter sich. Zaghaft schwacher Wind zupfte an seinem Haar, die Luft, die sich über den Vormittag deutlich aufgeheizt hatte, war nun merklich kühler und Ace dachte sich, obwohl alles süß und lebendig duftete, dass es doch wie Herbst sei. Der grau gewordene Himmel, der die Keimlinge und die Frühjahrsblüher blass machte und auch die Leute, die an ihm vorbeiliefen, um den Wind zu entkommen, wirkten gehetzt, wie sie mit ihren Plastiktüten herumhuschten, als horteten sie Vorräte für den kommenden Winter, boten ihm eine Ahnung lauernder Kälte, als drückten sich eisige Hände auf alles, was atmete. Ace schüttelte den Kopf. Was für idiotische Gedanken! Über sich lächelnd, legte er einen Zahn zu, um den nächsten Bus Richtung Innenstadt nicht zu verpassen, der am Wochenende in weitaus größeren Zeitabständen fuhr. Ein Blick auf seine Armbanduhr verriet ihm, dass er noch etwa fünf Minuten hatte. Ruckelnd setzte sich das Vehikel in Bewegung, dicht an dicht waren die Leute aneinander gedrängt, sodass man gerade genügend Platz zum Atmen hatte. Eine ältere Frau lehnte an Ace und sah ihn immer wieder Verzeihung heischend an, wenn der Bus über ein Schlagloch fuhr oder abrupt bremste, sodass sie sich nur noch näher an ihn drückte. Ace lächelte daraufhin stets nachsehend und ließ seinen Blick dann auf das kleine Stück Fensterscheibe gleiten, was nich von schwarzer Menschenmasse verdeckt wurde. Die an ihm vorbei fliegenden Farben lenkten von dem Schmerz in seinem Rücken ab; Ace, aufgrund seiner Größe, musste geduckt stehen, wenn er sich nicht den Kopf anschlagen wollte – nun kroch ihm die merkliche Verspannung auch noch bis hinunter in den Steiß. Er verzog das Gesicht und schloss die Augen, erleichtert Luft holend vernahm er die verzerrte Stimme der elektronischen Ansage, die verkündete, dass der nächste Halt der seine sein würde. Die Innenstadt war überraschend leer – wohin wohl all diese Leute, die sich im Bus aneinander gepresst hatten, hingefahren sind? Wohl Nachhause, denn hier fand sich kaum eine Menschenseele. Am Sonntagsmarkt konnte es nicht liegen, da dieser schon längst vorbei sein müsste. Schulterzuckend ging er in einen Laden, streifte durch die Gänge und suchte sich zusammen was er brauchte – brauchen könnte, er schalt sich selbst, keinen Einkaufszettel geschrieben zu haben. Die bunten Packungen und die riesigen, unterschiedlich aufdringlichen Schriftzüge der einzelnen Produkte erschlugen Ace förmlich. Die Auslagen schienen an ihn heranzurücken, näherten sich ihm langsam und bedächtig, aber mit einer unübersehbaren Zielstrebigkeit. Immer wieder den Kopf schüttelnd griff er wahllos nach den Wahren, ließ sie in den Wagen fallen und beeilte sich an die Kasse zu bekommen, um dieser Enge, die so plötzlich, so unvorbereitet und vor allem so bizarr über ihn hereingebrochen war, zu entfliehen. Innerlich aufgewühlt, stellte er fest, dass seine rechte Hand steif und bewegungslos schlaff an seiner Seite herunterhing. Nun mit der linken den Einkaufswagen Richtung Kasse dirigierend, regulierte er seine Atmung, versuchte, in seinen Kopf Ruhe einkehren zu lassen und die Mauer zu sprengen, die sich langsam, aber kontinuierlich unterhalb seiner Haut aufbaute und Sorge daran trug, seinem Körper jegliche Bewegung zu verwehren. Ace biss sich auf die Lippen, um seiner Selbst Vernunft beizubringen und brachte es tatsächlich über die Bühne, zu bezahlen und den Laden still und geradlinig zu verlassen. Ein junges Mädchen, hübsch anzusehen, hockte, sich scheinbar selbst verschlingend, auf einer Bank und starrte auf ihren Hände, die ineinander verschlungen auf dem Schoß lagen. Nur als Ace an ihr vorbei kam und sich eine Spannung zwischen ihnen ausbreitete, weil er etwas sagen wollte, aber nicht konnte, sah sie auf. Just in dem Moment, als sich ihre Augen mit Tränen füllten, fing es an zu regnen und die durstige Erde begrüßte das herabfallende Wasser mit einem kehligen Seufzen. * Bedauernd schüttelte er den Kopf, als er die dicken, schweren Tropfen sah, die gegen das große Glasfenster seines Büros klopften. Nicht, dass ihn der Regen störte, aber nach all den Wintermonaten war Sonne vielleicht wieder einmal angebracht. Ein bisschen durch die Straßen schlendern, den Tag ausklingen lassen. Ein Blick auf die Uhr, angebracht über der hölzernen, schweren Türe, verriet ihm, dass es fünfzehn Uhr war und er noch über einer Stunde zu arbeiten hatte. Man sollte meinen, sich selbstständig zu machen, würde weitaus mehr Freiheiten mit sich bringen, als in einer Firma oder Kooperation als Mittel dem Zwecke dienen. Dass er hier als Freigeist walten konnte – jedoch auch nur bedingt, da es so etwas wie gesellschaftliche Konventionen (das Wort hörte sich an, wie Erbrochenes aussah) gab – war die eine Seite der Medaille, die andere jedoch, dass er sich um so viele Dinge außerhalb seiner eigentlichen Arbeit kümmern musste, dass ihm sogar noch weniger Zeit für sich selbst blieb. Seufzend blätterte er durch die Akte einer Hausfrau in den besten Jahren, die ihren Mann anklagte, sie schwer verbrannt zu haben und für mehrere Tage in den Keller sperrte. Der Mann war reich und die Verletzungen der Frau schwer. Derartiges zählte im Übrigen zur Rubrik Interessante Fälle, da Zoro es oftmals mit Bagatellen zu tun hatte – es gab einige seiner Mandanten, die viel Geld und noch mehr Langeweile hatten, welche annähernd wöchentlich einen Termin ausmachten nur, um ihn über ihren derzeitigen, für ihn völlig uninteressanten Status Quo zu unterrichten, dass der Dieb, der den Gartenzwerg gestohlen hatte, nach wie vor nicht gefunden würde. Schön. Schön, dass er sich nach Stunden bezahlen ließ – und die Gabe besaß, an genau der richtigen Stelle seine Ohren auf Durchzug schalten konnte Man mochte nicht sagen, er nähme seine Arbeit nicht ernst oder wäre zu überheblich, um sich über die Belange anderer Leute zu kümmern – dies war ein eindeutiger Trugschluss, denn er liebte seine Arbeit, wollte seinen Mandanten (mit echten Problemen) helfen, wo er nur konnte – aber oftmals passierte so absolut wenig. Es gab da draußen so viele Verbrechen, so viel an Grausamkeit, was im Vergleich, zu tatsächlich gehaltenen Prozessen, ein schwindelerregender Unterschied war, dass Zoro es tunlichst vermied, darüber mehr Gedanken zu verschwenden, als vielleicht gut war. Es war tragisch, dass es Straftaten gab, deren meterdicke Akten bis heute unter Ungelöste Fälle zu finden waren und allmählich verstaubten, vielleicht in hundert Jahren ausrangiert wurden und noch weiter in der Prestigeskala der Sachbearbeiter sank – doch Verbrechen blieb Verbrechen und jedes angetane Leid musste mit allen Mitteln gesühnt werden, jede gequälte Seele hatte das verdammte Recht, Ruhe und die von ihr gewünschte Ewigkeit zu erfahren. Aber … Zoro war zu klug und zu wenig Idealist, als dass er sich vormachen könnte, diese Welt wäre noch zu retten. Das einzig wirklich Heldenhafte – Held … etwas, das er sich immer vor Kuina, die so viel stärker als er es je war, zu sein wünschte – was er tun konnte war, für die Wenigen, für diese schwindend geringe Menge, die sich bekannte, Torturen erlitten zu haben, einzutreten. Ihnen behilflich zu sein mit seinem gesamten Intellekt, den er besaß und aller Erfahrung, die er in den Jahren seines Lebens gesammelt hatte. Und doch … die geschätzten Dunkelziffern, die wahrscheinlich turmhoch in die Nacht ragten, ließen ihn schwindeln und manchmal sogar resignieren, dass er sich wünschte, ihm nächst besten Loch eingegraben zu werden. Er las sich das psychologische Gutachten, selbstverständlich in glattem Fachchinesisch, durch und rieb sich die schmerzenden Schläfen. Trotz des Unwetters wüsste sich Zoro an tausenderlei besseren Orten – wäre es auch nur bei sich Daheim, dösend oder ein gutes Buch lesend, oder zusammen mit ein paar Kumpels einen heben zu gehen. Wobei es für Letzteres wohl doch noch ein wenig früh war. Normalerweise trank er nicht vor acht Uhr. Sich das dichte, auffällig grüne Haar zurück streichend, legte er das über und über beschriftete Papier weg. Mit einer unnachahmlichen Ruhe streckte er sich und stand dann auf, um sich aus der Tür seines höchst eigenen Folterkämmerchens zu bewegen. Der Flur war wie leergefegt – selbst seine Tippse (Pardon, Sekretärin), die sonst keine Gelegenheit ausließ, sich, sobald Zoro allein war, ihm recht eindeutige und ebenso einmalig plumpe Avancen zu machen (die Beharrlichkeit ihrer Versuche war durchaus lobenswert, aber ebenso hoffnungslos). Er mochte das Weibsstück überhaupt nicht – sie war übertrieben, anstrengend und so derart mitteilsam, dass man sie vorsorglich an ihrem Lavendelparfum zehn Meter gegen den Wind riechen sollte, wollte man nicht sein Gehör und vor allem seine strikte Abneigung gegen brachiale, kopflose Gewalt verlieren. Diese Frau widerte Zoro so derart an, dass sie perfekt in diesen Beruf passte – so konnte glücklicherweise verhindert werden, dass es zu einer Affäre käme, die, im realen Leben wie auch in jeder zweiten drittklassigen Schmonzette, unweigerlich in einer Tragödie enden würde. Zoro war definitiv kein dauergeiler Hurenbock, der Frauen verschlang wie Schweinesteaks, aber … Himmel, es kam eben vor, dass er für längere Zeit keinen Sex hatte und am Ende war er doch nur ein Mann. Eiserne Disziplin hin oder her. Die konnte ihm auch nicht bei eisernen Ständern helfen. Der Gang, wie er da verlassen vor ihm brachlag, machte den Eindruck von völliger Verwahrlosung, obwohl er keineswegs schmutzig oder sonst wie beschädigt war; aber allein, dass der Wind durch irgendein gekipptes Fenster pfiff und jener helle, fast blecherne Ton in dem leeren Flur hin – und hergeworfen wurde, machte das ganze fast geisterhaft – das gedimmte Licht, welches von zwei oder drei Energiesparlampen ausging, die von der Decke baumelten, verstärkten diesen Eindruck nur noch mehr. Sich die Nasenwurzel reibend, bediente er den Kaffeeautomaten und konnte ihn gurgeln und merkwürdig unwillig brummen hören, als sich der Pappbecher mit dem dunkelbraunen Gold füllte. Er nippte daran, die Hitze spürend, sich aber nicht verbrennend, und ließ dann seinen Kopf kreisen, sodass seine Nackenwirbel knackten. Erleichtert klappte er den letzten Ordner zusammen und stellte ihn ins Regal, er schnappte sich seine Windjacke und schaltete das Licht aus. Unten angekommen, schloss die Tür der Kanzlei endgültig zu. Das Geräusch, als das Schloss einrastete, war ein nur allzu überdeutlicher Fingerzeig in die Freiheit. Die Jacke enger um sich ziehend, da eine frische Böe ihn plötzlich von vorn erfasste, ging er zielstrebig die Straße entlang, Richtung äußeren Standring, wo sich die Loft befand, in der er hauste. Einzelne, fahle Gesichter strichen um ihn herum, große, breite Milchflecken, die durch den dichten Regen grau waren, blickten schwammig an ihm vorbei, in unbestimmte Richtungen. Autos, schnell und wirkend, als beherbergten sich keine Insassen, brausten vorbei und spritzten das sich in Pfützen gesammelte Wasser achtlos nach oben, sodass jener arme Teufel, der sich dummerweise am Rande des Bürgersteigs befand, gnadenlos über und über bewässert wurde. Zoro war gerade so einer. Mit finsterem Ausdruck in der Stirn – ad definitem drastisch gesunkener Laune – wischte er sich ein wenig Matsch, das dem Wasser beigemischt war, aus dem Gesicht und nahm schaudernd seine durchweichten, allmählich kalt und kälter werdenden Hosenbeine wahr. Mit einem Zug um den Mund, den jeden noch so stattlichen Türsteher in die Flucht geschlagen hätte, beschritt er nun den Rest des Weges, nun in steigender Erwartung an ein angenehmes Bad bei einem Glas Wein. Daraus sollte jedoch allzu bald nichts werden, denn eine große, schlanke, adrett kleidete Frau, geschützt von einem Schirm und an der Hand ein Mädchen, kam direkt auf ihm zu. Die blauen Augen, die unter dem schwarzen Pony hervorlugten, schaute ihn geradewegs und selbstbewusst an. Sie sah schön aus, wie ihre bleiche Haut matt glänzte und die hoch liegenden Wangenknochen in ihr Gesicht geheimnisvolle Schatten warfen. Die auffällige Nase, aristokratisch und dem Gesicht einen harten, ja, fast unerbittlichen Zug gebend, machte ihre Erscheinung nur noch attraktiver. Sie strahlte eine Dominanz und Reife aus, die ihresgleichen suchte. Das Mädchen, das da mit ihr im Wettergrau spazieren ging, war ebenso hübsch, wenn auch auf eine andere Art. Ihr Haar, dunkel wie Ebenholz, war ähnlich dem der Mutter, nur ein wenig länger und gelockter, die Augen, so wusste Zoro, auch wenn er sich noch nicht sehen konnte, war nicht blau, sondern grün und glänzten stets altklug. Robin und Olvia. Nah waren sie, als er die Arme ausbreitete und seine Tochter, die sich sogleich in jene warf, empfing. „Hey ...“ murrte er leise in ihr dichtes, nach Minze riechende Haar. Er sah auf, als er bemerkt hatte, dass er keinen Tropfen mehr abbekam – Robin hielt den breiten Schirm über sie. „Wir wollten dich besuchen“, sagte sie leise mit einem feinen Lächeln auf den Lippen, „Aber dann ist mir eingefallen, dass du noch arbeitest – wir wollten dich abholen.“ Ihre ruhige, ein wenig monotone Stimme hallte in seinem Kopf wider, es kam ihm stets vor wie eine Vibration, die durch ihn hindurch ging und alles in Schwingung brachte, so wie damals – Zoro wusste nicht, warum, aber er hatte nie aufgehört, diese Frau auf eine gewisse Art zu begehren. Er nickt leicht und löste sich von Olvia. Das Gesicht seiner Tochter war schärfer geschnitten als Robins, sodass man die Ähnlichkeit zu ihrem Vater deutlich ausmachen konnte, sie hatte einen ziemlich müden, fast missmutigen Zug um die Lippen, welcher Zoros alle Ehre machte. „Du bist groß geworden“, stellte er fest. „Immer diese Plattitüden!“, konterte sie, lächelte aber gleichsam sanft. Ihn stimmte es traurig, zu sehen, wie Olvia jedesmal zu wachsen schien, wenn er sie traf, und zusehends reifer und älter wurde. Zu jedem ihrer Geburtstage musste er sich darauf besinnen, dass dies der Tag der Beendigung seiner und Robins Affäre war. „Zoro“, sagte Robin dann, wahrscheinlich würde sie zum Grund kommen, warum sie überhaupt zu ihm wollte, denn auch wenn ihr Verhältnis keineswegs feindselig war, zog doch eine klare Linie und hütete sich, ihrer beider Leben zu sehr in einander fließen zu lassen, „Ich habe eine Bitte an dich.“ „Brauchst du Geld?“, Zoro wusste nicht, warum ihm diese Frage so derart hart und forsch über die Lippen gekommen war … besäße Zoro etwas, das man als romantischen Charakterzug bezeichnen könnte, würde man es womöglich als Schmerz der Erinnerung bezeichnen. Robin veränderte nichts an ihrer Mimik, auch ihre Stimme blieb ruhig und gleichmäßig: „Nein, das nicht – ich möchte, dass du einige Tage auf Olvia Acht gibst, da ich -“ „Robin, entschuldige, aber … ich hab' 'ne Menge zu tun.“ „Ich bitte dich dieses eine Mal Verantwortung zu übernehmen“, ein Schlag in die Magengrube hätte nicht schmerzhafter und derber sein können, „Außerdem sind es nur fünf Tage ...“ „Und du musst mich nicht rund um die Uhr versorgen, bin immerhin alt genug“, warf nun zum ersten Male Olvia ein, die währenddessen bemerkenswert ruhig und aufmerksam verblieben war. Zoro verzog ein wenig das Gesicht, als er sah, wie sich Robin und Olvia, für einen Fremdling sicherlich, kurzen, schnellen und vor allem annähernd unsichtbaren Blick zu warfen. Trotz der wenigen Sätze die sie miteinander hatten ihn Mutter und Tochter Hand in Hand systematischen mit dem Rücken an die Wand getrieben. Spürbar klebte der feine Stoff der Hose an seinen Beinen und er schauderte. „Wann?“, sagte er tief und tonlos. „In einer Woche Dienstag“, antwortete Robin prompt, als hätte sie von Anfang an gewusst, wie es enden würde, ganz unabhängig davon, ob Zoro nicht doch einen wichtigen Termin hätte. Zoro nickte und hob dann wortlos die Hand zum Gruß. „Tschüss, Papa!“ „Auf Wiedersehen, Zoro.“ Dann waren sie weg – als er sich sicher war, dass sie sich nicht mehr umdrehen würden, schielte er noch einmal über die Schulter. Die schlanken, fast grazilen Silhouetten beider Frauen, die von unterschiedlichem Sinn und entgegengesetzter Erwartung mit ihm zu tun hatten, wirkten, wie sie ihm den Rücken gekehrten so fremd, als hätte er sie nie berührt. Den Kopf schüttelnd, blickte er wieder geradeaus, vor ihm die Straße, auf der hier und da einige Schatten entlang huschten, es wohl eilig habend, alsbald die Wärme der eigenen vier Wände zu begrüßen. Zoro legte einen Schritt zu und konnte schon jenen Straßennamen auf einem Schild sehen, der gefolgt von seinem eigenen war. Im Gegensatz zu der Extravaganz, in der sein langjähriger Freund und Kollege zu leben pflegte, erschien sein eigenes Heim nahezu spartanisch, obwohl die großräumige Loft, in fünf Zimmer unterteilt sowie Badezimmer und Küche, genügend Platz für einigen Luxus oder auch tatsächlichem Stil bot. Zoro schlüpfte aus einen dereinst gepflegten, nun aber Dreck verschmierten Schuhen und stellte sie lieblos an die Wand des Flures, der an die Haustüre angrenzte. Die weiße Wand fing das Licht ein, dass seine Wohnung stets hell wirkte, sich jedoch kaum erhitzte. Das Wohnzimmer, groß wie es war, hätte man leicht mit einer Lagerhalle verwechseln können, so unpersönlich wie es hier wirkte. Der Läufer, ein Monstrum in grässlichem Graublau, machte den Boden zwar weicher, aber nicht schöner. Ein großer Holzschreibtisch fraß viel Platz, darauf waren unzählige Papiere gestapelt, Kugelschreiberspitzen lugten zwischen den schwarz beschriebenen Papierweiß hervor. Zoro grummelte leicht, als er die Unordnung sah, wusste aber auch im selben Moment, dass er nicht heute und auch so irgendwann aufräumen würde. Man mochte schmunzeln, wenn man dieses Chaos sah, denken, dass man hier womöglich doch etwas über den Charakter der Person erführe, aber schaute man genauer hin, nähme sich einige der Dokumente in die Hand, müsste man feststellen, dass es in diesem Urwald nichts gab, das Licht ins Dunkel brächte. Da waren nur namenlose Anschreiben, Werbungen, einige Rechnungen und hier und da Blätter mit dem Siegel von Zoros Kanzlei – und wäre dies nicht genug, man bemerkte, dass die Daten, mit denen der ganze Kram versehen war, schon einige Monate, durchaus auch Jahre, zurücklagen, als hätte der Besitzer derselben kurzfristig und ohne längeres Nachdenken die Flucht ergriffen. Dass dem nicht so war, bedeutete, dass der Tisch mit all seinen klugen und reizenden Wörtern ein Fremdkörper war, der weder hier hin gehörte noch in die Gedanken Zoros, der solche zweifellos hatte. Zoros Liebe galt dem Detail, den Feinheiten, den Unauffälligkeiten. Ein hauchdünner Riss in einem einzelnen Steins eines Mosaiks. Zoro rieb sich kurz die Schläfen – man würde Unebenheiten schon finden. Gemächlich trottete er durch das Wohnzimmer, sich dabei die Jacke und Hose ausziehend, die durchweicht und klamm waren, und achtlos auf den Boden werfend. Sein Ziel war das kleine, quadratische Zimmer, das wie das verlassene Spielzimmer wirkte, das es war. Als sein Blick auf die Comichefte und die abgegriffenen Kuscheltiere bekannter Kinderserienfiguren fiel, wurde ihm bewusst, wie lange es her sein musste, dass Olvia bei ihm gewesen war. Als er sich durch die Haare strich, kam er sich vor wie ein alter Mann, der sein gebranntes Heimatland zum ersten Mal nach Jahren wieder betrat. Wenn Kuina ihn jetzt sehen würde! Er glaubte, ihr glockenhelles Mädchenlachen hinter sich zu hören, die nackten Füße, die sich über den Boden auf ihn zu bewegten. Ihre Hände legten sich um seinen Nacken, noch so schlank und weiß und sehnig wie damals, ihre weichen Hände griffen über seiner Brust ineinander und er fühlte ihr weiches Haar seinen Nacken kitzeln. Ihre freche Stimme flüsterte ihm ein „Du wirst ein seniler Greis, Zoro“ ins Ohr, ehe sie ihn los ließ und sich nach unten auf den Boden gleiten ließ. „Du hast wohl Recht, Kuina“, sagte er zu sich. Dann wurde es wieder still und nicht einmal das Gefühl von ihrer warmen Haut an der seinen blieb übrig. Gähnend schloss er die Tür hinter sich, hörte das Schloss einrasten und wanderte nun zurück ins Wohnzimmer. Zoro hörte das Handy in seiner Hosentasche vibrieren und er zog es sogleich daraus, nicht achtend auf die Hose, die da immer noch traurig auf dem Boden zusammengekauert lag. Auf dem Weg zum Badezimmer las er sich die Textnachricht durch. Tag der Abrechnung! Wenn du heute nicht zehn Uhr vor meiner Haustür stehst, bist du fällig! A. Im Rücken spürte Zoro aufkommende Wärme und erfreut stellte er fest, dass sich die Sonne wieder zaghaft an den Regenwetterwolken vorbeiarbeitete. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)