Blood Moon - Bis(s) in alle Ewigkeit von -DesertRose- (Fortsetzung von Rising Sun - Bis(s) das Licht der Sonne erstrahlt) ================================================================================ Prolog: -------- Disclaimer: => Ich verdiene kein Geld mit meiner Fanfiction. => Alle Charaktere die schon in den Twilight-Bänden ihren Auftritt hatten, gehören Stephenie Meyer. Alle Anderen, wie etwa Schüler, Lehrer und vor allem Renesmees und Jakes Kinder, habe ich selbst erfunden. Weitere Infos zur FF, Trailer, Cover & mehr http://www.renesmee-und-jacob.de.vu http://www.chaela.info Noch ein paar Hinweise zum Prolog Der Prolog ist ein Ausschnitt aus einer Szene, die weit später in der Handlung stattfinden wird. Es ist also weder ein Traum, noch eine Erinnerung. Playlist-Info Ich empfehle beim Lesen den Song, den ich beim Schreiben gehört habe und der mir von einer meiner Leserinnen, RenesmeeBlack11, empfohlen wurde: "Sorrow" => http://www.youtube.com/watch?v=GUlGL_w7UmU --------- Prolog [Jacobs Sicht] Es kostete mich jede Menge Überwindung, Renesmees traurigem, flehenden Blick zu widerstehen. Ich nahm sie in den Arm, drückte sie an mich. Ihr Schmerz war schon immer auch der Meine gewesen, doch dieses Mal, kam mein Eigener noch hinzu. Und dann öffnete sich die Tür zu Carlisles Zimmer. Der blonde Vampir mit den topasfarbenen Augen sah mich verständnisvoll an und nickte – das Zeichen für mich, dass ich eintreten durfte. Als ich gehen wollte, hielten mich Renesmees zarte Hände noch einen Moment zurück, denn sie ließ mich nicht los, hatte ihre hellen Finger noch immer in meinem Hemd festgekrallt. Ich wusste nicht, was ich ihr sagen sollte. Ich fand keine Worte, also sah ich sie einfach nur an und strich ihr mit der Hand über die Wange, über die bereits so unendlich viele Tränen gelaufen waren. Dann ließ sie mich schließlich gehen und ich betrat das Zimmer. Es war sehr dunkel hier. Durch das fahle Licht einer kleinen Lampe sah ich, bis sich meine Augen angepasst hatten, nur die schwächlich beschienen Buchrücken, die sich in den Regalen aneinander reihten. Ich weiß nicht, warum ich sie jetzt erst so richtig sah. Ich hatte schließlich mehr als dreißig Jahre Zeit gehabt, sie mir anzusehen, sie vielleicht sogar mal aufzuschlagen. Nun wünschte ich mir, ich stünde hier, um ein Buch aufzuschlagen. Aber das war ich nicht. Langsam setzte ich mich auf den Stuhl neben dem Bett. Erst jetzt wagte ich es, ihn anzusehen. Ich verfluchte meine übernatürlichen Sinne für den klaren Blick, den sie mir nun selbst im Dämmerlicht ermöglichten. Dann hätte ich vielleicht nicht gesehen, wie sein Brustkorb sich schwer hob und senkte, während sein Herz raste. Oder wie seine Haut durch die Anstrengungen und den Schweiß glänzte und wie sein schwarzes Haar an seiner Stirn klebte. Ich hatte in den dreißig Jahren zu viel Vampir in ihm gesehen, so viel, dass es mir in all den Jahren als Unmöglich erschien, dass er jemals dazu in der Lage gewesen wäre zu weinen oder zu schwitzen, aber jetzt sah ich, wie menschlich er war. Wie sehr er mein Sohn war. Den allerletzten Beweis bekam ich dann, als ich seine Hand nahm und die Nadel sah, die über einen durchsichtigen Schlauch mit der Infusionsflasche über dem Bett verbunden war. Was das für eine farblose Flüssigkeit war, wusste ich nicht. Ich hatte ja keine fünfzig mal Medizin studiert, so wie das eine oder andere Familienmitglied. Das Einzige, was ich wusste, war, dass die Heilungsfähigkeit der Werwölfe einen Venenkatheter eigentlich unmöglich machte. Doch das Gift blockierte diese Fähigkeit wohl... Als ich meinen Blick wieder davon abwandte, erschrak ich fast, als ich sah, dass er seinen Kopf in meine Richtung gedreht hatte. Seine Augen waren kaum geöffnet, aber ich meinte ein wenig von ihrem dunklen Rot wahrzunehmen. „Anthony...“, sagte ich leise. Er schloss die Augen und ich dachte schon, er sei wieder in die Bewusstlosigkeit abgeglitten, doch dann öffnete er sie wieder langsam. „Vater...“, brachte er dann heraus. „Es tut mir leid.“ Es hörte sich so an, als fiele ihm das Sprechen unglaublich schwer, als sei jedes Wort ein Marathonlauf. „Ich war dumm“, fuhr er fort. „Unsagbar dumm.“ Ich schüttelte leise den Kopf. Er schien es durchaus wahrzunehmen, ignorierte meine Geste jedoch. „Ich habe...“, hauchte er, dann versagte seine Stimme und er schloss wieder die Augen. Ich sah, wie eine Träne seine Wange hinunter lief, dann öffnete sich das Lid erneut. „Ich habe in den letzten Wochen so viele Fehler begangen.“ „Nein“, antwortete ich sanft. Ich rückte etwas näher an das Bett und beugte mich vorsichtig über den Rand, damit ich näher bei ihm war. „Ich habe Fehler begangen. In den letzten dreißig Jahren. Immer und immer wieder.“ Ich schloss die Augen für einen Moment. Vor meinem geistigen Auge sah ich das Bild eines Neugeborenen in meinen Armen. Ein Baby mit heller Haut und dunklem Haar. Wie sehr hatte ich für dieses Kind gekämpft? Was hatten wir alles auf uns genommen, um es zu schützen? „Den ersten Fehler“, sagte ich. „Habe ich gemacht, als ich dich zum ersten Mal in meinen Armen hielt. Ich hätte dich festhalten müssen, aber das habe ich nicht getan. Ich bin fortgelaufen.“ Jetzt spürte ich auch, wie bei mir die Tränen kamen. „Und von diesem Tage an bin ich immer wieder davon gelaufen. Vielleicht nicht im eigentlichen Sinne, sondern immer auf eine andere Art und Weise, aber ich bin davon gelaufen.“ Und dann tat ich etwas, was ich nicht mehr getan hatte, seit er ein Baby gewesen war, ich beugte mich vor, strich ihm den Pony zur Seite und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. „Es tut mir Leid, Ani“, flüsterte ich dann. „Daddy...“, war das Letzte was er herausbrachte. Dann waren seine Augen wieder geschlossen. Und ich hoffte, betete, dass sie es nicht für immer waren... - Ende Prolog - Kapitel 1: Happy Birthday ------------------------- Disclaimer: => Ich verdiene kein Geld mit meiner Fanfiction. => Alle Charaktere die schon in den Twilight-Bänden ihren Auftritt hatten, gehören Stephenie Meyer. Alle Anderen, wie etwa Schüler, Lehrer und vor allem Renesmees und Jakes Kinder, habe ich selbst erfunden. Weitere Infos zur FF, Trailer, Cover & mehr http://www.renesmee-und-jacob.de.vu http://www.chaela.info Noch ein paar Hinweise zum Kapitel Bitte die im Kapitel erklärten Chemie-Versuche nicht nachmachen. Das kann sehr gefährlich werden, auch wenn es sich einfach anhört! --------- Kapitel 1 Happy Birthday Der Boden war vom gestrigen Regen noch etwas aufgeweicht. Die Kieselsteine auf dem ungeteerten Pfad waren dunkel und klebten an meinen Schuhen, während ich den rund vierzig Kilometer weiten Weg von Loughrea nach Ballinasloe ging. Gewiss, ich hätte auch mit dem Auto fahren können. Aber mir machte das Laufen nichts aus. Man entdeckt unterwegs immer wieder die eine oder andere Kleinigkeit, die am Vortag noch nicht dort oder anders gewesen war. Es war wenigstens etwas Abwechslung in einem immer gleichen Rhythmus. Ich hatte es schon lange aufgegeben, einen Sinn in all dem zu suchen. Es gab sicher hunderte Wege, mit denen man die Ewigkeit besser verbringen konnte, als Tag für Tag in die Schule zu gehen. Die Welt war ja schließlich groß genug. Doch dies war die Art und Weise, wie meine Familie zu leben pflegte. Mein Name ist Anthony Ephraim Black-Cullen. Ich bin ein Wesen, für das es im normalen Sprachgebrauch keine Bezeichnung gibt, noch weniger Fisch oder Fleisch, als meine Mutter. Die konnte man wenigstens noch als Halbvampir bezeichnen. Ich dagegen ,wusste die meiste Zeit über nicht mal selbst, wo ich hingehörte – und hielt mich daher auch lieber von jeglichen Gruppenzugehörigkeiten fern. Auch meine Mitschüler hatten nach den inzwischen zwei Jahren, die ich nun mit ihnen auf die Highschool ging, gelernt, dass es zwecklos war, sich mit mir in irgendeiner Weise anzufreunden. Ich war nicht wie sie. Das spürte ich. Und das spürten sie. Um Gesprächen vor Schulbeginn von vorneherein aus dem Weg zu gehen, betrat ich den Schulhof meistens erst kurz vorm Unterrichtsbeginn, wenn alle schon in den Klassenräumen saßen und niemand sehen konnte, woher ich kam. Ob ich mit dem Bus, dem Auto oder zu Fuß kam, wusste keiner. Sie vermuteten wohl Dinge, aber das taten sie häufig. Dadurch, dass ich mich nicht im geringsten für sie interessierte, interessierten sie sich für mich umso mehr. Ich war froh nicht die Gabe meines Großvaters zu besitzen. Als ich das Klassenzimmer betrat, nachdem ich meine Schulsachen aus meinem Spind geholt hatte und durch die Tischreihen trat, wollte ich gar nicht wissen, was insbesondere die Mädchen aus meiner Klasse dachten. Wahrscheinlich sah sich selbst die mollige Sue schon mit mir zusammen auf dem Lehrerpult. Mein Platz war der ,ganz hinten rechts, in der Ecke, direkt neben einer Säule. Der Stuhl neben mir war frei, aber meine Schultasche beanspruchte ihn immer für sich, sodass niemand sonst darauf Platz nehmen konnte. Sitzen wollte dort schon lange keiner mehr, beantwortete ich die leisen Fragen doch immer mit einem freundlichen Lächeln und einem noch freundlicheren "Nein", wenn es hieß "Ist der Platz noch frei?" Sie mochten mich für arrogant halten, ich betrachtete es als Schutzmechanismus. Nicht, weil ich sie im nächsten Moment attackieren würde, sondern weil ich sowieso keine längeren Beziehungen zu irgendjemandem aufbauen konnte. Wir würden in spätestens drei Jahren wieder umziehen, da war ich mir sicher. Immerhin taten wir das seit dreißig Jahren. Entsprechend langweilig war dann auch der Unterricht. Genau wie der der anderen siebentausend Tage, die ich in der Schule verbracht hatte. Ob nun die französische Revolution, der zweite Weltkrieg, der Aufbau eines Pferdemagens oder Binomische Formeln, ich wusste alles schon. Und ich war es genau so leid, wie das Geflüster drei Tische weiter. Eigentlich wollte ich gar nicht wissen, ob Jessica sich jetzt von Steve getrennt hatte und wie sehr sie darunter litt, aber mein übernatürliches Gehör ließ mich selten etwas überhören und wenn die Mädchen sich von ihren Wochenendliebeleien erzählten, hörte ich, ohne es zu wollen, mit. Als der Unterricht dann endlich vorbei war, hielt ich mich ,wie immer, nicht sonderlich lang auf dem Schulgelände auf. Ich brachte alle meine Schulsachen zurück zu meinem Spind. Ich brauchte sie Zuhause nicht, weil ich nie etwas nachholen musste. Hausaufgaben konnte ich in wenigen Sekunden machen, bevor der Lehrer sie anschaute. Ich schloss den kleinen dünnen Schrank ab, steckte den Schlüssel in meine Tasche und verließ, ohne mich umzudrehen, das Gebäude. Mein nächster Weg führte mich dann aber nicht wieder direkt nach Hause. Ich ging in die Innenstadt, wo direkt an das Rathaus die örtliche Bibliothek angrenzte. Die Wände waren größtenteils aus dickem Glas, was dem ganzen Gebäude ein sehr modernes, frisches Aussehen verlieh. Ich wusste genau, wo ich hin laufen musste, nachdem ich es betreten hatte. Aber ich kannte jemanden, der einem Suchenden hier in wenigen Sekunden die Regalnummer des gewünschten Buches nennen konnte. Und genau nach diesem Jemand hielt ich Ausschau – und ich entdeckte sie auf einer Leiter, wo sie in drei Metern Höhe ein etwas mitgenommenes gräuliches Buch zwischen einige Andere stellte. Das lange braune Haar hatte sie gebändigt und zu einem seriösen Dutt gebunden. Ohne nach unten zu sehen, hatte sie mich bemerkt. Ihr Mund formte sich zu einem zarten Lächeln. Es war eine reine, fließende Abfolge von einzelnen Bewegungen, als sie von der Leiter stieg, fast so, als würde sie schweben. "Ani!", sagte sie begeistert und fiel mir direkt um den Hals. "Hey Schwesterchen", antwortete ich und strich ihr über den Rücken. "Alles Gute zum Geburtstag." Sie ließ mich los und sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. "Sehr witzig, Spaßvogel!", kam es kichernd zurück. "Mhm?", fragte ich. "Wir wurden am selben Tag geboren, schon vergessen?" Sie nahm zwei Bücher aus einem Regal zu ihrer Linken und ging damit durch den Gang – und ich hinterher. "Ein Grund mehr, nett zu mir zu sein und mich nicht zu beleidigen." Mariella stellte eines der Bücher einige Meter weiter wieder in das Regal. Für mich sah es vollkommen wahllos aus, aber ich nahm an, dass sie genau wusste, was sie da tat und nicht viel dabei nachdenken musste. "Wo hab ich dich beleidigt?", fragte sie, als sie sich zu mir umdrehte. "Du hast mich Spaßvogel genannt. Ich bin vieles, aber auf keinen Fall witzig." "Oh doch", sagte sie. "Du bist sogar ziemlich witzig, die verkennen alle nur deinen Humor." "Wer sind denn 'die'?", fragte ich verwundert. "Naja", antwortete sie schulterzuckend. "Alle? Abgesehen von mir natürlich." Ich lächelte. "Siehst du, das mein ich." Ich antwortete nichts, aber Mariella ließ keine Stille zu. Nachdem sie noch mal ein paar Bücher neu einsortiert hatte, stellte sie direkt die nächste Frage. "Und was machst du jetzt noch?" "Keine Ahnung", antwortete ich. "Nach Hause gehen?" "Gehen?", hakte sie nach. - "Mal schauen." "Okay", sagte sie verständnisvoll. Inzwischen standen wir vor einem Computer, auf dessen Bildschirm sie eilig herumtippte. "Wenn... wenn du mitkommen möchtest, dann kann ich auch wirklich 'gehen'." "Oh, Ani", sagte sie mit traurigem Blick. "Ich muss hier noch eine Weile arbeiten." "Du weißt, dass wir heute Abend feiern?" -"Ja." "Und das wir Besuch kriegen?" - "Ja, natürlich." "Mhm... okay, du wirst schon rechtzeitig wieder da sein", meinte ich dann zuversichtlich und wohl wissend, dass es so sein würde. - "Sieh lieber zu, dass DU rechtzeitig wieder da bist." "Du kennst mich." Sie sah von ihrem Bildschirm auf. "Deswegen sagte ich es." Einige Minuten später, nahm ich durch einige schmale Gassen, den kürzesten Weg, um aus der Stadt hinaus zu kommen. Eigentlich hatte ich keine große Lust jetzt schon nach Hause zu gehen. Ich spürte, wie so oft, den inneren Drang, auszubrechen. Aus dem Rhythmus, den Regeln, dem Müssen und dem Sollen. Das größtmögliche Gefühl von Freiheit bekam ich hier an einem ganz bestimmten Ort. Ich ging über einige Trampelpfade und Waldwege, hinter Kilconnell und Athenry, den rund siebzig Kilometer langen Weg zur Küste Irlands. Ein normaler Mensch hätte dafür wahrscheinlich einen halben Tag gebraucht, für mich waren es ,in einem einigermaßen gemächlichen Tempo, etwas mehr als drei Stunden. Auf den Wegen begegnete mir nur ganz selten jemand. Man fühlte sich, als sei man allein auf der großen weiten Welt, wenn man über die Wiesen und durch die Wälder ging. Irland wurde nicht umsonst "die grüne Insel" genannt. Das war sie. Das war sie wirklich. In meinem ganzen Leben, hatte ich schon so einige Orte gesehen, war zig mal umgezogen, doch abgesehen von Kanada und den Vereinigten Staaten, die ja groß genug gewesen waren, um unerkannt zu bleiben, hatte ich meinen Fuß auf noch keinen anderen Kontinent gesetzt. Die Entscheidung nach Irland zu gehen, hatte ich daher sehr begrüßt und ich würde es wahrscheinlich sogar ziemlich vermissen. Das Rauschen des Atlantischen Ozeans, das Peitschen der Wellen und das Kreischen der Möwen, hörte sich hier irgendwie anders an, als die Geräuschkulisse am First Beach vor La Push. Und während ich die rote Sonne ansah, die bald am Horizont verschwinden würde, um dem Mond zu weichen und an die Tage im Reservat, kam mir wieder in den Sinn, dass es längst Zeit für den Heimweg war. Aber so sehr ich es mochte durch die Gegend zu spazieren und nachzudenken. Den ganzen Weg im Eiltempo zurück zu sprinten und während dessen entweder darauf zu achten, nicht entdeckt zu werden oder permanent meinen Schutzschild aufrecht zu erhalten, darauf hatte ich nun wirklich keine Lust. Ich musste also doch auf das zurückgreifen, das meine Schwester am Nachmittag schon geahnt hatte – ich würde nicht 'gehen'. Ich würde fliegen. Obwohl ich rein theoretisch nur zu einem Viertel Vampir war, vereinigte ich mehr Vampirisches in mir, als alle meine Verwandten, die tatsächlich welche waren. Wenn ich wollte, könnte ich mich sofort in eine Fledermaus verwandeln und davon fliegen. Aber Fledermäuse waren nicht so mein Ding. Ich bevorzugte zum Fliegen dann doch eher Federn. Einen Moment noch sah ich mich um, vergewisserte mich, dass niemand in meiner Nähe war, dann verwandelte ich mich. Es war wie ein Sog, der mich aus meinem Körper riss. Zur selben Zeit spürte ich eine unglaubliche Hitze in mir aufsteigen und so schnell, wie sie gekommen war, war sie auch schon wieder verschwunden. Nun war ich ein Adler. Da mein Vater ein Gestaltwandler war, besaß ich diese Fähigkeit, genau wie mein Bruder. Anders als dieser, fühlte ich mich jedoch nicht sonderlich stark mit den Traditionen meines Vaters verbunden. Das Ergebnis war eine vollkommene Unabhängigkeit. Ich war weder in irgendjemandes Rudel und musste mir Gedanken darum machen, dass zwei Dutzend Menschen irgendwo auf der Welt in meinem Kopf steckten – das war sowieso etwas, was ich extrem hasste, daher blockierte ich immer IMMER meinen Geist – noch war ich an die Wolfsform gebunden. Ich konnte mich in jedes Tier auf dieser Welt verwandeln, ganz gleich wie groß oder klein es war. Lediglich meine Farbe konnte ich nicht beeinflussen. Was immer für ein Lebewesen ich auch war, mein Fell oder meine Federn waren stets schwarz. Knapp eine Viertelstunde später sah ich bereits unser Anwesen kontinuierlich näher kommen. Hier in Loughrea lag unsere Villa etwas abgelegen von den restlichen Häusern auf einer kleinen Anhöhe. Sie war umschlossen von einem hohen eleganten Zaun, der durch ein großes Tor passiert werden konnte. Bis auf das Pflaster vom Tor zur Auffahrt und rund um die Bauten herum lag das Gelände in typisch irländischem penibel geschnittenem Grün. Im Gegensatz zu meinem Geburtshaus in Acworth bestand unser Zuhause nun aus mehreren Gebäuden, wobei im Haupttrakt der Großteil meiner Familie in gewohnter Manier lebte, während im Nebengebäude meine Eltern zusammen mit meiner Schwester und Seth wohnten. Ein weiteres kleines Häuschen stand meinen Großeltern zur Verfügung. Ich hingegen zog mich lieber zurück und bevorzugte mein Quartier in den Kellerräumen unterhalb des Hauptgebäudes und dem Haus meiner Eltern. Und genau dort wollte ich nun auch als Erstes hin. Ich landete also geräuschlos an der Nordseite des Hauptgebäudes und huschte über eine versteckte Klappe in den Keller. Ich war es leid gewesen immer wieder frische Kleidung im Wald zu verscharren, weil ich mich spontan irgendwo verwandelte und sie deswegen zurücklassen musste. Daher hatte ich um diesen Mechanismus gebeten, der es mir erlaubte, in mein Zimmer zu kommen, ohne durch irgendein Fenster zu klettern oder nackt durchs Wohnzimmer zu laufen. Im Inneren des Gebäudes hörte ich bereits das Stimmgewirr im Wohnzimmer. In meinem Zimmer zog ich mir eine schwarze Jeans und ein schwarzes Shirt über. Wir hatten zwar November, aber meiner Familie brauchte ich keinen Frost vorspielen. Die Treppe, die vom Keller in den Flur führte, ging geräuschlos auf. Ebenso leise bewegte ich mich beim Laufen über die weißen Fliesen. Andere taten es allerdings nicht. Ich stand keine Minute da, da stürmten bereits zwei Kinder an mir vorbei und verschwanden in der Küche. Ich sah noch einen Moment auf den Türrahmen, in dem sie verschwunden waren, dann ging ich ins Wohnzimmer. Die meisten saßen auf dem Sofa und einigen Stühlen, die sie vom Essbereich herüber getragen hatten, mein Bruder jedoch, stand mit verschränkten Armen vor dem Wohnzimmertisch und lachte über irgendetwas, was ich nicht mitbekommen hatte. Leah saß in einem Sessel zu seiner Rechten. Ihr Bauch war kugelrund und sie strich zufrieden darüber. "Nein, nein auf eine Fußballmannschaft, wie Sam und Emily sie hatten, haben wir keine Lust, aber eines geht schon noch, oder zwei. Nicht wahr, mein Engel?", sagte er zu seiner Frau, beugte sich zu ihr herab und küsste sie. Leah strahlte. Und dann drehte sich mein Bruder schließlich auch zu mir um. "Ani!", rief er freudig, ging auf mich zu und umarmte mich. Will war sogar ein paar Zentimeter größer als ich. "Ich dachte schon du kommst gar nicht mehr." "Ich allerdings auch", kam es dann von hinten, wo meine Mutter stand. "Du wusstest, dass Will und Leah heute kommen, hättest du da nicht ein bisschen früher kommen können?" "Ich weiß. Es tut mir leid. Ich war ein bisschen abgelenkt", antwortete ich und strich mir durchs Haar. "Abgelenkt?", fragte mein Bruder in einem ganz speziellen Unterton, der schwer zu beschreiben, jedoch kaum zu missverstehen war. "Von der See", sagte ich und zerschlug damit seine Interpretationen. "So, wer will Kuchen?", fragte Esme dann quer durch den Raum und schon war der kurze Moment, in dem ich mal Thema war Geschichte. Um was für eine Torte es sich handelte, wusste ich nicht, ich hatte schon das Stückchen abgelehnt, bevor ich es richtig angesehen hatte, wie es da auf dem Teller lag, als es mir von Esme angeboten worden war. Ich hatte trotzdem keinen Zweifel daran, dass sie bald bis auf den letzten Krümel verschwunden sein würde. Wenn Williams Sprösslinge sie nicht vertilgten, dann gab es ja immer noch meinen Vater und Seth. Ich setzte mich einfach hin, beobachtete und hörte zu. Ich sah, wie Wills Kinder kaum still sitzen konnten, ich hörte, wie die Geburtstagslieder geträllert wurden, ich roch den stickigen Rauch der dreißig Kerzen, die ausgeblasen worden waren. Dreißig Jahre und sie alle waren gleich. Wills Tochter Madeleine war bereits zehn Jahre alt, der kleine Harry, der nach seinem Opa benannt worden war, war fünf. Beide hätten menschlicher kaum sein können. Und das Dritte war bereits im Anmarsch. Angesichts der Tatsache, dass Leahs Mutter vor neun Jahren gestorben war, würde es mich nicht wundern, wenn sie das Kleine Sue nannten, sofern es ein Mädchen war. Aber über die Sterbefälle in den letzten Jahren redete heute niemand. Heute wollten alle glücklich sein, verdrängen, dass die Menschen, mit denen sie aufgewachsen waren, wegstarben, während sie ewig leben würden. Alle, abgesehen von meinem Bruder. Ich kannte die Geschichte um Leah, Sam und Emily und Will kannte sie auch. Es war kein Geheimnis gewesen, genauso wenig wie die Sache mit der Prägung. Und genau deswegen war ihm alles Andere egal gewesen. Für Leah hatte es keinen größeren Wunsch gegeben, als Mutter zu werden. Und um ihr diesen Wunsch zu erfüllen, zog Will mit Achtzehn nach La Push. Dorthin wo es keine Vampire gab, die sie dazu zwangen immer wieder dem Wolfsinstinkt nachzugeben, jener Verwandlung, die ihren Körper einfror und ihr ein normales Leben unmöglich machte. Keine zwei Jahre später hatte sich der erste Nachwuchs angekündigt. Und den Posten des Stammesoberhauptes der Quileute hatte er auch noch angenommen, nachdem Großvater Billy in den Ruhestand gegangen war. Leah hingegen brachte den Kindern im Reservat Quileute bei. Für beide lief alles rund. Und mein Vater platzte fast vor Stolz, jedes Mal, wenn er Will sah. Will, der nun Häuptling war. Will, der geprägt worden war. Will, der Kinder bekommen hatte. Will, der es, trotz seiner Unnatürlichkeit, geschafft hatte, ein durch und durch normales Leben zu führen. Jenes Leben, das mein Vater sich gewünscht hatte, bevor er sich in meine Mutter verliebt hatte. Während sich alle über Wills Kinder und Williams Babyjahre unterhielten, stahl ich mich davon. Ich machte mich einfach unsichtbar und ging zurück in den Keller und von dort in mein Zimmer. Eine Weile saß ich nur auf dem Bett und starrte auf den Fußboden. Nein, ich hasste meinen Bruder nicht. Nein, ich war nicht auf ihn eifersüchtig. Es kostete mich manchmal ordentlich Kraft, dem aufkeimenden Gefühl von Neid nicht nachzugeben, es zu unterdrücken. William war mein großer Bruder, sagte ich mir immer wieder und wieder und ich liebte ihn. Wenn es da ein dunkles Gefühl in Bezug auf ihn in mir gab, dann war dies nicht Wills Schuld, sondern die meines Vaters. Gedankenverloren strich ich mir die Haare von der Stirn aus dem Gesicht, aber wie immer, fielen sie sofort wieder zurück in ihre alte Position. Ich seufzte. Ich spürte, dass ich frische Luft nötig hatte. Dass ich hier raus musste. Ich stand auf, ging zu dem Kläppchen in meinem Zimmer, das Rosalie gern als "Katzenklappe" bezeichnete, was irgendwie auch nicht falsch war und öffnete es. Ich legte die Hände auf den Sims davor und wollte mich gerade mit ihnen abdrücken, um nach oben zu kommen, doch ich hatte gerade angesetzt, als hinter mir die Tür aufging. "Hey, Kleiner", hörte ich die sanfte Stimme meines Bruders. So hatte er mich schon immer genannt, auch wenn ich zeitweise größer gewesen war, als er. Ich drehte mich langsam zu ihm um. Will deutete mit einem Nicken auf den dunkelgrünen Sessel im Eck. Ich schloss also die Klappe wieder und ließ mich dann auf dem Sessel nieder. Mein Bruder blieb an seiner Stelle stehen. "Ich finde es schade, dass du erst zu spät kommst und dann gleich wieder abhaust", sagte er in einem sehr enttäuschten Ton. "Welchen Unterschied macht es, ob ich nun da oben rum sitze oder hier?", erwiderte ich nach einer kurzen Stille. "Einen Großen", meinte Will. "Du musst ja nicht viel reden, wenn du nicht möchtest-" "Es geht nicht darum, was ich WILL", fiel ich ihm ins Wort. "Es interessiert niemanden, was ich will." Er winkte ab. "Ach, Ani, das ist doch kindisch. Du bist dreißig Jahre alt, wann entschließt du dich dazu, dich auch so zu verhalten?" Ich antwortete nichts. Stattdessen ließ ich Taten sprechen. Ich ließ mich einfach tiefer in den Sessel sinken. "Wie wäre es, wenn du dir endlich mal eine Partnerin suchst?" "Oh, verzeih, dass ich noch nicht geprägt worden bin", antwortete ich säuerlich. "Davon rede ich gar nicht. Schau dir doch zum Beispiel mal Rosalie und Emmett an oder unsere Großeltern, die haben sich alle ohne Prägung gefunden. Ist dir denn noch nie ein Mädchen begegnet, für das du was empfunden hast?" "Oh ich hab schon viel für sie empfunden", antwortete ich und lächelte dabei leicht. "Ich rede nicht von deinen Liebeleien, Anthony", sagte Will nun selbst etwas sauer. "Willst du dein Leben lang so weiter machen?" "Was nützt es mir, wenn ich es ändere? Ich kann mit keiner eine längere Beziehung führen, weil sie irgendwann sterben wird." "Du kannst sie verwandeln", sagte Will. "Und wenn sie nicht die Richtige ist? Die Scheidungsrate bei Vampiren ist nicht sonderlich hoch, ich will sie nicht unnötig in die Höhe treiben und die Ewigkeit ist mir ein klein wenig zu lang, um sie mit der Falschen zu verbringen." "Du lässt es ja Nichtmal zu, dass sie in dein Leben treten kann", antwortete mein Bruder kopfschüttelnd. "Will, es geht nicht immer nur darum, zu heiraten, Kinder zu kriegen und einen Baum zu pflanzen", konterte ich nun, stand auf und ging zurück zur Klappe. "Mein Leben ist nicht so perfekt, wie deines und wird es vielleicht nie sein. Aber das ist es auch nicht, was ich mir wünsche." "Was ist es dann?", fragte mein großer Bruder. Ich schüttelte nur den Kopf und öffnete dann die Katzenklappe. "ANTHONY!", rief mein Bruder, aber ich ging einfach raus. Er versuchte mir zu folgen, aber als er draußen stand, hatte ich mich bereits verwandelt und war davon geflogen. Diesmal war es ein Rabe. *** Ich flog solange durch die finstere Nacht, bis die Sonne wieder aufging. Ich hatte keine Lust, meinem Bruder noch mal zu begegnen. Obwohl ich wusste, dass ich ihn wahrscheinlich für einige Monate, wenn nicht sogar Jahre nicht mehr sehen würde, blieb ich fern. Der Zorn, über den gestrigen Tag, war einfach noch zu groß. Ich landete in einem kleinen Waldgebiet nahe Ballinasloe, wo ich in einer Kiste, die ich in einem hohlen Baumstumpf platziert hatte, sicherheitshalber ein paar Klamotten gelagert hatte. Vom Wald aus ,lief ich dann zur Schule und betrat gewohnt spät das Klassenzimmer. Dass ich die Nacht durchgemacht hatte, sah man mir natürlich nicht an. Ich hatte mich bereits mental darauf eingestellt, während des Unterrichts ein wenig abschalten zu können. Meine Noten waren so exzellent, dass es meine Lehrer nicht kümmerte, ob ich ernsthaft am Unterricht teilnahm oder nicht. Und hier hinten in der letzten Reihe hatte ich ja meine Ruhe. Eigentlich. Denn ausgerechnet heute sollte dem nicht so sein. Schon als der Lehrer direkt nach der Begrüßung ein seltsames Lächeln auf den Lippen bekommen hatte, wurde ich stutzig. "Liebe Schüler", begann er. "Heute bekommen Sie alle eine neue Mitschülerin." Er zeigte auf die geöffnete Tür, durch die ein junges schlankes Mädchen trat. Sie hatte schulterlange blonde Haare mit einem sehr leicht rötlichen Einschlag, was ihnen eine seltsame Farbe verlieh. Ein kräftigeres, dunkleres Gelb, jedoch nicht das übliche Straßenköterblond. Sie hatte ein rundliches Gesicht, das mit einigen Sommersprossen bestückt war. Ihre Augen waren tiefblau. "Möchtest du dich kurz vorstellen?", fragte der Lehrer, woraufhin das Mädchen freundlich nickte und sich dann der Klasse zuwandt. "Mein Name ist Catriona O'Grath. Ihr könnt mich aber gerne Cat oder Cathie nennen. Ich wurde ursprünglich in Irland geboren und bin dort aufgewachsen, aber mein Vater und ich reisen seit einiger Zeit durch die Gegend, weswegen ich immer jede Menge Orte sehe, aber auch leider sehr oft die Schule wechseln muss. Naja, und momentan haben wir uns eben hier niedergelassen." Sie wartete einen Moment, und nachdem keine Fragen kamen, drehte sie ihren Kopf wieder in Richtung der Lehrkraft. "Vielen Dank", antwortete er. "Du kannst dich jetzt setzen." Catriona sah sich zum ersten Mal im Klassenzimmer richtig um. Ihre Augen huschten flink durch die Reihen. Insgesamt gab es zwei freie Stühle in diesem Raum und ich wusste von vorneherein, dass sie sofort den neben mir ansteuern würde. Ich machte mich bereit meine üblichen Antworten zu geben, wenn die Fragen kommen würden. Ich wusste nicht, ob sie es geahnt hatte oder ob sie einfach nur frech war, aber anders als alle Anderen vor ihr, fragte sie Nichtmal. Während ich sie beobachtete, wie sie mit ein paar gezielten Griffen meine Tasche auf den Boden stellte und sich einfach neben mich setzte, bemerkte ich, wie meine Mitschüler teilweise mit offenem Mund nach hinten starrten. Manch einem der Mädchen war die Eifersucht förmlich ins Gesicht geschrieben. Der Lehrer fuhr sogleich mit dem Unterricht fort und meine ungewollte Nebensitzerin machte sich in aller Ruhe daran, ihre Stifte auszupacken. "Du brauchst dich hier gar nicht erst häuslich einzurichten", sagte ich leise. "Morgen schon sitzt du nämlich in der dritten Reihe auf dem fünften Stuhl von links." "Sagt wer?", antwortete sie hochnäsig, ohne mich anzusehen. "Ich", kam es ebenso von mir zurück. "Und wer ist 'Ich'?" Jetzt erst sah sie mich an. Ich bot ihr die Hand zum Handschlag an. "Anthony Ephraim Black-Cullen. Freut mich nicht, deine Bekanntschaft zu machen." Ich lächelte sie an, als ich das sagte und ihr Mund formte sich ebenso zu einem zarten Lächeln. Ihre Augen wanderten kurz zu meiner Hand, dann sah sie wieder den Lehrer an und ignorierte mich. Ich nahm meine Hand wieder runter und folgte nun auch wieder augenscheinlich dem, was der ältere Herr vorn am Pult so von sich gab. Im Augenwinkel beobachtete ich jedoch stets das Mädchen neben mir. Als der Gong zur Pause ertönte, stand ich wie gewohnt auf und ging nach draußen in den Hof, wo ich mich einfach nur auf eine der Bänke setzte, während alle Anderen sich in der Schulkantine brav anstellten und auf ihr Essen warteten. Sofort schweiften meine Gedanken wieder ab. Zurück zum gestrigen Abend. Will und seine Familie waren jetzt wahrscheinlich schon auf dem Rückflug nach La Push, aber das war ja genau meine Absicht gewesen. Während ich nachdachte, sah ich im Augenwinkel, wie sich jemand meinem Sitzplatz näherte. Es war die freche neue Mitschülerin, die ihrem bisherigen Verhalten treu blieb und sich schon wieder einfach neben mich setzte. Sie sagte nichts, ließ sich einfach nur nieder und packte ein Brot aus, das sorgfältig in Butterpapier eingewickelt worden war. Im nächsten Moment machte sich dann der für mich unangenehm starke Geruch von Käse breit. Sie schien das nicht zu stören. Im Gegenteil, wahrscheinlich fand sie das auch noch lecker, denn sie biss genüsslich in ihre Mahlzeit. "Fragst du eigentlich nie, bevor du irgendetwas tust?", wollte ich nach einer Weile spontan wissen. Sie kaute an ihren Bissen weiter und schluckte, ehe sie antwortete. "Es ist ja nicht so, dass ich neben dir rauche." - "Es riecht mindestens genauso unangenehm." "Dann setz dich weg." - "Ich saß zuerst hier, falls du das vergessen hast. Du hast dich zu mir gesetzt. Ist dein Vater so viel durch die Gegend gereist, dass er es versäumt hat, dir Manieren beizubringen?" Catriona lachte. "Das sagt gerade der Richtige. Einer Dame bietet man einen Platz an, wenn sie vor einem steht." - "Es hat vor dir nie jemanden gestört, dass ich gern allein sitze." "Es gibt immer ein erstes Mal", antwortete sie, zwinkerte mir zu und stand dann auf. Ich sah ihr nach, wie sie ihr Butterpapier sorgfältig in den Müll warf und dann zurück ins Schulgebäude ging. Als ich kurz nach Pausenende das Klassenzimmer betrat, saß sie wieder auf dem Platz neben mir. Während ich um den Tisch herum lief um an meinen Platz zu kommen, warf ich einen Blick auf das Papier, das sie gerade las. Es handelte sich um eine Schulbuchliste. Ich setzte mich hin und sie seufzte. Zuerst dachte ich, dass sie das wegen mir tat. "Es dauert eine Weile, bis ich die Bücher beisammen habe, kann ich so lange bei dir mit rein schauen?" Ihr Ton war regelrecht sanft und freundlich. "Tu dir keinen Zwang an", antwortete ich und gestikulierte mit einer Hand. In der vorletzten Stunde hatten wir dann Irisch. Cat sah mich nochmal kurz an, um sich zu vergewissern, das ich damit einverstanden war, dann schob sie das Buch von meiner Tischhälfte zu ihrer und schlug es auf. Als sie die Seite gefunden hatte, schob sie es zurück in die Mitte zwischen uns beide. Kaum hatte der Lehrer die Aufgabe genannt, schrieb sie eilig drauf los. Sie musste nur immer mal wieder ins Buch schauen, dann huschte ihr Stift flink übers Papier. Man merkte, dass sie Irin war und die Sprache perfekt beherrschte. Kaum hatte sie ihre Aufgabe fertig, musterte sie mich und mein leeres Blatt Papier. Sie sah mich verwundert an. Ich wollte nicht den Eindruck erwecken, ich hätte keine Ahnung was die Aufgabenstellung war oder das ich die Sprache nicht könnte, also las ich im Augenwinkel, was in dem Buch stand und schrieb dann alles fein säuberlich auf mein Blatt. Für einen normalen Menschen musste es so aussehen, als hätte ich die Aufgabe gemacht, ohne ins Buch zu schauen. Cat sah mich sichtlich verwundert an, sie rückte etwas näher und las mein Geschriebenes. "Wie lange bist du schon in Irland?", wollte sie wissen. "Zwei Jahre", antwortete ich. Ich hatte es nicht so sehr mit Lügen. Welche Vermutungen sollte sie aus dieser Information schon ziehen? Wenn jeder mit etwas mehr Geschick im Lernen und anderen Talenten ein Vampir war, dann war die private Mädchenschule fünf Blöcke weiter definitiv voll davon. Die Verwunderung blieb ihr ins Gesicht geschrieben, doch sie fragte nicht weiter nach. Die letzte Stunde war ebenfalls Irisch und ging sehr zügig vorbei. Mein nächster Gang war wieder der zu meinem Spind, wo ich meine Bücher ablegte. Als ich die Tür schloss, lief Catriona gerade an mir vorbei. Sie hob kurz die Hand zum Abschied und verließ anschließend das Gebäude. Ich für meinen Teil ging heute nicht zur Stadtbibliothek. Ich nahm an, dass Mariella nicht dort war - und sollte recht behalten. Als ich die Kellertreppe hoch ging und gerade die Tür öffnete hörte ich noch ihre Glockenstimme. "... es ist nicht einfach", sagte sie zu meiner Großmutter. Weiter redete sie nicht, denn sie hatte mich schon bemerkt und drehte sich um. "Ani", sagte sie dann und sah mich an, wie ich im Türrahmen der Küche stand. Ohne Umschweife ging sie wieder auf mich zu und umarmte mich. Bella sah mich mit ihren goldenen Augen durchdringend an. Obwohl sie die selbe Farbe hatten, wie die der Anderen, war ihr Blick für mich ganz speziell, denn es waren die einzigen Augen, die mich wirklich sehen konnten. "Ah sieh an", hörte ich nun Seths freundliche Stimme. Er lief an mir vorbei in die Küche und rupfte sich im Gehen eine Traube aus der Schale, die auf dem Tisch stand. "Da ist ja unser Ausreißer." Ich verschränkte die Arme und lehnte mich gegen den Rahmen hinter mir. Seth setzte sich auf einen Stuhl und meine Schwester ging zu ihm, woraufhin er sie zu sich auf den Schoß zog. Und dann spürte ich ein unangenehmes Gefühl in mir aufsteigen, dessen Ursache gerade in schnellem Tempo auf mich zu kam: mein Vater. Ich hörte seine Schritte, als er die Verandatreppen hochkam, spürte förmlich die Wut die ihn umgab und wäre am liebsten direkt abgehauen. Und tatsächlich kam mein Vater mit grimmigem Gesicht und geballten Fäusten auf mich zu marschiert. "Wo bist du gewesen?", fragte er augenscheinlich noch ruhig. Hinter ihm sah ich, wie meine Mutter nun ebenfalls durch die Veranda kam. "In der Schule, wo sonst?", antwortete ich tonlos. "Hör auf mich zu verarschen, Anthony", fauchte er unter zusammengebissenen Zähnen. "Wenn du mir nicht glaubst, ist das nicht mein Problem." "Geht dir eigentlich die ganze Welt am Arsch vorbei?", fragte er dann zornig. Oh, wie originell seine Ausdrucksweise doch gelegentlich war. "Dein Bruder hätte sich gern von dir verabschiedet, schließlich wird er jetzt eine Weile nicht mehr kommen können." "Hätte, könnte, wollte, würde", antwortete ich in gelangweiltem Ton. "Ich will auch viel, wenn der Tag lang ist, Vater." Und dann machte ich mich unsichtbar. "Anthony!", rief mein Vater jetzt noch wütender. "Hör auf mit diesem Scheiß!" Ich musste fast lachen. Will und mein Vater waren sich in manchen Situationen wirklich erschreckend ähnlich und ich fragte mich, ob mein Bruder durch die Gene so geworden war oder ob sich das einfach so ergeben hatte, nachdem er so viel mehr Zeit mit meinem Vater verbracht hatte, als ich. "Bella!", kam es als Nächstes aus seinem Mund. Aber glücklicherweise hatte meine Großmutter nicht sonderlich Lust seinem Wunsch nachzukommen und ließ ihr Schutzschild unten. "Jacob!", mahnte meine Mutter. "Lass ihn doch in Ruhe, bitte." Und das brachte schließlich auch meinen Vater zur Ruhe. Als Nächstes sahen die Anwesenden nur noch, wie sich die Kellertür wie von Geisterhand öffnete und schloss. Unten ging ich ins Bad und schloss auch hier fein säuberlich die Tür hinter mir. Es kam zwar häufig vor, dass ich mit meinem Vater stritt - sogar sehr häufig - aber ich war zumindest nicht dafür bekannt auszurasten oder Türen zuzuschlagen. Das war dann eher die Verhaltensweise meines Vaters. Und genau diese ruhige Art hatte dafür gesorgt, dass ich erst sehr sehr spät die Fähigkeit zur Gestaltwandlung entdeckt hatte. Wann immer ich in Bedrängnis gekommen war, war ich früher eher vor Angst unsichtbar geworden, aber verwandelt hatte ich mich erst, als ich schon fast ausgewachsen war und das Unsichtbar werden unter Kontrolle hatte. Doch auch wenn ich es nicht so offen zeigte, die ständigen Streitereien belasteten mich. Ich wünschte, es wäre anders. Jedoch, wann immer ich meinen Vater sah, verspürte ich dieses unangenehme Gefühl. Und ich kannte nicht einmal den Grund. War es vielleicht, weil ich mir immer wie ein Dorn in seinem Auge vorgekommen war? Der zweite Sohn, der Unwichtigere. Der der nicht so sehr Wolf war. Der der mehr Vampir war. Der der alles in sich hineinfraß. Der nicht in der Lage war offen über irgendetwas zu reden. Ich schloss die Augen und ließ mir das Wasser direkt über den Kopf und das Gesicht laufen. Ich hörte nur noch das Plätschern des Wassers, das Rauschen in meinen Ohren und versuchte mich zu beruhigen. Erst als das Wasser langsam kalt wurde, stellte ich es aus und verließ die Dusche. Ich zog mir meinen schwarzen Bademantel an und ging zurück zu meinem Zimmer. Schon als ich den Türknauf berührte, spürte ich, dass jemand in meinem Zimmer war. Langsam öffnete ich sie und trat ein. Im Halbdunkeln meiner Nachttischlampe saß meine Mutter auf meiner Bettkante. Als ich reinkam, drehte sie ihren schönen Kopf mit dem seidigen langen bronzefarbenen Haar zu mir. "Mutter..?", brachte ich leise hervor. Es war mehr eine Feststellung, aber auch eine Frage und eigentlich bedeutete es eher 'Was machst du hier?', aber meine Mutter gehörte zu den wenigen Leuten in meinem Leben, die mich auch so verstanden. Sie legte ihre Hand auf eine Stelle des Bettes neben sich und deutete mir an, ich solle mich dorthin setzen. Langsam ging ich zu ihr und setzte mich neben ihr aufs Bett, allerdings nicht nur an der Bettkante, so wie sie, sondern ganz darauf. Sie drehte ihren Oberkörper in meine Richtung und sah mich an. Ihre schokoladenbraunen Augen sahen traurig aus. Ich konnte in dem fahlen Licht nicht ganz erkennen, ob sie geweint hatte oder nicht, aber ich meinte, etwas Salz in der Luft zu riechen. "Hast du geweint?", fragte ich leise nach. Sie senkte den Blick. Ich wusste nicht, ob sie auf meine Bettdecke starrte oder auf meine Hand. "Mutter?", hakte ich erneut nach. Sie schüttelte kurz den Kopf, schürzte die Lippen und sah mich dann wieder an. "Ani, warum tust du das?", fragte sie mich nun im Gegenzug, ohne auf meine Frage einzugehen. Jetzt war ich der, der nach unten sah. "Ich weiß es nicht." "Du weißt es nicht? Oder willst du es mir nur nicht sagen? Ani, bitte rede mit mir", flehte sie fast. Dann spürte ich ihre sanfte Haut. Sie nahm mein Gesicht in ihre Hände, sodass ich sie anschauen musste, aber sie musste hochschauen, weil ich größer war, als sie. "Du weißt, dass du mit mir reden kannst, ganz gleich, was es ist." Ich lächelte und nickte dann. "Du musst wissen, es ist nicht leicht für deinen Vater, und für mich", fuhr sie fort, nachdem sie ihre Hände wieder runter genommen hatte. "Will ist jetzt schon dreißig und wir werden ewig weiterleben, aber Will nicht. Und deswegen müssen wir die Zeit, die uns bleibt ,gut nutzen. Sie vergeht viel zu schnell. Viel viel zu schnell. Das ist Jacob vor einem Jahr, auf Billys Beerdigung, wieder so richtig klar geworden. Er versteht nicht, wie du sie so verschwenden kannst." "Mom, es geht nicht um Will. Natürlich will ich die Zeit mit ihm verbringen, aber gestern da... da...", ich brauchte einen Moment, suchte nach den Worten. "Mein Gespräch mit ihm, es ging um Vater." "Ani", sagte sie dann sanft. "Ich weiß, dass dein Bruder eine andere Bindung zu Jacob hat, als du." Ich sah sie an, nachdem sie den Satz beendet hatte. Sie strich mir eine Strähne aus dem Gesicht und lächelte mich an. "Aber das bedeutet nicht, dass er dich weniger liebt. Dein Vater liebt dich, sogar sehr. Und es wird die Zeit kommen, da wird er es dir auch zeigen." Sie sah mich noch einen kurzen Moment an und schien den Satz wirken zu lassen. Dann stand sie langsam auf, doch bevor sie ganz raus ging, drehte sie sich noch mal um. "Oh... deine letzte Jagd ist eine ganze Weile her, willst du noch was essen? Seth und Jake essen oben gerade zu Abend. Ich könnte dir was runter bringen." Ich schüttelte nun ebenfalls mit einem leichten Lächeln den Kopf. "Nein, danke. Ich geh morgen Abend jagen." "Okay", antwortete meine Mutter. "Dann Schlaf gut, mein Schatz." "Gute Nacht, Mom." *** Am darauffolgenden Morgen ging ich wieder zu Fuß zur Schule. Die Luft war diesmal angenehm kühl und rein. Über den Feldern lag noch ein Nebelschleier und ich konnte den Morgentau riechen. Die Sonne blitzte vom Himmel herab und ließ das gefrorene Gras glitzern. In der Ferne sah ich ein Kaninchen vorbei hüpfen. Es wäre ein netter Snack gewesen, aber ich freute mich innerlich einfach auf mein abendliches Mahl im Wald und ließ das Kaninchen leben. Wenn Catriona heute wieder so ein übel riechendes Käsebrot auspackte, dann würde mir sowieso alles vergehen. Irgendwie verwunderte es mich fast selbst, dass ich einen Menschen, den ich erst einen Tag kannte, schon in meine Gedankengänge einbezog, ebenso als müsste ich mich schon viel länger mit ihr rum ärgern. Wahrscheinlich hatte ich auch nur unterwegs geahnt, dass das blonde Mädchen wieder auf dem Stuhl saß, auf dem sonst meine Tasche Platz nahm. "Guten Morgen, Tony", sagte sie frech und sah mich im Augenwinkel an, als ich mich neben sie setzte. Ich verdrehte die Augen. "Es heißt Anthony. Nenn. Mich. Niemals. Wieder. 'Tony'!", fauchte ich. "Okay, Tony", antwortete sie dann. "Vielen Dank auch", sagte ich sarkastisch. Sie lächelte und sah dann wieder nach vorn. Die ersten Stunden verliefen gewohnt ruhig. Der Großteil der Klasse war nur noch körperlich anwesend, holte jedoch geistig den fehlenden Schlaf nach. Der Lehrer schien daran wenig Interesse zu haben oder er bemerkte es ganz einfach nicht. In Irisch versuchte Cat diesmal ihr Blatt flinker vollzuschreiben als ich, scheiterte aber daran. Ihrem Blick konnte ich entnehmen, dass sie es wieder versuchen würde. Richtig lustig wurde der Tag erst in Chemie. Unsere Chemielehrerin war eine regelrechte Powerfrau und strahlte beim Anblick von Kohleklumpen, die mit irgendwas reagiert hatten, als handle es sich um einen 15-karätigen Diamanten. Auch heute stand sie voller Tatendrang vor uns, dann packte sie plötzlich ihren Geldbeutel aus und lief einmal durch alle Sitzreihen, wobei sie immer zwei Schülern je einen Fünfeuroschein auf den Tisch legte. Alle starrten verblüfft auf das Papier, doch erst als sie wieder vorn stand, klärte sie uns auf. "Heute verbrennt ihr den Geldschein - und danach will ich ihn wieder zurück!" Die Klasse brach in Gelächter aus und fragte sich wahrscheinlich, was sie mit den Geldaschenhaufen noch wollte. Ich lächelte nur. Ich wusste ja, auf was sie hinaus wollte. "Alles, was ihr dazu braucht, ist in der Kiste vorn, den Rest holt ihr euch wie immer aus den Schränken." Ich ging erst ganz zum Schluss zu den Schränken, um die Utensilien zu holen. Ich hatte keine Lust auf das Gedränge. Da Catriona nicht wusste, wo sich was befand, blieb sie einfach am Platz. Als ich schließlich zum dritten Mal wieder an den Tisch kam und die Chemikalien abstellte, sah sie etwas ratlos drein. "Und was machen wir jetzt damit?" Ringsum roch ich den Geruch von verbrennendem Papier und der eine oder andere Schüler sah ziemlich geschockt aus, als das kostbare Scheinchen nur noch ein verkohltes schrumpliges Papier war. Da war wohl nichts mehr mit zurückgeben. Und dabei war es doch gar nicht so schwer. Ich nahm eine Schüssel und kippte den Spiritus und Wasser hinein. Dann legte ich den Geldschein in das Gemisch und wartete, bis er sich damit vollsog. Zu guter Letzt gab ich noch ein wenig Salz hinzu, dann nahm ich den Schein mit einer Zange heraus und zündete ihn an. Er ging zwar sofort in Flammen auf, aber als sie erlischten, war der Schein unbeschadet. "Wow", sagte Cathy. Ich lächelte. "Moment." Ich legte den Schein und den Rest beiseite und fing wieder von vorn an. Da ich keinen Schein mehr hatte, nahm ich einfach einen Fünfziger aus meiner Tasche. Diesmal ließ ich das Kochsalz weg und kippte stattdessen Barium hinein. Der Schein brannte wieder lichterloh - diesmal war die Flamme allerdings grün. "Filmreif", sagte Cathy. "Sehr schön", sagte die Lehrerin, als sie unseren gelungenen Versuch gesehen hatte. Sie war von mir allerdings nichts anderes gewohnt, deswegen hielten sich die Lobeshymnen in Grenzen, wenngleich sie jedes Mal aufs Neue strahlte. Beim Aufräumen vor der Pause half Cat mir dann. "Du kannst also nicht nur perfekt irisch, du bist auch noch begabt darin, Geldscheine zu verbrennen." Ich antwortete nichts, sondern ging einfach zurück zu meinem Platz. In wenigen Minuten startete nämlich der zweite Versuch. "Gewöhn dich schon mal dran. Sie macht nämlich fast nur praktische Versuche", flüsterte ich zu der Blonden und deutete damit auf die Lehrerin. "Immer noch besser als trockene Theorie", antwortete Catriona. "Außerdem hab ich ja dich." Allerdings war ich dieses Mal keine große Hilfe. Jetzt sah ich etwas baff drein, als wir knapp zehn Minuten später Erdbeeren und Sahne auf unserem Tisch stehen hatten. "Wir sollen Erdbeereis machen?", fragte ich verdutzt. "Bin ich im falschen Fach?" Catriona kicherte und begann dann eilig die Erdbeeren klein zu schneiden. "Lass mich raten", sagte sie während sie die Früchte vom Grün befreite. "Kochen ist bei euch Frauensache?" "Mehr oder weniger", antwortete ich. Was hätte ich auch sagen sollen? Das man bei uns selten kochte, weil wir lieber in den Wald gingen und Tieren das Blut aussaugten? "Typisch Männer", sagte sie dann. "Mein Dad ist genauso." Als sie fertig war begann sie die Sahne mit den Erdbeeren und jede Menge Zucker zu verrühren. Ich saß einfach nur stumm daneben, hatte ich doch keine Ahnung von der Zubereitung. "So und was jetzt?", fragte Cat irgendwann. "Wo ist der Kühlschrank?" Erst als sie das fragte, verstand ich den chemischen Aspekt der Eisrührerei. "Der ist nicht nötig", erkannte ich. - "Wie?!" Vorn am Pult stand in der Kiste mit den Chemikalien die man für die aktuellen Versuche brauchte auch flüssiger Stickstoff. Ich nahm also einen der Behälter und kippte das Zeug in Catrionas rosanen Erdbeereismischung. Und damit waren dann alle zufrieden. Ich, weil ich bei diesem Versuch nicht ganz nutzlos war, Catriona weil sie ihr Erdbeereis gekühlt hatte und die Lehrerin, weil wir zu den Schülern gehörten, die ihren komischen Versuch verstanden hatten. Der Unterrichtstag war fast vorbei, als wir noch im fast ganz leeren Chemiesaal saßen und Cat das selbst gemachte Eis aß. "Und du möchtest wirklich nichts?", fragte sie. Ich winkte ab und schüttelte den Kopf. Dann sah ich aus dem Fenster. Der Himmel war bewölkt aber ich konnte sehen, dass es im Begriff war Dunkel zu werden. "Hey", sagte Catriona dann, damit ich sie ansah. "Tut mir Leid, dass ich dich heute morgen Tony genannt hab. Ich wollte dich nicht ärgern.. okay doch eigentlich schon." Wieder musste ich lächeln. Irgendwie war das verrückt. Ich empfand ihre Gesellschaft bereits als angenehm. Lieber saß ich hier bei ihr, als Zuhause bei meiner Familie. Es gab nur eine Person, bei der ich jetzt mehr sein wollte. Und dorthin würde ich jetzt gehen. Wie eigentlich jeden Nachmittag. "Ich muss jetzt gehen", sagte ich zu Catriona und stand auf. "Bis morgen." Dann verließ ich das Schulgebäude um, über die gewohnten Pfade ,zur Stadtbibliothek zu gelangen. Ich war relativ spät dran. Wenn ich mich nicht beeilte, würde ich sie verpassen. Auf den Straßen war nicht viel los, wegen des relativ ungemütlichen Wetters. Wahrscheinlich würde bald der erste Schnee kommen. Ich entschloss mich gerade etwas schneller zu gehen, da hörte ich von hinten eine bekannte Stimme. "Hey!", rief Cat und rannte auf mich zu. Ich sah sie verwundert an. "Hast du was vergessen?" "Nein, ich will dich nur ein bisschen stalken", antwortete sie keck. Ich hob eine Augenbraue, dann drehte ich mich um und ging einfach weiter. Cat folgte mir auf dem Fuß. "Wohin willst du denn? Vielleicht haben wir den selben Weg." Entnervt verdrehte ich die Augen, was sie allerdings nicht sah, weil sie hinter mir lief. Wir liefen gerade an einer engen schattigen Sackgasse vorbei. Plötzlich blieb ich stehen. Catriona lief fast gegen mich, aber so weit kam es gar nicht, denn im nächsten Augenblick hatte ich sie schon an den Schultern, schob sie, mit bedacht menschlicher Schwäche, in die dunkle Seitengasse und drückte sie hinter einem großen grauen Container gegen die Backsteinwand. "Was muss ich tun, damit du mich abseits der Schule nicht verfolgst?", fragte ich. Der Wortlaut an sich mochte sich böse anhören, aber mein Tonfall und mein Blick verrieten ihr, dass ich es eigentlich eher gespielt meinte, als ernst. "Küss mich", antwortete sie wie aus der Pistole geschossen. Und ebenso schnell reagierte ich. Ich ließ ihre Schultern los und legte meine Hände links und rechts von ihr gegen die Wand, so dass sie nicht ausweichen konnte, dann küsste ich sie. Im ersten Moment schien sie noch überrascht, doch dann fiel ihre Schultasche zu Boden, sie grub ihre Hände in meine Haare und erwiderte meinen Kuss. Unser Kuss wurde schnell leidenschaftlicher. Ihre Hände wanderten von meinen Haaren über mein Gesicht, dann vergruben sie sich in meiner Jacke. - Und dann brach ich plötzlich ab, als ich spürte, dass wir Gesellschaft bekommen hatten. Ruckartig drehte ich mich um. In wenigen Metern Abstand, standen zwei Gestalten in schwarzen Umhängen. Sie hatten Kapuzen auf und kamen nun langsam näher. "Och wie niedlich, junge Liebe", sagte eine sehr kindliche Stimme. Als die Person näher kam, sah ich, dass es sich um ein junges Mädchen handelte. Sie mochte vielleicht wie Fünfzehn aussehen, aber dass sie das nicht war, erkannte ich an ihrem süßlichen Geruch - und vor allem an ihren roten Augen. Solche Augen kannte ich nur von einigen Freunden der Familie aus anderen Zirkeln. Jene Vampire, die nicht auf Menschenblut verzichteten. Die bullige Gestalt neben dem Mädchen war ein Kerl, dessen Augen ebenfalls rot waren. Ich hatte nur Geschichten von ihnen gehört, ich hatte sie nie gesehen. Aber ich wusste sofort, wem ich hier gegenüberstand. Die roten Augen und die schwarzen Umhänge, verrieten sie. Die Volturi. Meine Familie hatte meinen Geschwistern und mir von ihnen erzählt. Der größten und ältesten bekannten Vampirgemeinschaft, die in Italien lebte und für die Einhaltung der Gesetze im Vampirreich zuständig war. Oder besser: sich selbst dafür auserkoren hatte. Sie hatten irgendwann mal einen der Ihren bei uns vorbeigeschickt. Allerdings war dieser Jemand mehr ein Freund der Familie gewesen, ähnlich wie der irische Zirkel. Ich selbst hatte auch ziemlich über sein Auftauchen gestaunt, als ich noch kleiner war, denn er war der erste Halbvampir gewesen, mit dem ich nicht verwandt war. Aber er hatte eine ganz andere Ausstrahlung gehabt, als diese Beiden da, denn Nahuel, wie er hieß, hatte keine roten Augen gehabt und hatte zumindest in unserer Gegenwart keinen schwarzen Umhang getragen. Sie hatten ihn damals, soweit ich mich erinnern konnte, zweimal zu uns geschickt, um über das Wachstum von meinen Geschwistern und mir zu berichten. Sie mussten sich versichern, dass wir nicht gefährlich waren. In diesem Moment fragte ich mich, was die Prozedur für einen Sinn gehabt hatte. Diese Volturi kamen mir gefährlicher vor, als es drei kleine Kinder je hätten sein können. "Was wollt ihr?", fragte ich, doch sie ignorierten meine Frage und stellten stattdessen selbst eine. "Wie lautet dein Name?", sagte das Mädchen im Befehlston. "Anthony Ephraim Black-Cullen", antwortete ich. Ich wusste, dass es keinen Sinn hatte, zu schweigen. Auf dem Gesicht des Mädchens zeichnete sich ein leichtes fieses Lächeln ab. "Sehr schön", stellte sie fest. "Ich denke wir müssen uns nicht namentlich vorstellen. Aro hält ziemlich große Stücke auf dich. Wir sind hier um zu überprüfen, ob das berechtigt ist." "Was?", fragte ich unter zusammengebissenen Zähnen. Der große Vampir neben ihr fixierte nun das Mädchen hinter mir. Ich schirmte sie weiter ab, während ich einige Schritte zurückwich. "Die Kleine?", fragte der Bullige. Cat sagte die ganze Zeit über nichts, ich nahm an, dass sie zu geschockt war. "Mhm...", machte das junge Mädchen. "Nein, die könnte uns noch von Nutzen sein, geh und hol eine Andere." Ich ahnte Schreckliches, als der Große die Gasse verließ. "Wenn du schlau bist, schickst du deine Freundin jetzt fort von hier", riet mir die Volturi. Ich hoffte, dass dies wirklich ein Angebot war und sie Cathy nicht doch noch schnappten, wenn ich nicht in ihrer Nähe war. Ich drehte mich zu Cat um. Sie hatte ihre blauen Augen weit geöffnet und starrte mich erschrocken an. "Hör zu", sagte ich und nahm ihr Gesicht in meine Hände. "Du gehst jetzt auf direktem Weg an einen Ort, wo viele Menschen sind und bleibst dort solange du kannst." "Aber... ich...", fing sie zitternd an. Ich schüttelte den Kopf. "Du gehst. Und du holst keine Hilfe. Ich komme schon klar. Keine. Hilfe", betonte ich die letzten zwei Worte. Sie starrte mich noch immer an, nickte aber eilig. "Gut", sagte ich leise, ließ ihr Gesicht los und versuchte zu lächeln. "Auf Wiedersehen." Sie antwortete nichts, sah mich einfach nur an, anschließend lief sie langsam an mir vorbei und auf die Kleine zu. Zu meiner Verwunderung ging sie tatsächlich ein wenig zur Seite und deutete Catriona an, dass sie vorbei gehen konnte. Dann verschwand meine Schulkameradin, die ich vor wenigen Augenblicken noch geküsst hatte, hinter der Ecke und ich wusste nicht, ob ich sie je wiedersehen würde. Die Volturi stellte sich wieder an ihren ursprünglichen Platz, jetzt da Cat weg war. Kaum eine halbe Minute darauf, kam ihr Kollege wieder ums Eck. Doch er war nicht allein. Er hielt ein Mädchen fest im Griff, das wahrscheinlich keine Fünfzehn war und Todesangst hatte. Ich kannte sie nicht, hatte sie nie gesehen, aber das machte die Situation nicht unbedingt angenehmer. "Was soll das?", fragte ich zornig. Der Große schubste das Mädchen in meine Richtung, so dass sie vor mir auf die Knie fiel. Dort fing sie bitterlich zu weinen an. "Nur ein kleiner Imbiss. Greif ruhig zu. Du wirst feststellen, dass Menschenblut nicht nur viel köstlicher ist, als die rote Brühe von Ratten und Mardern, sondern dir auch ein neues, wundervolles Lebensgefühl gibt", schwärmte sie. Ich schüttelte den Kopf. "Niemals." Von Geburt an, hatte man mir stets beigebracht, dass es nicht richtig war, Menschen aus Hunger zu töten oder gar aus Lust. Es ging ja auch anders. "Nein?", sagte die Kleine gespielt mitleidig. Plötzlich schnappte ihr Begleiter sich das Mädchen. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich, wie ein Vampir einen Menschen biss. Seine Zähne durchdrangen ihre zarte Haut und gruben sich in das Fleisch. Sie war wie erstarrt, schrie nicht mal, doch ihre Augen waren noch geöffnet. Sie bekam wahrscheinlich alles mit. Wenige Momente später, stieß er das blutige Mädchen erneut in meine Richtung. Doch diesmal taumelte sie so weit, dass ich sie reflexartig auffing. Ich hörte ihr schnell pochendes Herz, roch den köstlichen Duft menschlichen Blutes, das aus ihrem Hals hervorquoll. Ob ich der Verlockung hätte widerstehen können, wenn ich zuvor etwas gegessen hätte? Da war ich mir nicht allzu sicher. Nie zuvor, hatte ich etwas derartiges Gerochen. Es war nichts im Vergleich zu den Blutkonserven, die ich in meiner Kindheit getrunken hatte. Denn dieses Blut wurde direkt aus einem verzweifelt schlagenden Herzen gepumpt. Selbst für mich hatte die Wärme dieses Blutes etwas Besonderes, als es über meine bleichen Finger lief. "Es tut mir Leid", flüsterte ich ihr noch zu, dann verschwamm die Welt um mich herum. Es war für die beiden Vampire, vor mir, nicht mehr länger nötig, mich zu überzeugen. Die Natur hatte ihren Job übernommen. Der Vampir in mir, hatte die Überhand gewonnen. Vergessen waren die Lehren meiner Familie. Mir war alles egal. Ich wollte nur noch meine Zähne in den Hals meines Opfers bohren. Als ich dies letztlich tat und den roten Lebenssaft meine Kehle hinunter rinnen spürte, als ich ihn endlich auf meiner Zunge schmeckte, war diese Befriedigung meines Hungers nach dem Blut besser, als jede Liebesnacht die ich zuvor mit einem Mädchen verbracht hatte. Ich wusste nicht mal, ob mein Opfer nun bereits tot oder bewusstlos war oder ob sie gar schrie. Ich hatte die Lider geschlossen und sog einfach an ihrem Hals, eine Hand an ihrer Hüfte, die Andere in ihrem Haar. Erst als jeder Tropfen ihren Körper verlassen hatte, ließ ich von ihr ab. Ihre schlaffen Überreste glitten mir aus der Hand und prallten auf den Asphalt. Es brauchte eine Weile, bis ich die Welt um mich herum wieder einigermaßen wahrnahm. Ich hatte Blut an den Händen und es war mir wohl auch am Mund entlang gelaufen und hatte meinen Hals und meine Kleider benetzt. Ich atmete heftig, so sehr war ich dem Blutrausch verfallen. Ich starrte zunächst meine Hände an, dann fiel mein Blick auf den leblosen Körper vor mir. Der Leichnam war blutüberströmt. "Sehr schön", sagte die Vampirin erneut. Ich hob meinen Blick und knurrte sie an. "Du Monster!", fuhr ich sie an. "Wer ist hier das Monster?", fragte sie gehässig. "Sieh dich doch mal an und sieh, was vor deinen Füßen liegt. Du hast ihr das Leben genommen." Ich spürte wie der Zorn, jetzt da die Blutlust gestillt war, in mir aufstieg. Unbekannte neue Kräfte, durchfluteten jetzt meinen Körper. Es stimmte wohl wirklich, das Menschenblut Vampire stärker machte. Mein Körper bebte. Ich war derart in Rage, dass mir Tränen in die Augen schossen. Ich wollte gern antworten 'Nein, ich habe sie nicht getötet!' und mir sicher sein, dass dies der Wahrheit entsprach, aber dem war nicht so. Ich ging einige Schritte zurück. Ich wollte sie attackieren, sie für das, was sie mir angetan hatten, das wozu sie mich gebracht hatten, lynchen. Doch so weit kam es gar nicht. Offenbar waren meine Absichten ziemlich deutlich. Egal wie stark ich jetzt auch wahr, gegen diese Attacke war ich nicht gefeilt gewesen. Ich wäre es wohl gewesen, wenn ich in meinem Blutrausch und meiner Wut, mein Schutzschild nicht vergessen hätte. Mit einem Mal verspürte ich einen derart starken Schmerz, wie ich ihn noch nie gespürt hatte. Ich wollte Schreien, doch der große Volturi stand plötzlich hinter mir, packte mich und hielt mir den Mund zu. Kaum ein Ton verließ meinen Mund, als ich mich unter Schmerzen in seinem Griff wand. Am liebsten wäre ich auf der Stelle tot umgefallen, nur damit es endlich vorbei war. Mein Flehen schien erhört zu werden. Ich versank in der Dunkelheit. - Ende Kapitel 1 - Kapitel 2: [Edward] Zwei Todesopfer und ein Mordfall ---------------------------------------------------- Disclaimer: => Ich verdiene kein Geld mit meiner Fanfiction. => Alle Charaktere die schon in den Twilight-Bänden ihren Auftritt hatten, gehören Stephenie Meyer. Alle Anderen, wie etwa Schüler, Lehrer und vor allem Renesmees und Jakes Kinder, habe ich selbst erfunden. Weitere Infos zur FF, Trailer, Cover & mehr http://www.renesmee-und-jacob.de.vu http://www.chaela.info Playlist zu Kapitel 2 (nur für die Edward und Bella-Szenen): Tracy Chapman - The Promise http://www.youtube.com/watch?v=crTc1V34m8g --------- Kapitel 2 [Edward] Zwei Todesopfer und ein Mordfall Als ich an diesem Morgen die Fenster öffnete, brachen nur sehr wenige Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke und fielen auf unser luxuriöses Bett. Rasch ging ich wieder zurück, schmiegte mich erneut an den wunderschönen Körper meiner Frau. Bella und ich hatten die ganze Nacht hier verbracht und wenn ich mir die Welt vor unserer Tür so ansah, war es vielleicht sogar noch der halbe Tag mit dazu. Wie lange genau, das kümmerte mich nicht. "Mhm... das war so wunderschön", flüsterte ich Bella ins Ohr und küsste ihr Ohrläppchen. "Ich könnte noch in einem Jahrhundert jede Nacht mit dir verbringen, ich würde jeden Morgen so zufrieden aufwachen und feststellen, dass ich dich noch so sehr liebe, wie am ersten Tag." Mit einem Lächeln drehte sie sich um und nahm mein Gesicht in ihre Hände. "Das will ich doch hoffen, schließlich liegt die Ewigkeit vor uns." Bella küsste mich leidenschaftlich und ich erwiderte ihren Kuss feurig. Ich öffnete meine Augen und sah in ihre. Sie waren Pechschwarz. "Mhm...", murmelte ich. "Was hältst du davon, wenn wir jagen gehen, meine Liebste?" Sie strahlte mich wieder an. "Ich hab einen Bärenhunger, nachdem ich mit dir zusammen so viele Kalorien verbraucht habe." Wir zogen uns gemeinsam an, dann nahm ich meine Frau bei der Hand und ging mit ihr durch unser gigantisches Haus in den Hauptbereich, in dem sich die große Küche und das geräumige Wohnzimmer befanden. Hier hatten neben unserer Familie auch unsere Freunde Platz, wenn sie uns besuchten. Das kam gelegentlich mal vor. Meistens war es der irische Zirkel, der uns einen Besuch abstattete. Die Ägypter waren aber auch mal spontan hier gewesen. Nach der Geschichte mit Renesmee vor fast vierzig Jahren, waren unsere Bindungen zu vielen von unseren ehemaligen Zeugen nicht abgebrochen. Wo meine Tochter gerade war, wusste ich zu diesem Zeitpunkt nicht. Die Zeit, in der ich mir permanent um ihr Wohlbefinden Sorgen machen musste, war vorüber. Ich hatte akzeptiert, dass sie zu einer eigenständigen Frau herangewachsen war - und das Jacob ihr Mann war. Sie waren jetzt die, die sich um ihre Sprösslinge Sorgen machen mussten. Das ging uns als Großeltern - das Wort haute mich nach dreißig Jahren immer noch um, hatte ich doch nie gedacht, jemals 'Opa' zu werden - wohl auch etwas an, aber nicht so sehr, dass wir uns permanent darum Gedanken machten. Momentan war es ohnehin 'nur' das übliche Theater. Ich verstand meinen Enkel auf eine gewisse Weise ziemlich gut, obwohl er neben Bella der Einzige war, dessen Gedanken ich nicht lesen konnte. Ich hatte mich ja früher oft genug mit Jacob in den Haaren gehabt. Bella ging zu Esme in die Küche und begann mit ihr zu plaudern, ich dagegen, ging ins Wohnzimmer, um die Terrassentür aufzumachen. Wir wollten ja jagen gehen. Im Wohnzimmer saßen Alice und Jasper und unterhielten sich angeregt. Im ersten Moment hörte ich ihnen nicht zu. Meine Hände umschlossen den Griff der Tür und zogen ihn nach oben. In dem Augenblick, in dem ich die Glastür aufmachte, schoss mir ein Bild aus Alice Gedanken in den Kopf: eine alte Frau. Sie lag friedlich mit gefalteten Händen auf einer Bahre. Es wirkte so, als schliefe sie. Ich meinte zuerst, ihr Gesicht nicht zu kennen, aber das lag daran, dass die Zeit in ihrem Gesicht Spuren hinterlassen hatten. Spuren, wie sie bei jedem Sterblichen das Gesicht zeichneten. "Bella", rief ich noch immer etwas benommen. "Liebste? Kommst du mal bitte." Bella kam strahlend auf mich zu geschwebt, doch als sie meine Hand nahm, weil sie dachte, ich wollte mit ihr aus der Tür gehen, die ich noch immer aufschob, spürte sie, dass etwas nicht in Ordnung war. Ihr Lächeln verließ ihr Gesicht. Unsicherheit war dort jetzt zu sehen. "Edward? Was ist los?", wollte sie atemlos wissen. Als sie merkte, dass ich Alice ansah, drehte sie ihren Kopf ebenfalls in die Richtung meiner Schwester. Sie ging langsam auf Alice zu und kniete sich vor sie. "Alice?" "Bella, es tut mir so Leid", sagte sie zittrig. Bella stand der Mund offen. Sie ahnte wohl etwas, wusste aber nicht genau, was es war. "Wie? Was?" Und dann klingelte das Telefon. Alle zuckten vor Schreck zusammen. "Ja... ja... einen Moment", sagte Esme freundlich, als sie mit dem Hörer am Ohr reinkam. "Ich geb sie Ihnen. Ja, auf Wiederhören." Sie hob Bella das Telefon hin. "Für dich." Mit besorgtem Blick nahm Bella langsam den Hörer entgegen und führte ihn zum Ohr. "... Ja?", sagte sie nach einem kurzen Moment der Stille. "Isabella?", sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung. Es war die eines alten Mannes. "Ja?", antwortete Bella noch immer besorgt. "Endlich erreiche ich dich mal. Die Nummer habe ich nach langem hin und her von einem jungen Mann namens William bekommen, der wohl irgendwie mit dir verwandt ist. Du scheinst ja häufig umzuziehen." Bella schien lächeln zu wollen, aber ihre Mundwinkel gingen direkt wieder runter. "Ich bins Phil", stellte der Mann sich nun vor. Bella stand wieder der Mund offen. "Phil? Ist was mit Mum?!", fragte sie sogleich. "Ich weiß gar nicht, wie ich dir das sagen soll...", antwortete er und schien mit den Worten zu hadern. "Ich hab es selbst noch nicht realisiert." "Phil?!", flehte Bella fast, damit er ihr endlich konkret sagte was los ist. "Deine Mutter ist vor drei Tagen gestorben. Es ging alles so schnell. Sie hatte einen Schlaganfall und starb zwei Tage darauf im Krankenhaus. Sie ist friedlich eingeschlafen. Die Ärzte sagten, sie hatte keine Schmerzen." Ich ging zu Bella, umschloss sie mit meinen Armen und drückte sie. Bella schluchzte, weinte jedoch nicht. Allerdings nicht, weil ihr nicht danach war, sondern weil es ihr als Vampir nicht möglich war, Tränen zu vergießen. "Ich hab es selbst noch nicht wirklich realisiert", sagte Phil am Hörer und wiederholte die Worte, die er vor wenigen Sekunden schon einmal gesagt hatte. "Es kam so plötzlich und so schnell. Ich weiß, ihr hattet keinen Kontakt mehr. Aber ich dachte es wäre schön, wenn ihr einziges Kind wenigstens ihrer Beisetzung beiwohnt." "Danke, Ph..Ph.. Phil", wimmerte sie. Ich nahm ihr den Hörer aus der zittrigen Hand. Sie drehte sich um und vergrub ihr Gesicht an meiner Brust. "Mein herzliches Beileid", sagte ich zu Phil. "Ich bin Edward. Bella ist gerade nicht mehr ansprechbar." "Das ist verständlich", sagte ihr Stiefvater traurig. "Die Beerdigung ist in vier Tagen. Es wäre wirklich schön, wenn ihr kommt." "Danke fürs Bescheid sagen, Mr. Dwyer", sagte ich höflich. "Ja... auf Wiedersehen", antwortete er, dann legte er auf. Ich hatte weder Zu- noch Abgesagt, aber für mich war dies schon geklärt. Ich strich Bella durch ihr langes braunes Haar, als sie immer noch an meiner Brust schluchzte. Das dieser Moment kommen würde, das hatte ich schon gewusst, bevor ich sie verwandelt hatte. Dies war einer jener Augenblicke vor denen ich sie bewahren wollte. Das ihre Freunde und Verwandten alle wegsterben würden, davor hatte ich sie gewarnt. Mehr als einmal. Aber es war ihr egal gewesen. Jetzt erfuhr sie es am eigenen Leib. Und obwohl ich auch hätte sagen können 'Ich habs dir doch gesagt', litt ich unglaublich mit ihr. "Komm, Liebste", sagte ich sanft. Ich legte einen Arm um sie. Sie schlang ihre Arme um meine Brust und legte ihren Kopf an meine Schulter, dann gingen wir gemeinsam nach draußen. So langsam waren wir wahrscheinlich noch nie gelaufen. Wir gingen gemeinsam in den Wald. Aus zehn Minuten wurden dreißig. Aus einer Stunde zwei. Wir redeten nichts. Es gab nichts, worüber wir reden mussten. Ihr Schmerz bedarf keiner Worte, damit mir sein Umfang bewusst wurde. Irgendwann bat ich Bella Platz zu nehmen. Sie setzte sich auf das Laub und lehnte ihren Rücken an einen Baum. Ich gab ihr einen zärtlichen Kuss auf die Stirn und streichelte ihre Wange. "Ich bin gleich wieder da", flüsterte ich leise. Sie nahm meine Hand und hielt sie fest. "Bitte", sagte sie flehend. "Bitte... bleib." Die Worte kamen leicht abgehackt. "Ich bin wirklich gleich wieder da", sagte ich und strich ihr durchs Haar. "Gib mir nur dreißig Sekunden." Ich sah Bella eindringlich an, bis sie schließlich sachte nickte, erst dann flitzte ich davon. Ich fing zwei Füchse und ging mit den Tieren zurück zum Baum. Bella hatte ihre Position nicht einen Millimeter geändert. Einen der Kadaver legte ich ihr hin. "Hier." Bella starrte einfach nur geradeaus. "Ich konnte mich nicht mal von ihr verabschieden. Ich konnte ihr nicht sagen, dass ich sie liebe. Sie muss gedacht haben, sie sei mir egal gewesen und das ich sie deswegen nie mehr besucht habe." Ich rückte wieder näher an meine Frau heran und legte einen Arm um sie. "Nein, Liebste. Das ist nicht wahr. Deine Mutter wusste, dass du hier glücklich warst. Dass du dich für ein Leben mit uns entschieden hattest und das wir viel herumreisten. Du bist einfach erwachsen geworden und bist deinen Weg gegangen. Daran ist nichts Verwerfliches." Bella winkelte die Beine an und vergrub das Gesicht an ihren Knien, dann begann sie wieder zu schluchzen. Ich strich ihr beruhigend über den Rücken. Nach einer Weile hörte sie zumindest auf zu zittern und öffnete die Augen wieder. Ich begann leise den Tierkörper auszusaugen. Im Augenwinkel sah ich, wie Bella nun auch ihren nahm und zögernd in das Fleisch biss. Sie sog ein paar Mal daran, dann legte sie ihn wieder ab. "Edward, ich will dorthin", sagte sie dann entschlossen. Jetzt hielt auch ich inne und meine Augen wanderten in ihre Richtung. Ich nahm meinen Fuchs ebenfalls vom Mund und sah sie an. "Du willst nach Jacksonville gehen?" "Sie hat es sich gewünscht. Ich muss mich von ihr verabschieden." "Aber... Bella, Liebste, die Sonne", erwiderte ich. - "Wir haben November. Ich kann mich immer noch verschleiern. Es ist eine Beerdigung. Da wundert sich keiner drüber." Ich setzte ein schiefes Lächeln auf. "Du weißt, dass ich dir sowieso keinen Wunsch abschlagen kann." "Heißt das, wir gehen?", fragte sie erwartungsvoll. Ich nickte. "Ja, aber nur unter einer Bedingung." Ihre Augen sahen mich fragend an. "Du trinkst jetzt diesen Fuchs leer und gehst danach noch jagen, bis du keinen Hunger mehr hast. Ich kümmere mich inzwischen um den Flug und die Papiere." Sie sah immer noch sehr traurig aus, aber meine Zusage zauberte zumindest ein kleines Lächeln auf ihr Gesicht. Wie könnte ich ihr nicht erlauben, sich von ihrer Mutter zu verabschieden? Eine zweite Chance würde sie nicht kriegen, ganz gleich wie lang die Ewigkeit sein würde. *** Knapp zwei Stunden später befand ich mich in Galway. Dies war die größte Stadt in unserer Nähe. Wir mochten zwar relativ unabhängig sein, aber auf manche Dinge waren auch wir angewiesen. Das war zum einen die private Airline die wir engagiert hatten und die uns relativ flexibel Privatjets, Helikopter oder ganze Privatflugzeuge inklusive einer äußerst diskreten Crew stellen konnte. Wir zahlten einen hohen Preis dafür, doch das war es uns allemal wert. Ebenfalls unverzichtbar, war der Nachfolger von Jason Scott Jenks, jener Mann, der uns stets mit gefälschten Papieren versorgt hatte. Samuel Harrison war mindestens ebenso professionell wie sein Vorgänger und verstand es, mit uns Geschäfte zu machen. Es war nicht billig ihn dazu zu bringen für uns nach Irland zu ziehen, während wir hier unser Domizil hatten, waren die Vereinigten Staaten doch soviel lukrativer. Die große Dichte an IT-Firmen hier, hatte aber wohl durchaus ihren Reiz gehabt und Harrison, der gerade Ende Zwanzig war, war ziemlich begabt darin, seine Arbeit auch virtuell auszuweiten. Er fälschte nicht nur Urkunden jeder Art, er war sogar in der Lage uns in den Datenbanken neue Identitäten zu schaffen. Ob er sich dazu ins System hackte oder einfach nur gute Beziehung hatte, das wussten wir nicht. Für heute zumindest, brauchte ich auch keine neue Identität. Die hatten wir schon vor zwei Jahren bekommen, als wir hier her gezogen waren. Diesmal genügte es, dass er unsere Reisepässe prüfte und gegebenenfalls anpasste, schließlich wollte ich mit meiner Frau das Land verlassen. "Vielen Dank", sagte ich und nahm die Mappe entgegen. "Immer wieder gern, Mr. Cullen", antwortete er. Plötzlich spürte ich den Vibrationsalarm meines Handys und griff in meine Tasche. Zu meiner Verwunderung stand dort 'Anthony ruft an'. Um einen Zeitpunkt zu nennen, an dem dieser Schriftzug das letzte Mal auf dem Display gestanden hatte, hätte ich länger überlegen müssen. "Auf Wiedersehen, Mr. Harrison", sagte ich und nickte dem Mann zu. Mr. Harrison nickte ebenfalls und ich verließ das Gebäude. Als ich aus der Tür trat, um zu meinem Auto zu gehen, hob ich ab. "Anthony, was gibts?", sagte ich im Gehen. - "Hallo?" Als ich die Stimme am anderen Ende hörte, blieb ich abrupt stehen. Es war die aufgeregte, ja gar panische Stimme eines Mädchens. "Ja? Wer ist denn da?", fragte ich zwar etwas geschockt, jedoch noch ruhig. Ich ahnte, dass etwas nicht stimmte. Ganz und gar nicht stimmte. "Hallo?!", wiederholte sie noch mal aufgeregt. "Sind Sie Edward Cullen?" "Ja, ich-", schon unterbrach sie mich. "Kennen Sie Anthony Black-Cullen?" "Ja, ich bin-", wieder unterbrochen. "Bitte... BITTE helfen Sie mir!", flehte sie eindringlich. Hätte ich ein Herz, es würde jetzt rasen. "Okay, ganz ruhig", versuchte ich das Mädchen zu beruhigen. "Was ist passiert?" "Ich weiß nicht", antwortete sie. "Ich... wir waren spazieren und dann... und dann... diese Gasse.... ich... die... ich war weg... und als ich wieder kam... es ist alles voller Blut." Ich konnte ihren schnellen Herzschlag förmlich durch das Handy hören. "Soviel Blut... er ist bewusstlos... bitte helfen Sie!", flehte sie erneut. - "Okay. Wo bist du? Ich meine wo ist er?" "Ich... Moment", sie schien nachzuschauen, wo sie sich befand. "Das ist eine kleine dunkle Seitengasse... der Getränkemarkt ist in der Nähe... ich finde keinen Straßen... Straßennamen... bitte." Das Mädchen brach endgültig in Tränen aus, dann brach das Gespräch plötzlich ab. Ich ging schnell zu meinem Wagen, setzte mich ans Steuer und rief während der Fahrt Carlisle an. "Hallo Edward", antwortete er sachlich. - "Carlisle wir haben ein Problem." "Moment", sagte Carlisle. Er ging wahrscheinlich an einen Ort an dem niemand sonst war. Wenige Sekunden später hörte ich seine Stimme wieder, jedoch immer noch sehr leise. "Was ist passiert?" "Ein Mädchen hat mich gerade mit Anis Handy angerufen", erklärte ich. "Sie war furchtbar panisch und hat geweint. Sie hat mir nicht erzählt, was passiert ist. Aber sie hat von viel Blut gesprochen und das er wohl nicht bei Bewusstsein ist." "Wo bist du gerade?", fragte er. "Auf dem Weg nach Ballinasloe". antwortete ich. "Gut. Hol mich am Hinterausgang des Krankenhauses ab." Carlisle legte auf und ich fuhr mit einem Affenzahn über die Landstraßen. In meinen Kopf schossen so viele Gedanken. Was mochte ihm zugestoßen sein? Hatten wir nach den Ereignissen der letzten Zeit etwa noch einen Todesfall in der Familie? Was sollte ich meiner Tochter sagen? Was sollte ich Jacob sagen? Aber nein... daran durfte ich nicht mal denken. Am Krankenhaus wartete Carlisle bereits. Er stieg zügig in den Wagen, dann fuhren wir weiter. "Hast du Renesmee Bescheid gesagt?", wollte er wissen. ich schüttelte den Kopf. "Ich habe niemandem etwas gesagt. Ich wollte erst mal die Lage prüfen." "Ja", sagte er. "Das ist vielleicht besser so." Wir parkten den Wagen am Getränkemarkt. Die Gasse brauchten wir gar nicht lang suchen, wir rochen bereits das Blut. Wir versuchten möglichst unauffällig in die Richtung zu laufen, aus der der Geruch kam. Glücklicherweise war es schon dunkel, es regnete leicht und niemand war in der Nähe sichtbar. Kaum das wir in der Gasse verschwunden waren, beschleunigten wir unsere Schritte. Es war niemand sonst hier. Keine Spur vom dem Mädchen. Carlisle kniete sich direkt vor Ani, der leblos auf dem Boden lag. Er war durch den Regen schon ziemlich nass, doch das Blut war noch deutlich sichtbar und benetzte ihn vom Mund abwärts. Carlisle legte zunächst einen Finger an seine Halsschlagader. "Er atmet", sagte er leise und mehr zu sich selbst, als zu mir. Ich kniete mich neben Carlisle. "Ist er verletzt?", fragte ich. "Wenn, dann wäre es ohnehin schon verheilt, aber ich glaube nicht, dass er verletzt war", meinte Carlisle. Ich strich mit einem Finger über seine Jacke und roch an dem Blut. Menschenblut. Nicht sein Blut. Carlisle sah mich an und ich sah ihn an, dann stand ich auf und ging durch die Gasse. Meine Nase führte mich zielsicher zum Container. Ich öffnete den Deckel, griff ins Innere und zog dann den Leichnam eines jungen Mädchens heraus. Sie hatte zwei Bisswunden an der Kehle und war blutüberströmt. Es bestand kein Zweifel. Carlisle sah nun nicht nur besorgt aus, sondern auch traurig. Er hatte uns das vegetarische Leben erst näher gebracht, er hatte uns alle davon überzeugt. Die Drillinge waren damit aufgewachsen, hatten von klein auf gelernt, dass es falsch war, Menschen zu töten. Warum hatte er das getan? Und warum ausgerechnet, an einem Kind, das sein ganzes Leben noch vor sich gehabt hatte? Ich wollte das nicht. Ich wollte, dass es nicht das war, wonach es aussah. "Vielleicht... vielleicht war er das gar nicht. Vielleicht war noch ein Vampir hier und er wollte sie nur beschützen. Ich meine, warum sonst ist er bewusstlos? Menschenblut macht uns stärker, es macht uns nicht ohnmächtig." Carlisle schüttelte traurig den Kopf. "Ich weiß nicht, warum er umgekippt ist", begann er und legte eine Hand auf Anis Stirn. Ich trat mit dem Mädchen im Arm näher. Carlisle öffnete mit geübten Fingern Anthonys Augenlider: sie waren rot. "Aber er hat es getan." *** Ich fühlte mich wie in einem schlechten Film, als wir mit dem toten Mädchen im Kofferraum und Anthony auf dem Rücksitz nach Hause fuhren. Carlisle hatte den Ellbogen auf die Tür gelegt und stützte seinen Kopf damit ab. Er sah nachdenklich aus dem Fenster. Es traf ihn offenbar noch mehr als mich. Inzwischen hatten wir die Anderen aufgeklärt, damit sie uns nicht mit Fragen löcherten, wenn wir nach Hause kamen. Bereits als wir auf dem Anwesen parkten, öffnete sich die Verandatür. Carlisle lief mit schnellen Schritten mit dem Mädchen auf dem Arm in die erste Etage, ich hingegen trug meinen Enkel, der noch immer nicht ansprechbar war. Oben angekommen, legte ich ihn erst mal auf Carlisles OP-Tisch und zog ihm die blutige Jacke aus. Im nächsten Augenblick kamen Nessie und Mariella in den Raum gestürmt. Mein Blick fiel hinter die Beiden. Auf Jacob. Er musterte die schwarze Jacke in meiner Hand. Er sah sehr enttäuscht aus, es schwang aber auch Wut mit und Sorge. Ich wand den Blick von ihm ab und legte die Jacke weg. Bella kam auf mich zu, umarmte mich und gab mir dann einen Kuss. Hinter ihr betraten Rosalie und Esme den Raum. Carlisle der sich bis jetzt das tote Mädchen angeschaut hatte, drehte sich um und sah, ob der Masse an Anwesenden, nun etwas erschrocken aus. "Esme, holst du bitte einen Lappen, Handtücher und warmes Wasser? Mariella du könntest ein Glas Wasser holen und der Rest verlässt bitte erst mal den Raum." Alle verließen daraufhin das Zimmer, nur Jacob blieb mit verschränkten Armen stehen und meine Tochter stand besorgt neben ihrem Sohn und hatte ihren Kopf zu ihrem Mann gedreht. "Ich bleibe hier", sagte Jacob als Antwort auf meinen Blick. Der wütende Unterton sprach Bände. "Meinst du nicht, er hatte heute schon genug Probleme?", fragte ich Jacob. "Meinst du wirklich, dass das jetzt notwendig ist?" "Ja", antwortete er und funkelte mich finster an. "Jacob, er muss sich, wenn er aufwacht, sicher erst mal selbst dem bewusst werden, was passiert ist und vor allem, muss er uns das Geschehene erzählen. Ich denke, deine Anwesenheit ist da nur hinderlich." "Hinderlich?", sagte Jacob unter zusammengebissenen Zähnen. "Ist er dein Sohn oder ist er mein Sohn?" Ich verdrehte die Augen. Das ich mich mal mit Jacob über Kindererziehung streiten würde, daran hätte ich noch weniger gedacht, als daran Opa zu werden. "Jake, vielleicht hat Daddy recht", sagte meine Tochter dann und nahm Jacobs Arm. "Vielleicht ist es besser so." Wie so oft, konnte Jacob sich dem Willen von Nessie kaum entziehen. Wenn sie ihn darum bat das Zimmer zu verlassen und ihn dabei traurig ansah, beugte er sich ihm sofort. Mariella sah noch nach hinten, als er die Tür schloss. Man konnte in seinen Augen sehen, wie sehr es ihn grämte, nicht dabei sein zu können, wenn sein Jüngster aufwachte, der ganz offensichtlich etwas angestellt haben musste. Im Gegensatz zu Carlisle und mir hatte Jacob seine Augen jedoch nicht gesehen. Noch wusste er nicht, dass es Anthony gewesen war, der das Mädchen umgebracht hatte. In seinen Gedanken überschlugen sich die Standpauken bereits jetzt. Ich wollte gar nicht wissen, was passieren würde, wenn er davon erfuhr. Schließlich kam Esme mit einer Schüssel Warmwasser und Handtüchern durch die Tür. Abgesehen von ihr, Renesmee, Mariella, Carlisle und mir hatten alle Anderen sich zurückgezogen. Ich nahm an, dass sie im Wohnzimmer auf Details warteten. Es dauerte noch eine Viertelstunde ehe von Anthony die ersten Lebenszeichen kamen. Renesmee hatte sich einen Stuhl neben ihn geschoben und strich ihm behutsam über die Stirn, als er langsam die Augen öffnete. Sie selbst hatte ganz glasige Augen, aus denen bald die Tränen rollen würden. Noch unterdrückte sie diese, lächelte sogar. Sie lächelte, weil sie froh war, dass er aufgewacht war. Und sie lächelte, weil sie nicht zeigen wollte, wie sehr es sie schmerzte, dass ihr Flehen und Bitten, das sie zuvor in Gedanken in den Himmel geschickt hatte, nicht erhört worden war. Bitte, bitte lass ihn sie nicht getötet haben, hatte sie gedacht. Ebenso schauspielerisch begabt wie ihre Mutter, unterdrückte auch Mariella ihren Schmerz, als sie näher trat. "Ani", sagte sie erleichtert. Jetzt ging auch Carlisle von seinem Platz vom Fenster weg, wo er bisher gestanden hatte. Als Anthony Anstalten machte sich aufzusetzen, half Carlisle ihm sorgsam auf. "Langsam, langsam, ganz vorsichtig", sagte er sanft. "Möchtest du was trinken?", fragte seine Schwester, als sie sich zu ihm beugte mit dem Glas in der Hand. Er nahm das Glas und trank langsam. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass er sein Schutzschild unten hatte. Er stellte nämlich in Gedanken fest, dass er einen seltsamen Geschmack im Mund hatte. Dieser Geschmack wurde schließlich auch für alle sichtbar, als er das Glas vom Mund nahm und sich einige Tropfen Blut mit dem Inhalt vermischten. Ani sah geschockt wie die rote Flüssigkeit im Wasser verschwand. Seine Gedanken waren ungewöhnlich leer, er schien die letzten Ereignisse vergessen zu haben. Doch dann rutschte ihm das Glas aus der Hand. Dies war ihm nicht mal als Kleinkind passiert, doch trotz der Verwunderung über dieses Missgeschick, fing Mariella das Glas souverän auf, ohne einen Tropfen zu verschütten. "Ani?", fragte sie besorgt darüber, dass ihr Bruder ins Leere starrte. "Ani?", tat Renesmee es ihrer Tochter gleich. Sein Blick mochte leer sein, doch sein Kopf füllte sich mit einem Mal wieder. Ruckartig schossen ihm die Erinnerungen zurück ins Gedächtnis. Und ich sah die Bilder ebenso. Ich sah Erdbeereis, ich sah wie er sich mit einem blonden Mädchen unterhielt, ich sah Mariella und die Bibliothek in der sie arbeitete, dann sah ich plötzlich die Straße neben dem Getränkemarkt. Ich sah wie mein Enkel das blonde Mädchen gegen eine Wand presste und sie küsste. Und dann sah ich plötzlich ein Gesicht, das mir einen Schauer über den Rücken jagte: das widerlich fiese Grinsen von Jane. Schließlich sah ich wie Janes Begleiter, Felix, ein Mädchen im Griff hatte. Jenes Mädchen, dass ich aus dem Müllcontainer gezogen hatte. Er biss ihr in den Hals und warf sie von sich. Dann wieder ein Schnitt. Jetzt schoss mir das Gift in den Mund, als ich in Anthonys Gedanken den Geruch des Blutes wahrnahm. Den Geruch des Mädchens, dass in seinen Armen lag und dem er nun genüsslich in die Halsschlagader biss - und dann wieder ein Schnitt. Dunkelheit. Als die Bilder verschwunden waren, bemerkte ich, dass ich die Zeit über auf Carlisles weiße Fliesen gestarrt hatte. Ich hob den Blick und sah Anthony. Er saß noch immer auf dem OP, aber seine roten Augen waren auf mich gerichtet. Ich sah wie ein paar Tränen darin glänzten. Er funkelte mich böse an, denn er hatte gemerkt, dass sein Geist nicht verschlossen gewesen war und ich diese Chance genutzt hatte, um mir Zugang zu seinen Erinnerungen zu schaffen. Renesmee folgte dem Blick ihres Sohnes und sah mich nun fragend an. "Dad?" Ich schüttelte den Kopf, wusste aber nicht was ich sagen sollte. Das Anthony mich immer noch stumm ansah und dabei leicht zitterte, machte es mir nicht gerade leichter. Gern hätte ich gesagt 'Es tut mir Leid', aber das tat es nicht. Es war notwendig gewesen, zu erfahren was passiert war, denn wenn er uns nicht die Wahrheit erzählte, kannte ich sie wenigstens. Ich ging auf Anthony zu. Sein Blick wandelte sich sofort von wütend zu ängstlich und er zitterte noch mehr. "Was haben sie dir erzählt?", wollte ich wissen. "Edward?", fragte nun auch Carlisle. Ich musste sie wohl aufklären, ehe noch mehr Fragen aufkamen. "Es waren die Volturi", sagte ich. Nessies Mund öffnete sich und sie legte die Hand davor. Esmes Gestik war ähnlich. "Die Volturi? Aro?", fragte Carlisle nun nach Details. - "Nein, Jane und Felix." "Jane?!", fragte Nessie entsetzt. Eine Träne kullerte ihre Wange hinab und sie legte die Hand an Anis Schulter. "Hat sie dir was getan?" Anthony antwortete nicht auf ihre Frage. Er strich sich mit dem Finger über den Mund und betrachtete anschließend das Blut, dass an seiner Haut klebte. Dann wanderte sein Blick in Esmes Richtung, nahe dem Fenster. Anthony stand ruckartig auf. "Ani!", riefen Mariella und Renesmee gleichzeitig und hatten die Hände in seine Richtung gehoben, ebenso als wollten sie ihn festhalten, doch er war so schnell durch den Raum gelaufen, dass sie gar nicht reagieren konnten. Vor dem leblosen Körper des Mädchens kam er zum stehen. Er strich ihr durch das Haar und dann über die Wange. "Tá cathú orm", flüsterte er ihr leise zu. Und dann war es still im Raum. Niemand sagte etwas, bis Esme das Wort ergriff. "Du kannst es nicht ungeschehen machen", erklärte sie freundlich und ruhig. "Ich weiß", antwortete Anthony tonlos. "Aber du kannst die Zukunft besser machen", sagte nun Carlisle. "Haben sie dich dazu gezwungen das Mädchen anzugreifen? Haben sie dir mit irgendetwas gedroht?" Mein Enkel schüttelte auf beide Fragen hin den Kopf. "Nein, das war nicht notwendig." Anthony schloss die Augen, als er das sagte. Es klang so, als würde er sich selbst dafür hassen, dem Geruch nachgegeben zu haben. "Heisst das, du hast es freiwillig getan?", fragte Mariella und hoffte, er würde wieder den Kopf schütteln. - "Sie haben sie zuerst gebissen, dann hab ich das Blut gerochen." Er drehte sich um, betrachtete seine geöffnete Handfläche und bedeckte dann zittrig sein Gesicht damit. "Ich bin ein Monster." Mariella ging zu ihrem Bruder, nahm ihm die Hand aus dem Gesicht und umarmte ihn. "Nein, das bist du nicht." Carlisle, Esme und ich verließen daraufhin den Raum. Wir wollten ihm noch einige Momente der Ruhe im Beisein seiner Mutter und seiner Schwester gönnen. Außerdem sollte er, wenn er wollte, die Möglichkeit kriegen sich richtig von dem Mädchen zu verabschieden, das er wohl nicht gekannt hatte, aber dessen Tod ihm soviel Schmerz bereitete. Als wir die Treppen hinab stiegen, blickten wir in die fragenden Gesichter unserer Familie. "Ist er aufgewacht?", fragte Bella als Erste. Ich nickte. "Hat er das Mädchen getötet?", wollte Rose wissen. Wieder nickte ich. Jacob senkte seinen Blick und strich sich mit der Handfläche über sein rostrotes Gesicht. "Trotzdem sind wir der Ansicht", erklärte Carlisle. "Das ihn keine Schuld trifft." "Was?!", fragte Jacob bissig. "Hat ihn das Mädchen etwa drum gebeten?" "Nein, Jake", sagte ich etwas zornig zu Jacob. "Die Volturi haben ihn dazu gebracht. Ohne ihr Zutun hätte er das ganz sicher nie getan." "Die Volturi?", wiederholte Alice. "Sie haben ihm das blutende Kind quasi vor die Füße geworfen. Er war zwei Wochen nicht mehr jagen gewesen. Es war nur natürlich, dass er da nicht dagegen ankämpfen konnte." Meine Familie nickte zustimmend. Nur Jacob lachte gehässig. "Natürlich", sagte er. "Natürlich für euch Blutsauger vielleicht." "Er ist zu einem Viertel ein Vampir", erinnerte ich Jacob. "Ein Viertel", bestätigte er mich. "Aber er ist ebenso ein Werwolf. Mein Blut fließt in seinen Adern. Das Blut unserer Ahnen, die sich dazu verpflichtet haben, die Menschen vor Blutsaugern zu schützen!" Ich verstand durchaus Jacobs Zorn. Er hatte zwar immer gewusst, dass Renesmee ein Halbvampir war und das Trinken von Blutkonserven und Tieren hatte er fast vollständig akzeptiert. Er hatte sogar seine Kinder zeitweise damit gefüttert. Aber obwohl er uns zwar schon immer nicht gerade freundlich gesinnt war, hatte er uns doch immer als die goldäugigen Vampire gekannt, die zwar Blut tranken, jedoch niemals einen Menschen getötet hatten. Zum ersten Mal war da ein Vampir gewesen, der zwar zu 'den Guten' gehörte, jedoch trotzdem einen Menschen auf dem Gewissen hatte. Zum ersten Mal ein Mitglied der Familie. Dies war Anders als bei den Volturi, den Iren oder den Ägyptern. Es war sein Sohn gewesen. Sein Fleisch und Blut hatte das getan, was er am meisten verachtet. Wir wussten alle, dass es keinen Sinn machte Jacob jetzt davon überzeugen zu wollen, dass er Anthony unrecht tun würde, wenn er ihm Vorwürfe machte. Im Gegenteil, wir hatten die Befürchtung, dass er es damit nur noch schlimmer machte. Im oberen Stockwerk hörte ich nun, wie eine Tür aufging. Mariellas Gedanken waren nur allzu nachvollziehbar. Hoffentlich dreht er nicht durch... hoffentlich geht das alles gut, dachte sie sich, als sie langsam den Gang entlanglief. Zusammen mit ihrer Mutter kam sie grazil wie eh und je die Stufen hinab. Mein Blick fiel auf meine Frau, denn das was uns verborgen blieb, war für sie sichtbar. Jacob starrte ebenfalls Bella an. Ich wusste er hatte den Drang sie darum zu bitten, die Blockade zu lösen, aber ich war mir sicher das Bella das niemals tun würde. Sie respektierte Anis Willen und ließ ihn anstandslos gewähren. Mariella öffnete die Kellertür und hob sie auf, dann nickte sie uns mit besorgtem Blick zu, ehe sie durch den Rahmen ging und die Tür wieder hinter sich schloss. Schlaf war für uns überflüssig. Deswegen war es auch kaum verwunderlich, dass wir bis spät in dieser Nacht noch im Wohnzimmer saßen und über die vergangenen Ereignisse redeten. In den letzten 24 Stunden war viel zu viel passiert, als das dies mit wenigen Worten geklärt werden konnte. Jacob, Seth und Nessie waren zwar sichtlich müde, wohnten uns je doch weiter bei. "... Die Frage ist, was will Aro damit bezwecken?", sagte Carlisle in die Runde. "Na das was er schon immer wollte, sich unsere fähigsten Leute zu eigen machen", antwortete Bella. "Weiß Aro von Anis Fähigkeiten?", fragte Renesmee ruhig, die sich müde an Jake gelehnt hatte. "Ich denke nicht, dass es ihm wirklich um Anthony geht", spekulierte ich nun. "Ich denke er benutzt ihn nur." "Benutzen? Für was?", wollte Jacob wissen. "Das weiß ich leider nicht", sagte ich. "Schön...", sagte Jacob und lehnte sich zurück. "Dann sorgen wir doch einfach dafür, dass die Volturi nicht mehr an ihn ran kommen." "Und wie willst du das anstellen?", fragte Alice. "Du kannst ihn unmöglich permanent bewachen." "Das müssen wir nicht, wenn er einfach hier bleibt", meinte Jacob. Ich lachte gespielt auf. "Das ist doch nicht dein Ernst." "Nein, nein, nein", sagte Carlisle nun und schüttelte entschieden den Kopf. "Wir dürfen ihn auf keinen Fall von der Schule nehmen. Das Wichtigste ist für ihn, dass sein gewohnter Tagesablauf nicht unterbrochen wird. Ihr dürft nicht vergessen, dass es hier nicht darum geht, den Volturi einen Strich durch die Rechnung zu machen. Es geht um sein Wohl. Ihn einzusperren ist der falsche Weg. Was er jetzt braucht, ist seine Familie und das Wissen, dass wir hinter ihm stehen. Wenn wir ihm seine Freiheit nehmen, denkt er unweigerlich, dass er eine Gefahr für die Menschen ist und wir ihn deswegen einsperren. Er wird sich für schwach halten." Wir alle stimmten ihm im Geiste zu und nickten. Diese Worte ausgerechnet von Carlisle zu hören, bedeutete etwas. Das letzte Mal, dass jemand von uns rückfällig geworden war, war das zu Bellas Geburtstag gewesen und damals hatte sie nur ein paar Kratzer davon getragen. Dies hier war bedeutend schlimmer gewesen und Carlisle bewies mit seinen Worten großes Vertrauen in Anthony. "Bella, Edward", sprach er nun zu uns. "Lasst euch nicht durcheinander bringen. Ihr zwei werdet nach Jacksonville gehen. Das ist sehr wichtig für Bella." Dann wand er sich an Alice. "Alice, bitte versuch die Volturi im Auge zu behalten. Insbesondere wenn du Lücken bemerkst, solltest du uns Bescheid sagen." Alice nickte. "Das mache ich." "Renesmee lass dir von Alice grüne Kontaktlinsen geben." Meine Tochter nickte ebenfalls während ihr Mann ungläubig mit gesenktem Blick den Kopf schüttelte. Er starrte die Tischkante unseres Glastisches an. Das ist Wahnsinn, dachte er sich. Als es schließlich darum ging, wie wir am besten die Leiche des ermordeten Mädchens weg schufen, ohne die Spuren auf uns zu lenken, klinkte Jacob sich aus. Er erhob sich aufgebracht und ging in seinen und Nessies Teil des Gebäudes. Knapp eine Stunde später überreichte Alice meiner Tochter das kleine Döschen mit den Kontaktlinsen. Ich begleitete sie nach unten in die Kellerräume. In der Tat sah es hier unten weniger aus wie in einem Keller, als viel mehr wie in einer Art Nobel-Bad. Der gesamte Kellergang war mit schwarzen Fließen gefliest worden, die im Licht der Lampen ganz leicht glitzerten. Die Wände waren teilweise getäfelt, ebenso die Türen. Der gesamte Bereich befand sich unterhalb aller unserer Gebäude und hatte damit eine riesige Fläche. Anthony benutzte davon allerdings lediglich das Bad und sein eigenes Zimmer, das ganz hinten im Gang lag und damit interessanterweise, genau in entgegengesetzter Richtung seiner Eltern. Renesmee klopfte vorsichtig an die Tür zu Anthonys Zimmer. Erst als Mariella uns herein bat, öffnete sie sie. Als wir herein kamen, saß Mariella auf der Bettkante, während ihr Bruder auf dem Bett lag. Er lag auf dem Bauch und hatte seinen Kopf in unsere Richtung gedreht. Seine Augen waren ganz leicht geöffnet. Er würde heute Nacht keinen Schlaf finden. Renesmee kniete sich vor ihren Sohn, strich ihm durch das Haar und zeigte ihm dann das Döschen. "Schau, das ist für dich", sagte sie sanft. "Das sind Kontaktlinsen." "Sie sind ein wenig unangenehm", fügte ich hinzu. "Und dein Gift wird sie rasch zersetzen, daher solltest du sie regelmäßig wechseln und nur dann tragen, wenn es wirklich notwendig ist." Anthony rührte sich nicht, zeigte keinerlei Reaktion. Um die Stille zu durchbrechen stellte seine Schwester stattdessen eine Frage, nachdem sie von uns zu ihrem Bruder und wieder zurückgeschaut hatte. "Wie lange bleiben seine Augen so?" Jetzt drehte sich auch Nessie zu mir um. "Das kommt drauf an, wie viel von dem Blut in seinem Kreislauf ist. Ich nehme an, dass sein eigenes Blut und das Tierblut, dass er wieder trinken wird ,das Menschenblut bald zersetzt . Ein paar Wochen vielleicht." Renesmee und Mariella nickten gedankenverloren. Meine Tochter stellte das Döschen auf Anis Nachttisch, dann verließen wir leise das Zimmer. Es würde sicherlich noch eine ganze Zeit dauern, bis er diesen Tag verarbeitet hatte. Aber wir waren zuversichtlich, dass wir das Richtige taten, wenn wir ihn weiter zur Schule gehen ließen. Wir vertrauten auf seine innere Stärke und den Willen, das Richtige zu tun. Fürs Erste, war Beides für ihn nicht notwendig. Der Blutdurst war gestillt. In den nächsten Tagen, bestünde so oder so keine Gefahr für die Menschen in seiner Nähe. Alles was danach kam, hing von Anthony selbst ab... *** Bella und ich taten was Carlisle uns gesagt hatte. Wir versuchten die Ereignisse Zuhause auszublenden, als wir nach Jacksonville flogen. Es schien so, als wollte das Schicksal Bella ein kleines Geschenk machen, denn die Sonne schien an diesem Morgen nicht. Da wir aber viel älter aussehen mussten, als wir tatsächlich waren, hatten wir uns trotzdem so gut wie möglich verdeckt. Unser Make-Up, das wir teilweise mit Silikon angebracht hatten um ein paar Falten zu simulieren war nur stellenweise sichtbar. Bei Bella wurde es von einem Schleier verdeckt, ich trug einen Hut und sah die meiste Zeit auf den Boden. Abgesehen von Phil kannte uns hier ohnehin niemand, viele wussten sicherlich nicht mal wer wir waren. Aber für meine Bella war es wichtig hier zu sein. Der Pfarrer hielt eine bewegende Rede am Grab von Reneé Dwyer, geborene Higgenbotham, Mutter von Isabella Marie Cullen, geborene Swan, Frau von Phil Dwyer und Ex-Frau von Charlie Swan. Sie war ausserdem die Großmutter von Renesmee Carlie Black-Cullen, geborene Cullen, die in ihrem Namen und in ihrem Herzen und in ihren Genen ein Teil von ihr war und die Urgroßmutter von William Edward Black-Cullen, Mariella-Sarah Black-Cullen und Anthony Ephraim Black-Cullen, die sie alle vier nie kennenlernen durfte und von deren Existenz wir sie in alle den Jahren nie in Kenntnis gesetzt haben. Dies waren die Verwandtschaftsbeziehungen, die der Pfarrer nicht aufzählte, die ich jedoch in Gedanken in den Himmel schickte. Ich wusste nach wie vor nicht, ob wir eine Seele hatten, aber ich wünschte mir nichts sehnlicher, als das Bella, sollte die Ewigkeit aufgrund widriger Umstände doch einmal ein Ende finden, ihre Mutter, dort wo sie jetzt war, wiedersehen würde. Wir wohnten den anderen Trauernden nach der Beerdigung nicht mehr bei. Wir verließen zusammen mit ihnen diesen Ort, doch während sie zu Phil nach Hause gingen und anschließend in ihre Betten, kehrten wir zurück zu Reneés Grab. Diesmal ohne Schleier, die unser Äußeres verdeckten. Bella wollte ihrer Mutter wenigstens dieses eine Mal, wenn auch symbolisch, in ihrer wahren Erscheinung gegenübertreten, als die Bella, die Reneé nie kennengelernt hatte. Bella kniete sich vor das frische Grab. Die Erde türmte sich dort noch. Es würde einige Zeit dauern, bis sie sich setzte. "Mom", sagte Bella und unterdrückte ein Schluchzen. "Ich möchte das du weißt, dass ich dich immer geliebt habe und dich immer lieben werde, solange ich lebe. Es war nicht leicht, dich nie wieder zu sehen, aber ich habe das für dich getan. Du hast dir immer so viele Sorgen gemacht, ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst. Es ging uns doch nur um dein Wohl. Ich weiß, dass du ein schönes Leben mit Phil hattest. Ihr habt viel miteinander erlebt und ich bin froh, dass du mit ihm deine große Liebe gefunden hast. Du hast dir das so sehr verdient." Ihre Stimme wurde immer stockender, auch wenn keine Tränen flossen. Bella kramte kurz in ihrer Tasche und holte mit zittrigen Fingern ein paar Fotos heraus. Ich kniete mich neben meine Frau und hielt sie an den Schultern, wollte ihr zeigen, dass ich für sie da war, das sie in dieser schweren Stunde nicht allein war. "Ich wollte dir auch gerne sagen, dass du eine wunder wunderschöne Enkeltochter hast. Ihr Name ist Renesmee. Ich hab sie nach dir und Edwards Mutter genannt. Sie trägt deinen Namen mit stolz und sie hätte dich so gern kennengelernt. Und... und... du hast auch drei wunderbare Urenkel und sogar zwei Ururenkel." Bellas Stimme brach ab. Ich hatte sie seit dem sie ein Vampir war noch nie so gesehen. So menschlich. Alles was fehlte waren die Tränen. "Ich hab dich lieb, Mom", schluchzte sie. "Ich hab dich so lieb. Ich werde dich nicht vergessen. Ich versprechs." - Ende Kapitel 02 - Kapitel 3: Vampire weinen nicht ------------------------------- Disclaimer: => Ich verdiene kein Geld mit meiner Fanfiction. => Alle Charaktere die schon in den Twilight-Bänden ihren Auftritt hatten, gehören Stephenie Meyer. Alle Anderen, wie etwa Schüler, Lehrer und vor allem Renesmees und Jakes Kinder, habe ich selbst erfunden. Weitere Infos zur FF, Trailer, Cover & mehr http://www.renesmee-und-jacob.de.vu http://www.chaela.info --------- Kapitel 3 Vampire weinen nicht Jeder Tag im Leben ist einzigartig. Ganz gleich, wie viele wir davon erleben. Ganz gleich, wie oft wir aus dem Schlaf erwachen, die Sonne am Horizont aufgeht, wenn wir die Augen aufschlagen, können wir nie genau sagen, was der Tag für uns parat hält. Ob es vielleicht einer der Schönsten in unserem Leben werden wird – oder ob uns ein einziges Desaster erwartet. Ich für meinen Teil, war mir an diesem Morgen ziemlich sicher, dass es vielleicht besser war, einfach im Bett liegen zu bleiben, anstatt der Welt entgegenzutreten. Ich wollte mir einfach die Decke über den Kopf ziehen und weiterschlafen, wollte mich nicht der Welt stellen und vor allem nicht meinem Vater begegnen. Aber ich war Jemand, der es nicht lange in geschlossenen Räumen aushielt. Auf dem Rücken liegen, verschränkte ich die Arme vor der Brust und betrachtete für einen Moment meine Zimmerdecke, sah Muster und Bilder im Putz, die gar nicht da waren, dann drehte ich mich frustriert auf die Seite. Zuerst starrte ich nur an die Zimmertür, dann wanderte mein Blick zu meinem Nachttisch, auf dem das kleine Döschen mit den Kontaktlinsen lag. Ruckartig erhob ich mich und ging rasch zum nächsten Spiegel. Meine Augen waren noch immer feuerrot und kamen durch mein dunkles Haar, dass mir ins Gesicht fiel und meine helle Haut, extrem zur Geltung. Ein unangenehmes Kribbeln durchfuhr meinen Körper. Im ersten Moment, hätte ich noch gedacht, es war das mir bis dato unbekannte Gefühl von Frost, doch ich merkte schnell, dass dieses Unwohlsein von den gestrigen Ereignissen herrührte. Ich ging zurück zum Nachttisch, nahm die Dose und begab mich mit ihr ins Bad, wo ich mich sofort unter die Dusche stellte, in dem verzweifelten Versuch, meine Taten im wahrsten Sinne des Wortes reinzuwaschen. Dass das Wasser dazu nicht in der Lage war, wusste ich selbst. Ich stellte mich direkt unter den Wasserstrahl, ließ das warme Wasser von oben auf mich herabrieseln und schloss die Augen, so wie ich es immer tat, um mich zu beruhigen. Vor meinem inneren Auge, sah ich Bilder... Ich weiß nicht warum, aber in diesem Moment, erinnerte ich mich an ein ganz bestimmtes Ereignis aus der Vergangenheit... Es war der Tag, an dem Will zum ersten Mal in den Kindergarten durfte. Wir waren zu dieser Zeit gerade in Cleveland, Ohio, unweit von jenem Ort, an dem Carlisle vor fast 150 Jahren sein Leben in den Vereinigten Staaten begann. Will war gerade drei Jahre alt und verhielt sich auch so. Mariella und ich waren natürlich ebenfalls drei, sahen jedoch eher aus wie Fünf oder Sechs und waren geistig noch ein Stück weiter. Mit Menschen zusammen zu sein, bevor wir vollkommen ausgewachsen waren, war eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit für Halbvampire. Zumindest hatte meine Mutter nie einen Kindergarten von Innen gesehen. Ursprünglich hatte man das für uns auch so beibehalten wollen, aber da Will sich fast ganz normal entwickelte, setzte sich Leah dafür ein, dass ihr Schützling eine möglichst normale Kindheit haben konnte. Sie redete so lang auf meine Familie ein, bis sie sich dazu breitschlagen ließen, Will im Kindergarten anzumelden. Da er immer wieder Gefahr laufen konnte, sich zu verwandeln, wenn ein anderes Kind ihm das Sandkastenförmchen klaute, begann Leah mit ein wenig 'Unterstützung' in eben jenem Kindergarten eine Ausbildung, in dem auch Will war und passte so rund um die Uhr auf ihn auf. Ich weiß noch, dass Mariella und ich an diesem Tag ebenfalls im Auto gesessen hatten, aber meine Mutter und mein Vater fuhren danach mit uns zum einkaufen. Nachdem Will und Leah ausgestiegen waren und meine Mutter sich von ihnen ausgiebig verabschiedet hatte, hatte ich den Kindergarten nur noch sporadisch gesehen. William entwickelte sich ausgezeichnet. Kein Mensch wäre jemals darauf gekommen, dass er nicht menschlich sein konnte. Er war ein sehr umgängliches Kind, das aber gelegentlich auch ordentlich Temperament besaß. Wenn er etwas haben wollte, begann er schonmal sich auf dem Boden zu rollen und zu quängeln. Mir war Niemand bekannt, der sich ihm entziehen hätte können. Für die ganze Welt war er ein niedlicher, kleiner Junge mit wunderschönen grünen Augen und bronzenem Haar. Verwandeln tat er sich in Leahs Obhut nie, wodurch er nach und nach zu seinem normalen Wachstum angelangte, welches minimal schneller war, als das eines normalen Menschen. Das fiel aber Niemandem sonderlich auf. Meistens wurde es auf Esmes gute Küche geschoben. Ich weiß noch, dass wir im zweiten Jahr in Cleveland eine Geburtstagsfeier im Haus hatten. Leah hatte sich auch hier durchgesetzt und so bekam Klein-William seine eigene Party mit Luftschlangen, Kuchen und Pinata-Spielen. Es mochte ein kleiner Haufen Fünfjähriger gewesen sein, die im Haus herum rannten und spielten, während ich mit meinen geistigen Zehn in meinem Zimmer saß, aber es grämte mich. William hatte keine Unsterblichkeit, er war nicht so schnell wie ich, wuchs nicht so schnell wie ich und trank kein Blut, aber zum ersten Mal in meinem Leben, hatte ich gespürt, dass mein Bruder etwas hatte, was ich nie besitzen konnte: Freunde. Ich war schon immer ziemlich verschlossen gewesen, hatte mich nie sonderlich nach Gesellschaft gesehnt, aber aus mir unbekannten Gründen, hatte dieser Moment mir sehr weh getan. Ich mochte geistig weiter gewesen sein, als so manch anderes Kind in meinem geistigen oder körperlichen Alter, aber es wollte mir nicht in den Kopf, warum Will Freunde haben durfte und ich immerzu im Haus eingesperrt sein musste oder nur in Begleitung raus durfte. Als ich frustriert, mit angewinkelten Beinen im Bett kauerte, hatte sich die Tür geöffnet und meine Mutter betrat das Zimmer. Sie hielt ein kleines, blaues Tablett auf dem ein Stück Geburtstagstorte stand. Unseren richtigen Geburtstag hatten wir einige Tage zuvor schon gefeiert gehabt, daher war dies nicht die erste Torte in diesen Tagen, trotzdem war das nicht der Grund, warum ich sie, wie auch jedes darauf folgende Jahr, nicht annahm. „Möchtest du nicht mit runter kommen?“, hatte meine Mutter einfühlsam gefragt, das Tablett auf mein Bett gestellt, sich neben mich gesetzt und mir über den Rücken gestrichen. Ich hatte den Kopf geschüttelt. „Rose und Emmett sind auch da, und Mariella und Seth.“ Ich schüttelte erneut den Kopf. „Na dann...“, seufzte meine Mutter traurig und erhob sich. Ich hob nun ebenfalls meinen Kopf. „Mum?“, hatte ich gesagt und sofort hatte sie sich wieder umgedreht. „Ja?“ „Wann darf ich zum ersten Mal in die Schule?“ Die Frage hatte meine Mutter wohl etwas überrumpelt. Sie hatte einen Moment gebraucht, um die richtigen Worte zu finden. „Nun... Spatz... weisst du, es ist noch etwas zu früh.“ „Aber andere Kinder kommen doch auch in meinem Alter in die Schule“, hatte ich gekontert. „Ich weiß“, sagte meine Mutter traurig. „Aber ihr seid nicht wie die anderen Kinder, ihr seid etwas Besonderes.“ Ich hatte sie nur traurig und fragend angesehen. „Etwas besonders Schlechtes?“ „Was?!“, erwiderte meine Mutter erschrocken und ließ das Tablett fast fallen. „Um Himmels willen, nein, mein Schatz, natürlich nicht! Ihr seid unser Ein und Alles. Ihr seid wundervoll und wir lieben euch. Ihr seid nicht schlecht, ihr seid nicht böse, ihr seid nur... nur Anders.“ Die Augen meiner Mutter wurden glasig, sie rückte näher an mich heran und nahm mich in den Arm. Sie schluchzte, als sie mir über den Rücken und den Kopf strich. Noch am selben Abend brachte meine Mutter Mariella und mich in Carlisles Arbeitszimmer, wo auch meine Großeltern, Seth und mein Vater warteten. Meine Mutter ging mit mir in die Mitte des Raumes, wo sich Carlisle zu mir herunter kniete. „Hallo Ani“, sagte er sanft und lächelte mich ruhig und freundlich an. „Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir dir ein paar wichtige Dinge beibringen, die du nie vergessen darfst.“ Ich nickte verständnisvoll, war aber sehr gespannt, was nun kommen würde. „Was isst du am Liebsten?“, fragte er. „Lasagne“, antwortete ich sofort. Carlisle lachte. „Ja, das ist die Standardantwort, die du geben sollst, wenn dich das Jemand fragt, der nicht zur Familie gehört, aber was isst du wirklich am liebsten?“ „Puma“, antwortete ich etwas langsamer. „Richtig.“ „Und was isst dein Bruder?“ „Waffeln“, sagte ich. Wieder lächelte Carlisle. „Und isst dein Bruder auch gern Puma?“ „Nein, er mag keine Tiere.“ „Richtig.“ „Also bin ich etwas 'Besonderes', weil ich Puma mag? Ich kann auch normales Essen essen. Ich versprechs.“ Meine Mutter sah in diesem Moment ein bisschen gequält aus, aber Carlisle lächelte weiter. „Nein, das verlangt keiner von dir. Du tust bereits das Richtige, in dem du Tiere jagst.“ „Was sollte ich denn sonst tun?“, fragte ich verdutzt. Ich hatte nie etwas Anderes kennengelernt. Wir waren immer nur zum Jagen in den Wald gegangen und waren Tieren nachgejagt. Auf die Idee einen Menschen zu töten, war ich nie wirklich gekommen. Wahrscheinlich, weil ich nie einem lange genug nah gekommen war, um den Geruch wahrzunehmen, den vorzüglichen Geruch menschlichen Blutes. „Was für eine Augenfarbe habe ich?“, fragte Carlisle. „Gold“, sagte ich. „Genau, und die haben wir, weil wir Tiere jagen. Aber es gibt noch andere Vampire da draußen und die haben dann rote Augen, weil sie Menschen jagen.“ „Sie bringen Menschen um und trinken sie leer?“, hackte ich nach. Carlisle nickte. „So ist es.“ „Warum?“, wollte ich wissen. „Schmecken ihnen Tiere nicht?“ „Nein“, antwortete mein Gegenüber. „Sie haben sich einfach für diesen Weg entschieden.“ „Das ist aber kein guter Weg“, stellte ich dann fest. Carlisle nickte zufrieden. „Genau so sehen wir das auch, deswegen machen wir das nicht.“ „Nein,“, antwortete ich. „Machen wir nicht. Keine Menschen. Nur Tiere.“ Meine Mutter kniete sich neben mich. Ihre Augen glitzerten wieder und sie umarmte mich behutsam. „Du bist nicht böse, du bist genauso wie wir auf dem guten Weg.“ „Jetzt weiß ich aber immer noch nicht, warum Will in den Kindergarten darf, ich aber nicht in die Schule. Ich tue den anderen Kindern doch nichts.“ „Nein, natürlich tust du ihnen nichts“, meldete sich nun mein Großvater zu Wort. „Aber du wächst schneller, als dein Bruder und das würden die anderen Kinder merken. Du musst noch ein paar Jahre warten, bevor du in die Schule kannst.“ Ich nickte traurig. Sofort schaltete sich Emmett ein. „Hey, Kopf hoch, Kurzer. Andere Jungs in deinem Alter sind auch nicht sonderlich scharf auf die Schule. Du lernst bei uns, das ist besser als jede Schule der Welt!“ Zur Antwort, schenkte ich meiner Familie ein gezwungenes Lächeln. Nach diesem Tag, hatte ich nie wieder gefragt, ob ich in die Schule durfte... Heute, mehr als zwei Jahrzehnte später, ist die Schule für mich eine Notwendigkeit. Etwas, das ich tat, um mich vor der Langeweile abzulenken und vor allem, um den Menschen keinen Grund zu geben, darüber nachzudenken, was wir waren. Natürlich war es mir nicht gelungen, meine Taten mit Wasser wieder rein zu waschen, aber immerhin, kam ich mir nach dem Duschen ein bisschen 'sauberer' vor, auch wenn ich vom Wohlsein noch weit entfernt war. Nachdem ich mich angezogen hatte, stellte ich mich erst mal vor den Spiegeln und setzte mir die Kontaktlinsen in die Augen. Am liebsten wäre ich anschließend einfach durch meine Klappe verschwunden, aber dann hätte sich meine Familie wahrscheinlich Gedanken darüber gemacht, wohin ich verschwunden war. Das konnte ich insbesondere meiner Schwester und meiner Mutter nicht antun, nachdem sie sich gestern so um mich gekümmert hatten, also ging ich schweren Schrittes die wenigen Stufen ins Erdgeschoss hoch. In unserer großen Küche saßen Seth und Mariella, ebenso, wie sie es jeden Tag taten. Mir war natürlich klar, dass meine Familie jetzt krampfhaft versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass sich etwas verändert hatte: ich. Seth aß wie jeden Morgen sein Frühstück und meine Schwester leistete ihm Gesellschaft, auch wenn sie selbst das Essen nicht anrührte. „Schatz“, sagte er dann und strahlte Mariella an. „Musst du heute wieder den ganzen Tag arbeiten? Oder nur Halbtags?“ „Den Ganzen“, antwortete sie und schlang von hinten ihre Arme um seinen Hals, dann legte sie ihr Kinn auf seinen Kopf. „Schade...“, erwiderte Seth. „Aber vergiss nicht, wenn sie neue Kochbücher haben...“ „... dann setze ich dich sofort auf die Liste“, beendete sie den Satz. Mich wunderte es immer wieder, dass er sich nicht einfach, wie die meisten anderen Menschen auch, einen E-Book-Reader kaufte oder gleich ein iPad. Das wir in der Schule noch alte zerfetzte Bücher hatten, die wahrscheinlich schon so mancher Großvater meiner Mitschüler mit Fettfingern beschmiert hatte, fand ich ja gerade noch so verständlich, aber wenn es uns hier an einem nicht mangelte, dann war es das liebe Geld. Das wir dafür viele andere Dinge, die man eben mit Geld nicht kaufen konnte, opfern mussten, das sah von Außen Keiner. Ich spürte, dass mein eigener Großvater sich gerade näherte und drehte mich bereits vorher um. Mariella sah etwas verdutzt drein, sie schien es erst viel später gemerkt zu haben. Edward stellte sich direkt neben mich. „Ani, hast du einen Moment?“ Ich nickte. „Ciao“, sagte ich noch zu Mariella und Seth, dann folgte ich ihm. Edward ging mit mir einige Schritte durch den Flur und blieb dann stehen. Ich stand ihm gegenüber, mit dem Rücken zur Wand. „Eine Sache noch“, begann er nachdenklich. „Das Mädchen, das mich angerufen hat, war als wir eintrafen, nicht mehr da. Meinst du, sie hat Hilfe geholt und ist dann weggelaufen oder gibt es Grund zur der Befürchtung, dass die Volturi sie haben könnten?“ „Mädchen?“, fragte ich verwundert. Jetzt erst fiel mir auf, dass ich gestern gar nicht gefragt hatte, wie sie mich eigentlich gefunden hatten. „Ja“, antwortete Edward ruhig. „Sie rief mich von deinem Handy aus an. Sie war sehr aufgeregt und hat nur abgehackte Sätze gestammelt, aber sie meinte was von wegen ihr wärt 'spazieren' gewesen.“ Wahrscheinlich wurden meine Augen just im Moment größer. Mein Herz begann zu rasen und Panik kroch in mir hoch, doch ich gab mir alle Mühe, meinem Gegenüber die Ruhe in Person vorzuspielen. Catriona hatte meinen Großvater mit meinem Handy kontaktiert und war danach verschwunden? In meinem Kopf überschlugen sich die Ereignisse vom Vortrag. Immer wieder hallten die Worte der Volturi in ihm wider: „... die könnte uns noch von Nutzen sein ...“ Hatten sie womöglich Catriona in ihrer Gewalt? „Ani?“ Edwards Worte rissen mich aus meinem Gedankenwirrwarr. „Hältst du das für möglich?“ Ich schüttelte eifrig den Kopf und schürzte die Lippen. „Nein, nein. Sie haben sie gar nicht gesehen, wir hatten uns schon davor voneinander verabschiedet“, log ich. Edward nickte. Ich meinte aber noch einen leichten Hauch Misstrauens in seinem Blick zu sehen. „Alles klar... also sie hat dich definitiv hinterher gesehen. Meinst du, du kannst dir was einfallen lassen?“ „Ja, ja“, beteuerte ich. „Ich komm damit klar. Ich erledige das. Ich mach mich gleich mal auf den Weg.“ Und dann eilte ich aus dem Haus und zu meinem Wagen, stieg ein und fuhr mit einem Affenzahn über die Landstraßen. Dieses Mal wollte ich nicht bis kurz vor Stundenbeginn warten. Es war schwierig, etwas so bald wie möglich in Erfahrung bringen zu wollen und dabei nicht übernatürlich schnell über den Schulhof zu fegen. Ich riss die Tür meines schwarzen BMW noch beinahe aus den Angeln, als ich aus dem Wagen stieg. Ob ich überhaupt abgeschlossen hatte, wusste ich nicht. Viel wichtiger war es für mich nun, ins Schulgebäude zu kommen. Was, wenn Catriona nicht hier war? Sollte ich dann sofort alles stehen und liegen lassen und nach Italien gehen? Sollte ich meine Familie einweihen? Oder sie vielleicht doch ihrem Schicksal überlassen? Sie war nur ein einzelner Mensch. Jeder normale Vampir tötete Tausende in seinem Leben... Ich schüttelte den Gedanken weg. Sie durfte einfach nirgendwo anders sein, als hier. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich um die nächste Ecke bog – und tatsächlich. Da stand sie, an ihrem Spind, damit beschäftigt, mit einer Klassenkameradin zu reden, als wäre nichts gewesen. Dieses Mädchen war offenbar sehr hart im nehmen. Kaum hatte ich sie gesund und munter da stehen sehen, verflog die Angst. Was zurück blieb war Wut. Wut darüber, dass sie nicht auf mich gehört hatte. Und die brauchte jetzt ganz dringend ein Ventil. Zielsicher ging ich auf die Mädchen zu. Catriona drehte sich sofort um. Ihr zuvor noch entspanntes Gesicht wurde bleich, als hätte sie einen Geist gesehen. Ich ließ mich von ihrem starrenden Blick nicht abschrecken. Ich packte sie am Oberarm und zog sie einfach hinter mir her. Einige Schritte weiter, befand sich zu unserer Rechten eine abgeschlossene Klassenzimmertür. Ich drehte am Griff, bis es ein knackendes Geräusch gab – das zerberstende Türschloss -, öffnete die Tür, schob Cat in den halb abgedunkelten leeren Raum und schloss die Tür hinter uns. Ich hatte mich kaum umgedreht, da war sie schon auf mich zu gestürmt und hatte ihre Finger in meine Jacke gekrallt. „Du lebst!“, stellte sie erleichtert fest. „Bist du verletzt? Was machst du hier? Du musst dich doch ausruhen!“ Ich schüttelte den Kopf, nahm ihre Hände von mir und drückte sie ein wenig weg. „Es geht mir gut.“ Ihre blauen Augen wanderten schnell hin und her, als sie mit leicht geöffnetem Mund weiter zu mir auf sah. „Ich hab mir Sorgen gemacht“, flüsterte sie. „Es geht mir gut“, antwortete ich wieder. Ich wollte ihr nicht das Gefühl geben, dass ich auf ihre beginnende sentimentale Schiene abrutschte. Wo war das störrische Mädchen geblieben, dass mich mit Käsebrötchengestank ärgerte? Hatte sie sich so schnell verflüchtigt? „Aber... das Blut“, meinte sie dann. Als sie Anstalten machte, wieder nach meiner Jacke zu greifen, schob ich sie ein ganzes Stück weg, bis sie mit dem Rücken gegen einen Tisch lehnte und sich mit den Händen abstützte. „Warum hast du nicht getan, was ich dir gesagt habe?“, fragte ich tonlos. „Warum bist du zurückgekommen?“ „Du brauchtest Hilfe“, antwortete sie. „Zwei gegen Einen. Ich MUSSTE dir helfen.“ Ich schürzte die Lippen und schüttelte den Kopf. Wie naiv. „Und du meinst du hättest etwas ausrichten können?“ „Hab ich ja!“, antwortete sie empört. Ich sah sie fragend an. „Ich hab Hilfe gerufen“, klärte sie mich auf. „Schön. Und damit dein eigenes Leben in Gefahr gebracht.“ „An-“, begann sie wieder einen leisen Satz, doch ich machte einen Satz auf sie zu, bis ich nur wenige Millimeter von ihr entfernt war. „Vergiss alles, was du an diesem Tag gesehen hast. Alles.“ „Alles?“, fragte sie zittrig und ich sah, wie in ihren Augen Tränen aufstiegen. Ich war mir sicher, dass das ihr wirkliches Wesen war. Genauso sensibel und verletzbar, wie die meisten Menschen. Genauso schnell zu brechen. „Alles“, bestätigte ich, dann drehte ich mich um und verließ den Raum. Als ich eine halbe Stunde im Klassenzimmer saß, saß Catriona in der dritten Reihe auf dem fünften Stuhl von links... *** Auf der Heimfahrt am Nachmittag, stellte ich fest, wie sehr sich mein Leben binnen vierundzwanzig Stunden gewandelt hatte. Vor kurzem noch, war meine größte Sorge der übliche Zank mit meinem Vater gewesen. Nun hatte ich ein Menschenleben auf dem Gewissen und das Blut dieses Menschen floss durch meine Adern... Ich parkte mitten in der Auffahrt unseres Anwesens. Ich drehte den Zündschlüssel herum und der ohnehin schon flüsterleiserne Motor verstummte völlig. Ich hatte kein sonderliches Bedürfnis danach, meinen Vater zu sehen, also blieb ich erst mal hier sitzen, wollte wenigstens noch ein paar Minuten das Unausweichliche herauszögern. Im Rückspiegel meines Autos, sah ich, dass meine Augen wieder rot waren. Die Kontaktlinsen hatten sich aufgelöst. Plötzlich vernahm ich ein Klopfen an der Scheibe zu meiner Linken und zuckte kurz zusammen. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie meine Schwester sich dem Wagen genähert hatte. Mariella stand lächelnd neben meinem BMW und strahlte mich an. Ich zog den Schlüssel aus dem Schloss und stieg aus. „Hey, Anilein“, sagte sie freudig und umarmte mich. Ich strich ihr etwas verhalten über den Rücken. Als wir uns voneinander lösten, wanderte mein Blick zum Haus. „Du hast Angst reinzugehen, nicht wahr?“ Wie Recht sie doch immer hatte. Ich senkte den Blick und nickte. „Dann lass uns einfach nicht reingehen.“ Mariella griff nach meiner Hand und zog mich hinter sich her. „Was hast du denn vor?“, fragte ich verdutzt. „Zeit schinden und dich dabei auf andere Gedanken bringen“, antwortete sie. Vor einem offenen Feld, das nur durch eine Baumreihe von unserem Anwesen getrennt wurde, blieb sie stehen. „Was hältst du von einem Rennen? Wer als Erster den Fluss überquert?“ „Okay“, antwortete ich. Das hatten wir schon häufig gemacht. Ich war dank meiner Werwolfgene deutlich schneller, als alle meine Familienmitglieder, aber ich ließ meine Schwester in regelmäßigen Abständen gewinnen. Sie wusste zwar immer, dass ich sie gewinnen ließ, aber irgendwie freute sie sich trotzdem jedes Mal. Im Grunde war ihr der Sieg aber egal. Es machte ihr einfach nur Spaß, mit mir herumzualbern. Seit wir älter waren, taten wir das nur noch selten. Die meiste Zeit verbrachte Mariella mit Seth. Und genauso wie sie die Zeit mit mir genoss, genoss ich die Zeit mit ihr. Beim Startsignal zischten wir also los. Nur wenige Sekunden nach Beginn unseres Rennens, hatte ich meine Schwester schon weit überholt. An sich war das zwar immer so, aber diesmal, erschrak ich sogar selbst. Ich war noch schneller, als sonst. So würde mich sogar mein Vater in Wolfsgestalt nicht kriegen. Meine Beine trugen mich so schnell, dass ich selbst die Umgebung kaum wahrnahm. Es verschwamm alles. Ruckartig blieb ich stehen und drehte mich um. Ich wartete einen Moment, weil ich dachte, dass Mariella sicher gleich kommen würde. Dann musterte ich die Gegend. Mariella würde nicht kommen. Ich hatte den Fluss bereits überquert. Eilig lief ich wieder zurück. Am Fluss saß meine Schwester auf einem Stein und badete ihre nackten Füße im kühlen Nass. Mit dem fleckigen Schnee um sie herum, war das ein seltsames Bild. „Ich hatte Fluss gesagt, nicht Meer“, sagte sie kichernd. Ich setzte ein gezwungenes Lächeln auf. Ich fand es nicht lustig, hatte ich diese Geschwindigkeit doch dem Blut in meinen Venen zu verdanken. Dem Blut, das nicht mir gehörte. Ich watete durch den Fluss auf Mariella zu. Im seichten Wasser blieb ich stehen und ging in die Hocke. Mariella sah mich weiter an. Ich nahm einen kleinen Stein aus dem Fluss und drehte ihn in den Fingern, ehe ich ihn mit ein klein wenig Druck zerbröselte. Wie Puderzucker rieselte der Stein zurück ins Wasser. „Ich bin ein Monster.“ „Sag so was nicht“, sagte Mariella und sah mich traurig an. „Wie würdest du denn etwas beschreiben, das ohne zu zögern ein Menschenleben auslöscht?“ Mariella stand von ihrem Stein auf und kniete sich zu mir ins Eiswasser. Sie nahm mein Gesicht in ihre Hände und sah mich eindringlich an. „Du bist wunderschön.“ „Äußerlich vielleicht“, antwortete ich bitter. „Nein“, erklärte meine Schwester und legte ihre Hand an jene Stelle, an der mein Herz schlug. „Hier drin.“ „Ich hab sie umgebracht“, erwiderte ich. „Du bereust es. Und das ist alles was zählt. Ein Monster bereut nicht. Tá cathú orm“, wiederholte sie meine gestrigen Worte. Ich nickte. Sie würde ihren Standpunkt behalten. Und ich Meinen. Jetzt galt es erst mal, die kommenden Stunden zu überstehen, denn die Begegnung mit meinem Vater stand noch aus. Als ich mit Mariella das Haus betrat, durchfuhr mich ein starkes Gefühl von Unbehagen. Ich hatte das Gefühl, ich müsste mich gleich übergeben, so schlecht wurde mir bei dem Gedanken, die bösen Blicke meines Vaters nochmal sehen zu müssen. Das Gestern hatte mir eigentlich gereicht. Zunächst geschah jedoch erst mal gar nichts. Mariella nahm mich wieder bei der Hand und ging mit mir in die Küche. Seth saß hier bereits mit einem Teller Pasta. Nachdem wir die Küche betreten hatten, ließ meine Schwester mich los, ging um den langen Tisch herum und gab Seth einen zarten Kuss. „Guten Abend, ihr Zwei“, sagte Seth zufrieden futternd. „Hat Dad schon gegessen?“, fragte Mariella gelassen. Wieder durchfuhr mich ein unangenehmes Gefühl. „Ich glaub schon. Der ist mit Nessie ziemlich fix verschwunden“, antwortete Seth und drehte die nächste Gabel Spagetti. In mir machte sich Erleichterung breit. Meine Mutter hatte ihn wahrscheinlich davon abgehalten, hier auf mich zu warten und verbrachte den Abend mit ihm in unserem Teil des Anwesens. Fünf Tage später war diese abendliche Erleichterung schon fast ein wenig Routine. Jeden Tag verbrachte ich angespannt damit, an den Abend zu denken. Und jeden Abend stellte ich fest, dass meine Mutter meinen Vater weiter von mir fern hielt. Eigentlich war ich froh darüber, doch nach und nach, machte mir dieses Wechselbad zu schaffen. Tagsüber ging ich zur Schule oder spazierte durch den Wald. Immer wieder wurde ich mir meiner neuen Kräfte bewusst. Immer wieder schafften die kurzen Erkenntnisse, mich von dem was noch kommen würde abzulenken. Doch ein Dauerzustand konnte das nicht werden. Am sechsten Tag, fasste ich einen Entschluss: wenn mein Vater nicht zu mir kam, dann musste ich zu ihm gehen. Wie jeden Abend, saß ich mit Mariella und Seth noch in der Küche. Zwischendurch hatten uns andere Familienmitglieder Gesellschaft geleistet, aber heute waren wir nur zu Dritt. Als die Beiden sich für die Nacht verabschiedet hatten, saß ich noch eine Weile da und starrte auf die schwarze Marmortischplatte. Genau wie die meisten anderen Dinge, fühlte sie sich für mich eiskalt an. So kalt, wie mir in diesen Minuten wurde, jetzt da ich wusste, was gleich kommen würde. Angespannt erhob ich mich und ging in den Keller. Der Keller war gleichzeitig der für das Haupthaus, wie auch für die anderen Häuser unseres Anwesens. Ich hatte also direkten Zugang zu allen Teilen. Als ich aus der Kellertür im Haus meiner Eltern trat, stand ich in völliger Dunkelheit. Es war gerade mal neun Uhr und normalerweise schliefen meine Eltern nicht so früh. Ich entschloss mich, erst mal im Wohnzimmer nach zu sehen und tatsächlich hörte ich, dass der Fernseher in Betrieb war. Ich wollte gerade um die Ecke biegen, als meine Mutter plötzlich vor mir stand. Sie schien aber erschrockener darüber zu sein, als ich. Sie machte ein erschrockenes Geräusch, wich einen Schritt zurück und umfasste die Schüssel, die sie mit dem linken Arm umschloss, fester. Mit der Rechten schaltete sie schlagartig das Licht ein. „Ani!“, stieß sie hervor. „Tut mir Leid, Mum. Ich wollte dich nicht erschrecken.“ Sie wollte gerade etwas antworten, da hörten wir beide, wie mein Vater eilig näher kam. „Nessie, alles okay?“, fragte er, als er sorgend zu meiner Mutter rannte. Offensichtlich dachte er, es sei etwas passiert – was ja nicht ganz falsch war. Kaum hatte er mich erblickt, erstarrte auch er. Ich konnte seinen Blick nicht deuten und wartete einige wenige Sekunden auf seine Reaktion. Meine Mutter bewegte sich ebenfalls nicht. „Ach du bist es nur“, sagte mein Vater, als sei es ganz normal, dass ich nach sechs Tagen zum ersten Mal wieder mit meinen Eltern Kontakt hatte. Gelangweilt drehte er sich um und ging zurück ins Wohnzimmer. Ich verstand die Welt nicht mehr. Eigentlich hatte ich mir ja eine solch gelassene Reaktion gewünscht, aber irgendwas war hier faul. Jetzt stand ich schon hier, also wollte ich auch diese Aussprache haben. „Vater“, rief ich ihm nach, aber er ging unbeirrt weiter. Ich wollte ihm folgen, doch meine Mutter hielt mich zurück. Sie legte eine Hand an meine Brust und schüttelte eindringlich den Kopf. Ich schürzte die Lippen und überlege kurz, dann nahm ich ihre Hand weg und ging an ihr vorbei ins Wohnzimmer. „Warum gehst du mir seit Tagen aus dem Weg?“, fragte ich etwas mürrisch. Mein Vater drehte sich auf dem Sofa sitzend zu mir um und zuckte mit den Achseln. „Tu ich? Ich weiß nicht, was du meinst.“ „Das weisst du ganz genau“, zischte ich fast und sah zu ihm herab. Jetzt drehte er sich ganz zu mir herum. „Hör mal, was ist daran so ungewöhnlich, wenn wir uns ein paar Tage nicht sehen? Ich meine, du hast dein Leben. Ich hab meins. Du bist erwachsen. Das ist normal.“ Ich trat näher an ihn heran und beugte mich ein wenig zu ihm herab. Meine Augen verengten sich ein wenig zu Schlitzen, aber ich wusste, dass er das Rot deutlich sah. „Vor wenigen Tagen erst, hab ich ein unschuldiges Mädchen umgebracht. Das ist nicht normal.“ Jacob sagte erst mal gar nichts. Sein Gesicht war vollkommen entspannt, er sah mich jedoch an, ohne auch nur ein Lid zu bewegen. Es war ein kurzer Moment der Stille. Dann meldete er sich wieder zu Wort. „Doch. Ist es. Du bist ein Vampir. Ich hab mir sagen lassen, sowas machen die öfter.“ Seine Stimme war gespielt heiter und fröhlich. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, er hätte was getrunken. Es war so falsch, dass es mir jetzt nur noch mehr hochkam. Ich stellte mich wieder aufrecht hin. Ich spürte die Wut in mir aufkeimen, meine Hände ballten sich zu Fäusten und meine eigenen Fingernägel, bohrten sich in meine Haut. Ich begann zu zittern, spürte die Hitze. Ebenso wie mein Körper langsam bebte, bebten auch meine Lippen. Ich wusste nicht, was ich tun oder sagen sollte. Ich wünschte mir, er hätte mich angebrüllt oder mir einfach einen Schlag ins Gesicht verpasst. Alles, nur nicht das. Meine Mutter trat besorgt neben mich und wollte mich wegschieben. „Es ist besser, wenn du jetzt gehst, Ani“, sagte sie leise. Ich blieb wie angewurzelt stehen, starrte weiter meinen Vater an, der wiederum in den Fernseher starrte, als wäre ich gar nicht mehr da. „Ani“, wiederholte meine Mutter. „Ah!“, sagte mein Vater dann. Meine Mutter und ich sahen gleichzeitig zu ihm. „Noch was.“ Jetzt stand mein Vater auf und trat etwas näher an mich heran. Diese Worte waren jetzt mehr ein Flüstern, doch sie waren nicht mehr länger gespielt. „Du kannst froh sein, dass wir deinem Bruder Nichts erzählt haben, der hätte dir nämlich garantiert mehr dazu zu sagen gehabt, als wir.“ Wieder fühlte ich mich wie Abschaum. Wieder war mein Bruder der Engel, der der alles richtig machte und den ich als Vorbild sehen sollte. Ein Vorbild, dem ich niemals würde nacheifern können. Mein Vater machte mir immer wieder unmissverständlich klar, wo ich in seiner Gunst stand. Irgendwo ganz unten – oder auch nirgendwo. Da war ich mir schon lange nicht mehr sicher. Meine Mutter funkelte meinen Vater böse an, dann sah sie wieder zu mir und wartete auf meine Reaktion. Ich machte ruckartig auf dem Absatz kehrt, verließ den Raum, begab mich wieder in den Keller und fegte wütend davon. Den ganzen geraden Weg zurück zu meinem Zimmer blieb ich nicht stehen. Ich riss meine ohnehin schon stabilisierte Tür auf, knallte sie hinter mir wieder zu und lief einige Male quer durch mein Zimmer. Mir zu sagen ich sei ein Vampir, war in meinen Augen ebenso, als hätte er mir gesagt, ich sei nicht länger sein Sohn. Zittrig stellte ich mich vor den Spiegel, stemmte meine Hände links und rechts von ihm gegen die Wand, schloss die Augen und versuchte mich zu beruhigen, aber es gelang mir nicht wirklich. Ich spürte, wie ein paar wütende heiße Tränen in meinen Augen aufstiegen. Langsam hob ich den Blick und sah in den Spiegel. Für einen Moment sah ich das Rot aufblitzen, dann schlug ich plötzlich, ohne es direkt zu wollen, mit der bloßen Faust mein Ebenbild. Der Spiegel zerbrach in hunderte von Scherben, die klirrend auf meinem Fußboden landeten. Blut quoll aus den Schnittwunden an meiner Hand. Zittrig sah ich zu, wie der rote Saft den Boden benetzte, ehe die Wunde rückstandslos verschwand. Ich ging einige Schritte zurück und musterte dabei die Scherben, die Teils blutig, teils sauber im Licht meiner Deckenlampen glitzerten. Ich konnte hier keine Sekunde länger bleiben. Ich fühlte mich eingesperrt und fehl am Platz. Durch die Klappe verließ ich mein Zimmer und trat hinaus in die finstere Nacht. Der Himmel war klar und der Schnee leuchtete im Licht des Mondes. Eine wunderbare Nacht zum fliegen. Ich rannte los. Immer weiter weg von meinem Zuhause. Und dann sprang ich, verwandelte mich im Flug und sah nur noch wie die Bäume unter mir schnell vorbei zogen und stetig kleiner wurden... *** Die nächsten Tage verbrachte ich allein in der Wildnis Irlands, fernab von den Städten und Dörfern. Es war mir nicht egal, was meine Familie dachte. Besonders, dass meine Mutter und Mariella sich sicher Sorgen machten, tat mir Leid. Aber ich bereute meinen Ausflug trotz allem nicht. Es tat mir gut. Der Abstand. Der Schmerz war in Tiergestalt nicht so stark wie in Menschenform. Er war schon noch da, aber er war anders. Leichter zu ertragen. Man durfte nur nicht Gefahr laufen, sich ganz dem Tiersein hinzugeben und seine menschlichen Züge vollkommen abzulegen. Mir fiel es momentan besonders schwer. Das menschliche Blut meines Opfers verhalf mir auch in dieser Gestalt zu unbekannten neuen Kräften. Nie zuvor war ich ausdauernder und schneller gerannt oder geflogen. Ich begann nach und nach meine neugewonnen Kräfte zu genießen. Sie verstärkten mein Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit. Die Tatsache, dass dafür ein Mensch sein Leben ließ, verdrängte ich. Das fiel mir besonders in Tiergestalt leicht. Rationales denken war hier nicht von belang. Der Instinkt war wichtiger. Umso erschrockener war ich, als ich knapp zehn Tage nach meinem Ausflug plötzlich landen musste. Meine Flügel waren schwer geworden. Ich landete in einem kleinen Acker. Der Bauer würde hier erst im Frühjahr wieder herkommen. Wir hatten Anfang Dezember und die Vogelscheuche in der Mitte des Ackers war fast völlig mit Schnee bedeckt. Um mich herum sah ich gelegentlich mal eine Krähe, die auf der Suche nach Futter herum piekte. Ich hatte kein sonderlich starkes Verlangen danach, es ihr gleich zu tun. Dass ich anders war als sie, merkten die Tiere übrigens auch. Auch wenn ich genauso aussehen mochte, wie sie, blieben sie mir fern. Sie spürten genau, dass ich kein Tier war und verhielten sich mir gegenüber immer sehr vorsichtig. Ich war mir über dies ziemlich sicher, dass Menschen auch sehen würden, dass ich kein normales Tier war, wenn sie genug Zeit haben würden, meine Augen zu studieren. Es heisst, die Augen seien der Spiegel der Seele. Wenn ich eine besaß, dann war sie es, die mein menschliches Wesen verriet. Ich entschloss mich nach einer ausgiebigen Pause dazu, wieder den Rückweg anzutreten. Zwei Tage später landete ich gegen Mittag in Ballinasloe, unweit von der Schule entfernt. Ich suchte eines meiner Kleider verstecke auf und verwandelte mich zurück. Mein Blick wanderte in Richtung Schule. Ein wenig noch, wollte ich meine Rückkehr zu unserem Anwesen herauszögern. Ich ging zu meinem Spind und kramte meine Sportsachen heraus. Meine Teilnahme am schulischen Sportunterricht fiel angesichts der Tatsache, dass ich sowieso alles gewinnen würde und mich anstrengen musste, nicht aufzufallen, nicht besonders üppig aus. Aber heute war ich ziemlich müde. Vielleicht hatte ich nun mal die Gelegenheit, mich zumindest kurz, nicht stärker als die Anderen zu fühlen. Für kurze Zeit, ein reiner Mensch zu sein. Mein nächster Gang führte mich zur Sporthalle. Unser Sportlehrer kannte mich kaum. Er wunderte sich zwar kurz über mein Erscheinen, hakte aber nicht weiter nach. Offenbar war er froh, dass ich überhaupt mal erschien. Nun hatte ich zwei Optionen: ein Teil der Klasse spielte im Nebenraum Tischtennis, während der Andere Volleyball spielte. Ich entschied mich für Letzteres. Die erste Viertelstunde spielte ich sehr zurückhaltend, weil ich noch immer Angst hatte aufzufallen. Unser Team lag einige Punkte im Rückstand und unser Teamkapitän ging mir mit seiner Brüllerei allmählich auf die Nerven. Zeit den Spieß umzudrehen. Der nächste Ball, der in meine Nähe kam, fegte dann quer durch die Halle. Ich hatte irrtümlicherweise angenommen, ruhig etwas fester drauf hauen zu können, weil ich ja müde war. Ein Fehler. Der runde weiße Volleyball knallte zuerst gegen die Wand, prallte von dort aus ab und landete im nächsten Augenblick im Rücken eines Mädchens vom Gegnerteam. Ich wusste, dass sie in meiner Parallelklasse war, mehr aber auch nicht. Sie war ziemlich klein, sah aus wie höchstens Fünfzehn, war zierlich gebaut und hatte schulterlange blonde leicht gelockte Haare. Als mein Ball sie erwischt hatte, stolperte sie nach vorn und landete mit dem Gesicht auf dem Hallenboden. Zunächst rührte sie sich gar nicht und alle starrten sie an. Ich befürchtete bereits, ich hätte sie aus versehen erschlagen, da bewegte sie zaghaft die Hände. Ich ging zu ihr und half ihr auf. Trotz der Anstrengungen beim Sport fühlten sich ihre kleinen Hände noch immer kalt für mich an. Wacklig rappelte das Mädchen sich auf. Ich wollte mich gerade Entschuldigen, da fing meine Kehle an fürchterlich zu brennen. Sie hob den Kopf, ihre Augen waren glasig und aus ihrer Nase lief Blut. Ich machte eine großen Schritt zurück. Meine Beine wollten nach vorn preschen, meine Hände sie packen und meine Zähne sich sofort in ihre Kehle bohren, aber ich gab mir alle Mühe, mich im Zaum zu halten. Der Lehrer stellte sich neben die Kleine und reichte ihr ein Tuch. „Melanie, komm doch bitte mit ins Krankenzimmer“, sagte er sanft. „Der Rest macht einfach weiter!“ Er ging mit dem Mädchen fort, alles was blieb, war mein Verlangen und der süßliche Geruch ihres warmen Blutes. Der Rest der Schüler spielte weiter. Ich hielt mich vornehm zurück. Wir verloren. Aber das verlorene Spiel war nicht der Grund, weswegen ich nach dem Unterricht noch in der Umkleidekabine saß. Vor meinem geistigen Auge, sah ich den Ball der durch die Halle sauste, das Mädchen traf und sie zu Fall brachte. Ich roch das Blut, das rote, köstliche Blut. Ich schüttelte den Kopf und strich mir durch die Haare, ehe ich meine Hände betrachtete. Sie zitterten leicht. Ich legte müde mein Gesicht in meine Hände. Ich fühlte mich wie ein Süchtiger auf Entzug. Ich hatte Hunger. Der Vorfall mit den Volturi lag nunmehr fast zwanzig Tage zurück. Bei meinen letzten Ausflügen hatte ich immer wieder Tiere gerissen, aber nach wenigen Bissen, hatte ich sie liegen lassen. Ich brachte es einfach nicht runter. Ich wollte nicht erneut für den Tod eines Menschen verantwortlich sein. Ich wollte meiner Familie nicht noch mehr Gründe geben, mich zu hassen. Ich ging einige Schritte und betrat das kleine angrenzende Gemeinschaftsbad. In dem Spiegel über dem Waschbecken, sah ich zwei grüne Augen, die mich müde musterten. Ich trug keine Kontaktlinsen. Das helle Rot, das meine Augen bekommen hatten, nachdem ich das erste Mal Blut getrunken hatte, hatte sich verabschiedet und ein etwas seltsames Grün hinterlassen. Es war noch immer nicht das Selbe, wie meine natürliche Farbe, aber es war Grün. Und doch... so Grün meine Augen im Spiegel auch waren. Mein Vater würde in mir trotzdem einen Vampir sehen... Ich verließ die Umkleidekabine deutlich später als die Anderen. Die ganze Sporthalle war leer. Ich ging die Stufen hinunter in den Eingangsbereich. Ich wusste nicht, wieso das Schicksal so grausame Wege ging. Ob es nur mir so ging, oder auch Anderen. Aber in diesen Minuten verließ das von mir verwundete Mädchen das Gebäude und begab sich zu ihrem Fahrrad, dass sie an einem Fahrradständer vor der Halle fest gekettet hatte. Sie fuhr damit über den schmalen Backsteinweg, der Rechts an dem Gebäude entlang lief. In dieser Richtung lag nichts weiter als der Wald. Wahrscheinlich wohnte sie irgendwo dahinter. Warum ich nachgab und ihr folgte, wusste ich. Wie ich mein Gewissen aus geschalten hatte, wusste ich nicht. Weil es Winter war, war es schon ziemlich Dunkel, als ich mich am Rand des Waldweges gegen einen Baum lehnte und wartete. Es schneite seit einigen Minuten und ich nahm an, dass sie mit ihrem Rad nicht sehr gut voran kam. Irgendwann sah ich dann die Scheinwerfer ihres Fahrrads. Sie hatte Glück, dass diese elektrisch waren, denn so wie sie ihren Drahtesel durch die Gegend schob, würde ein Dynamo niemals Licht geben. Sie sah müde, jedoch überrascht aus, als sie mich erblickte. Als ich näher an sie heran trat, kam mir sogleich wieder der Geruch ihres Blutes entgegen. Sie mochte alles sorgsam weggewischt und ihr Nasenbluten gestillt haben, doch meinem feinen Geruchssinn entging er nicht. Der süßliche Geruch benebelte mich und ließ meine Kehle erneut brennen. Ich wollte alles, jeden Tropfen. Meine Beute hatte ich schon ausgesucht. Dass ich bereits Jagd auf sie machte, das ahnte das Mädchen nicht im geringsten. Dass es für sie schon jetzt keinen Ausweg mehr gab, dass würde sie jedoch bald merken. „Guten Abend...“, ich zögerte einen Moment, tat so, als wäre mir ihr Name entfallen. „Ähm... Melanie, richtig?“ Sie nickte zaghaft. „Ich wollte mich noch für den Schlag auf den Hinterkopf entschuldigen“, fuhr ich fort. Melanie lächelte. „Schon in Ordnung“, sagte sie schüchtern. „Du hast es ja nicht mit Absicht getan.“ Nein, das mit dem Ball nicht. Aber das hier schon. „Es schneit schon recht dicke Flocken. Soll ich dich ein Stück begleiten?“, fragte ich höflich. Sie schüttelte den Kopf und lächelte. „Oh, das musst du nicht.“ „Oh, doch doch. Das ist das Mindeste, was ich für dich tun kann.“ - Ende Kapitel 03 - Kapitel 4: Erkenntnisse ----------------------- Disclaimer: => Ich verdiene kein Geld mit meiner Fanfiction. => Alle Charaktere die schon in den Twilight-Bänden ihren Auftritt hatten, gehören Stephenie Meyer. Alle Anderen, wie etwa Schüler, Lehrer und vor allem Renesmees und Jakes Kinder, habe ich selbst erfunden. Weitere Infos zur FF, Trailer, Cover & mehr http://www.renesmee-und-jacob.de.vu http://www.chaela.info Dieses Kapitel enthält einen Sichtwechsel --------- Kapitel 4 Erkenntnisse Der Mond stand schon lange am nächtlichen Himmel. Sein helles Licht ließ den Schnee selbst auf dem Waldboden glitzern. Und es offenbarte die dunklen Flecken, die das Weiß verschmutzten. Die Spuren des Blutes. Jenes Blut, das ich vergossen hatte. Das jetzt an meinen Händen klebte, auch wenn es das augenscheinlich nicht tat. Jenes Blut, das vor wenigen Stunden noch in den Adern eines Menschen pulsiert hatte. Das tat es jetzt nicht mehr. Nie wieder. Ich hatte es getan. Willentlich und im vollem Bewusstsein. Ich hätte gehen können. Ich hätte irgendein Tier jagen können. So wie ich es schon immer getan hatte. So wie man es mir beigebracht hatte. Aber ich hatte die Regeln ignoriert, meine Erziehung, meine Familie... alles. In diesen Stunden saß ich im Schnee. Ein paar Schneeflocken suchten ihren Weg durch die kahlen Zweige der Laubbäume über mir und alle, die nicht von grünen Tannen aufgefangen wurden, landeten auf dem Waldboden. Oder auf mir. Oder auf ihr. Ich drehte meinen Kopf zu dem leblosen Körper, der zwei Meter von mir entfernt auf dem Boden lag. Ich hatte es schnell erledigt. Wahrscheinlich hatte sie gar nicht richtig realisiert, was passiert war. Als ich sie in den Wald gezogen hatte, hatten sich meine Zähne schon in ihre Haut gebohrt. Ihr Fahrrad lag noch immer am Wegesrand. Sie war voll bekleidet und hatte eine Bisswunde am Hals. Ich ließ es so aussehen, als hätte ein Tier sie angefallen. Niemand würde es für eine Straftat halten. Wie man Leichen aus dem Weg räumt, hatte man mir nie beigebracht. Meine Familie hatte wahrscheinlich die feste Überzeugung gehabt, dies wäre nie von Nöten. Ich nahm mir fest vor, dass niemals irgendjemand davon erfahren würde. Niemals. Nicht mal – oder besser – ganz besonders nicht meine Schwester. Oh, Mariella. Was würde sie denken, was würde sie sagen, was tun, wenn sie davon erfahren würde? Sie würde mir nie wieder in die Augen sehen, denn dieses Mal, hatte man mich nicht dazu gezwungen. Ich hatte es selbst gewählt. Und ich musste nun mit meiner Entscheidung leben. Ich blieb noch einige Tage meinem Zuhause fern, damit sich der Geruch verflüchtigen konnte. Oder dem, was mal mein Zuhause gewesen war. Denn nie zuvor hatte ich mehr Angst gehabt, nach Hause zu kommen. Wie konnte ich, als ich durch meine Klappe eintrat, wissen, dass ich bald mit einer noch viel viel größeren Angst heimkehren würde? Ich war mir sicher, dass meine Familie bereits von meiner Rückkehr wusste, also eilte ich schnell ins Bad, um mir neue Kontaktlinsen einzusetzen. Ich sah mich noch kurz mit grünen Augen im Spiegel an, dann trat ich aus dem Badezimmer. Ich hatte gerade die Tür geöffnet, da sprang mir meine Schwester schon an den Hals, und ich taumelte ein wenig zurück. „Du bist wieder da“, murmelte sie, den Kopf an meine Brust gedrückt. Ich setzte sie wieder ab. „Ja“, antwortete ich knapp. „Mum macht sich solche Vorwürfe“, fuhr Mariella zittrig fort. „Sie hat tagelang nicht mit Dad geredet, weil er so fies zu dir war.“ „Schon okay. Ich weiß ja, was er von mir hält.“ „Anthony“, flüsterte meine Schwester. Ich ging an ihr vorbei; die Treppe ins Erdgeschoss hinauf. Meine Mutter stand bereits im Flur und wartete auf mich. Sie trug eine hellblaue Bluse und eine weiße Hose. Ihre Augen waren glasig, und sie unterdrückte die aufsteigenden Tränen, als sie langsam auf mich zuging und mich schließlich ebenfalls umarmte. Ich legte einen Arm um sie, den anderen legte ich auf ihr schönes bronzefarbenes Haar. Ich schloss die Augen und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Meine Mutter schluchzte. Ich legte meinen Kopf auf den ihren und drückte sie sanft etwas enger an mich. Wenn sie erfahren würde, was ich wenige Tage zuvor im Wald getan hatte, würde sie mich nie wieder so umarmen. Ich sog diesen Moment in mich auf wie ein Schwamm das Wasser und wollte die Zeit anhalten. Am Abend desselben Tages saß ich gerade Wohnzimmer und zappte wahllos durch die Programme, ohne länger als drei Sekunden bei einem zu bleiben. Irgendwie hatte ich Angst, in den Nachrichten von dem mysteriösen Tod eines Mädchens zu hören. Aber sie hatten sie wahrscheinlich schon lang gefunden und entweder war ihr Tod dann doch zu unspektakulär, um im Fernsehen erwähnt zu werden, oder aber man hatte diese Meldung schon gebracht. Meine Familie konnte ich auf gar keinen Fall fragen. Ich würde mich sofort damit zum Verdächtigen machen. Ich musste sie in dem Glauben lassen, ich sei die letzten Tage weit weg gewesen und hätte nicht mal mitbekommen, dass ein Mädchen aus meiner Schule mit seltsamen Bisswunden im Wald gefunden wurde. Rosalie und Emmett betraten das Wohnzimmer und rissen mich aus meiner Nachdenklichkeit. „Hallo, Ani“, sagte Rose freundlich und lächelte mich an. „Hast du Lust, mit uns jagen zu gehen?“ Ich hatte gerade garantiert keinen Hunger, aber wieder machte sich in mir das ungute Gefühl breit, ich würde mich verdächtig machen, wenn ich jetzt verneinte, also nickte ich. „Hey super!“, rief Emmett aus und klopfte mir auf die Schulter. „Dann lass uns mal schauen, wer den Puma als Erster schnappt.“ „Wie oft soll man dir noch sagen, dass es keine Pumas in Irland gibt“, meinte Rose neckisch. Emmett lachte, zog sie zu sich heran und gab ihr einen Kuss auf die Wange. In der Tat, so schön die Landschaft Irlands war, so harmlos war auch sein Tierbestand. Zeitgleich mit unserem Aufbruch in der Abenddämmerung, kehrten Seth und mein Vater von ihrem Streifzug heim. Sie hatten beide nur ein paar Shorts an. Während Seth uns angrinste und uns mit beiden Daumen nach oben viel Erfolg wünschte, funkelte mein Vater nur zu uns herüber. Rose und Emmett bedankten sich bei Seth und ignorierten Jacob, dann flitzten sie in den Wald, und ich folgte ihnen. Emmett war von uns allen wohl der Stärkste. Dafür war er jedoch relativ langsam unterwegs. In einem Zweikampf würde er mich wahrscheinlich sofort auf die Knie zwingen können, allerdings nur dann, wenn er mich zu fassen kriegen würde. Abgesehen von meinem Vater und mir, war Rose die Schnellste in der Familie, aber auch sie blieb gerade etwas weiter hinten zurück, als ich durch den Wald jagte. Kaum hatte Emmett jedoch den Geruch einer potentiellen Beute in der Nase, nahm er an Geschwindigkeit zu. Ich hatte den Geruch noch gar nicht richtig ausgemacht, da war er schon irgendwo abgebogen, und ich musste mich am nächsten Baum abstoßen, um ebenfalls die Richtung zu wechseln und ihm zu folgen. Unsere Jagd endete schließlich mit zwei Füchsen, einem Dachs und einem Reh. Obwohl es ein Raubtier war, schmeckte der Fuchs, jetzt da ich erst kürzlich Menschenblut getrunken hatte, einfach nur widerlich. Vergleichbar mit abgestandener Cola fand sich darin einfach nichts Wohlschmeckendes. Er war weder so nahrhaft noch so süß wie menschliches Blut. Als ich den Fuchs herunter gezwungen hatte, blieb nur der eklige Nachgeschmack. Ich fühlte mich kein Stück genährter. Aber immerhin hatte mir diese Jagd eines gebracht: Ich wusste jetzt, dass ich problemlos einfach mit jagen konnte, ohne danach zu platzen. Ich wunderte mich gar darüber, wie ich mit dem Trinken von Tierblut all die Jahre leben konnte und einigte mich darauf, dass es wohl eher ein 'ÜBERleben' als ein 'Leben' war. Noch mehr wunderte ich mich allerdings darüber, wie gleichgültig ich über das Ableben meiner Schulkameradin nachdenken konnte. Sie hatte schließlich ein Leben gehabt, eines, das ich ausgelöscht hatte. Ihre Eltern würden ihre Tochter nie wieder sehen, eventuelle Geschwister würden ihre Schwester nie wieder umarmen können. Ich musste unweigerlich an Mariella denken. Würde jemand ihr etwas antun, ich würde mir schwören, dass ich diese Person quer über den Erdball jagen würde, und wenn ich sie schließlich gefunden hätte, würde ich mich auf die grausamsten Arten rächen, die es geben könnte. Aber in meinem Fall würde niemand kommen. Kein Bruder, auch kein Vater. Die Familienmitglieder würden nie erfahren, wer das Mädchen auf dem Gewissen hatte. Wie sehr sie darunter litten, konnte ich nur erahnen. Die Todesanzeige, die ich später in der Schule am schwarzen Brett las, war zumindest ein kleiner Hinweis darauf. „... viel zu jung wurdest du von uns genommen...“ lautete einer der Sätze, die auf dem Zeitungspapier niedergeschrieben waren. Heute Nachmittag würden einige Schüler ihrer Beerdigung beiwohnen. Ich für meinen Teil machte mich jedoch bereits vor der Trauerfeier in der Schulaula, nach der vierten Stunde, aus dem Staub. Ich nahm an, dass es ohnehin keinem auffallen würde – und war umso erstaunter, als ich tags drauf feststellte, dass ich mich geirrt hatte. „Ich hab dich gar nicht auf Melanies Beerdigung gesehen“, sagte Catriona, kurz nachdem sie sich in der Pause neben mich auf die Bank gesetzt hatte. Ich starrte geradeaus, sah aber im Augenwinkel, dass sie mich böse ansah. „Ich hatte zu tun“, antwortete ich gleichgültig. „Zu tun?“, fragte sie und musterte mich dann etwas herablassend. „Du hättest dich nicht mal umziehen brauchen, du bist stets für jede Beisetzung perfekt bekleidet, Tony.“ Jetzt erst sah ich sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Tut mir ja leid, wenn ich nicht so heuchlerisch bin und Beerdigungen von Leuten besuche, die ich gar nicht kenne.“ „Was soll das heißen?“, hakte sie nach. Ich hatte keine Zweifel, dass sie sich angesprochen fühlte. „Das heißt“, antwortete ich und stand auf. „Dass sicher noch genug Menschen dort waren, die das arme Mädchen in spätestens sieben Tagen sowieso wieder vergessen haben.“ Mit diesen Worten ließ ich sie stehen. Ihr selbst ein schlechtes Gewissen zu machen, schien mir der beste Weg für mich, von meiner eigenen Schmach abzulenken. Und ich lenkte nicht nur sie ab sondern gleichsam auch mich selbst. Ich wollte nicht mehr daran denken, mich nicht mehr selbst dafür hassen. Ich war ein Vampir. Das hatte mein Vater selbst gesagt. Und meine natürliche Beute waren nun mal Menschen. Genauso wie andere Raubtiere auch ihre bevorzugte Beute hatten. Einen Löwen würde man auch nie dazu bringen, Salat zu essen. Warum also weiter auf mein schlechtes Gewissen hören, das immerzu leise in meinem Kopf summte? Es war nicht zu ändern. Ich war so geboren worden. Ich war nicht wie mein Bruder und auch nicht wie meine Schwester. Nirgendwo auf der Welt gab es ein Lebewesen, das so war wie ich. Ich war absolut einzigartig. Eigentlich käme mein Bruder mir genetisch am nächsten, da sich seine vampirische Seite jedoch absolut kein Stück herausgebildet hatte, war er jetzt noch weniger Vampir als meine Mutter oder meine Schwester. Ich war also allein. Und nach und nach spürte ich, wie ich mich von meiner Familie abkapselte. Mehr noch, als ich es ohnehin schon tat. Die meiste Zeit verbrachte ich allein. Das hatte ich zwar vorher schon vermehrt getan, allerdings war ich damals meistens nachts nach Hause gekommen und hatte meiner Familie vor der Schule noch einen guten Morgen gewünscht. Als ich ganze fünf Tage, nach meinem letzten Besuch, zu Hause vorbeikam, war ich ziemlich froh, vor Betreten meines Zimmers, meine Kontaktlinsen eingesetzt zu haben, denn zu meiner Überraschung, saß meine Schwester auf meinem Bett. Als sie mich sah, sah sie nur auf und begrüßte mich nicht so stürmisch wie sonst, was mir ein ungutes Gefühl bescherte. „Du kommst kaum noch nach Hause“, sagte sie traurig. „Ist es wegen Dad?“ Ich schüttelte den Kopf, obwohl sie in gewisser Weise Recht hatte. „Mach dir keine Sorgen.“ Ich setzte mich neben Mariella und legte einen Arm um sie, sie ließ sich zur Seite fallen, so dass ihr Kopf an meiner Schulter lehnte und kuschelte sich an mich. „Mach ich mir aber. Ich hätte so gerne, dass wir eine richtige Familie sind.“ Darauf konnte ich nichts antworten. Natürlich wünschte ich selbst auch, es wäre anders, aber ich hatte nicht die Kraft, etwas an der Situation zu ändern. „Es tut mir leid“, sagte ich leise. Ich ließ offen, für was ich mich genau entschuldigte... Noch in der Nacht desselben Tages verließ ich unser Anwesen, um auf die Jagd zu gehen. Ich würde danach wieder einige Tage meiner Familie fernbleiben müssen, daher hatte ich es für besser gehalten, mich davor noch mal blicken zu lassen. Für meinen Beutezug, den ich dieses Mal gezielt planen und nicht mehr einfach nur dem Zufall überlassen wollte, hatte ich mir ein Jagdrevier ausgesucht, das mehrere hundert Kilometer von unserer Heimatstadt entfernt lag. Waterford mit seinen knapp 60.000 Einwohnern lag direkt an der keltischen See und war eine der größten Städte Irlands. Perfekt also, um sich einen winzigen Menschen herauszupicken. Hier war alles soviel größer als in den ländlichen Gegenden. Die Luft hatte sämtliche Frische eingebüßt und die Abgase der Autos ließ sie so dick werden, dass man mit einem Messer ein Stück herausschneiden würde können. Zumindest kam es mir so vor. Ich lief nach meiner Ankunft erst mal durch die Straßen und sah mir alles an. Es war noch helllichter Tag, und es herrschte ein reges Treiben hier. Die Menschen liefen kreuz und quer mit ihren Einkäufen durch die Straßen und wirkten gehetzt. Ich war mir sicher, dass man hier durchaus auch bei strahlendem Sonnenschein einen Menschen umbringen könnte, ohne dass die restlichen es bemerken oder auch nur im geringsten würden wahrnehmen können. Sie waren viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Soviel Tumult kannte ich eigentlich nur vom Flughafen in Manchester, aber dort waren wir relativ schnell durch die gesonderten Passagen zu unserem Privatflieger geleitet worden, so dass ich nicht lange in den Menschenmassen gewesen war. Irgendwann setzte ich mich in einem kleinen Café am Hafen an einen Fensterplatz und beobachtete von dort weiter. Ich bestellte mir eine kleine Cola, an der ich gelegentlich mal nippte. In der Ferne sah ich das Meer glitzern, während die Sonne wie ein gigantischer Feuerball langsam von ihr verschluckt zu werden schien. Die Zahl vorbeilaufender Passanten ebbte ab, und ich spürte, dass meine Stunde näher kam. Gedankenverloren drehte ich mein Glas um seine eigene Achse und strich mit den Fingern über den angerauten Aufdruck ohne hinzusehen. Was ich hier tat, wusste ich selbst nicht. Dass es nicht richtig war, das wusste ich jedoch. Auch war mir bewusst, dass ich damit den Groll meiner ganzen Familie auf mich ziehen, und das ich meiner Mutter und meiner Schwester damit besonders schaden würde. Also warum saß ich hier überhaupt? Ich strich mir müde durch die Haare und kniff kurz die Augen zusammen. „Alles in Ordnung, Süßer?“ Die Stimme ließ mich aufsehen. Die Bedienung war eine junge Frau von vielleicht Mitte zwanzig. Sie machte eigentlich keinen besorgten Eindruck. Generell wirkte sie nicht auf mich, als würde sie irgendwas kümmern. Ihre Haare waren unsauber zusammengebunden und strähnig, ihre weiße Schürze hatte dutzende Flecke in sämtlichen Rot- und Brauntönen und sie kaute gelangweilt einen Kaugummi. „Alles bestens“, antwortete ich säuerlich, legte einen Fünf-Euro-Schein auf den Tisch, sagte „Stimmt so“ und verließ den Laden. Ich blickte nicht zurück. Ich würde sie ohnehin nie wieder sehen. War für sie wahrscheinlich auch besser so. Meine Füße trugen mich schnellen Schrittes über die Docks am Hafen. Ich hörte, wie sich das Wasser in sanften Wellen am Holz der Träger brach. Die Sonne war fast gänzlich untergegangen. Ich beschleunigte meinen Gang. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, mir gezielt ein Opfer zu suchen, aber je länger ich die Leute beobachtete, desto weniger wurde mein Verlangen nach ihrem Blut. War mein Blutrausch nach dem letzten Mord vielleicht nicht groß genug, um eine solche Tat noch einmal zu begehen? Fehlte vielleicht der Duft des frischen, warmen Blutes, den ich in den vorherigen Fällen immer gerochen hatte? Oder war in mir vielleicht doch noch ein Funke Menschlichkeit? Ein Funke, tief in mir, der aus Leibeskräften schrie, ich solle dem Wahnsinn ein Ende bereiten und wieder zu dem zurückfinden, was ich einmal gewesen war: Ein Mensch, der gelegentlich mal Tiere jagte, in der Lage war, sich in solche zu verwandeln, aber ansonsten eigentlich ein ruhiges Leben geführt hatte. Vielleicht nicht unbedingt in der vollen Gunst des Vaters, dafür jedoch umso mehr geliebt von der Mutter und der Schwester? Gab es noch Hoffnung? Auf Vernunft? Auf diesen Funken? Meine Füße trugen mich weiter über die hölzernen Stege über dem Wasser. Die schaukelnden Boote und Yachten, die dort ankerten, nahm ich nur am Rande wahr. Ich könnte mich jetzt in einen Vogel verwandeln und zurückfliegen. In einigen Wochen würden meine Augen wieder grün sein und die Spuren meiner Tat verblasst. Niemand würde nachhaken. Es gäbe kein weiteres Opfer, keine neue Tat, keine frischen Spuren. Ich hätte nichts mehr zu verbergen. Aber was, wenn mein Hunger größer werden würde? Wenn ich wieder mit Blut in Kontakt käme? Könnte ich dem widerstehen? Und selbst wenn es keinen Kontakt mehr geben würde, würde ich wieder zum Tierblut oder gar zu menschlicher Nahrung zurückkehren können? Gab es noch einen Weg zurück? Oder hatte ich mir alle Rückwege verbaut? Als ich spürte, wie meine Augen zu brennen begannen und heiße Tränen in ihnen aufstiegen, blieb ich schließlich stehen. Im Licht einer kleinen Lampe, die an der Wand eines geschlossenen Lokals, direkt vor den Docks, befestigt war, lehnte ich mich gegen den rauen Putz und versuchte mich zu beruhigen. Ich schloss kurz die Augen, lehnte mich aufrecht gegen die Wand und starrte in die finstere Nacht. Ich konnte weder die Sterne, noch den Mond sehen. Die vereinzelten Lampen waren die einzigen Lichtquellen hier. Ich strich mir gerade übers Gesicht, da hörte ich zwei Stimmen ganz in der Nähe. Es waren die tiefe Stimme eines Mannes und die Hohe einer Frau. Offensichtlich stritten sich die beiden. Ich trat aus dem Licht zurück in den Schatten und folgte den Stimmen. Einige Meter weiter fand ich sie mitten auf einem Dock. Der Mann trug einen Anzug und stand an Board einer recht großen Yacht, die den prunkvollen Namen 'Gloria' trug. Die weibliche Stimme kam von einem blonden Mädchen. Ihrer recht knappen Kleidung nach zu urteilen, handelte es sich bei ihr nicht unbedingt um eine Hausfrau. „Gib mir die Mäuse“, grummelte er und zeigte ihr die offene Handfläche, in die sie wohl die Scheine legen sollte. Das Mädchen machte allerdings keine Anstalten, seiner Bitte auch nachzukommen. „Du weißt, ich brauche es“, sagte sie mit dem Hauch eines Flehens. „Deal ist Deal“, antwortete der Anzugträger kurz und knapp. Da er Geld von ihr verlangte, ging ich mal davon aus, dass es sich hier nicht um einen Freier handelte, der soeben eine Dienstleistung in Anspruch genommen hatte. „Bitte“, flüsterte sie, aber für mich waren die Worte klar und deutlich. Ihr Gegenüber biss nur die Zähne zusammen und schüttelte entschieden den Kopf. Das Mädchen ging ein paar Schritte zurück. „Du weißt, ich kriege dich“, drohte er und beobachtete sie, wie sie da zitternd stand und ihre Kunstfell-Jacke enger um ihre Brust schloss, um ihr tiefes Dekolleté zu verdecken. „Immer und überall.“ Seine Hand wanderte in die Innentasche seines Anzugs. Ich war nicht wirklich verwundert darüber, dass der gute Mann nun eine Waffe hervorzog. Ich hatte selbst bereits zweimal gemordet. Es war mir nicht ganz klar, warum ich trotzdem nun aus der Dunkelheit trat und blitzschnell dem Zuhälter die Pistole aus der Hand schlug, sodass diese über das nasse Holz rutschte. Er schaute nur kurz entsetzt, dann schlug ich ihm mit dem Ellenbogen so unsanft – von unten – gegen das Kinn, dass er rücklings auf dem Boden seiner Yacht landete und regungslos liegen blieb. Ich sah nicht hin, aber ich roch das Blut, das aus seinem Mund lief und das Deck benetzte. Das Mädchen, mir gegenüber, sah immer noch entsetzt auf die Stelle, auf der eben noch der Mensch gestanden hatte, der sie mit einer Waffe bedroht hatte. Ich sah sie nur kurz an, dann hielt ich die Luft an und drehte mich um. Ich hatte nicht viel Zeit. In wenigen Sekunden würde ich meine Beherrschung komplett verlieren, spätestens dann, wenn mir die Luft ausging. Ich kniete mich neben ihn und durchsuchte hektisch sämtliche Taschen, bis ich aus einer, eine Brieftasche zog. Ich nahm alles Geld heraus und zerfetzte anschließend das Leder mit allem, was sich noch darin befunden hatte. Die Scheine drückte ich der verängstigten jungen Frau in die Hand. „Nimm und geh.“ Sie starrte mich immer noch mit offenem Mund an und schloss ihren Griff fester um das Geld. „Nun mach schon. GEH!“, forderte ich sie auf. Wenn sie nicht bald ihre langen Beine in die Hand nahm, würde auch sie heute Nacht ihr Leben lassen müssen. „Danke“, hauchte sie gebrochen, dann rannte sie davon. Ich begann wieder normal zu atmen, sog die Luft um mich ein. Ob er vielleicht bereits an seinem eigenen Blut erstickt war, war nun gleichgültig. Ich biss meine Zähne in seine Kehle und trank. Sein Blut schmeckte nicht so süßlich, wie das der Mädchen zuvor. Es war, als ob ich seine Sünden förmlich schmecken könnte. Als ich allen Lebenssaft aus ihm gesogen hatte, saß ich noch kurz neben dem ausgelaugten Körper und fragte mich, wie mein Blut wohl schmeckte. Ob man bei mir auch meine Taten würde schmecken können? Sie hatte sich bei mir bedankt. Bedankt für einen Mord. Ich hatte ihr Leben gerettet und wahrscheinlich auch das vieler anderer Mädchen. Ich hatte gewiss auch einige gerächt, die zuvor ihr Leben für seine Habgier ließen. Und trotzdem, hatte ich wieder ein Leben ausgelöscht. Ich wusste, dass mein Großvater sich, in seinen Anfängen, ebenfalls von Menschenblut ernährt und dazu gezielt Verbrecher herausgesucht hatte. Und Rose hatte ihre Peiniger auf diese Weise bestraft. Aber hatte ich das Recht, über ein Leben zu richten? Zu entscheiden, welche lebenswert waren und welche nicht? Gab es überhaupt ein Leben, das ich zurecht auslöschen konnte? Konnte ich mir wirklich anmaßen zu glauben, meiner Seele ginge es besser, wenn ich statt Kinder Mörder tötete? Nein. Mord war und blieb Mord. Ganz gleich, welches Leben ich auch auslöschte. Und die Quittung für seine Taten würde man bekommen. Früher oder später... Der Gedanke ging mir durch den Kopf, als ich auf dem Weg zur Schule meine Kontaktlinsendose aus der Jackentasche zog. Ein bisschen Ablenkung würde mir sicherlich guttun. Ich reagierte trotz meiner verbesserten Fähigkeiten zu langsam, um eine unglücksverheißende Kettenreaktion zu verhindern. Ich hörte hinter mir, wie jemand meinen Namen rief und drehte mich instinktiv um. Vor mir stand Catriona und sah zunächst lächelnd zu mir hinauf, dann wich die Farbe aus ihrem Gesicht und mit ihr, auch ihr Lächeln. Die Blätter und Bücher, die sie getragen hatte, rutschten ihr einfach aus der Hand und fielen auf den matschigen Boden, als sie meine roten Augen erblickte. Einen Augenblick starrte ich sie an, dann machte sie auf dem Absatz kehrt und rannte davon. Ich versuchte, mich zu sammeln und setzte nervös die grünen Linsen in meine Augen, dann erst folgte ich ihr. Aber ich konnte sie nirgendwo mehr ausmachen. Es war, als sei sie vom Erdboden verschluckt worden. Ich versteckte meine Kleider in der Nähe der Schule und verbrachte den Rest des Tages in Tiergestalt. In die Schule zu gehen, dazu war mir die Lust vergangen. Ich blieb in der unmittelbaren Umgebung und beschloss am folgenden Tag zu gehen und das Gespräch mit Cat zu suchen. Wenn ich sie nicht würde davon überzeugen können, dass meine Augenfarbe nur ein Schulstreich war, hätte ich ein ernsthaftes Problem... Aber Cat kam am nächsten Tag nicht in die Schule und auch nicht am darauffolgenden. Ich machte mir Sorgen, dass sie jemandem davon erzählen könnte, und meine Familie dadurch Wind von allem bekam oder gar komplett aufflog. Was, wenn sie gar nicht mehr in der Stadt oder in Irland war? Ich hielt die Warterei nicht aus und besorgte mir im Sekretariat ihre Adresse unter dem Vorwand, ich müsse ihr Unterlagen vorbeibringen. Das beschauliche Häuschen der O'Graths befand sich etwas verlassen in der unmittelbaren Nähe einiger Äcker. Es standen nur wenige Häuser hier. Ich zögerte einen kurzen Moment, ehe ich auf die Türklingel drückte und die Zeit, die es dauerte, ehe Cat die Tür öffnete, kam mir deutlich länger vor, als sie tatsächlich sein mochte. Meine Schulkameradin sah mich erneut erschrocken an, öffnete den Mund, um was zu sagen und schloss ihn dann wieder. Ich war mir recht sicher, dass sie die Tür gleich wieder vor mir zuschlagen oder schreien würde, doch Cat gehörte zu den wenigen Personen in meinem Leben, die mich doch noch überraschen konnten. Sie sah kurz prüfend hinter sich, als wolle sie sicher gehen, dass niemand etwas mitbekam, dann trat sie durch den kleinen Türspalt, den sie geöffnet hatte und schloss die Tür flüsterleise hinter sich. Sie griff nach meiner Jacke und zog mich fort. Ich war so verblüfft, dass ich mich einfach von ihr über den Feldweg, tief in die Äcker, schleifen ließ. Wir liefen, bis die Häuser nicht mehr in Sichtweite waren, dann erst ließ sie mich plötzlich los, als ob meine Berührung ihr zuwider gewesen wäre. „B-i-s-t du verrückt?!“, fauchte sie mich an. Ich verstand nicht genau, was sie damit speziell meinte und warf ihr dementsprechende Blicke zu. „Hier aufzutauchen!“, ergänzte sie. Ich war noch immer perplex. Die Tatsache, dass meine Augenfarbe sich verändert hatte, schien sie gerade weniger zu interessieren, als die, dass ich vor ihrer Haustür gestanden hatte. „Du kamst nicht mehr in die Schule, da dachte ich, ich komme mal vorbei.“ Catriona strich sich die langen, im Wind wehenden, Haare aus dem Gesicht. „Es ist besser, wenn du dich von mir fernhältst.“ Sie sagte das mit einer solchen Ruhe und Gelassenheit, dass es mich erneut verwunderte. Noch vor wenigen Tagen war sie vor mir geflüchtet, das war wenigstens eine nachvollziehbare Reaktion gewesen. Nun aber stand sie da, und wenn man von etwas absah, das in ihr zu kochen schien und herauswollte, waren keine negativen Emotionen mehr von ihrer Seite aus zu erkennen. Keine Angst. Keine Unsicherheit. Ich hingegen bekam es mit eben letzterer zu tun. Ich wusste nicht genau, ob es klug war, an meiner ursprünglichen Ausrede festzuhalten, da mir aber nichts anderes auf die Schnelle einfiel, tat ich es. „Wegen eines simplen Scherzes? Ich meine, wer hat nicht schon Blutkapseln in den Mund genommen und plötzlich im Unterricht Blut gespuckt oder ein Furzkissen auf den Lehrerstuhl gelegt?“ Sie schloss ihre Augen kurz zu engen Schlitzen. „Willst du mich verarschen? Meinst du wirklich ich erkenne einen Vampir nicht, wenn er vor mir steht?“ „Was redest du da?“, fragte ich möglichst überzeugend. „Ich bin kein Vampir.“ Und damit hatte ich ja auch nicht gänzlich Unrecht, auch wenn ich mich in den letzten Wochen durch und durch wie einer gefühlt hatte und auch mein Vater davon überzeugt schien. „DAS dachte ICH auch“, fauchte sie nun. Sie machte den Eindruck auf mich, als wisse sie deutlich mehr, als ein Großteil der Menschen. So als wisse sie Bescheid. Cat lief von links nach rechts, stemmte die Arme in die Hüften, dann strich sie sich wieder durchs Gesicht. Ich beobachtete sie, versuchte zu verstehen. War sie einfach nur ein eingeweihter Mensch, der den Volturi bis dato entkommen war? Oder war sie vielleicht etwas gänzlich anderes? Ich schloss für einen Moment die Augen und versuchte, die umliegenden Gerüche aufzuspalten und zu erkennen. Ich roch die Überreste der Getreidestummel um uns herum, ich roch die Tiere, die hier mal vorbeigekommen waren und natürlich den Duft der Menschen. Aber letztere waren alt. Sie kamen nicht von ihr. Ich konnte keinen Duft von ihr wahrnehmen. Es war, als existierte sie gar nicht. Warum hatte ich das bisher nie gemerkt? Wie konnte mir das entgehen? Hatte ich sie einfach zu den Gerüchen der Menschen, die in der Schule und in Balinasloe um uns herum waren hinzugezählt, ohne zu merken, dass Catriona gar keinen Eigengeruch hatte? Jetzt war nicht mehr länger nur sie daran, nicht zu wissen, was ihr Gegenüber war. „Was bist du?“, fragte ich tonlos und sah sie misstrauisch an. Catriona verschränkte die Arme und sah mich an wie ein trotziges Kind. Ihr Pulli, mit den verschiedenen Streifen in Dunkelrotschattierungen und Beige, war ein starker Kontrast zu ihrem blonden wehenden Haar und dem tristen Hintergrund. „Bist du so naiv zu glauben, die Natur würde eine Kreatur erschaffen, ohne auch einen Gegenpart zu kreieren? Etwas, das ihm Einhalt gebietet? Ohne uns würden Vampire sich doch endlos vermehren und die Menschen hätten keine Chance.“ Ihre Worte verwirrten mich nur noch mehr. „Aber es existiert ein Gegenpart. Die Werwölfe.“ Catriona schnaubte verächtlich. „Die haben vielleicht die Fähigkeit, Vampire zur Strecke zu bringen, aber das macht sie nicht zu einem wirkungsvollen Gegenstück. Sie sind nur eine andere Raubtierart und genauso gefährlich für die Menschen. Man kann die Menschen nicht mit einer Bestie vor einer anderen Bestie schützen. Außerdem sind sie, unseres Wissens nach, schon lange stark dezimiert.“ Als sie den letzten Satz sagte, war mir klar, dass sie wohl ausschließlich von den Kindern des Mondes redete, nicht aber von den Gestaltwandlern und der Kloß in meinem Hals, obgleich noch vorhanden, verringerte sich etwas. Ich schluckte kurz. „Wie du meinst, Catriona. Also wenn du einer von denen bist, die die Vampire in Schach halten sollen, warum weiß ich dann nicht von eurer Existenz? Mein Urgroßvater lebt seit tausenden von Jahren und hat euch nie erwähnt.“ „Weil wir einfach keinen Vampir, der uns begegnet ist, am Leben gelassen haben, so dass er es hätte weitererzählen können. Und du tust gut daran, wenn du jetzt gehst, Anthony.“ Es fiel mir noch immer schwer, daran zu glauben, dass dieses Mädchen eine Gefahr für mich sein könnte, aber ich hatte keine Ahnung, was sie war und welche Fähigkeiten sie besaß und die Tatsache, dass sie keinen Geruch hatte, war für mich Beweis genug, dass sie nicht bluffte. „Du lässt mich laufen?“, fragte ich verwundert und stellte kurz darauf fest, dass es provozierend wirken musste. „Wir jagen nicht alle Vampire. Diejenigen, die zivilisiert genug sind, unter den Menschen zu leben, lassen wir in Ruhe. Ich wusste zunächst nicht, was du bist. Ich hatte gewusst, dass du kein Mensch warst, also wollte ich es herausfinden.“ Ihre Wand begann zu bröckeln und ihre Stimme wurde zittriger. „Ich dachte eine Zeit lang, ich hätte mich geirrt. Später hat mein Vater mir erzählt, dass es in dieser Gegend Vampire gibt, die keine Menschen jagen. Ich hatte nie einen davon gesehen, also hielt ich dich für einen davon. Ich dachte, vielleicht hast du deswegen keinen so starken süßlichen Vampirgeruch. Aber“, fuhr sie fort und nun brachen die Tränen aus ihr heraus. „Ich weiß jetzt, dass du keiner von denen bist. Du hast einen Menschen ermordet, Anthony. Ich weiß nicht, was du bist, aber ich weiß, dass mein Vater dich jagen wird, wenn er davon erfährt. Ich weiß, dass du kein Monster bist, zumindest hast du mir vorgegeben, keines zu sein, auch wenn du abweisend bist. Du lebst unter den Menschen so wie wir. Ich bitte dich, um deiner Selbstwillen, hör auf. Hör auf, Leben auszulöschen!“ Ich starrte sie an, während sie sprach. Was sie sagte, ließ mich nicht völlig kalt. Ihre Worte hätten genauso gut die meiner Schwester oder meiner Mutter sein können. Ich wusste, dass sie Recht hatte, aber ich wusste nicht, ob ich die Kraft haben würde, das Richtige zu tun. „Kennst du diese Vampire?“, schluchzte sie. Ich nickte, ohne sie anzusehen. „Ja, ich bin ein Teil dieser Familie. Gewesen. Bevor...“ Ich brach ab. Bis jetzt hatte ich alles vertuschten wollen, und das, was meine Familie wusste, hatte sie als Unfall angesehen und mir keine Schuld zugesprochen, aber ich wusste es besser. Ich wusste, ich war schuldig. Und Catrionas Worte, die mich nicht in Watte packen wollten, sondern einfach die Wahrheit waren, machten es mir zum ersten Mal auch von einer anderen Person deutlich als nur von meinem schlechten Gewissen. „Hör auf damit“, wiederholte Cat. „Bitte.“ Ich sah langsam zu ihr auf, sagte aber nichts. Cat wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Wenn du es nicht für mich tun möchtest, dann wenigstens für dich oder deine Familie.“ Und wieder erstaunte dieses Mädchen mich mit ihrem Wissen, das sie einfach nur einem Bauchgefühl her zu haben schien. Meine Familie war ein triftiger Grund aufzuhören. Ich hatte es mir mehrmals vorgenommen und hatte nun doch drei Menschen auf dem Gewissen. Aber nun, nun wollte ich es schaffen. Endgültig. Noch am selben Abend stand ich wieder in meinem Badezimmer und musterte meinen feuerroten Blick im Spiegel. Als ich die Dose mit den Kontaktlinsen aufschraubte, hatte ich mir fest vorgenommen, dass ich dies nicht mehr all zu oft tun müsste, dass das hier vielleicht sogar die letzte angebrochene Dose war, und ich die Linsen nicht mehr brauchte, wenn meine Augen zu ihrer natürlichen grünen Farbe zurückgekehrt waren. Ich stopfte das Döschen wieder in meine Tasche und drehte mich um, um die Badezimmertür zum Gehen zu öffnen, da bemerkte ich, dass sie einen Spalt offen gewesen war. Ich übte leichten Druck auf die Tür aus und sie schwang langsam auf. Hinter ihr stand meine Schwester und das Herz rutschte mir in die Hose. Wie viel hatte sie mitbekommen? *** [Mariella] „Mariella“, sagte mein Bruder lächelnd. Er wirkte unsicher. Ich umarmte ihn zaghaft und versuchte mein Zittern mit aller Kraft zu verbergen, als ich ihm über den Rücken strich, so wie ich es immer tat. „Ani“, sagte ich, um die drückende Stille, die für einen Moment zwischen uns geherrscht hatte, zu brechen. „Schön, dass du wieder hier bist.“ Ich vermisste meinen kleinen großen Bruder so sehr, dass es mir schon im Herzen wehtat und wünschte mir nichts sehnlicher als eine heile Familie. Nun war dieser Wunsch von einem Moment auf den nächsten in unerreichbare Sphären katapultiert worden. Ich zwang mir dennoch ein Lächeln ins Gesicht. Am nächsten Tag stand ich müde am Fenster und sah der Sonne beim Aufgehen zu. Die zaghaften Strahlen, die sie trotz der kalten Wintermonate auf den Boden warf, ließen meine Haut glitzern wie den Schnee vor unserer Tür. Der Winter in Irland war deutlich kälter und länger als in den Staaten. Ja, damals waren wir noch glücklich gewesen. Man mochte glauben, der Reichtum in unserem Besitz und ewige Jugend reichten aus, um glücklich zu sein, aber dazu zählte weit mehr als das. Manchmal war eine kleine Familie in einem Reihenhäuschen irgendwo auf dem Land oder in einer kleinen Stadt reicher als wir. Immer wieder und wieder kamen mir die Bilder des gestrigen Tages in den Sinn. Wie ich seine Ankunft gespürt hatte und hinunter in den Keller gegangen war. Meine Schritte über den gefliesten Boden. Und dann, wie ich das Licht im Bad bemerkte und erwartungsfroh durch den Türspalt sah – und beobachtete, wie mein Bruder seine Kontaktlinsen in seine Augen setzte. Der Mord an dem Mädchen war schon viel zu lange her, seine Augen mussten ihre ursprüngliche Farbe längst wieder angenommen haben. Es gab nur eine Möglichkeit, warum sie es nicht getan haben sollten: Er hatte gar nicht aufgehört das Blut zu trinken. Plötzlich ergab alles einen Sinn, seine lange Abwesenheit, seine Zurückhaltung. Er hatte sich von uns ferngehalten, damit wir es nicht bemerkten. Ich strich mir über die Stirn. Ich kam mir so dumm vor. Ich kannte ihn so gut, wie ihn sonst keiner kannte. Warum hatte ich es nicht bemerkt? Warum hatte ich es nicht erkannt? Warum hatte ich ihm nicht geholfen? Und was konnte ich jetzt noch tun, um ihm zu helfen? Würde er damit aufhören, wenn ich ihn darum bat? Ich war mir eigentlich recht sicher, dass er es versuchen würde. Ob er es allerdings schaffen würde, konnte ich nicht sagen. Wahrscheinlich nicht allein. Nein, nicht allein. Wenn ich es für mich behielt, würde ich damit nicht fertig werden. Ich müsste das Geheimnis ebenfalls für mich behalten, dazu würde er mich zwingen, und das würde ich nicht schaffen. Meine Familie würde helfen können. Gemeinsam würden wir es schaffen, meinem Bruder zu helfen. Carlisle kannte sich damit aus, Vampire zur vegetarischen Lebensweise zu verhelfen. Ich ballte die Fäuste zusammen. Ich war mir sicher, er würde helfen können. Einen Moment überlegte ich, ob ich Will anrufen sollte. Aber der war mit seiner schwangeren Frau sicher genug beschäftigt, außerdem würde Ani genauso wenig auf Will hören wie auf unseren Vater. Am Nachmittag ging ich zu Urgroßvater ins Arbeitszimmer. Er saß gerade über einem Buch. Draußen begann es wieder zu dämmern, daher hatte er die Leselampe eingeschaltet. Als ich jedoch eintrat, sah er sofort auf, lächelte mich sanft an und schien seine ganze Aufmerksamkeit schlagartig auf seinen Besuch ausgerichtet zu haben. „Hallo, Mariella“, sagte er freundlich. „Hi“, sagte ich und lächelte kurz. Carlisle legte die Hände auf dem Schreibtisch übereinander. „Was kann ich für dich tun?“ Ich suchte nach den richtigen Worten. „Nun... ich... ich hab da so eine Vermutung... es ist nicht besonders schön und... na ja...“ „Ja?“, hakte mein Urgroßvater ruhig nach. „Es geht um Ani“, nannte ich das Kind nun beim Namen. „Ich hab gestern zufällig gesehen, wie er seine Kontaktlinsen eingesetzt hat.“ Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht, doch er wirkte noch immer sehr gelassen und ruhig. „Ist es möglich, dass seine Augenfarbe sich langsamer regeneriert?“, fragte ich hoffnungsvoll. Carlisle schüttelte sanft den Kopf und lächelte nun wieder zaghaft. Ich wusste, er versuchte sein Arztlächeln aufrecht zu erhalten, aber ich erkannte trotzdem Bitterkeit darin. „Oder oder... vielleicht hat er was von den Blutkonserven im Keller getrunken?“ Wieder ein Kopfschütteln. „Die sind noch alle an Ort und Stelle.“ „Dann vielleicht von wo anders?“ Carlisle seufzte. „Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.“ Während mein Urgroßvater die Familie zusammenrief und versuchte, sie auf das Kommende vorzubereiten, ging ich schweren Herzens in den Keller und sah nach meinem Bruder. Er lag auf dem Bett, und als ich näher kam, öffnete er langsam seine Lider. „Hey, Ani“, sagte ich leise und setzte mich auf die Bettkante. Er sah mich müde an. Wahrscheinlich hatte er seit Tagen nicht mehr richtig geschlafen. Er sah zwar nicht fit aus, aber ausnahmsweise war das für mich ein gutes Zeichen. Wenn er das Töten, sollte er es wirklich getan haben, nicht genoss, dann war die Wahrscheinlichkeit, ihn davon abbringen zu können, größer, als wenn er von seinem Handeln überzeugt war. „Warst du den ganzen Tag hier?“, fragte ich. Er nickte nur. „Ich war mit Alice und Oma ein bisschen shoppen“, log ich. „Und warst du erfolgreich?“, fragte er und lächelte dabei sanft. „Na ja, du kennst doch Alice. Die findet immer was.“ Er musterte mich kurz, dann sah er wieder auf die Decke. „Das stimmt.“ Ich überlegte kurz, was ich als nächstes sagen könnte. Mir fiel nichts besseres ein, also schlug ich ein Thema an, das ihm weniger gefallen würde. „Es gibt gleich Abendbrot. Möchtest du auch?“ Jetzt sah er mich wieder an. Er machte den Eindruck, als würde er abwägen, was er antworten sollte. Ich ging davon aus, dass er wie immer verneinen würde, doch ich irrte mich. „Ja, wieso nicht.“ „Oh“, sagte ich. „Soll ich... soll ich dir was runterbringen?“ Zweifel machten sich in mir breit. Hatte ich mich vielleicht doch verguckt? Oder wollte er nur zu Abend essen, um uns in Sicherheit zu wiegen? Meine Mundwinkel begannen langsam zu zittern. Es tat mir weh, dass ich die Gesinnung meines eigenen Bruders, den ich bis dato zu kennen geglaubt hatte, nicht wusste und darüber rätselte. Dass ich bei ihm tatsächlich auf die Idee kam, dass er so berechnend war und mich in falscher Sicherheit wiegen wollte. Als ich eine Weile in Gedanken versunken nichts sagte, ergriff Anthony wieder das Wort. „Du kannst ruhig vorgehen. Ich komme gleich nach.“ Ich nickte und schenkte ihm erneut ein Lächeln, wobei ich aufpassen musste, nicht gleich loszuheulen. „Okay.“ Ich verließ sein Zimmer, schloss langsam die Tür hinter mir und ging in die Küche, wo Carlisle die Familie um unseren großen marmorierten Esstisch versammelt hatte. Ich bekam beim Betreten des Raumes nur Wortfetzen mit, aber offensichtlich, hatte er bereits erklärt, was los war. „Nein, Jacob“, protestierte mein Edward. „Wenn du jetzt die Beherrschung verlierst, machst du alles kaputt.“ Mein Blick wanderte zu meinem Vater, der meinen Großvater, die Hände auf dem Tisch zitternd und zornig zu Fäusten geballt, anschaute. „Ich wüsste nicht, was es da noch kaputt zu machen gibt!“ „Mehr, als dir momentan bewusst ist“, meinte mein Urgroßvater. „Jasper, setz dich bitte neben Jacob.“ Jasper nickte und setzte sich neben meinen Dad, während meine Mum auf dessen anderer Seite saß. Ich bekam es mit der Angst zu tun, als sich plötzlich Emmett neben die Eingangstür stellte. Machten die sich hier auf ein Massaker gefasst? „Mariella, kommst du?“, sagte Seth sanft. Seine Stimmte zu hören tat mir gut. Ich wüsste niemanden sonst, der mir in dieser furchtbaren Situation mehr hätte helfen können als mein geliebter Seth. Ich ging zu ihm, setzte mich auf den Stuhl zu seiner Linken und er nahm meine hellen Hände in seine rostroten und lächelte mich beruhigend an. „Als du Renesmee kennengelernt hast, warst du dir vollkommen bewusst, was sie war. Dass du da keine menschlichen Kinder erwarten konntest, war dir doch ebenso bewusst, oder nicht?“, sagte mein Großvater erzürnt, jedoch immer noch sachlich. Als sie erwähnt wurde, warf ich einen Blick auf meine Mutter. Sie sah aus, als ginge sie gerade durchs Feuer, hatte eine Hand an die Stirn gelegt und stütze sich mit der anderen Müde am Tisch. Aus ihrem Gesicht war sämtliche Farbe gewichen und ihre Haare wirkten ungekämmt, weil sie sie dauernd nervös nach hinten strich. Ihre Augen waren glasig. Sie tat mir so leid, und ich wusste nicht, wie ich ihr helfen sollte. „Schon“, konterte mein Vater. „Aber ich dachte eigentlich, nach dreißig Jahren hätte sich das Thema längst erledigt. Wenn er wenigstens von Anfang an so gewesen wäre, dass er erst jetzt so abgeht, zeigt doch nur, wie wenig Respekt er vor dem Leben anderer Leute hat!“ „Daddy“, versuchte ich ihn anzusprechen, doch er reagierte gar nicht auf mich. „Wir haben ihm das SO sicher NICHT beigebracht!“, meinte er zornig und stand auf, während meine Mutter mehr und mehr in sich zusammensackte. „DAD!“, brüllte ich jetzt quer über den Tisch. Alle Augen im Raum waren schlagartig auf mich gerichtet, selbst die dunklen Augen meines Vaters. „Siehst du nicht, wie schlecht es Mommy geht?“ Mein Dad sah sofort zu meiner Mutter hinunter, setzte sich wieder hin und legte seinen Arm um ihre Schultern. „Hey... Nessie...“, flüsterte er sanft. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Meine Mutter begann zu wimmern und zu schluchzen und brachte kaum ein ordentliches Wort heraus. Mein Vater drückte ihren Kopf an seine Brust und strich durch ihr bronzefarbenes Haar. „Sht... sht... nicht weinen, Nessie. Es wird alles wieder gut.“ „Was ist denn hier los?“ Die fünf Worte, aus dem Mund meines Bruders, ließen fast alle Blicke, die zuvor auf meine Eltern gerichtet waren, zur Tür umschwenken. Anthony sah in die Runde und blieb nun ebenfalls bei Mom und Dad hängen. Letzterer strich seiner Frau noch immer sanft über den Rücken. Als sie von seiner Brust aufsah und ihren Sohn mit tränenden Augen musterte, strich mein Vater einige Haare weg, die ihr im nassen Gesicht klebten. Erst dann wanderte sein Blick langsam zu Anthony. „Anthony, schön, dass du hier bist, wir haben etwas Wichtiges zu besprechen“, meinte Urgroßvater sanft. Mein Bruder sah ihn nur mit einem skeptischen Blick an. Er spürte, dass etwas nicht stimme und obwohl er seine Haltung optisch nicht veränderte, bemerkte ich, wie er in Abwehrhaltung überging. „Möchtest du uns... vielleicht... irgendetwas sagen?“, fragte er weiter, doch mein Bruder schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, nichts.“ Aus der hinteren Ecke kam ein Stöhnen, das ganz offenbar unserem Vater zuzuschreiben war. „Aber offenbar ihr mir“, sagte Ani dann. „Was ist hier los? Ist was mit Mutter?“ Wieder meldete Dad sich zu Wort und schien sich dabei stark zurückhalten zu müssen. „Deiner Mutter ginge es bedeutend BESSER, wenn du nicht so ABDREHEN würdest!“ Anthony erwiderte gar nichts. „Na, da verschlägt es aber jemandem die Sprache“, stichelte Dad weiter. „Jacob“, mahnte Edward, doch mein Vater ignorierte auch ihn. „Hättest du die Güte, uns nicht mehr länger zu verarschen?“ Der Geräuschpegel stieg kontinuierlich, während mein Vater weiter bohrte. „Ich weiß nicht, was du meinst“, antwortete Anthony kühl. „Oh doch, das weißt du ganz genau!“, schrie mein Vater nun. „Und jetzt nimm verdammt noch mal deine Kontaktlinsen raus!“ Und da war er, der Blick, den ich befürchtet hatte. Die Augen meines Bruders, die sich, ohne dass ein Wort seine Lippen verließ, auf mich richteten. Er brauchte nichts sagen. Es war schon alles gesagt. Ich wusste, er machte mich für diese Versammlung verantwortlich. Das Geschrei meines Vaters, die Sticheleien, alles meine Schuld. Die Tränen schossen mir in die Augen und Seth strich mir weiter über den Rücken. Ani verleugnete sich nicht weiter. Mit wenigen Handgriffen hatte er die dünnen Linsen aus den Augen genommen, und als er die Augen anschließend wieder aufschlug, blickten zwei feuerrote Vampiraugen uns an. Ein paar von uns senkten den Blick, Rosalie schürzte lediglich die Lippen, Alice schüttelte ungläubig den Kopf und meine Mutter begann erneut zu schluchzen. Einzig Emmett, Jasper, Carlisle, Seth und Edward blieben gelassen. „Wie viele?“, fragte Letzterer ruhig. Die Möglichkeit, dass er zu Blutkonserven gegriffen hatte, schien bereits vom Tisch zu sein, bevor ich mich richtig an sie klammern konnte. „Drei, das Mädchen aus Balinasloe eingeschlossen.“ „Was hast du mit den Leichen gemacht?“, fragte Großvater weiter. „Nichts“, antwortete Ani, ohne einen von uns anzusehen. Sein Blick fixierte die Tischkante. „Kanntest du die Opfer?“ „Eine kannte ich... ja.“ „Woher?“ „Sie war in meiner Parallelklasse.“ Wieder setzte sich ein Teil des Puzzles zusammen. Ich erinnerte mich, dass vor einigen Wochen eine Kollegin in der Bibliothek erzählt hatte, dass eine junge Schülerin tot in einem Waldstück gefunden wurde. „Ich fass es nicht“, sagte mein Vater. Sein Ton hatte es Verächtliches. „Jetzt legst du schon deine Klassenkameraden um? Vor was machst du denn dann noch Halt, wenn du schon kleine Mädchen ermordest? Attackierst du uns vielleicht auch irgendwann?“ „Das würde ich nie tun, und das weißt du auch!“, protestierte mein Bruder. „Ja... ja... ich glaubte mal, dass ich was über dich wüsste“, sprach mein Vater weiter und stand nun langsam auf. Während er auf meinen Bruder mit langsamen Schritten zuging, erhob sich auch Jasper und meine Mutter sah besorgt auf. Emmett, an der Tür, postierte sich ebenfalls. „Aber spätestens jetzt“, fuhr Dad mit durchdringender fast flüsternder Stimme fort. „Weiß ich, dass ich nichts über dich weiß.“ Anthony hob langsam den Blick und seine roten Augen blickten in die dunklen unseres Vaters. „Va-“, setzte er an, wurde aber von einer ordentlichen Ohrfeige unterbrochen, kaum dass Dad nah genug herangekommen war. Mein Bruder taumelte nur kurz, dann stand er wieder felsenfest und sah Vater erschrocken an. „Benutz dieses Wort nicht mehr für mich“, befahl er. Mein Herz rutschte in die Hose. Etwas Schlimmeres hätte Vater für Anthony wohl kaum sagen können. Für ihn waren diese Wort weit schlimmer als ein Schlag ins Gesicht. Für ihn waren sie die Bestätigung dessen, was er immer befürchtet hatte. Und ich wusste genau, was jetzt kam. Was für eine Welle sich nun über uns aufbäumte und unser Familienleben überfluten würde, und ich wollte mich wie ein dicker Fels davor stemmen und sie abwehren, als ich blitzschnell aufstand und zu meinem Bruder laufen wollte. Doch im selben Moment sah ich, wie er zu flackern begann. Alle anderen sahen ihn jetzt nicht mehr, abgesehen von Großmutter und mir. Er hatte sich unsichtbar gemacht, sich umgedreht und den Raum eilig verlassen. Erschrocken blieb ich an der Stelle stehen, an der er eben noch gestanden hatte und blickte meinen Vater ungläubig an. Sein Gesicht war immer noch voller Zorn. „Mariella“, sagte Bella nun. „Er will das Anwesen verlassen.“ Das war mein Stichwort. Ich rannte nur noch los, übersprang auf der Treppe fast alle Stufen und stürzte in sein Zimmer. Er hatte dort gerade eine große Schublade geschlossen und faltete nun ein Papier ohne mich anzusehen, ehe er es sich in die Jackentasche steckte. „Was machst du da? Was hast du vor?“, fragte ich verzweifelt, obwohl ich genau wusste, was er da tat. „Nach was sieht es denn aus?“, antwortete er enttäuscht und packte weiter seine Sachen. „Nein, Ani! Bitte geh nicht!“, rief ich ihn verzweifelt an. „Das kann man doch alles klär'n!“ „Da gibt es nichts mehr zu klären. Du hast Jacob gehört.“ Ich hatte mir gerade noch ein Dutzend Bitten und Flehen überlegt, aber dass er nun Vaters Vorname benutzte, ließ mich kurz verstummen. „Er ist nur enttäuscht“, sagte ich dann. „Er wird sich wieder beruhigen. Du hast es doch nicht genossen, diese Menschen umzubringen. Ich weiß, dass du das nicht wolltest. Und das ist doch schon der erste Schritt. Gemeinsam können wir das sicher schaffen. Du wirst nie wieder einen Menschen töten, da bin ich mir ganz sicher.“ „Ach ja?“, meinte Ani, dann drehte er sich um und verließ durch die Klappe das Zimmer, und ich kroch hinterher und lief ihm einige Meter quer übers Gelände hinterher. „Ani, bitte überleg dir das noch mal. Bitte lass mich nicht allein!“ Ich machte einen Satz nach vorn, packte ihn am Arm und sah ihn eindringlich an. „Ich brauche dich.“ „Das hättest du dir überlegen können, bevor du mich verraten hast.“ „Ich hab das doch nicht getan, um dir zu schaden. Ich wollte dir helfen!“ „Schöne Hilfe, Mariella, wirklich!“ „Ani, es tut mir leid! Bitte! Es tut mir leid!“ Heiße Tränen stiegen mir in die Augen und kullerten über meine Wangen, die im Mondlicht noch heller aussahen. „Du bist mein Bruder, und ich liebe dich...“, flüsterte ich weinend und ließ dann müde seine Jacke los. Er drehte sich nun ganz zu mir um. Einen Moment schien er mich nur zu beobachten, wie ich da zitternd und heulend mit ihm auf dem kleinen Hügel vor unserem Anwesen stand, dann jedoch nahm er mich langsam in den Arm. Ich kuschelte mich an seine Brust, er legte seine Wange auf meinen Kopf und strich mir sachte durch das Haar. „Nein, mir tut es leid“, sagte er leise. „Ich habe dein Vertrauen zuerst gebrochen. Ich hätte der Versuchung nicht nachgeben dürfen. Ich hätte so leben müssen, wie unsere Eltern es uns beigebracht haben. Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal sage, aber ich kann Vater sogar verstehen. Ich glaube, wenn ich an seiner Stelle wäre, würde ich auch ausrasten.“ Ich lachte bitter und schluckte dann. „Wie auch immer...“, fuhr er fort. „Sag Mutter bitte, dass es mir gut geht und dass sie sich keine Schuld zu geben braucht. Und Vater auch nicht. Niemandem. Und, Mariella?“ Schluchzend sah ich zu ihm auf. Er wischte mir mit dem Daumen eine Träne aus dem Gesicht, lächelte mich an und gab mir einen Kuss auf die Stirn. „Ich liebe dich auch, meine kleine, große Schwester.“ Dann ließ er mich langsam los, drehte sich um und verschwand für die Augen unserer Familie, die das Szenario im Hof der Villa beobachtet hatten. Ich jedoch sah, wie das flackernde Bild meines Bruders kleiner und kleiner wurde, bis er selbst für vampirische Augen am Horizont nicht auszumachen war. Eine Weile sah ich noch in die Ferne, dann ging ich zurück zu unserer Familie, wo meine Mutter ungläubig von einem zum anderen sah und noch immer flossen Tränen über ihr hübsches, jedoch müdes Gesicht. „Was steht ihr hier nur rum und schaut zu?! Wollt ihr ihn denn gar nicht aufhalten?!“ „Vielleicht tut es ihm ganz gut mal ohne uns zu leben und seine eigenen Erfahrungen im Leben zu machen“, sagte Jasper sachlich. „Und ihn weiter morden zu lassen?“, fügte Alice hinzu. „Diese Erfahrung hat doch der eine oder andere von uns auch schon gemacht. Manchmal muss man erst diesen Weg gehen, um zu kennen, welcher Pfad einen wirklich glücklich macht. Früher oder später findet er sicher zu seiner Familie zurück“, meinte Edward. „Was, wenn nicht, Edward?“, mutmaßte Bella. „Dann ist es so“, sagte Vater trotzig. „Jake“, fuhr Bella ihn an. „Die Zukunft wird es schon zeigen“, ergriff Carlisle nun das Wort. „Fürs Erste lassen wir den Dingen ihren Lauf.“ Es machte mir Angst, dass sie ihn einfach gehen ließen, aber im Grunde waren mir ihre Worte gleich. Ich würde nicht zusehen, wie mein Bruder aus meinem Leben verschwand. Ich brauchte ihn, und ich war mir sicher, dass er mich auch brauchte. Doch wir waren noch nicht komplett. Und wenn ich es nicht allein schaffte, Anthony zurückzuholen, dann würde ich unser Trio eben wieder komplett machen... - Ende Kapitel 04 - Kapitel 5: Volturi ------------------ Disclaimer: => Ich verdiene kein Geld mit meiner Fanfiction. => Alle Charaktere die schon in den Twilight-Bänden ihren Auftritt hatten, gehören Stephenie Meyer. Alle Anderen, wie etwa Schüler, Lehrer und vor allem Renesmees und Jakes Kinder, habe ich selbst erfunden. Weitere Infos zur FF, Trailer, Cover & mehr http://www.renesmee-und-jacob.de.vu http://www.chaela.info Dieses Kapitel enthält drei Sichtwechsel --------- Kapitel 5 Volturi Die Welt ist in ständigem Wandel. Und mit ihr die Menschen. In einem Moment sagen sie dir, dass sie dich lieben. Im nächsten wirst du dann verstoßen. Man weiß nie, wem man vertrauen kann, also vertraut man am besten nur sich selbst. Und wenn man in vollem Bewusstsein ist, dass man nur sich vertrauen kann und sonst keinem, dann kann man auch direkt in die Höhle des Löwen gehen.... Ob das der Grund war, warum ich hier stand, wusste ich nicht. Genau genommen, wusste ich gar nichts mehr. Das Leben mit meiner Familie, das ich dreißig Jahre lang geführt hatte, fühlte sich für mich so an, als läge es in weiter Ferne. Als wäre es Jahrzehnte her, dass ich so gelebt hatte. Die Vampire, deren Augenfarbe meiner glich, starrten mich eindringlich an. Ich wusste nicht, ob einer von ihnen die Fähigkeit hatte, Gedanken zu lesen, aber ich war mir ziemlich sicher, dass mein Schutz halten würde. Vielleicht war ich hierher gekommen, weil ich wissen wollte, was das für Lebewesen waren, die es ganz offensichtlich darauf abgesehen hatten, mein Leben zu zerstören. Ja, ich machte die Volturi durchaus für das verantwortlich, was in den letzten Wochen geschehen war. Wären sie damals nicht gekommen und hätten mich dazu gebracht, dieses Mädchen von der Straße zu ermorden, vielleicht würde ich dann heute wie gewohnt in meinem Zimmer sitzen und die Schritte meiner Familie im Stockwerk über mir hören. Aber ich hörte sie nicht. Ich würde sie nie wieder hören. „Nun denn“, begann der schwarzhaarige Vampir auf dem Thron in der Mitte nun zu sprechen. Es waren die ersten Worte, die er an mich richtete. „Wie lautet dein Name, junger Mann?“ Ich überlegte einen kurzen Augenblick, dann sagte ich: „Anthony.“ Die Mundwinkel meines Gegenübers zuckten leicht, waren im Begriff, nach oben zu gehen. „Und weiter?“, hakte er nach. Natürlich hatte ich mal einen Nachnamen gehabt, aber ich war nicht mehr länger Teil dieser Familie, also hatte ich auch nicht das Recht, diesen Namen als den meinen zu nennen. „Nichts weiter“, sagte ich kühl. Der Vampir legte kurz seinen Kopf schief und sah mich fragend an. „Nun, wie du wünschst.“ Und damit ließ er die Sache zum Glück dabei bewenden. Fragen über meine Familie waren das Letzte, was ich gebrauchen konnte. „Was also, Anthony“, er betonte den Namen deutlich, „führt dich zu uns?“ „Ich ersuche euch um Aufnahme in eure Reihen.“ Er lächelte. „Was für ein wortgewandter Junge. Und da soll noch mal einer sagen, die Jugend hätte keine Manieren, nicht wahr, meine lieben Freunde?“ Der Vampir drehte sich freudig lächelnd herum, doch keinem der anderen Vampire in diesem Raum hoben sich auch nur im Ansatz die Mundwinkel. „Die Volturi sind keine Aufnahmestelle für verwaiste Jungvampire“, meldete sich jetzt ein weißhaariger Vampir zu Wort. „So wortgewandt sie auch sein mögen.“ Er trat vor und stellte sich neben den Anderen. „Um einer von uns zu werden, musst du Entsprechendes vorzuweisen haben.“ „Oh ja“, sagte der Schwarzhaarige nun, ebenso, als sei ihm das ganz entfallen gewesen. „Da hat Caius natürlich vollkommen Recht.“ Er richtete seinen Blick wieder auf mich. „Hast du denn etwas vorzuweisen, Anthony?“ „Ich kann mich unsichtbar machen“, antwortete ich. Der, der sich Caius nannte, begann spöttisch zu lachen, doch im Gesicht des Volturi neben ihm, regte sich nichts. „Caius, Bruder, ich bitte dich“, sagte er zu ihm. Der Weißhaarige verstummte, sah mich jedoch noch immer verächtlich an. Der andere ging nun langsam auf mich zu. Durch den langen pechschwarzen Mantel, wirkte es, als würde er schweben, denn ich konnte seine Füße nicht sehen. Etwa einen Meter vor mir blieb er schließlich stehen und lächelte erneut. „Zeig mir deine Gabe, mein Lieber.“ Ich nickte kurz, dann machte ich mich unsichtbar. In den umliegenden Gesichtern konnte ich noch immer kaum Reaktionen ausmachen. Um ehrlich zu sein, machte mich das etwas nervös. Bisher hatte ich immer geglaubt, eine nützliche seltene Gabe zu haben, doch unter den richtigen Vampiren schien das keine Besonderheit zu sein. „Hab vielen Dank“, sagte der Schwarzhaarige sanft. Für mich war dies das Stichwort wieder sichtbar zu werden. „Ohne Zweifel besitzt du ein Talent, das tun wir nicht alle“, erklärte er. „Dennoch muss ich dir mit bedauern mitteilen, dass wir jedes Talent nur einmal in unseren Reihen aufnehmen.“ Im Hintergrund regte sich nun etwas. Ein Vampir mit braunem mittellangem Haar trat hervor und stellte sich neben mein Gegenüber. „Afton hier ist ebenfalls in der Lage, sich unsichtbar zu machen.“ Ganz so, als wäre das ein unausgesprochener Befehl, verschwand der Vampir. Für mich war dies ein etwas verstörender Anblick, hatte ich mich doch nie selbst verschwinden sehen. „Darüber hinaus“, fuhr der Schwarzhaarige fort, „kann er diese Gabe auf andere Personen übertragen. Steht man hinter ihm“, erläuterte er und verschwand dann zum Beweis, „wird man ebenfalls vor unliebsamen Blicken verborgen.“ Es war ein seltsames Gefühl hier zu stehen und zuzusehen, wie dieser mir unbekannte Vampir meine Gabe einsetzte, und sie darüber hinaus sogar noch erweitert hatte. Immerzu hatte ich geglaubt, etwas Besonderes zu sein. Die Tatsache, dass dies hier nichts Neues war, war für mich wie eine erneute Ohrfeige. Und es machte mich rasend. Eigentlich hatte ich vorgehabt, es nicht zu verraten, aber ich sah keine andere Möglichkeit mehr, um in ihren Kreis aufgenommen zu werden. „Das ist ja schön und gut“, antwortete ich mit einem herben Anflug von Arroganz. „Aber ich besitze zusätzlich ein Schutzschild.“ Jetzt sah ich, wie wieder neugierige Blicke auf mir lagen, insbesondere der schwarzhaarige Anführer durchbohrte mich fast mit seinen roten Augen. „Mein lieber junger Freund“, sagte er nun selig und ergriff lächelnd meine Hand. „Es war in der Tat töricht von uns, deine Talente zu unterschätzen. Es ist wahrlich nicht die Regel, dass Unsereins mehr als eine Gabe besitzt.“ Der Vampir hielt inne, ich spürte seine kalte steinharte Hand, die meine umschloss. Es war ein unangenehmes Gefühl. Der schwarzhaarige Vampir sah mich fragend an. „Deine Haut ist außergewöhnlich warm, mein Lieber. Wie viele Überraschungen hältst du für uns noch parat?“ „Ich bin kein vollwertiger Vampir“, antwortete ich. Ich hatte angenommen, die Volturi würden einen Vampir von einem Halbvampir unterscheiden können, aber da war ich wohl im Irrtum gewesen. Der Anführer ließ meine Hand wieder los. „In der Tat, deine Fähigkeiten sind interessant.“ Er trat wieder etwas zurück. „Sag, mein lieber Freund, kannst du deinen Schild... ausweiten?“ Ich schüttelte den Kopf. Natürlich wussten sie, wer ich war und wo ich einst hingehört hatte. Und sie wussten freilich um die Gabe meiner Großmutter. „Bedauerlich...“, sagte er leise. „Aber sei's drum, mein Lieber. Du sollst deine Chance bekommen, dich in unseren Reihen heimisch zu fühlen.“ Er schwebte wieder zurück auf seinen Thron, wo er sich niederließ, ehe er erneut zu mir sprach. „Schläfst du?“, wollte er wissen. Ich nickte und befürchtete schon, dass dies ein Kriterium war, mich nicht aufzunehmen, doch der Schwarzhaarige zerstreute meine Zweifel sogleich. „Dann sollst du die unterirdischen Räumlichkeiten beziehen.“ Und dann roch ich einen Geruch, der mir vage in Erinnerung war. Der Geruch eines Artgenossen, den ich kannte. Des einzigen Halbvampirs, den ich je gesehen hatte, der nicht mit mir verwandt war. Nahuel trat hervor und stellte sich zu mir. Wie lange er schon im Raum war, vermochte ich nicht zu sagen, aber da ich seinen Geruch erst jetzt wahrgenommen hatte, nahm ich an, dass er erst seit wenigen Augenblicken hier war. „Nahuel wird dich in unsere Sitten und Gebräuche einweihen“, erläuterte der Anführer und lächelte sanft. Caius neben ihm, sah mich indes noch immer herablassend an. „Komm“, sagte Nahuel und ging davon. Ich folgte ihm aus dem Saal mit der großen Kuppel hinaus. Wir gingen zu einem Aufzug. Die stählernen Türen schoben sich auf und leise Opernmusik trällerte aus den Lautsprechern. Einige Stockwerke schwiegen wir. „Warum bist du hier?“, brach er dann die Stille. Ich hob meinen Blick, konnte seinem aber nicht lange stand halten. „Lange Geschichte.“ „Es gibt nichts auf der Welt, von dem ich mehr besitze, als Zeit. Genau genommen, ist sie fast alles, was ich habe. Also?“ Drei Stockwerke unter der Erde öffneten sich die schweren Türen. „Ich nehme an, wir müssen hier raus?“, fragte ich und trat heraus. Es ging nur ein einziger Gang vom Aufzug weg, also lief ich vor. Nahuel hielt ohne Probleme mit mir Schritt. „Was ist passiert, Ani?“ „Es heißt Anthony“, korrigierte ich ihn durch zusammengebissene Zähne, blieb jedoch nicht stehen. „Warte“, sagte er und hielt an einer grünen Tür mit der Nummer 626 an. Ob es hier wirklich über 600 Zimmer gab oder ob wir einfach nur auf der sechsten Ebene am Zimmer 26 standen, wusste ich nicht. „Ich bitte dich inständig“, sagte er nun und sah mir tief in die Augen. „Geh, solange du noch kannst.“ Ich lachte bitter und sah weg. „Das hier“, fuhr er fort und ließ seinen Blick kurz demonstrativ um uns herum schweifen. „Das ist kein Ort für dich.“ „Du scheinst mich ja recht gut zu kennen, dafür dass ich mich nur an zwei Besuche von dir erinnern kann.“ „Nein, ich kenne dich nicht. Aber ich weiß, dass du ein Leben da draußen hast. Ein Besseres.“ „Hatte“, korrigierte ich erneut. Nahuel biss sich auf die Unterlippe, neigte leicht den Kopf zur Seite und schloss dann widerwillig die Tür auf. Hinter ihr befand sich ein relativ großer Raum mit vier Betten, einem kleinen Tisch, zwei Stühlen und einem Schrank. Der Boden war mit dunkelgrauem PVC ausgelegt worden, in dem sich das Licht der Lampen an der Decke spiegelten. Es gab keine Fenster hier unten. „Das ist mein Zimmer. Fürs Erste wirst du es mit mir teilen müssen“, erläuterte der Halbvampir. Ich trat langsam ein und sah mich weiter um. Alle Betten waren fein säuberlich gemacht, auf dem Tisch lag nichts herum und die Stühle waren kein bisschen verrückt. Es wirkte so, als würde hier gar niemand wohnen. „Du kannst deine Sachen in den Schrank legen und dir ein Bett aussuchen. Das hinten rechts ist meines. Ich hole dir kurz was zu essen.“ Und dann fiel die Tür ins Schloss. Müde setzte ich mich auf das vorderste Bett, direkt an der Tür. Es war steinhart, und der weiße Teil des grau-weißen Bezuges färbte sich allmählich gelblich. Ich öffnete meine Tasche und das Erste, was ich darin fand, war ein Foto meiner Schwester, das ich in meiner Hosentasche verschwinden ließ. Den restlichen Inhalt meiner Tasche verstaute ich in dem Schrank, in dem zu meiner Verwunderung doch ein paar Klamotten waren. Ich hatte gerade die Schranktür wieder geschlossen, da ging die Zimmertür auf, und Nahuel kam mit einem Tablett herein. Ich war das eine oder andere Mal bei meinem Urgroßvater im Krankenhaus gewesen und wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass er das Tablett aus einem Krankenhaus entwendet hatte. Er stellte es aufs Bett. Ich entdeckte Wurst, Brot und etwas Käse. Meinen etwas verwunderten Blick auf das Bett deutete er direkt richtig. „Blut kriegen wir hier nur selten. Du wirst wohl meistens damit vorlieb nehmen müssen.“ Ich setzte mich aufs Bett und nahm das Tablett. „Ich dachte, ihr trinkt hier nur Blut.“ „Die Vampire trinken es ja“, sagte er. „Aber die Halbvampire nicht. Es ist besser für sie, wenn wir nicht ganz vampirisch leben. Weniger Opfer, die man an schleppen und später beseitigen muss, und die Menschennahrung zu beschaffen ist kein Problem.“ Langsam biss ich in das Brot. Beim Geruch des Käses musste ich unweigerlich an Catriona denken, aber daran lag es nicht, dass ich das Gesicht verzog. Ich hatte einfach schon ewig keinen mehr gegessen. „Wenn du noch mehr möchtest, den Gang entlang, dann nach links und die dritte Tür rechts findest du unsere Kantine.“ Kantine? War das hier ein Schulausflug oder ein College? Ich hatte bisher immer angenommen Nahuel und seine Schwestern waren hier die einzigen Halbvampire, wozu brauchte man zur Versorgung von vier Halbvampiren eine ganze Kantine? „So … also dann“, begann er wieder zu reden. „Ich muss jetzt weg. Ich habe eine Aufgabe bekommen. Ausland. Ich werde ein paar Tage fort sein. Verlass am besten einfach nicht die Etage, solang es nicht ausdrücklich auf Aros Wunsch hin ist und bleib die meiste Zeit im Zimmer.“ „Aro?“ „Der Vampir, dem du die Hand gegeben hast.“ „Ach so.“ *** Natürlich befolgte ich den zweiten Teil seines Rates nur für maximal zwanzig Minuten, danach stand ich dann schon im Gang und die Tür von 626 schloss sich hinter mir. Bereits auf dem Weg zur Kantine kam mir jemand entgegen. Der angenehme, mir ähnliche Geruch und der schnelle Herzschlag verrieten mir, dass es sich hier um einen Artgenossen handelte. Dass dieser Artgenosse männlich war, löschte auch die letzten Zweifel daran aus, dass es hier mehr als nur Nahuel und seine Schwestern gab. Und die Kantine tat ihr übriges. Geschätzte einhundertfünfzig Quadratmeter mit Tischen und Stühlen auf denen an die zwanzig Halbvampire verstreut saßen und miteinander plauderten, als säßen sie in der Schulpause. Als ich an der Theke vorbei lief, sah ich, dass es hier wirklich nur menschliche Nahrung gab und davon nicht einmal das Beste. Wo kamen diese ganzen Halbvampire bloß her? Was war hier in der Zeit zwischen meiner Geburt und jetzt geschehen? Ich hatte zwar gewusst, dass Nahuels Schwester ein Baby erwartet hatte, aber das dem noch so viele gefolgt waren, verwunderte mich dann doch. Was wenn es hier noch mehr gab, als hier saßen? Die fünf, am mir nächstgelegenen Tisch, sahen mich nun mit ihren braunen, grauen, blauen und grünen Augen an. Ich wandte mich ihnen zu und hob die Hand zum Gruß. „Hallo.“ „Hallo“, kam es vereinzelt zurück. „Du bist neu“, stellte ein junger Mann mit blonden kurzen Haaren fest. Ich nickte. „Wo kommst du her?“, wollte ein Mädchen wissen. „Du bist hier nicht aufgewachsen.“ „Ich komme aus Irland“, antwortete ich. „Du kommst von außerhalb?“, hakte ein anderes Mädchen nach. „Es gibt noch mehr Halbvampire dort draußen?“ „Das weiß ich nicht“, sagte ich. „Mir sind jedenfalls keine bekannt. Zumindest keine mit denen ich nicht verwandt bin. Ich habe noch einen Bruder und eine Schwester.“ Ein drittes Mädchen lachte. „Hier sind fast alle irgendwie miteinander verwandt.“ Ich zog eine Augenbraue hoch. Die Tatsache, dass hier wohl rege Inzucht betrieben wurde, schien für sie ganz normal zu sein. Dieser Ort wurde mir immer suspekter, dabei war ich erst seit wenigen Stunden hier. „Samantha!“, mahnte der Blonde. Das Mädchen sah etwas betroffen aus und senkte den Blick. „Und was macht ihr so hier den ganzen Tag?“, wechselte ich das Thema. Ich würde später noch darauf zurückkommen, da war ich mir sicher, aber nun schien kein Durchkommen zu sein. „Wir reden hier, schauen fern, lesen oder treiben Sport.“ „Sport?“, fragte ich. Ohne Zweifel war das Unterhaltungsprogramm, dass den Halbvampiren hier drei Stockwerke tief unter der Erde geboten wurde, recht akzeptabel. Zumindest brachte es sogar mich dazu, für ein paar Tage abzuschalten. Die Lektüren, die man sich hier zuhauf aus den Bücherregalen ziehen konnte, waren allesamt eher leichte Kost. Die Fernseher hatten nur wenige Kanäle, dafür gab es aber ein nettes Sortiment an ebenso leichten Filmen. Das Beeindruckendste, was ich hier unten allerdings entdecken konnte, war die unterirdische Sporthalle. Es kam mir so vor, als gehöre das halbe unterirdische Reich von Volterra den Volturi, denn es war eine enorme Bauleistung, die hier vollbracht worden war. Egal ob Volleyball, Basketball oder Hockey, hier konnte man sich wirklich verausgaben. Und es war für mich eine ganz neue Erfahrung, Sport treiben zu können und sich dabei nicht verstellen zu müssen. Umso brutaler war hier der Sport. Beim Basketball wurden in akkurater Regelmäßigkeit die Bälle zerfetzt. Beim Hockey hörte man förmlich die kräftigen Halbvampirkörper aufeinander prallen. Ein Hockeyspiel von vollwertigen Vampiren war sicherlich noch eine ganze Ecke härter, aber verglichen mit den menschlichen Sportarten, war das hier wirklich Dinosauriercatchen. Abends saßen wir dann in der Kantine und aßen uns die Kalorien auf die Rippen, die wir am Tag verloren hatten. Und in der Nacht, wenn alle schliefen, schlief sogar ich. Doch schon bald spürte ich, dass mir etwas fehlte. Bereits am Morgen vor dem Spiegel fiel mir auf, dass meine Augen noch dunkler geworden waren als die Tage zuvor. Und beim Essen in der Kantine, nach einigen Basketballrunden, kam dieses Gefühl der Unruhe umso härter hoch, je mehr von dem Kartoffelbrei vor mir ich in meinen Mund schob. Es war einfach nur irgendwas in meinem Mund, das meine Speiseröhre hinunterrutschte, aber es befriedigte mich nicht. Nicht mehr. Ich hatte eigentlich gehofft, ich würde mein Versprechen Catriona gegenüber halten können. Ich wippte unruhig mit dem Fuß und legte meine Gabel forsch zurück auf den Teller, ohne den Kartoffelmatsch auf ihr in den Mund zu schieben. Samantha mir gegenüber sah mich verwundert an. Ihr langes, blondes, glattes Haar rutschte über ihre Schultern, als sie ihren Kopf hob. „Gibt es hier nie Blut? Ich dachte, ich wäre in einem Zirkel gelandet, der nicht vegetarisch lebt.“ „Nicht für uns“, erinnerte mich Samuel, ihr ebenfalls blonder Zwilling. „Für wen dann?“, wollte ich wissen. „Na für die Vampire“, sagte Samantha, so als hätte ich eine absolut dämliche Frage gestellt. „Es werden regelmäßig Menschen zu ihnen gelockt, die sie dann gemeinsam im Thronsaal verspeisen.“ „Im Thronsaal“, wiederholte ich und stand dann auf. „Samantha!“, mahnte Samuel seine Schwester erneut. „Anthony, denk nicht mal dran. Die oberen Etagen sind uns strikt untersagt, erst Recht der Thronsaal!“ „Lass das mal meine Sorge sein“, antwortete ich und verließ die Kantine. Der Aufzug konnte für mich kaum schnell genug abheben, und ich fragte mich, ob es hier mit Absicht keine Treppen gab. Ich bezweifelte, dass dann noch jemand den Aufzug benutzen würde, weil man zu Fuß schneller war. Oder waren die Volturi einfach zu bequem zum Treppen steigen? Egal … in wenigen Augenblicken würde ich meinen Hunger stillen können, das spürte ich. Und das mein Bauchgefühl mich selten täuschte, merkte ich relativ bald. Nämlich dann, als ich das Geschrei hinter den imposanten Türen hörte, die in den Thronsaal führten. Ich öffnete eine der etwas kleineren Seitentüren. Hinter ihr wollte ein Vampir, der links von ihr stand, mich aufhalten, aber ich war bereits dem Blutdurst verfallen. Ich roch das rote Blut der Menschen hier drin, die bereits den durstigen Vampirkehlen zum Opfer gefallen waren. Einige rannten noch vergeblich um ihr Leben. Ebenso die Frau, die mich fast umrannte und mir quasi in die Arme lief. Ohne Umschweife verschwanden meine Zähne in ihrem Hals, und ich spürte, wie ihr roter Lebenssaft begann, meinen Durst zu löschen. Doch das Vergnügen dauerte nur wenige Sekunden, dann traf mich etwas hartes in die Rippen, und ich rutschte über den Marmorboden. Als der Schmerz verflogen war, und ich mich abstützen konnte, um zu sehen, woher der Stoß gekommen war, sah ich, wie ein junger Vampir mit dunklem kurzem Haar seinen Durst an meiner Beute stillte. Meiner Kehle entfuhr ein leises Knurren. Ich erhob mich wieder und ging auf den Vampir zu, doch kaum, dass ich in Griffweite war, packte er mich ruckartig. Seine kalten Finger schlossen sich um meinen Hals, und ich konnte mich nicht mehr rühren. Jetzt wo ich so nah bei ihm stand, konnte ich in seine dunklen Augen sehen. Er musste Durst haben. Und ich konnte seine perfekten Wangenknochen sehen und sein überaus hübsches Gesicht, selbst für einen Vampir. „Du willst dich nicht wirklich mit mir anlegen, Kleiner“, riet er mir. Als mir erneut reflexartig ein Knurren entfloh, verstärkte er den Druck, und ich begann, nach Luft zu ringen. Er hingegen sah mich nur noch mit einem Auge an und trank weiter an der Kehle der Frau. Ich griff nach seinem Arm, doch meine Versuche mich zu befreien, kümmerten ihn nicht im Geringsten. War das das Ende? So schnell? War das wirklich der Tod, den ich sterben sollte? Von einem trinkenden Vampir erdrosselt zu werden? Aus der Geräuschkulisse aus gierig trinkenden Vampiren, sterbenden Menschen und Herzen, die ihre letzten Schläge taten, hob sich nun ein Ruf hervor. „Alerio!“, rief eine sanfte Frauenstimme. Sofort hörte der Schönling auf, an seinem Opfer zu saugen und hob den Blick. Ein Mädchen kam auf uns zu. Sie hatte eine perfekte Silhouette und trug ein tiefschwarzes knielanges Kleid. Ihre langen dunkelbraunen Haare gingen ihr bis weit über die Schultern. Ich roch ihren wohlriechenden, nicht zu süßlichen Duft und hörte ihren raschen Herzschlag. Doch ich wusste nicht, was mich mehr verwunderte. Die Tatsache, dass hier oben ein Halbvampir ganz offenkundig herumlief und auch noch Befehle erteilte oder die, dass sie rote Augen hatte. Alerio nahm seine Hände von meinem Hals, und ich ging erst mal erschöpft auf die Knie und griff mir an die Kehle. Ich sog die Luft um mich herum ein, wie Ertrinkender, der soeben gerettet wurde. Der Braunhaarige zog sich zurück. Doch dazu, die Frau weiter auszusaugen, kam ich gar nicht. Das Mädchen mit dem langen Haar und den roten Augen reichte mir ihre Hand und half mir auf. „Komm“, sagte sie, und ich stellte fest, dass ihre Körpertemperatur etwas unter der meinen lag, jedoch nicht so kühl wie die eines Vampires. Wir traten aus dem Saal, und ich folgte ihr stumm bis zum Aufzug. „Das darfst du Alerio nicht zu sehr übel nehmen“, sagte sie sanft. Ich antwortete nichts, schluckte nur und strich mir noch mal über die Stelle, an der man wahrscheinlich die Abdrücke seiner Finger hätte sehen können, wenn meine beschleunigte Heilung nicht wäre. „Er ist etwas barsch, sobald er Blut riecht, aber sonst ist er eigentlich sehr sanftmütig.“ Mit einem grazilen Gang, der aber noch immer einen Hauch Menschlichkeit besaß, lief das mir unbekannte Mädchen mit mir durch den Korridor, dann blieb sie abrupt stehen. „Welches ist dein Zimmer?“, wollte sie wissen. „626“, antwortete ich. Sie öffnete den Mund, als wollte sie was sagen, wirkte fast etwas verdutzt, dann drehte sie sich um und blieb erst wieder vor der Tür meines und Nahuels Zimmers stehen. Ich hatte die Tür abgeschlossen, bevor ich in die Sporthalle gegangen war, aber das Mädchen packte einen goldenen Schlüssel aus und öffnete sie. Natürlich, wer im Thronsaal der Vampire trinken und Befehle erteilen durfte, hatte sicherlich auch einen Universalschlüssel. Im Raum schaltete sie das Licht an und wartete, bis ich auch drin war. „Warte hier. Ich bin gleich wieder da“, meinte sie dann und verschwand. Wie wenige Tage zuvor, setzte ich mich auf mein Bett und wartete. Ich kramte Mariellas Foto aus der Tasche und strich mit dem Daumen über das Hochglanzpapier. Natürlich war mir aufgefallen, dass das Mädchen, das soeben den Raum verlassen hatte, ihr optisch nicht ganz unähnlich war. Für einen kurzen Augenblick fühlte ich mich meiner Schwester sehr nah, doch dann verschwand das Gefühl auch gleich wieder, und mir wurde bewusst, dass ich sie vielleicht nie wiedersah. Die Tür ging wieder auf, und ich ließ das Foto wieder verschwinden. Das Mädchen mit dem langen braunen Haar und den roten Augen bot mir nun einen Blutbeutel an. Ich sah verwundert zu ihr hinauf. „Nimm nur“, sagte sie, also griff ich nach dem Beutel, öffnete den Verschluss und trank. Es war kühl kein Vergleich zu dem warmen Blut der Frau, aber es war bei weitem besser, als die Brötchen und Suppen aus der Kantine. „Und du schläfst hier bei Nahuel?“, fragte sie dann und setzte auf das Bett mir gegenüber. Ich nahm den Beutel vom Mund und nickte. Plötzlich veränderte sich etwas in ihrem Blick, als sie mich ansah. Ich wusste nicht, was es war und nahm den Beutel nun ganz runter. „Was?“, hakte ich unsicher nach. Hatte ich mich verschmiert? Mein Hemd vollgekleckert? „Wo kommst du her?“ War ihr etwa jetzt erst aufgefallen, dass sie mich nicht kannte? Kam sie nicht oft hier runter und merkte gar nicht wie die Population hier unten stetig anstieg? „Ich komme aus Irland“, sagte ich. „Es gibt noch andere Vampire? So wie Nahuel? Die nicht hier drin geboren wurden?“ Ich hatte unweigerlich ein Déjà-vu, wollte das Mädchen aber nicht dumm dastehen lassen und beantwortete ruhig ihre Fragen. „Das weiß ich nicht. Ich habe in meinem ganzen Leben keine gesehen, abgesehen von meinem Bruder und meiner Schwester.“ „Wo sind sie?“ Ich überlegte kurz, wie viel ich verraten sollte. „Nun … mein Bruder ist verheiratet und lebt mit seiner Frau und seinen Kindern zusammen und meine Schwester lebt mit dem Rest meiner Familie in einem großen Haus.“ „Verheiratet …“, wiederholte sie so leise, dass es selbst für meine Ohren leise war und bewegte dabei kaum die Lippen. „Und du? Warum bist du hier?“ „Ich ähm …“, schnell legte ich die Wahrheit beiseite, „ich wollte mal etwas anderes sehen. Ein anderes Leben führen.“ Ihr Blick hatte nun etwas Trauriges, so als verstünde sie meine Aussage nicht, konnte sie nicht nachvollziehen. Ich mochte es nicht, sie traurig zu sehen. Obwohl ich sie eigentlich nicht kannte, gefiel mir der Anblick nicht auch wenn sie selbst so noch immer unglaublich hübsch war, also brach ich die aufkeimende Stille. „Mein Name ist Anthony“, stellte ich mich vor. „Und wie heißt du?“ „Ich heiße Sangreal“, antwortete sie mit einem leichten Lächeln. „Ich sollte dann auch mal wieder los.“ Sie erhob sich und war in Begriff, die Tür zu öffnen. „Warte“, sagte ich, und sie drehte sich, die Hand am Griff, noch einmal zu mir um und sah auf mich herab. „Kommst du mal wieder hier runter?“ Wieder ein Lächeln. „Bestimmt.“ *** [Mariella] Langsam strich ich mit meinem Finger über das Foto. Ich spürte die leicht raue Oberfläche. Es war ein Familienfoto. Aufgenommen vor fast 15 Jahren. Als wir noch eine Familie waren: Meine Mutter saß in einem blauen Sommerkleid mit weißem Bolero auf einem Stuhl. Mein Vater, in einem schwarzen Shirt und in einer schicken, frisch gebügelten Hose, stand mit stolzem Lächeln hinter ihr und hielt ihre Hand, die sie ihm hinauf gereicht hatte. Auf ihrer anderen Seite stand ich in einem violetten Kleid und hatte mein Gesicht ganz nah an ihrem. Mein Arm lag um ihren Hals und meine Hand in der ihren. Will und Ani saßen, Rücken an Rücken, auf dem Boden vor uns und sahen beide mit einem leichten Lächeln in die Kamera. Es war die Zeit, in der wir drei noch gleich alt aussahen. Eine Träne landete auf dem Bild, direkt über dem Kopf meiner Mutter. Sie kullerte über ihren Hals, ihren Bauch, ihre Beine, dann über Ani und schließlich vom Foto herab. Traurig zog ich die Nase hoch. Ich spürte Seths Finger an meiner Wange. Er strich mir sanft die Tränen weg. Wir saßen in unserem Zimmer auf dem Bett. „Es wird alles wieder gut werden, du wirst schon sehen“, versuchte er mich zu beruhigen. Aber ich kannte meinen Bruder. Ich wusste, er würde nie von selbst zurückkommen. Schlagartig erhob ich mich, legte das Foto auf meinen Nachttisch und zog meinen Rucksack aus dem Schrank. Seth sah mir verwundert hinterher, wie ich anfing, zügig ein paar Klamotten wahllos aus den Regalen zu ziehen. Ich griff gerade nach einem Pulli und drehte mich um, um ihn zu verstauen, als die Tasche plötzlich weg war. Suchend drehte ich mich in Seths Richtung. Er stand etwa einen Meter hinter mir und hatte sie an sich genommen. Er sah traurig aus. „Entschuldige“, sagte er und hörte sich auch so an, „aber ich kann dich nicht gehen lassen.“ „Gib mir den Rucksack“, forderte ich. Er schüttelte den Kopf. „Seth!“ „Er kann überall sein.“ Ich trat näher an ihn heran, sah zu ihm empor und legte meine Hände hilfesuchend an seine Brust. „Dann komm doch einfach mit mir.“ Er ließ den Rucksack auf den Boden fallen, umschloss meine beiden Händen mit seinen, zog mich ganz nah zu sich und küsste mich. Sein Kuss hatte etwas sehnsüchtiges, verzweifelndes, so als vermisste er mich schon, bevor ich überhaupt gegangen war. Dieses Gefühl kannte ich gar nicht von ihm, weil wir nie zuvor auch nur im Ansatz getrennt gewesen waren. Soweit ich mich erinnern konnte, war er immer bei mir gewesen. Für mich hatte es immer nur Seth gegeben, immer nur ihn. Nie einen Anderen. Als unsere Lippen sich wieder voneinander lösten, hielt er meine Hände nur noch mit einer Hand an seiner Brust fest, mit der Anderen strich er sanft über mein Gesicht. „Lass uns doch erst mal Wills Rat befolgen.“ Ich stöhnte, verdrehte die Augen und löste mich von meinem Seth. Wie ein bockiges Kind setzte ich mich im Schneidersitz aufs Bett. Seth setzte sich auf die Bettkante und lächelte mich sanft an. „Das ist das Vernünftigste“, meinte er. „Es ist aber nicht das Richtige“, konterte ich. Gleich nach Anthonys Aufbruch, hatte ich hysterisch unseren Bruder in La Push angerufen. Ich hatte ihm davon erzählt, dass die Spannungen zwischen Ani und Vater schlimmer geworden waren und was er zuletzt zu ihm gesagt hatte. Ich hatte versucht, die Gründe dafür zu verharmlosen, aber es war mir nicht wirklich gelungen. Den Tod mehrerer Menschen, teilweise noch Kindern, konnte man einfach nicht verharmlosen. Es hatte auf mich nicht den Eindruck gemacht, als hätte Will Ani die Schuld an allem durch und durch zugesprochen, auch wenn er natürlich geschockt gewesen war zu erfahren, dass sein Bruder zu Menschenblut übergangen war und dabei nicht mal den humaneren Weg über die Blutbank ging, wie ich noch zu Anfang gehofft hatte. Trotzdem hatte er noch keinen Handlungsbedarf gesehen. Zumindest keinen, der dringlich genug gewesen wäre, seine hochschwangere Frau zu verlassen. Natürlich verstand ich das, aber seinen Rat, doch wenigstens zwei Wochen zu warten, konnte ich einfach nicht befolgen. Erst wenn wir bis nach Ablauf der Frist nichts von Ani gehört haben sollten, würde er handeln. Ich wusste nicht mal, ob sein Handeln etwas bewirken würde. Die Bande zwischen Will und Anthony waren in den letzten Jahren kaum viel besser gewesen, als die zwischen Ani und irgendwem sonst. Er ließ nur noch meine Mutter und mich an sich heran. „Bitte“, wiederholte Seth nun zum dritten Mal das Wort, bis ich ihn endlich mit glasigen Augen ansah. „Also gut... vierzehn Tage.“ Seth lächelte zur Antwort und küsste mich aufs Haar. *** Zehn Tage später stand ich in der Küche und stellte Seths und Vaters verschmutztes Geschirr in die Geschirrspülmaschine, als es an der Tür klingelte. Alice hatte nichts von Besuch gesagt, also musste es entweder etwas mit einem Halbvampir oder mit einem Gestaltwandler zu tun haben. Mein Herz schlug mir schlagartig bis zum Hals und bevor sonst jemand auch nur etwas sagen konnte, war ich schon dabei die Tür aufzumachen. Natürlich wusste ich, dass Ani die Haustür nie benutzen würde, aber ich hatte die leise Hoffnung, dass Will sich doch umentschieden hatte. Ich wusste nicht, wie mein Gesicht ausgesehen haben mochte, als ich den Besucher erblickte. Ich kannte ihn noch aus früheren Besuchen. „Hallo, Mariella“, sagte er freundlich. „Darf ich eintreten?“ „Ähm … natürlich“, antwortete ich etwas perplex, nickte und ließ ihn rein. „Nahuel“, sagte Alice lächelnd und auch einige der Anderen begrüßten ihn freundlich. Wenige Minuten später saßen wir alle im Wohnzimmer, und ganz wie bei einem gewöhnlichen Besucher, brachte Esme uns Kaffee und Gebäck, das Nahuel trotz seiner normalen Essgewohnheiten dankend annahm. „Ihr wisst sicher schon, dass ich nicht einfach nur zum Spaß hier bin“, sagte er dann und wurde ernst. „Gewiss nicht“, antwortete Urgroßvater. „Auch wenn es für uns definitiv mal entspannend wäre, wenn du keine schlechten Nachrichten bringen würdest“, fügte Rose hinzu. Nahuel lächelte bitter und stellte seine Tasse ab, an der er gerade ein einziges Mal genippt hatte. „Das würde ich gern irgendwann. Aber leider nicht heute.“ Ein vertrauter Geruch hielt Einzug in den Raum. Meine Mutter und mein Vater gesellten sich zu uns, die gesondert benachrichtigt werden mussten, weil sie in ihrem Teil des Anwesens geschlafen hatten. Meine Mutter war ziemlich fertig und brauchte zur Zeit viel Ruhe. Auch jetzt noch wirkte sie müde, obwohl sie offenbar ihre Haare schön gekämmt hatte. Als sie aber Nahuel auf dem Sofa erblickte, wurde sie schlagartig hellwach und rannte fast zu uns herüber. „Nahuel!“, rief sie mit einem Anflug von Freude und Hoffnung. „Du bist hier. Bringst du Nachrichten von Ani?!“ Ein paar Gesichter blickten ziemlich verdutzt drein. Wie sie darauf kam, wusste hier wohl kaum jemand. Umso verwunderter waren wir dann, als Nahuel zur Bestätigung auch noch nickte. „Ihr wisst also Bescheid?“, fragte er anscheinend ebenso verwundert. „Nein“, sagte Großvater. Meine Mutter legte eine Hand an ihre Brust, direkt über dem Herzen. „Ich wusste es nicht, ich hab es nur … gespürt.“ Esme lächelte sanft und legte einen Arm um meine Mutter. Sie wusste wohl genau, wovon sie redete. „Er ist also bei den Volturi?“, fragte Großvater. Nahuel nickte. „Er hat sich vor Aro, Caius und Marcus gestellt und um Aufnahme gebeten.“ „Und sie haben ihn ohne Umschweife aufgenommen?“, mutmaßte Großvater nun. „Nach einigen Überlegungen, ja.“ „Wie bitte?“, hakte Großmutter nach. „Zuerst bringen sie das Ganze erst ins Rollen, indem sie ihn dazu bringen, ein junges Mädchen auszusaugen, und dann nehmen sie ihn nicht mal sofort bei sich auf?“ „Ich nehme an, dass das nur eine Finte war“, sagte Carlisle. „Um ihm vorzugaukeln, er müsse sich trotzdem anstrengen, bei ihnen zu sein und dass es sein eigenes Handeln war, zu ihnen zu kommen und ihnen beizutreten.“ „Und in Wirklichkeit hatten sie schon damals vor, ihn zu sich zu holen...“, fügte Großmutter hinzu. „Toll...“ Nahuel beugte sich vor und sah und eindringlich an. „Was IST passiert? Warum hat er euren Zirkel verlassen?“ „Hat er dir das nicht gesagt?“, fragte Mutter. Nahuel schüttelte den Kopf. „Nein, er will nicht darüber reden.“ Traurig wandte meine Mutter den Blick von ihm ab und sah zu Vater hinauf, der wiederum den Boden anzustarren schien. „Sagen wir, es sind einige unschöne Worte gefallen, die das Fass zum Überlaufen brachten“, antwortete Großvater sachlich. „Viele Missverständnisse... und Unausgesprochenes... haben ganz einfach irgendwann ihren Tribut gezollt“, fuhr er fort, und seine Augen huschten hinüber zu Vater. „Dass er in den letzten Wochen Menschen getötet und deren Blut getrunken hat, mag der Auslöser gewesen sein, aber nicht die Ursache.“ Nahuel überlegte kurz, er wusste wohl zunächst nicht, was er darauf antworten sollte. „Aber es gibt doch sicherlich Wege, diese Dinge beizulegen?“ Edward sah abermals zu meinem Vater. „Das kommt auf die Betroffenen an.“ Ich hatte nicht wirklich damit gerechnet, Vaters Stimme in diesem Gespräch zu hören, aber er ergriff zu unser aller Überraschung das Wort: „Hattet ihr nicht mal erzählt, das Volterra kein Gefängnis sei, und man die Volturi auch einfach wieder verlassen kann?“ „Eleazar hat die Volturi seinerzeit verlassen, das ist korrekt“, bestätigte Carlisle. „Das mag sein“, fuhr Nahuel dazwischen. „Aber das funktioniert nur, wenn man sie auch verlassen WILL.“ Großmutter verschränkte die Arme über der Brust. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand die Volturi unserem Leben vorzieht.“ Großvater legte seine Hände links und rechts an ihre Oberarme und strich sanft darüber. „Selbst wenn es so wäre“, erklärte Nahuel nun genauer. „Ich rede nicht vom freien Willen. Den hat man bei den Volturi nämlich nicht mehr.“ „Chelsea ist nicht stark genug, um alle Mitglieder permanent zu beeinflussen“, sagte Carlisle. „Wenn sie ihn bei sich halten wollen, werden sie das auch schaffen. Wenn ihr euch nicht beeilt, dann wird er innerhalb weniger Wochen keinerlei Bindung mehr zu euch haben.“ Die Vorstellung machte mir Angst und jagte mir einen kalten Schauer über den Rücken. Ich spürte wie meine Unterlippe zu zittern begann. „Das glaube ich dir nicht. Nicht bei ihm.“ Mutter kam zu mir herüber, strich mir durchs Haar und nahm mich in den Arm, konnte ihre Tränen aber selbst kaum zurückhalten. „Anthony besitzt ein sehr starkes Schutzschild“, sagte Edward. „Er hält es permanent aufrecht, und auch die Volturi haben keinen Zugriff auf seinen Geist.“ „Ich hoffe für euch, dass ihr Recht behaltet“, antwortete der Halbvampir. *** [William] Nachdem ich das Gespräch mit meiner kleinen Schwester beendet hatte, war das leuchtende Display so hell in dem dunklen Schlafzimmer, dass es mir fast in den Augen wehtat. Ich löschte noch die drei angezeigten Anrufe in Abwesenheit, die ebenfalls von meiner Schwester waren, aus der Anrufliste, dann legte ich es weg und drehte mich wieder um. Im Ehebett lag meine hübsche Leah und sah mich im Halbdunkel der Nachttischlampe lächelnd an. Sie war so schön. Die cremefarbene Decke passte wundervoll zu ihrem dunklen Teint, und ich liebte die Wölbung der Decke, die durch ihren runden Babybauch verursacht wurde. Müde krabbelte ich zurück zu ihr ins Bett, legte meine Hand vorsichtig an ihren Nacken und küsste sie leidenschaftlich, während ich mit der anderen Hand unter den cremigen Stoff fuhr und ihr über den Bauch streichelte. „Was ist los?“, wollte sie wissen, nachdem wir uns voneinander gelöst hatten. Ich konnte nichts vor ihr verheimlichen. Sie wusste immer genau, wenn etwas in mir vorging. Es gab niemanden auf der Welt, mit dem ich mich mehr verbunden fühlte, als mit meiner Frau. „Mariella“, antwortete ich. Leahs Augenbrauen hoben sich besorgt. „Um diese Zeit? Ist was passiert?“ Ich sah kurz zur Seite und seufzte. „Liebling?“, sagte sie. Ich sah sie wieder an. „Mein Bruder hat den Zirkel verlassen.“ Leah sah aus, als würde sie nicht so recht begreifen, was ich da gesagt hatte. „Verlassen? Also... so richtig?“ Ich nickte verhalten. „Ich nehme mal an, dass der Grund kein Mädchen ist“, mutmaßte sie. Ich stöhnte. „Wie sehr ich mir wünschte, dass es nur das wäre.“ „Was ist es dann?“ „Vater...“ Leah schüttelte ungläubig den Kopf. „Ich versteh Jacob nicht. Ich meine, er ist auf Renesmee geprägt und Anthony ist ein Teil von ihr.“ Ich seufzte und fuhr mir müde übers Gesicht. „Willst du zu ihnen, Liebling?“, fragte Leah. „Nein“, antwortete ich entschlossen. „Der Geburtstermin ist in wenigen Wochen. Ich kann dich jetzt nicht allein lassen.“ Leah lächelte. „Das ist wundervoll von dir, Liebling, aber er ist dein Bruder. Wenn du gehen möchtest, kann ich das verstehen.“ Ich verneinte kopfschüttelnd. „Nein, ist schon okay. Ani ist alt genug, um auf sich aufzupassen. Ich bleibe bei dir.“ Ich strich ihr sanft eine schwarze Strähne ihres schönen langen, seidigen Haars aus dem Gesicht. „Ich will dabei sein, wenn unsere Tochter das Licht der Welt erblickt. Wie bei Madeleine und Harry. Ich will nicht mit meiner eigenen Tradition brechen.“ Leah strahlte. „Ich liebe dich“, flüsterte sie. „Und ich liebe dich.“ Und dann küssten wir uns erneut. *** Zehn Tage später war ich damit beschäftigt die hellblaue 'Geburtstasche' zu packen: eine große blaue Sporttasche, in die ich vorsorglich alles verstaute, was wir mit in die Klinik nehmen wollten, sollte Leah eine solche zur Geburt aufsuchen müssen. Früher waren Hausgeburten im Reservat natürlich üblich gewesen. Das reservatseigene Krankenhaus zu besuchen, war aber kein Verbrechen. Im Gegenteil, ich empfand es als tolles Gefühl, meine schwangere Frau ins Krankenhaus zu fahren und ihr im Kreißsaal mit der Hebamme beizustehen. Ich führte das darauf zurück, dass sowohl meine Mutter, wie auch ich und meine Geschwister, aufgrund unserer Besonderheit, ein eher verstecktes Leben geführt hatten. Ich liebte es normal zu sein, normale Dinge zu tun und dazu gehörte es nun mal auch, in ein Krankenhaus zu fahren, wenn man krank war. Ich faltete gerade ein Handtuch zusammen und ließ es in der Tasche verschwinden, als mein Handy in der Hosentasche klingelte. Auf dem Display stand, wie ich bereits vermutet hatte, der Name meiner Schwester. „Guten Morgen, Mariella“, begrüßte ich sie freundlich. „Will, bitte... ich konnte heute Nacht wieder nicht schlafen“, stöhnte sie müde. „Du MUSST was tun, und zwar nicht erst in einer Woche!“ „Kleines, beruhige dich doch erst mal. Du kennst doch unser Brüderchen, der brauch seine Zeit, um sich abzureagieren. Hab Geduld.“ „Das würde ich ja, wenn ich wüsste, dass er irgendwo als Adler durch die Gegend fliegt, aber das tut er nicht.“ Ich sah mich kurz um, vergewisserte mich, dass niemand in der Nähe war. Ich hatte Leah nicht erzählt, dass mein Bruder Menschen auf dem Gewissen hatte und wollte dies auch zunächst für mich behalten. „Hat er wieder jemanden umgebracht?“, flüsterte ich. Mariella verneinte. „Nein“, sagte sie und ich merkte, wie ihre Stimme langsam brach. „Will, Nahuel ist hier.“ Es mochte für andere wie ein Code klingen, für mich war es ganz eindeutig. Nahuel war immer nur dann gekommen, wenn es im Auftrag der Volturi war oder wenn es etwas mit ihnen zu tun hatte. „Er ist freiwillig zu ihnen gegangen“, fuhr meine Schwester zitternd fort. „Nahuel sagte, dass er vermutet, dass Ani innerhalb kurzer Zeit seine bisherigen Bindungen komplett verlieren wird.“ „Aber er hat doch sein Schutzschild“, sagte ich, obwohl ich wusste, dass dieses nur mental funktionierte und dazu nicht mal wie bei unserer Großmutter automatisch. Er musste es gezielt aufrecht erhalten. Ich erinnerte mich daran, dass sein Schutzschild einfach verschwand, wenn er zu sehr abgelenkt war. Wenn sie ihm körperliche Schmerzen zufügen würden, war ich mir sicher, dass er nicht mehr in der Lage sein würde, seinen Schild zu halten. „Also gut“, versprach ich meiner Schwester. „Gib mir zwei Tage, dann bin ich mit Anthony wieder in Irland.“ - Ende Kapitel 05 - --------- Noch eine Info zum Gewinnspiel Der Charakter Alerio gehört Gewinnspielgewinnerin Kaylinne. Ursprünglich wollte ich beide Gewinnspielcharaktere einbaun, der Zweite hat es jetzt aber nicht mehr in den Kontext geschafft und wird daher im Nächsten auftauchen. Da ich euch aber nicht mehr länger auf die Folter spannen will, sag ich jetzt direkt, dass es sich um den Charakter Gabriela Del Arte von Shila handelt. =) --------- Kapitel 6: Missionen -------------------- Disclaimer: => Ich verdiene kein Geld mit meiner Fanfiction. => Alle Charaktere die schon in den Twilight-Bänden ihren Auftritt hatten, gehören Stephenie Meyer. Alle Anderen, wie etwa Schüler, Lehrer und vor allem Renesmees und Jakes Kinder, habe ich selbst erfunden. Weitere Infos zur FF, Trailer, Cover & mehr http://www.renesmee-und-jacob.de.vu http://www.chaela.info --------- Kapitel 6 Missionen „Na?“, sagte Sam provozierend, als ich mich an den Tisch in der Kantine setzte. „Ist deine Mission 'Blutdurst' gescheitert?“ Ich schenkte ihm nur einen müden Seitenblick. „Das war wirklich eine Schnapsidee“, kommentierte seine Zwillingsschwester. Ich rümpfte die Nase. „Ich weiß.“ „Na ja...“, schlug Jason, ein junger Halbvampir mit schwarzem Haar ein anderes Thema an. „Und was machen wir heute?“ Was darauf folgte waren lautes Gegacker und Gelächter darüber, was man heute unternehmen sollte. Mir war es hier unten bereits jetzt schon zuwider. Ich fragte mich, wie lange die hier unten schon lebten und wie sie es hier aushielten. Wenn man hier jahrelang herumhing, musste einem dann nicht auch mal selbst die Sporthalle aus dem Hals raus hängen? Oder das immerzu fade Essen in der Kantine? Oder die Filme und Bücher in den Regalen? „Na, Anthony“, sprach Sam wieder mich an. „Wie sieht's aus? Kommst du mit?“ Ich überlegte kurz, konnte aber beim besten Willen nicht sagen, dass ich auch nur ein Wort von dem gehört hatte, was um mich herum eben gesagt wurde. „Wohin?“ „Na, in die Sporthalle.“ Ich schüttelte den Kopf. „Heute nicht.“ Sam zuckte mit den Schultern. „Okay. Man sieht sich. Kommt Leute.“ Dann stand Sams ganze Clique auf und verließ die Kantine in Richtung Sporthalle. Als ich sie so rausgehen sah, stellte ich fest, dass ich bisher viel zu wenig hinterfragt hatte. Ich war jetzt eine Woche hier und wusste noch so gut wie gar nichts über diesen Ort. Ich wusste, dass die Halbvampire hier unten waren und die Vampire dort oben. Mehr nicht. Aber warum? Und wie lange schon? Wenn ich so das Verhalten von Samuels Trupp beobachtete, konnten sie geistig nicht älter als sechzehn sein. Gut möglich, dass sie körperlich nur ein paar Jahre alt waren. Ich blieb noch eine Weile auf meinem Platz und beobachtete die Personen, die die Kantine betraten und wieder verließen. Sie waren alle ausnahmslos jung und schön. Kein Zweifel, dass bei jedem von ihnen etwas Vampir mit schwang. Etwa drei Tische von mir entfernt, saß fast zwei Stunden lang ein Pärchen, dass mir irgendwann ins Auge stach. Allerdings machten sie nicht mit wilden Küssen auf sich aufmerksam, im Gegenteil, sie machten mir etwas bewusst, was mir vorher nicht aufgefallen war. Ich hatte in der ganzen Zeit, die ich hier war, kein einziges verliebtes Pärchen oder auch nur kleine Andeutungen mitbekommen. Auch das Pärchen in der Kantine saß da wie zwei Schulkameraden. Gut möglich, dass sie das auch waren, aber was war mit den Anderen? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass bei der Dichte an jungen hübschen Personen keine Spannungen entstanden. Langsam machte mich das Nachdenken verrückt. Ich stand auf, um mir noch einen Kaffee zu holen. Vorn am Automaten, wartete ich darauf, dass die Maschine den Becher freigab, als ich hörte, wie die etwas fülligere Menschenfrau hinter dem Tresen zu sprechen begann. Bisher hatte ich sie nur übliche Floskeln sagen hören. So was wie 'Guten Morgen' oder 'Darf's noch mehr sein?'. „Na wie geht’s uns beiden denn heute?“, fragte sie sanft und freundlich. Sie sah nicht nur so aus, sondern sie hörte sich auch so an, wie die typischen dicklicheren freundlichen Muster-Mütter oder Omas. Als ich aber sah, mit wem sie sich unterhielt, wäre mir beinahe mein Kaffeebecher, den ich eben in die Hand genommen hatte, aus der Hand gerutscht. Vor ihr stand ein junges Mädchen mit kinnlangen schwarzen Locken, deren Babybauch man nicht übersehen konnte. „Gut“, antwortete sie lächelnd. „Es ist jetzt sicher bald so weit.“ „Das freut mich“, sagte die Kantinenfrau. „Dann wünsche ich guten Appetit mit deiner Sonderportion.“ Das Mädchen lachte. „Danke, Martha.“ Ich nippte kurz an meinem Becher und beobachtete, wie sie sich, in der hintere Ecke der Kantine, auf eine mit rotem Stoff bezogene Bank setzte. Sie aß gemächlich ihren Teller leer und nahm gelegentlich einen Schluck Wasser. Es waren die sanften, kleinen Bewegungen, die so fließend ineinander übergingen und ihre Schönheit, die sie als Vampir kennzeichneten. Das Leben in ihrem Bauch jedoch und die zwei schlagenden Herzen, deuten auf das Menschliche in ihr hin. Das Mädchen schien mit ihrer Welt zufrieden zu sein. Zumindest machte es auf mich den Anschein. Immer wieder strich sie sich über den Bauch. Ihr lag durchwegs ein kleines, zartes Lächeln auf den Lippen. Ich konnte keine Frustration über ihre Lage in ihrem Gesicht erkennen. Oder aber sie verbarg sie sehr gut. Als sie mit ihrer Mahlzeit fertig war, kam die Kantinenfrau und nahm ihr Tablett mit. Sie musste nicht, wie wir anderen, zum Geschirrwagen gehen und ihr dreckiges Geschirr abgeben. Wenn ich mit ihr reden wollte, dann war jetzt die letzte Möglichkeit dazu. Ich erhob mich, machte mich unsichtbar und flitzte anschließend zur Tür, wo ich mich wieder sichtbar machte. Während sie sich verabschiedetet, tat ich so, als wolle ich gerade zufällig im selben Moment die Kantine verlassen und zog ihr zuvorkommend die Tür auf. Sie nickte mir zum Dank zu und trat hindurch. Ich hatte eigentlich gedacht, dass sie gleich weiterlaufen würde, aber sie wartete, bis ich die Tür hinter mir geschlossen hatte. „Gibt es neue Anweisungen für mich?“, fragte sie unterwürfig. Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. „Bitte?“, hakte ich nach. Das Mädchen hielt sich den Bauch und trat langsam näher. Sie musterte mich einen Moment, dann hob sie sich die Hand vor den Mund. „Oh, Verzeihung. Ich hatte dich für einen Vampir gehalten, wegen den... wegen den...“ „... wegen den Augen, ich weiß“, beendete ich lachend ihren Satz, froh darüber, einen Anfang für ein Gespräch mit ihr gefunden zu haben. „Schon in Ordnung. Wann ist es denn so weit, wenn man fragen darf?“ Das Mädchen mit den schwarzen Locken strich sich lächelnd über den Bauch. „Schon sehr bald, denke ich.“ Sie sprach sehr langsam, jedoch klar und deutlich. Ihre Stimme war freundlich, fast mehr wie ein Flüstern, jedoch aufrichtig. Sie wollte gerade wieder gehen, da ergriff ich rasch das Wort. „Soll ich dich zu deinem Zimmer begleiten? Ich meine, in freudiger Erwartung, sollte man doch so schwere Türen nicht allein öffnen und nicht allein durch die Gänge streifen.“ Sie kicherte. „Das ist lieb“, sagte sie. „Aber wir wissen doch beide, dass das nicht geht.“ „Nicht?“, fragte ich lächelnd. Ich versuchte die Balance zwischen Unwissenheit und meinem Schauspiel zu halten. Sie durfte nicht merken, dass ich eigentlich keinen blassen Schimmer hatte, was hier vor sich ging. Auch wenn mir mein Bauchgefühl sagte, dass Samuels Clique nicht viel mehr wusste als ich. „Aber ja“, sagte sie leise. „Mädchen haben ihren Bereich, Jungen haben ihren Bereich. Das hat man uns doch allen beigebracht.“ „Oh“, sagte ich. „Verzeihung. Ich bin noch nicht so lange hier.“ „Dann weißt du es jetzt ja“, stellte sie fest. „Na dann... ich muss jetzt weiter. Einen schönen Tag.“ Und dann ging sie davon. Ich überlegte einen Moment, dann machte ich mich unsichtbar und folgte ihr. Einen kleinen Anflug von Nervosität konnte ich schon in mir aufkeimen spüren. Ich konnte jedoch nicht sagen, ob das daran lag, dass ich nach so kurzer Zeit schon wieder etwas Verbotenes tat oder daran, dass ich mir vorkam, als ginge ich in der Schule auf die Mädchentoilette. Einige dunkle Gänge weiter kamen wir irgendwann zu einer kleinen Treppe mit fünf Stufen. Auf der leicht erhobenen Etage befand sich eine Tür, hinter der wieder Wände mit Stahltüren lagen. Wenn ich es nicht besser wüsste, hätte ich gesagt, dass wir im Kreis gelaufen waren, denn hier sah es genauso aus wie in der unteren Männerebene. Die Türen waren ebenfalls mit 600er Zahlen beschriftet und das schwangere Mädchen verschwand in der 678. Dieser Ort wurde mir immer suspekter. Ich ging weiter an den Türen vorbei. Jede von ihnen nur durch eine individuelle Nummer von den anderen unterscheidbar. Nirgendwo lag auch nur der kleinste Krümel auf dem Boden. Hinter manchen Türen konnte ich vereinzelt Stimmen hören, aber ich hörte nichts heraus, was von Bedeutung hätte sein können. Ich wollte gerade wieder gehen, da vernahm ich eine sich öffnende Tür und drehte mich um. Vor Überraschung hätte ich beinahe meinen Schutzschild außer Acht gelassen: Vor mir stand das brünette Mädchen mit den roten Augen. Mit ihrem goldenen Schlüssel schloss sie die Tür hinter sich sorgsam ab. Ehe sie jedoch weiter ging, horchte sie einen Moment. Kurz trafen sich unsere Blicke und sie rührte sich nicht. Mein Herz schlug schneller. Ich war mir sicher, dass sie ahnte, dass sie nicht allein hier war. Ob sie wusste, dass sie mir direkt in die Augen sah? Ich überlegte, ob ich mich ihr zeigen sollte, entschied mich dann jedoch dagegen. Rasch drehte ich mich um und verließ den Mädchenbereich. Wie ein gehetztes Tier flüchtete ich fast vor dem was eben passiert war. Eilig steckte ich den Schlüssel ins Schloss meiner Zimmertür und erst als ich ihn drehen wollte, stellte ich fest, dass sie bereits offen war. Verwundert riss ich die grüne Tür auf und betrat das Zimmer. In dem Moment, in dem ich Nahuel dort stehen sah, wurde ich wieder sichtbar. Er musterte mich von oben bis unten. Sein Blick wurde fragend, fast entsetzt. „Was ist los? Was ist passiert?“, fragte er, wahrscheinlich alarmiert von meiner heftigen Atmung und dem verwunderten Blick. Ich schluckte. „Nichts.“ „Schließ bitte die Tür“, bat er. Ich schloss die schwere Tür und noch ehe ich mich wieder umdrehen konnte, ergriff er erneut das Wort. „Hast du in den letzten Tagen begriffen, dass das hier kein Ort für dich ist?“ Ich überlegte einen Moment. „Ich habe zumindest begriffen, dass es hier nicht mit rechten Dingen zu geht.“ Nahuel stützte die Hände an dem kleinen Tisch in unserem Zimmer ab und seufzte. Ich trat näher. „Was ist das für ein Ort? Ich meine, was geht hier vor? Woher kommen all diese Halbvampire? Die Kantine? Die Sportanlage? Was soll das alles?“ Er drehte seinen Kopf wieder zu mir. „Es ist besser für dich, wenn du einfach gehst, solange du noch kannst.“ Ich verdrehte kurz die Augen. „Ich denke, es ist besser für mich, wenn du den Mund aufmachst und mir meine Fragen beantwortest.“ „Nein, Anthony!“, fuhr Nahuel mich nun fast an. „Warum?“, fuhr ich zurück. „Weil dir die Antworten nichts bringen werden. Außer neue Fragen. Du hilfst diesen Lebewesen hier am meisten... wenn du gehst.“ „Aber-“ Weiter kam ich nicht, da öffnete sich plötzlich die Tür hinter uns. Im Türrahmen stand ein junger Vampir. Er wirkte fast wie ein Kind, kaum Fünfzehn, mit roten Augen und braunem Haar. „Alec“, sagte Nahuel. Alec nickte. „Aro wünscht euch zu sprechen. Beide.“ Mein Blick wanderte von dem Jungen zu Nahuel und auch er sah mich an, so als wollte er sagen 'zu spät'. *** Den ganzen Weg zum Thronsaal über sprach keiner von uns ein Wort. Nahuel und ich folgten einfach nur Alec. Im Thronsaal selbst stellte sich Alec neben ein Mädchen, das ebenso jung wie er aussah. Auf den drei Thronen saßen wie gewohnt, die drei, von denen ich annahm, dass sie die Oberhäupter der Volturi waren. Aro in der Mitte, Caius zu seiner Linken und ein dritter, dessen Name ich noch nicht kannte, mit schulterlangem schwarzen Haar, zu seiner Rechten. „Nahuel“, sagte Aro freudig und klatschte einmal in die Hände. „Wie ich hörte, hast du deinen letzten Auftrag sorgsam ausgeführt.“ Nahuel nickte. „Ja, Meister. Der Jungvampir, zu dem Ihr mich schicktet, wird das Geheimhaltungsabkommen nie mehr gefährden.“ „Das ist schön“, antwortete Aro zufrieden. Er machte ein paar Schritte nach vorn. „Du arbeitest sehr gewissenhaft und sorgfältig, Nahuel.“ „Danke, Meister.“ Kurz vor Nahuel blieb Aro stehen. „Deine nächste Aufgabe... wartet bereits auf dich, mein Lieber.“ Nahuel sah unterwürfig zu Boden. „Es wird mir ein Vergnügen sein.“ „Oh, das denke ich“, antwortete sein schwarzhaariges Gegenüber. „Denn du wirst sie nicht allein erledigen müssen.“ Nahuels Augen sahen nun hinüber zu mir. „Unser Neuzugang wird dich begleiten“, kommentierte der Anführer. „Ich habe verstanden“, sagte Nahuel. „Oh“, fügte Aro noch hinzu. „Das ist aber noch nicht alles.“ Nahuel sah nun etwas verwundert zu seinem Meister empor. Indes lächelte Aro entzückt. „Wie heißt es nicht... 'alle guten Dinge sind drei'?“ Ganz so, als sei dies ein Stichwort gewesen, öffnete sich eine der Seitentüren. Ich musste mich ziemlich zusammenreißen, damit mir nicht der Mund aufklappte. Aus der Dunkelheit hinter der Tür betrat das Mädchen mit den roten Augen den Thronsaal. Mein Blick fiel rasch zurück auf Nahuel, dessen Augen sich geweitet hatten und der im Bruchteil weniger Sekunden von dem Mädchen zu Aro sah und zurück. Sie stellte sich neben Aro. Ihr Mantel war vom selben tiefen Schwarz wie dessen Robe und ihr hübsches Gesicht zierte ein sanftes Lächeln. An ihrem Hals hing eine Kette mit dem Wappen der Volturi. Genauso eine, wie alle hier im Raum sie trugen. Aro strich kurz mit der Hand über ihr langes braunes Haar, dann faltete er wieder die Hände. „Sangreal wird euch begleiten.“ Das Mädchen lächelte Aro sanft an. Ich konnte nichts Böses oder Falsches in ihrem Blick sehen, ihr Lächeln wirkte aufrichtig und doch schien Nahuel sich zu einem Lächeln als Antwort regelrecht zwingen zu müssen. „Wie lautet unsere Aufgabe?“, fragte er nun nach. Aros rote Augen wanderten zur Seite und blieben auf einem Punkt haften, der nicht mehr in meinem Blickfeld lag. Als nächstes vernahm ich Schritte. Das kindliche blonde Vampirmädchen kam zu uns. Anstatt sich jedoch neben Sangreal zu stellen, begab sie sich zu dem kleinen Spalt zwischen den beiden. Die Halbvampirin lächelte nur kurz und machte dann Platz. Die Blonde funkelte sie kurz an und lächelte dann ebenfalls, ehe sie sich uns widmete. „Manche von Unseresgleichen scheinen es mit der Geheimhaltung nicht so wichtig zu nehmen, wie sie es sollten“, begann sie zu erklären. Ihr Ton war vornehm, jedoch hochnäsig. „Einige gehen dabei sogar besonders dreist vor. Obgleich sie die Regeln kennen und um unsere Existenz wissen, missachten sie sie dennoch. Das kommt einer Verspottung gleich und soll dementsprechend geahndet werden.“ Am liebsten hätte ich gesagt, sie solle mal zum Punkt kommen, aber Nahuel hörte ihr aufmerksam zu und ich entschied, dass es wahrscheinlich klüger war, sie einfach ausreden zu lassen, anstatt mich erneut in Schwierigkeiten zu bringen. „Aro wünscht, dass ihr drei nach Mauritius fliegt. Wir haben die Vermutung, dass dort ein Vampir ist, der sich frei unter der Sonne bewegt und diese Eigenschaft nutzt, um bei den Menschen als 'Attraktion' bewundert zu werden. Er ist töricht genug zu glauben, dass wir ihm nichts anhaben können.“ „Was – selbstverständlich – nicht der Fall ist“, fügte Aro nun hinzu. „Vielen Dank für deine Erläuterung, liebste Jane“, meinte er zu dem Mädchen und berührte sie kurz an der Schulter. Sie nickte und zog sich dann zurück. „Unserem Kenntnisstand nach hat die Sonneneinstrahlung keinerlei Wirkung auf euch drei“, fuhr Aro fort. „Es sollte für euch also kein Problem sein unseren lieben Artgenossen aufzuspüren. Verhaltet euch während eures Aufenthalts diskret. Wir wollen kein Aufsehen erregen.“ „Natürlich, Meister“, antwortete Nahuel. Aros rote Augen wanderten hinüber zu dem braunhaarigen Mädchen. Sie lächelte und nickte. Dann wand er sich mir zu. Ich überlegte kurz, ob ich etwas sagen sollte, zog es dann jedoch vor ebenfalls zu nicken. „Wir erwarten eure baldige Rückkehr“, sagte Caius. Ein falsches Lächeln huschte über sein Gesicht und ich spürte eine Abneigung in mir hochsteigen, wie ich sie sonst noch nie bei jemandem gespürt hatte. Es kam mir so vor, als würde ich ihn schon ewig hassen, dabei hatte ich ihn erst zweimal gesehen. Nahuel nahm mich am Arm und zog mich wieder fort. „Und was machen wir jetzt?“, fragte ich, als wir schnellen Schrittes durch die unterirdische Anlage von Volterra liefen. „Packen und in den Flieger steigen“, sagte Nahuel entschlossen. „Welchen Flieger denn?“ „Glaubst du, die Volturi gehen zu Fuß auf Vampirjagd quer über den Erdball?“, fragte er, während er eine Tasche aus dem Schrank zog in die er ein paar Kleidungsstücke legte. „Darüber hab ich mir ehrlich gesagt keine Gedanken gemacht“, gab ich zu. Nahuel hob den Blick und sah mich an, ohne was zu sagen. Plötzlich ging die Tür auf und Sangreal betrat unser Zimmer. „Ein Shuttle steht in einer Viertelstunde für uns bereit“, sagte sie und gab quasi eine Antwort auf meine Frage. „Alles klar“, antwortete Nahuel und sah dann wieder zu mir. „Möchtest du nichts mitnehmen?“ Ich warf einen Blick auf seine Tasche und ging dann zum Schrank, um meine eigene zu holen. Ich hatte nicht sonderlich vieles raus genommen, und so konnte ich sie quasi einfach so mitnehmen, wie ich sie in Irland gepackt hatte. Dann ging alles ganz schnell. Wir begaben uns über einige unterirdische Tunnel zu einem kleinen Flugplatz außerhalb der Stadt, wo bereits ein Shuttle auf uns wartete. Mir war klar, dass das Personal in Kenntnis gesetzt sein musste, andernfalls würden die Volturi sich bei jedem einzelnen Flug verstellen müssen, worauf sie wahrscheinlich keine Lust hatten. Sie zogen es vor, kein Aufsehen zu erregen und im Verborgenen zu leben, anstatt unter den Menschen zu leben und sich anzupassen. Als ich aber feststellte, dass der Pilot ein Vampir war, während es sich bei der Flugbegleitung um Menschen handelte, war ich doch etwas stutzig. Aber wahrscheinlich war es sinnvoll, jemanden ein Flugzeug fliegen zu lassen, der die übernatürliche Präzision eines Vampirs hatte und darüber hinaus niemals schlafen musste. Der Flug dauerte knapp zehn Stunden. Die ersten paar Stunden saß ich meistens herum und starrte hinaus auf die Wolken. Ich war bisher nur dann geflogen, wenn wir von unserem aktuellen Anwesen aus zu Will nach La Push wollten, nie irgendwo anders hin. Es würde seltsam werden, an einen Ort zu kommen, wo es fast 30 Grad hatte und die Sonne vom Himmel knallte. Als es Nacht wurde und ich aufgrund der Spiegelung nichts mehr draußen sehen konnte, war Nahuel bereits im hinteren Teil des Flugzeugs eingeschlafen und Sangreal kam gerade von der Toilette. Ich wartete ein paar Minuten, dann setzte ich mich neben sie. „Na?“, fragte ich. „Nicht so müde wie Nahuel?“ Sangreal lachte leise und schüttelte den Kopf. Mehr sagte sie nicht dazu, und das warf bei mir Fragen auf. Ich erinnerte mich daran, dass Aro bei meiner Ankunft gefragt hatte, ob ich schlafen musste und mich dann in den Halbvampirbereich zu Nahuel geschickt hatte. War sie im Thronsaal gewesen, weil sie nicht schlief? „Aber schlafen tust du, oder?“, hakte ich vorsichtig nach. Zu meiner Verwunderung nickte sie. „Ja, aber ich bin gerade etwas zu nervös, um zu schlafen.“ „Nervös?“ Erneutes Nicken. „Das ist mein erster Flug.“ Wieder war ich verwundert. Ich hatte eigentlich gedacht, die Volturi würden Nahuel und sie häufiger auf kleinere und größere 'Missionen' schicken. Dem war wohl nicht so. „Ich fliege auch nicht so oft... zumindest nicht mit einem Flugzeug“, antwortete ich spielerisch und stellte einige Sekunden später fest, dass ich mich verplappert hatte. Zügig fuhr ich fort, damit sie nicht weiter nachhaken konnte. „Aber das Hauptquartier verlässt du schon ab und zu, oder?“ „Selten“, antwortete sie. Und ich hatte geglaubt, ich war eingesperrt gewesen, weil ich bis zum Ende meines Wachstums keine Schule besuchen konnte. „Du bist wahrscheinlich immer unterwegs?“, wollte sie nun von mir wissen. Ich lachte. „Nun... na ja... schon, aber meine Familie hätte sich wahrscheinlich gewünscht, ich hätte mich weniger herumgetrieben und hätte ihnen öfter Gesellschaft geleistet.“ „Familie? Dein Zirkel?“, wollte sie genauer wissen. Ich nahm an, dass sie so sehr in die Hierarchie der Volturi eingebunden war und nur diese kennengelernt hatte, dass sie gar nicht richtig wusste, was eine Familie war, und das stimmte mich traurig, weil ich es hatte kennenlernen dürfen. „Nein“, erklärte ich. „Meine Familie. Meine Mutter, mein Vater, meine Geschwister, Tanten und Onkel, Großvater und Großmutter.“ „Ach so“, sagte sie leise, fast etwas bedrückt. Ich überlegte gerade, was ich als nächstes fragen könnte, um sie etwas abzulenken und aufzuheitern, doch sie kam mir zuvor. „Ich würde mich dann nun doch gern ein wenig schlafen legen.“ Ich war einen kurzen Augenblick etwas überrumpelt und bekam ein schlechtes Gewissen, weil sie wahrscheinlich gar nicht müde war, sondern ihre plötzliche Müdigkeit daher rührte, dass sie nicht mehr mit mir reden wollte. „Schlaf gut“, sagte ich kurz und begab mich dann wieder zum hinteren Teil des Flugzeugs, wo noch immer Nahuel schlief. *** Mauritius war eine Sonneninsel. Jedes Bild, das ich sah, egal, ob es der strahlende Himmel war, das tiefblaue glasklare Wasser, die Palmen oder der Sandstrand, alles wirkte, wie direkt einem Reiseprospekt entsprungen. Das Meer sah aus, als könne man noch Meilenweit hinein laufen, ohne den Boden unter den Füßen zu verlieren. Wir quartierten uns in einem Bungalow ein, wobei jeder von uns ein eigenes Schlafzimmer bekam. Ich empfand es als durchaus angenehm, wieder mehr Privatsphäre als in Volterra zu besitzen, wenn auch nur für die Zeit unseres Aufenthalts. Und der war leider so kurz wie möglich angesetzt. Bereits am Abend unserer Ankunft, saßen wir im großen Wohnbereich unseres Bungalows und berieten uns, wie wir die Sache angehen sollten. „Also“, begann Nahuel offensichtlich in dem Versuch seiner „Führungsposition“ gerecht zu werden, „wir haben leider nur sehr wenig Informationen.“ „Genau genommen...“, lenkte ich ein. „Haben wir fast GAR KEINE Informationen.“ Nahuel sah etwas angefressen drein. Ich erhaschte jedoch einen kurzen Seitenblick auf Sangreal, über deren Gesicht ein kleines Lächeln huschte. „Wir wissen, dass er auf der Insel gesehen wurde, und dass er hier sein Geld damit verdient, dass er im Sonnenlicht glitzert.“ „Das muss uns als Information genügen, Anthony. Die Volturi kriegen selten detaillierte Beschreibungen der Straftäter und doch ist mir kein Fall bekannt, bei dem jemand nicht zur Verantwortung gezogen wurde.“ „Apropos...“ sagte ich. „Wo wir bei der Verantwortung wären.“ Ich beugte mich etwas weiter über den Tisch in unserer Mitte. „Wie genau, sieht denn diese 'gerechte Strafe' aus?“ Nahuel hob den Blick und sah mir mit seinen dunklen Augen direkt in die Meinen. „Tod.“ „Und wenn wir ihn dazu bewegen, die Diskokugel-Nummer bleiben zu lassen?“ Nahuel lachte mit einem leichten Anflug von Hohn. „Die Volturi geben keine zweiten Chancen. Er hat gewusst, was er tat. Es hat ihn nicht interessiert, ob er damit andere Vampire gefährdet.“ Nahuel wollte aufstehen und gehen, aber ich nahm ihn am Ärmel. „Ich dachte eigentlich immer, du seist anders.“ Nahuel zog seinen Arm zurück. „Bin ich auch. Ich wähle meine Seiten, wann immer ich es für richtig halte und vertraue nicht blind stets nur einer davon. Manchmal ist es gut, was die Volturi tun und manchmal... ist es schlecht.“ Die nächsten Tage verhielten wir uns wie normale Touristen, die den kalten Wintern in ihrer Heimat entfliehen wollten. Nahuel fand es überzogen, aber ich hatte ihn und Sangreal dazu überredet, zumindest einen Teil der angebotenen Freizeitaktivitäten mitzumachen. Mein Argument, die Anweisung der Volturi habe doch geheißen, wir sollten uns unauffällig verhalten und dass teilnahmslose Touristen durchaus auffallen würden, hatte gezogen. Und so saß ich am Nachmittag des dritten Tages mit Sangreal doch tatsächlich im Spa-Bereich. Sie würde es sicherlich nie vor Nahuel zugeben, aber sie genoss ihren „Urlaub“, wo sie nur konnte. Ein Weilchen saßen wir einfach nur im warmen Wasser unseres kleinen Pools. Sie auf der einen Seite und ich auf der ihr gegenüberliegenden. „Und? Ist die Temperatur angenehm, schöne Frau?“, begann ich vorsichtig mit ihr zu flirten. Sie lachte leise. „Wahrscheinlich nicht so warm, wie sie sein sollte.“ Ich zuckte mit den Achseln. „Ist ein bisschen blöd, wenn sich für einen alles kälter anfühlt als für die meisten anderen Menschen.“ Sangreal nickte zustimmend. „Aber...“, fuhr ich fort und hob den Zeigefinger. „Hätte sich unser glitzernder Kollege stattdessen eine alpine Schneehütte für seine Lichtshow ausgesucht, wären wir gut weggekommen.“ Jetzt lachte sie wieder. „Ich glaube, wir sind auch so gut weggekommen. Ich meine, wann kriegt man schon die Möglichkeit, SO was zu sehen?“ „Wenn ich hätte wollen, hätte ich das sicher öfter sehen können“, antwortete ich, hätte mich aber im nächsten Augenblick gern selbst geschlagen, weil sie nun wieder etwas traurig wirkte. „Aber hey“, versuchte ich die Situation zu retten. „Vielleicht kriegen wir ja nun öfter solche Aufgaben, immerhin sind wir die einzigen Mitglieder, die dafür in Frage kommen... abgesehen von den drei Dutzend anderen Halbvampiren... natürlich.“ Sangreal schüttelte sachte den hübschen Kopf. „Nein, wir sind die einzigen.“ „Warum?“, wollte ich wissen. Ich roch förmlich, dass hier eventuell Informationen zu erhaschen waren, die mir sonst verwehrt waren, musste jedoch vorsichtig sein und durfte den Bogen nicht überspannen. „Die meisten anderen Halbvampire verlassen das untere Stockwerk nicht. Nur ein paar von ihnen sind gut genug, sagt Aro.“ Ich wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, aber ich hatte nicht das Gefühl, dass sie es wusste. Sie machte auf mich eher den Eindruck, als würde sie das hinnehmen, was die Volturi ihr erzählten und einfach so in den Tag hinein leben. In mir verspürte ich den Drang, sie aus ihrer Situation zu befreien, denn obwohl sie mehr Freiheiten zu genießen schien als die anderen Halbvampire, war sie doch eine Gefangene. Das Mädchen sah traurig dem Wasser zu, wie es im Pool kleine Wellen schlug. Ich rückte vorsichtig näher an sie heran. Einen Augenblick zögerte ich noch, weil ich Angst hatte, sie würde mich abweisen, dann legte ich meine Hand vorsichtig an ihr Kinn und hob es langsam an. „Hey!“, kam es dann plötzlich von rechts und ich rutschte etwas erschrocken zurück zu meinem Platz. Auch sie sah ziemlich perplex drein und sah nun Nahuel an, wie er auf uns zu kam. Nahuel kniete sich neben unseren Pool und sah zu uns hinab. „Genug gebadet. Ich glaube, ich hab ihn gefunden.“ Und tatsächlich. Der Vampir, den wir seit drei Tagen suchten, befand sich in einer anderen Hotelanlage, wo er als Animateur die Menschen mit seiner Show unterhielt. Diese beinhaltete bei Veranstaltungen bei Tageslicht eben auch seine „Special-Effects“, die die Menschen begeisterte. Nahuel hatte Gesprächsfetzen von einer kleinen Reisegruppe aufgeschnappt und ihn so gefunden. Wir entschlossen uns dazu, ihn nicht bei Tageslicht anzugreifen, sondern entschieden uns für die Nacht. Noch am selben Abend, hatte „Lightning Joe“ (was für ein bekloppter Name) eine Vorstellung. Wir sahen uns das Theater keine fünf Minuten an, dann begaben wir uns zum Umkleidebereich der Animateure. Da wir ohne Ausweis keinen Zutritt bekommen würden und wir keine weiteren Opfer fordern wollten, mogelte ich mich unsichtbar in Joes Zimmer. Knapp zweieinhalb Stunden nach meinem Eintreffen, schaffte es der werte Herr auch mal dort hin. Er hatte ein längliches, schlankes Gesicht, einen eher schmächtigen Körper und kinnlange blonde Haare. Normalerweise war ich nicht sonderlich auf Dramatik fixiert, aber ich erlaubte mir diesmal den Spaß ihn zu beobachten, wie er sich im Spiegel ansah und dann plötzlich in seinem Spiegelbild aufzutauchen. Obwohl er ein Vampir war und eigentlich über übernatürliche Phänomene bestens in Kenntnis gesetzt sein müsste, zuckte er doch kurz zusammen. „Guten Abend, Joe“, begrüßte ich ihn. Da ich eine Sonnenbrille trug, konnte er meine Augen nicht sehen. „W-was willst du?“, stotterte er etwas. Zweifelsohne spürte er, dass hier etwas nicht stimmte. Ich nahm meine Brille ab. Die roten Augen sprachen für ihn Bände und er wich zurück und fauchte. „Nein, das ist nicht möglich. Die Sonne. Das geht nicht.“ „Warum sollte das nicht gehen?“, flüsterte ich fast. „Du scheinst die Sonne ja zu mögen.“ „J-ja... aber ich...“ „... kümmere mich einen Scheiß um die Regeln?“ Er knurrte zur Antwort. „Du machst mir keine Angst“, sagte ich unbeeindruckt. Und dann fegte er auf mich zu. Ich wich gerade noch so aus, als er mit gefletschten Zähnen auf mich losging. Er stieß sich jedoch an der Wand ab und versuchte erneut, mich zu fassen zu kriegen. Wieder wich ich aus und er knallte mit dem gesamten Körper gegen die Spiegelwand, die daraufhin zerbrach. Im nächsten Augenblick griff er rasch nach einigen größeren Splittern und schleuderte sie mir entgegen. Ein Paar trafen mich. Die scharfen Kanten schnitten Furchen in mein Shirt und anschließend in meine Haut, doch die Schnittwunden heilten fast so schnell, wie sie gekommen waren und Glitzer-Joe sah mich mit großen Augen an. „W-was bist du?“ „Ich denke, das brauch dich nicht mehr länger zu interessieren.“ Ganz so, als sei das ein geheimes Stichwort gewesen, raste der Vampir plötzlich zur Tür hinaus. Ich folgte ihm und stellte kurze Zeit später fest, dass Nahuel und Sangreal es mir gleich getan hatten. Joe raste hinunter zum Strand, wahrscheinlich in der Annahme, über das Meer fliehen zu können, doch Nahuel holte ihn ein, packte ihn und drückte ihn zu Boden. Der Vampir jedoch griff mit beiden Händen seinen Unterarm und zog so wuchtig an ihm, dass er Nahuel mit einem Überwurf zu Fall brachte und anschließend auf ihn einschlagen konnte. Ich sah gerade noch, wie Sangreal nun auf den Vampir losgehen wollte, aber kaum am Ort des Geschehens eingetroffen, schob ich sie zur Seite und zog den Vampir von Nahuel weg, der sich daraufhin sofort wieder aufrappelte. Es mochte eine Tatsache sein, dass Halbvampire nicht die Kraft eines vollwertigen Vampirs hatten, aber es war ebenso eine Tatsache, dass er allein war, während wir im Team kämpfen konnte. Und das Feuer, das anschließend am einsamen nächtlichen Strand loderte, war dann ebenfalls eine Tatsache. *** „Ihr habt gute Arbeit geleistet, meine Lieben“, lobte Aro unser Dreiergespann, nach unserer Rückkehr nach Volterra. „Obschon ich froh bin, euch wieder wohlbehalten in unserer Mitte zu wissen“, fuhr er mit einem sanften Lächeln fort, „muss ich euch direkt auf eure nächste Mission schicken.“ Erneut trat einer der Hexenzwillinge vor, wie Nahuel sie nannte. „Ihr werdet diesmal nicht so weit reisen und ihr werdet daher auch weniger Zeit zur Verfügung haben. Die Situation ist eine Ähnliche wie zuvor und erfordert daher dasselbe Durchsetzungsvermögen. Eure Reise führt euch nach Venedig. Im Gran Teatro La Fenice di Venezia sind zwei Vampire Teil der Vorstellung. Sie sind dreist genug ihre Mahlzeiten auf der Bühne zu sich zu nehmen und dies als Teil der Show zu deklarieren.“ Ich war nun wirklich nicht der Typ für Opern und hätte im Traum nicht daran gedacht, jemals in einer zu sitzen. Selbst als wir bereits in Venedig angekommen waren und das Wasser ringsherum plätschern hörten, ging ich davon aus, dass wir wieder die Umkleidekabinenmethode anwenden würden, bis unsere weibliche Begleitung mit einem Mal einen Umschlag raus zog. „Aro meinte, das würde uns helfen, die Situation einzuschätzen“, sagte sie und zog zwei Tickets aus dem roten Umschlag. „Nur zwei?“, fragte Nahuel skeptisch. Ich hob eine Augenbraue. Ich ahnte bereits, was jetzt kommen würde und spürte wie sich in mir alles verkrampfte. „Oh nein, ich werde garantiert NICHT mit DIR in die Oper gehen!“, sagte ich und hob abweisend die Hände. „Nicht, dass ich finde, dass du hässlich bist, aber eine weibliche Begleitung ziehe ich in jedem Fall vor.“ Nahuel verdrehte die Augen. „Wer sagt denn, dass die zweite Karte für dich ist?“ Er wand sich an Sangreal, die uns noch immer die Karten entgegen hob und dabei von Nahuel zu mir und zurück schaute. „Aro meinte die Karten dienen dazu, sich einen Eindruck zu verschaffen, richtig?“ Das Mädchen nickte sachte. „Gut, die beiden Vampire können wir auch noch später beseitigen. Es geht jetzt erst mal darum, sie einzuschätzen, und dazu reicht einer von uns aus.“ „O...kay...“, sagte ich langgezogen. „Momentchen, Momentchen...“, warf Sangreal nun ein. „Ich bin hier die Dame, sollte ICH mir meinen Partner für den Abend nicht selbst aussuchen können? Aro hat die Karten aus gutem Grund mir gegeben.“ Nahuel sah zur Seite und nuschelte dabei irgendetwas unverständliches, dann sah er wieder das Mädchen an. „Sangi...“ Sangreal sah ein bisschen leidend aus. „Sei mir nicht böse, Nahuel, du weißt, du stehst mir näher als irgendjemand sonst...“, ihr Blick wanderte zu mir, „aber bitte versuch zu verstehen, dass ich heute Abend das Unbekannte dem Altbekannten vorziehe.“ Nahuel schüttelte den Kopf und sah dann zu Boden. Sangreal hatte ihre Wahl getroffen und obwohl er damit nicht zufrieden war, akzeptierte er ihre Entscheidung. Allerdings nicht, ohne mir vorher noch eine ordentliche Warnung mit auf den Weg zu geben. Ich stand bereits im schwarzen Anzug in unserer Hotelsuite, als er mir gefährlich nah kam und mich anzischte. „Ich rate dir dringendst, die Hände von ihr zu lassen.“ „Was denkst du von mir? Seh ich so aus, als würde ich mir alles krallen, was nicht bei drei auf den Bäumen ist?“ Nahuel sah mich einen Moment von oben bis unten an, dann sagte er: „Definitiv.“ Ich grummelte und verschränkte die Arme. „Sangreal ist nicht irgendjemand und du siehst nicht so aus, als würdest du etwas anbrennen lassen, wenn du ein hübsches Mädchen siehst. Du weißt genau, wie du auf Frauen wirkst. Du kannst mir nichts vormachen“, erklärte er. „So wie du von ihr schwärmst, könnte man ja meinen, du würdest mich nur davon abhalten wollen, sie dir wegzuschnappen.“ Wieder verdrehte er die Augen. „Darum geht es nicht. Sie ist mir einfach nur wichtig. Außerdem sind wir verwandt.“ „Oh“, kommentierte ich. „Gut zu wissen.“ „Anthony!“, zischte er erneut und machte diesmal sogar Anstalten, mich am Kragen zu packen. Ich wich zurück. „Schon gut, schon gut!“ Als ich dann aber in der Hotellobby stand und meine Begleitung dort warten sah, wohl wissend, dass Nahuel nicht mehr in der Nähe war, stellte ich fest, dass es schwieriger werden würde, Nahuels Anweisung nachzukommen, als ich gedacht hatte. Sie hatte ihr langes Haar hochgesteckt, wobei einige Strähnen heraushingen und sich kunstvoll im Nacken kräuselten. Ihr Kleid war figurbetont eng, schmeichelte ihrer Silhouette und ging bis zum Boden, der vom selben kräftigen, angenehmen Rotton war. Als ich näher kam und sie zu mir hinauf sah und mich anlächelte, spürte ich etwas, was ich nie zuvor gespürt hatte. Meine Knie wurden weich und ein Kribbeln stieg in mir auf... - Ende Kapitel 6 - Kapitel 7: Der heilige Gral --------------------------- Disclaimer: => Ich verdiene kein Geld mit meiner Fanfiction. => Alle Charaktere die schon in den Twilight-Bänden ihren Auftritt hatten, gehören Stephenie Meyer. Alle Anderen, wie etwa Schüler, Lehrer und vor allem Renesmees und Jakes Kinder, habe ich selbst erfunden. Weitere Infos zur FF, Trailer, Cover & mehr http://www.renesmee-und-jacob.de.vu http://www.chaela.info --------- Kapitel 7 Der heilige Gral „Wollen wir dann?“, fragte ich leise und bot ihr meinen Arm zum Einhaken an. Meine hübsche Begleitung nickte sachte und nahm an. Zusammen traten wir hinaus in das nächtliche Venedig. Das Erste, was ich spürte, war, dass sie ihren Griff festigte. Es war zwar Winter, aber ich war mir recht sicher, dass die Kälte nicht der Grund dafür war. Im Augenwinkel beobachtete ich, wie sie sich umsah. Ein bisschen erinnerte sie mich dabei, in ihrer leichten Nervosität, an ein kleines Tier, dass immer Angst haben musste, von irgendwas Größerem verspeist zu werden. „Alles okay?“, fragte ich vorsichtshalber. „Ja“, antwortete sie sogleich, ohne aber zu fragen, warum ich diese Frage gestellt hatte. Nur fünf Gehminuten von unserem Hotel entfernt 'parkte' unsere Gondel. Als Sangreal merkte, dass ich auf den Kanal zusteuerte, blieb sie jedoch stehen. Ich sah sie fragend an. „Nahuel meinte, wir sollten zu Fuß zur Oper gehen.“ „Ach wirklich? Hat er?“, fragte ich gespielt und hob die Augenbrauen. Das Mädchen nickte etwas unsicher. „Die Gondel ist aber im Ticketpreis inbegriffen und was Aro uns spendiert, sollten wir nicht verschmähen, oder?“ Ihr Mund formte sich langsam zu einem hübschen Lächeln. Ich nahm das einfach mal als Zustimmung und stieg in die Gondel. „Buonasera signore e signori!“, begrüßte uns der Gondoliere freundlich. „Buonasera“, antwortete ich und half Sangreal beim Einstieg. Gut, sie war nur zur Hälfte Vampir, aber ihre Anmut und ihre Grazie kamen der eines vollwertigen Vampirs gleich. Ich hatte in Mauritius gesehen, wie schnell und stark sie sein konnte. Und doch half ich ihr, wie einem unbeholfenen ängstlichen Mädchen, in diese wacklige Gondel. Ich wusste selbst, wie bescheuert das eigentlich war, sah aber im selben Moment, dass sie sich über die Aufmerksamkeit freute und erhielt Bestätigung, als sie während der Fahrt nach meiner Hand griff und ich den seidenen Stoff ihrer Handschuhe über meinen Handrücken streicheln spürte. Bisher hatte ich den Anblick des Meeres, vor der irländischen Küste, für das Schönste gehalten. Egal, ob bei Tag oder Nacht. Inzwischen konnte ich zwar sagen, dass es wohl etwas schöneres gab, aber ich war nicht in der Lage zu sagen, was ich gerade so überwältigend schön fand. War es Venedig bei Nacht und der Vollmond, der sich im Kanal spiegelte oder war es das Mädchen neben mir, das in diesem Moment ihren Kopf auf meine Schulter legte? Leider legte die Gondel für meinen Geschmack viel zu früh an. Ich wäre gerne noch die nächsten zwei Stunden, die die Vorstellung dauern sollte, mit Sangreal in einer Gondel durch Venedig geschippert. Das Gran Teatro La Fenice di Venezia war das größte und bekannteste Opernhaus Venedigs und die Vorstellung, obgleich sicher einige Male aufgeführt, war brechend voll. Um eine gute Aussicht zu haben und den Gerüchten auf den Grund zu gehen, hatte Aro uns einen Platz auf einem der Balkone rechts neben der Bühne besorgt. So waren wir einige Meter über dem Geschehen. Die Handlung entsprach den üblichen Klischees: ein Vampir, wunderschön mit schwarzem langem Haar, verliebte sich in eine sterbliche wunderschöne brünette Dame. Die Familie des Mädchens, wohl wissend, dass ihr Geliebter übernatürlichen Ursprungs war und ganz sicher nichts Gutes im Schilde führte, wollte der Liebe der beiden ein Ende setzen und das Monster mit den üblichen Mitteln ins Jenseits befördern. Um der Trennung zu entfliehen, bat das Mädchen ihren Geliebten darum, sie ebenfalls zu einer Unsterblichen zu machen, auf das die beiden gemeinsam für immer zusammen sein könnten. Meine Begleitung starrte wie gebannt auf die singenden und tanzenden, sich liebenden Protagonisten auf der Bühne unter uns, während ich versuchte, die Vampire unter ihnen auszumachen und gespannt darauf wartete, dass sie die von den Volturi befürchtete Straftat begingen. Die große Dramatik des Stücks ging zwar auch von dem armen Mädchen, das versuchte seine Familie davon zu überzeugen, dass ihr Schatz kein blutsaugendes Monstrum war und den mit Heugabeln, Weihwasser, Kreuzen und Pflöcken umherirrenden Verwandten aus. Der Höhepunkt war aber dann doch der ersehnte Biss, welcher für Sangreal einfach nur ein dramatisches Ereignis zu sein schien, für mich war es allerdings dann doch der Grund, weswegen wir hier eigentlich saßen. Ich sah genau, wie sich die Zähne des Schwarzhaarigen in den Hals des Mädchens bohrten. Ich sah das rote Blut, dass aus ihren Adern quoll und in einem Rinnsal über ihre weiße Haut lief. Ich roch den süßlichen Duft, der von ihm ausging. Und mir wurde bewusst, dass ich mich seit Sangreals Blutbeutel nur von menschlicher Nahrung ernährt hatte. Meine Hände bohrten sich in die Brüstung des Balkons und der Vampir, der unten genüsslich am Hals seines Opfers saugte, hob kurz den Blick in unsere Richtung, ehe der Vorhang fiel. Für den Zuschauer blieb ungewiss, was mit dem Mädchen geschehen würde. Ob die Liebenden jetzt ein Leben zu zweit führen würden oder ob sie ein Opfer ihrer Liebe geworden waren. Für mich hingegen war ungewiss, wie viele Vampire hier tatsächlich waren, aber was mir noch viel größere Sorgen bereitete, war die Frage, ob wir vielleicht entdeckt worden sein könnten. Und da ich keine Lust darauf hatte, eine Antwort auf die harte Tour zu bekommen, nahm ich Sangreal, nach der Vorstellung, zügig an der Hand und zog sie vor die Tür. Als nächstes hörte man eine Weile nur das Klackern ihrer Schuhe auf dem Pflasterstein. „Warum nehmen wir denn nicht die Gondel?“, fragte sie, während wir eilig zurück zum Hotel liefen. „Das erklär ich dir, wenn wir wieder im Hotel sind.“ Doch die Erklärung folgte auf dem Fuß. Es ging so schnell und so plötzlich, dass ich nur spürte, wie Sangreals Hand aus der meinen rutschte. Anschließend nahm ich einen kurzen Luftzug wahr, ehe mein Rücken gegen die feuchte, raue Wand eines Hauses knallte. Als ich meine Augen aufschlug, blickte ich in die roten Augen eines Vampirs, dessen kalte Hand schwer auf meiner Brust lag und mich gegen das Gemäuer presste. Es war niemand, den ich zuvor in der Oper gesehen hatte, da war ich mir sicher. „Was wollt ihr?“, zischte mein Gegenüber. „Dasselbe könnte ich euch fragen“, antwortete ich barsch. „Nanu?“, sagte nun ein zweiter Vampir, der sich zu dem gesellte der mich fest hielt. Er hatte blondes leicht gelocktes Haar und erinnerte mich von der Statur her an Jasper. „Ihr habt UNSERE Vorstellung besucht und nicht wir eure oder sehe ich das falsch?“ „Wenn ihr keine Zuschauer haben wollt, müsst ihr eure kleine Freakshow im verschlossenen Kämmerlein durchführen“, stichelte ich. Meine Antwort war dem Blonden wohl etwas zu provozierend, denn was ich als nächstes hörte, war das Knacken meiner eigenen Knochen, als er mir einen kurzen Schlag versetzte, der meinen Unterkiefer zum Bersten brachte. Die beiden Vampire lächelten mich mit einem fiesen Grinsen im Gesicht an. Doch so schnell, wie der Schmerz gekommen war, so schnell verheilte meine Wunde und alles, was blieb, war etwas Blut in meinem Gesicht. Die Augen des Vampirs, der mich gegen die Wand drückte, leuchteten. „Ah...“, sagte der Eine mit einem leichten Anflug von Begeisterung. „Das ist interessant.“ „Sag mal...“, begann der Blonde langsam und hob sich eine Hand fragend ans Kinn „Funktioniert das bei der Kleinen auch?“ Plötzlich entglitten mir alle Worte. Es war wie ein Kloß, den ich plötzlich in meinem Hals spürte, als ich sah, wie ein dritter Vampir Sangreal festhielt. Mit einer Hand hatte er ihre Hände auf ihrem Rücken fixiert, seine andere hielt ihr Kinn. Sie hatte die Augen geschlossen und ich sah wie ihre Brust sich rasch hob und senkte. Sie musste panische Angst haben. „Wäre ganz geschickt, wenn sie sich selbst wieder zusammensetzt, nachdem wir mit ihr fertig sind“, fuhr der Vampir fort und lächelte dabei. „Die anderen gehen uns leider immer auf mysteriöse Weise kaputt. Sind nicht stabil genug, wenn du verstehst, was ich meine.“ Abscheu stieg in mir hoch und äußerte sich in einem tiefen Knurren. „Das wagst du nicht, sonst-“ „Sonst was?“, unterbrach mich der, der mich festhielt. „Sonst reiß ich euch in Stücke!“, schrie ich förmlich. Es folgte kurzes Gelächter. „Oh, ich glaube du bist nicht unbedingt in der besten Position, um große Töne zu spucken.“ „Es wäre doch wirklich mal ganz nett, ein hübsches Mädchen mehr als einmal zu haben“, säuselte der Vampir der Sangreal festhielt und wanderte mit seiner Hand von ihrem Gesicht zu ihrem Hals, während er an ihrem langen, braunen Haar roch. Meiner Kehle entfuhr erneut ein Knurren. Als er begann den Reißverschluss an ihrem Kleid langsam herunterzuziehen, spürte ich, wie die Hitze langsam in meinem Innern empor kroch. Als er den roten Stoff von ihren Schultern strich und immer mehr nackte Haut entblößte, begannen meine Hände zu zittern. Und als seine kalten, widerlichen, bleichen Finger den Verschluss ihres BHs berührten, brach es aus mir hervor. Ich hatte eigentlich ein eher ruhiges Gemüt. In den dreißig Jahren meines Lebens, hatte ich an meiner Hand abzählen können, wie oft ich mich aus Wut verwandelt hatte, und das Meiste davon war als Kleinkind gewesen oder in der Pubertät. Später hatte ich es vorgezogen, mich einfach zurückzuziehen. Doch das Gefühl, hilflos mit ansehen zu müssen, was diese offensichtlich seelen- und skrupellosen Lebewesen mit einem so wundervollen Mädchen anzustellen versuchten, machte mich derart wahnsinnig und so voller Wut, dass ich gar nicht anders konnte, als mich zu verwandeln. Und zum allerersten Mal in meinem Leben, tat ich es nicht um meinetwillen, sondern um jemanden zu beschützen, der mir wichtig war. Für den Bruchteil einer Sekunde spürte ich nur noch, wie die Tiergestalt mit aller Kraft ihren Weg aus meinem Innern suchte. Weder hörte ich das reißende Geräusch, das ich von den Verwandlungen anderer Gestaltwandler kannte, noch bemerkte ich, wie meine Kleider um mich herum zerstreut wurden. Ich sah nur nach vorn. Blickte in die Gesichter der drei Vampire, deren Augen sich nun vor Entsetzen weiteten. Ganz gleich, wie viele Jahre sie schon leben mochten, einen schwarzen Panther von der Größe eines Pferdes mit leuchtend roten Augen dürften selbst sie noch nie gesehen haben. Und für den, der mir am nächsten stand, war es auch das Letzte, was er je sehen sollte. Ein Prankenhieb und einen gezielten Biss – mehr brauchte es nicht. Und dann ergriffen die anderen beiden die Flucht. Alles, was zurückblieb, war die hübsche junge Frau, die mich in diesem Moment ebenso entsetzt anstarrte wie die Flüchtenden, jedoch im Gegensatz zu ihnen nicht floh. Sie verharrte einfach in ihrer leicht kauernden Position. Ich hatte nicht das Gefühl, dass sie wirklich Angst vor mir hatte. Ich wand meinen Blick von ihr ab, schloss die Augen und legte mich auf den Boden, in der Hoffnung, dass ich mich dadurch schneller beruhigen würde. Wenn ich das nicht tat, wäre eine Rückverwandlung nicht möglich und in der Tiergestalt hatte ich ohnehin keine Möglichkeit, zwei Vampire durch die engen Gassen Venedigs zu verfolgen. Sangreal sah mich noch immer an, tat es mir aber zu meiner Überraschung gleich und setzte sich hin. Ob ihr hübsches Kleid nun schmutzig wurde, interessierte sie jetzt nicht. Sie wirkte einfach nur erschöpft und atmete noch immer schnell. Kurze Zeit später benetzten einige vereinzelte Regentropfen mein Fell und die nassen Pflastersteine begannen das Mondlicht zu spiegeln. Erst jetzt war ich in der Lage mich zurück zu verwandeln. Selbst in Menschengestalt kauerte ich noch einen Moment auf dem Boden und spürte den nassen Stein unter meiner Hand. Sangreal wand sogleich ihren Blick ab und ich erhob mich und ging hinüber zu dem kopflosen Vampir, der weder den nächtlichen Mond Venedigs sehen würde, geschweige denn ein Mädchen vor versammeltem Publikum würde töten können. Da ich meine eigenen Klamotten zerrissen hatte, zog ich mir rasch seinen Mantel an. Dann ging ich vorsichtig zu Sangreal. Ich näherte mich ihr langsam und kniete mich etwa einen Meter vor ihr hin. „Alles okay“, sagte ich ruhig. „Alles in Ordnung.“ Das Mädchen schluckte und nickte dann. „Kannst du aufstehen?“, fragte ich dann. Wieder nickte sie. Ich nahm sie vorsichtig am Arm und an der Hüfte und hob sie auf die Beine, aber sie war ziemlich wacklig. Ihre zarten Finger vergruben sich in meinem Mantel und sie legte ihren Kopf an meine Brust. Ich wusste, dass sie wahrscheinlich nur durch den Schock so anhänglich geworden war, aber irgendwie genoss ich es trotzdem. Als wir etwa eine halbe Stunde später wieder unser Hotelzimmer betraten, kam uns Nahuel aufgeregt entgegen. „Was ist passiert?!“, fragte er erschrocken, nachdem er unsere mitgenommene Erscheinung registriert hatte. „Ein kleiner Zwischenfall“, antwortete ich. „Kleiner Zwischenfall?“, fragte er spöttisch. „Wo ist dein Anzug?“, wollte er wissen. Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch er unterbrach mich und fragte erneut: „WAS ist passiert?!“ Ich drehte mich um. Nahuel stand neben Sangreal, die noch immer leicht zitterte. Im künstlichen Licht sah man nun auch, dass ihr Kleid tatsächlich recht schmutzig war. Außerdem hing einer ihrer Träger schief und ihre Frisur war zerzaust. Ich kam nicht mehr dazu, zu antworten. Nahuel nahm Sangreal und brachte sie ins Badezimmer. Einige Minuten darauf kam er wieder zurück. „So und du sagst mir jetzt GENAU, was passiert ist“, befahl er fordernd. Ich seufzte. „Sie haben uns bemerkt und auf dem Rückweg abgepasst.“ „Wie viele?“ „Sie waren zu dritt, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es noch mehr sind.“ Nahuel nickte. „Und wie seid ihr da raus gekommen?“ Ich überlegte kurz, ob ich Nahuel sagen sollte, was ich getan hatte. Den Volturi hatte ich nichts davon erzählt. Warum ich das getan hatte, wusste ich selbst nicht. Vielleicht hatte ich den Teil meiner Gene, die ich von meinem Vater geerbt hatte, wegsperren wollen. Vielleicht hatte ich aber auch einfach nur ein Ass im Ärmel behalten wollen. In jedem Fall kannte Nahuel meine Eltern länger, als ich sie kannte, und er wusste sehr genau, zu was mein Vater in der Lage war. „Ich hab mich verwandelt und uns da raus geholt“, antwortete ich dann ruhig. „Einen konnte ich töten, die anderen beiden sind flüchtig.“ Nahuel strich sich kurz übers Gesicht, dann sah er zu Boden und nickte. *** Am Nachmittag des nächsten Tages, lag ich auf meinem Bett in Volterra und starrte Löcher in die Decke. Wir hatten unseren Auftrag nicht erfolgreich abgeschlossen. Zu meiner Verwunderung hatte Aro diese Angelegenheit ziemlich locker gesehen und einfach einen Trupp, bestehend aus vollwertigen Vampiren und Nahuel, losgeschickt um zu beenden, was wir begonnen hatten. Eigentlich war ich, aufgrund der kürzlichen Ereignisse, ziemlich müde, konnte jedoch keinen Schlaf finden. Immer wieder musste ich an Sangreals angsterfülltes Gesicht denken, als diese Vampire sie geschnappt hatten. Auch das Geräusch meiner brechenden Knochen hallte in mir wider und wider. Irgendwann setzte ich mich auf die Bettkante und strich mir durch mein schwarzes Haar. Eine Sache gab es noch zu erledigen. Und anstatt hier zu sitzen und Figuren im Deckenputz zu entdecken, die gar nicht da waren, konnte ich sie einfach in Angriff nehmen. Ratzfatz machte ich mich unsichtbar und anschließend auf den Weg in den Mädchenbereich. Ich sah unterwegs nur vereinzelt ein paar Halbvampirdamen und versicherte mich, dass niemand in meiner Nähe war, als ich an Sangreals Tür klopfte. Einige Augenblicke darauf, öffnete sie die Tür ein wenig. Als sie mich durch den Spalt sah, öffnete sich ihr Mund und schloss sich sogleich wieder. Sie nahm mich am Arm, zog mich in ihr Zimmer, streckte den hübschen Kopf noch einmal zur Tür raus und schloss dann hinter sich ab. „Du solltest nicht hier sein“, sagte sie. „Ich weiß“, antwortete ich. „Aber ich denke, ich bin dir noch eine Erklärung schuldig.“ Sie schüttelte langsam den Kopf. „Du bist mir gar nichts schuldig.“ Ich lächelte etwas bitter und sah dann zur Seite. Mein Blick fiel auf die Kommode zu meiner Rechten. Neben einem Buch und einer Zeitschrift, standen dort noch ein paar gemalte Bilder herum. Es waren sehr detaillierte Zeichnungen, die schon fast wie Fotos aussahen. Ich wunderte mich, dass hier keine normalen Fotografien zur Anfertigung von Erinnerungsbildern verwendet worden waren, ging aber davon aus, dass das hier so üblich war. Auf einem Bild sah ich Nahuel zusammen mit Aro und Sangreal. Auf einem weiteren sah ich Nahuel mit vier hübschen Frauen. Wahrscheinlich, so nahm ich an, waren das seine Schwestern. Meine Mutter hatte uns mal erzählt, dass Nahuel hier war, um auf seine Schwestern aufzupassen und dass er meiner Mutter während ihrer Schwangerschaft geholfen hatte, sich und uns drei zu retten. Als ich das Mädchen auf dem Bild mit den braunen Haaren, das Nahuel am nächsten stand, betrachtete, fiel mir auch wieder ein, dass eine seiner Schwestern gleichzeitig mit meiner Mutter schwanger gewesen war und dass wir unser Leben im Grunde diesem Kind verdankten. Nahuel hatte doch gesagt, dass er und Sangreal verwandt waren, kam es mir dann. Ich musterte das Mädchen auf dem Bild noch einmal genauer. Von der Haarfarbe konnte es hinkommen. Nahuels Schwestern hatte ich noch nicht gesehen, in den Tagen, die ich hier gewesen war, aber wer sonst sollte Nahuel so nahe stehen, wenn nicht das Kind seiner Schwester? „Du hast mir das Leben gerettet“, riss Sangreal mich aus meinen Gedanken. „Jetzt sind wir quitt.“ Ich wusste, dass sie auf unsere erste Begegnung im Thronsaal anspielte. Ich schüttelte den Kopf. Im Grunde hatte sie unrecht. Sie hatte mir bereits unwissentlich das Leben gerettet, da war sie noch nicht mal geboren worden. Ohne sie hätten die Volturi meine Mutter getötet. „Willst du denn gar keine Antworten?“, fragte ich sie dann. „Ist es Neuland für dich, wenn jemand dich nicht mit Fragen löchern will?“ Ich nickte lächelnd. „So ziemlich.“ „Ich will aber keine von diesen Antworten“, sagte sie dann. Ihre Wortwahl verwirrte mich. „Wie meinst du das?“ „Nun“, begann sie und lief dabei langsam um mich herum. „Du möchtest doch sicher mehr über die Volturi erfahren, oder nicht?“ Ich nickte. Seit ich hier war, hatte ich Antworten gesucht und sie immer nur in kleinen, sehr kleinen Häppchen bekommen. „Die kannst du haben“, sagte sie. Ich wollte gerade etwas antworten, da erhob sie mahnend den Finger und fügte hinzu: „WENN du mir mehr über dein Zuhause erzählst.“ Ich sah sie fragend an. Was sollte denn das jetzt? „Erzähl mir von deiner Welt, dann zeig ich dir meine“, sagte sie lächelnd. *** Sangreal nahm ihr Wort wirklich ernst. Sie zeigte mir nicht nur die komplette unterste Etage, sondern auch die darüber liegenden. Wenn uns jemand entgegen kam, schien sich niemand darüber zu wundern, dass sie hier mit mir ein und ausging. Es machte mich stutzig und ich wollte wissen, warum das so war. „Sag mal...“, begann ich vorsichtig, während wir den Gang im obersten Stockwerk entlangliefen. „Du hast mir doch von der Rangordnung der Volturi erzählt. Je schwärzer, desto höher.“ Sie lächelte und nickte sachte. „Ich meine“, fuhr ich fort. „In meinem Schrank findest du garantiert genug schwarz und ich kenne diese Farbe gut genug, um sagen zu können, dass dein Kleid kaum dunkler sein könnte. Verstehst du... was ich sagen will?“ Ich hob eine Augenbraue. „Du möchtest wissen, ob ich einen hohen Rang habe.“ „Hast du? Ich meine... ich gehöre eigentlich ins Erdgeschoss und drei Türen weiter ist hier der Thronsaal und niemand wundert sich drüber...“ „Mach dir darüber keine Sorgen. Niemand wird mir hier sagen, was ich zu tun habe. Wenn ich möchte, dass du hier oben bist, dann darfst du hier oben sein.“ „A-“, setzte ich zur nächsten Frage an, wurde dann aber vom Geräusch einer sich öffnenden schweren Tür unterbrochen. Drei Vampire verließen den Thronsaal. Einen davon kannte ich: Alec. Das Mädchen in der Mitte war mir jedoch unbekannt. Und den Typ daneben hatte ich schon ein paar mal gesehen. Die beiden Männer sahen im Augenwinkel immer wieder zu dem Mädchen in ihrer Mitte. Sie hatte rote Augen und hüftlanges schwarzes Haar. „Sieh ihr nicht in die Augen“, flüsterte Sangreal. Ich sah die Schwarzhaarige noch einen Augenblick an, dann senkte ich den Blick und konnte nun nur noch anhand dem Klang ihrer Schritte ausmachen, wie weit sie von uns entfernt waren. „Ihr Name ist Gabriella. Sie ist Marcus' Leibwache und sehr gefährlich.“ „Derart gefährlich, dass sie sogar für die Gefährlichen gefährlich ist?“, fragte ich verwundert. Sangreal nickte. „Meistens steht sie unter Beobachtung oder ist eingesperrt.“ Ich wollte nachhaken, warum das so war, da kam auch schon der nächste Vampir durch die Tür. Es war eine hübsche Frau mit kunstvoll frisiertem, langem, braunen Haar. Sie trug eine pechschwarze Robe und ging direkt auf Sangreal zu und lächelte sie an. „Guten Abend, meine Schöne“, begrüßte sie sie und nickte dann zu mir herüber. „Guten Abend, Sulpicia“, antwortete Sangreal und verbeugte sich leicht. „Ich habe von dem Vorfall in Venedig gehört“, sagte die Vampirin. „Ich hoffe, dir ist nichts Ernstes zugestoßen.“ „Nein, nein“, sagte Sangreal. „Es ist alles noch mal gut gegangen. Es ist nur schade, dass wir schon unsere zweite Aufgabe nicht zu Aros Zufriedenheit erledigen konnten.“ Sulpicia lächelte sanft. Ich hätte eigentlich nicht gedacht, dass ich jemals so etwas wie ehrliches Verständnis oder gar Zuwendung im Gesicht eines Volturi finden würde, nach allem, was meine Familie mir von diesem Ort und seinen Bewohnern erzählt hatte, aber ich wurde eines Besseren belehrt. „Keine Aufgabe ist wichtiger, als dein Wohl, liebste Sangreal“, sagte sie. Im Hintergrund näherte sich noch eine Vampirdame. Sie hatte blondes Haar und eine ebenso dunkle Robe, wie Sulpicia. „Guten Abend“, sagte die neu hinzu gekommene etwas verhalten und legte ihre Hand auf Sulpicias Schulter. „Können wir?“ Sulpicia nickte. „Einen schönen Abend, euch beiden“, sagte sie noch, ehe sie mit der Anderen zusammen ging. Wir sahen ihnen noch kurz hinterher, dann antwortete Sangreal sogleich auf meinen fragenden Blick. „Das waren Sulpicia und Athenodora. Aros und Caius Gefährtinnen.“ Irgendwie wirkte es auf mich so unwirklich, dass die Anführer der Volturi eine Partnerin hatten, hatten sie doch auf mich den Eindruck gemacht, nur an ihren Aufgaben und Zielen interessiert zu sein. Ganz so, als habe Liebe oder etwas ähnliches gar keinen Platz in ihrem Leben. „Die beiden leben hoch oben im Volturiturm und verlassen das Hauptquartier so gut wie nie.“ Irgendwie musste ich bei der Beschreibung an Rapunzel denken oder irgendeine andere Prinzessin, die in einem Turm gefangen war. Nur diese beiden würde kein Prinz auf irgendeinem weißen Pferd retten. Sie waren Gefangene in ihrem eigenen Zuhause, und das wahrscheinlich schon wer weiß wie lange. Aber ich erinnerte mich auch an das Gespräch mit Sangreal im Pool auf Mauritius. Sie war ähnlich gefangen wie die beiden. Hieß das, sie war ähnlich viel wert? „Ähm...“, setzte ich an und stellte eine Frage, um die Stille zu brechen. „Und was ist mit Marcus?“ „Aros Schwester Didyme. Sie ist leider vor langer Zeit gestorben.“ „Oh... das tut mir leid.“ Sangreal nickte. „Mir auch. Ich stelle es mir schrecklich vor... jemanden zu verlieren, den man... liebt.“ Dann senkte sie den Blick und wir gingen zusammen durch die große Tür in den Thronsaal. Aro, Caius und Marcus saßen dort noch immer auf ihren Thronen. An ihrer Seite standen einige weitere Volturi. Unter ihnen natürlich Jane, deren Augen immerzu durch den Raum huschten. „Ah“, sagte Aro freudig, als er uns erblickte und erhob sich. „Sangreal, Anthony. Wie schön, dass ihr zu uns gefunden habt.“ „Die Freude ist ganz auf unserer Seite“, antwortete Sangreal lächelnd. „Was führt euch zu uns?“, wollte Aro wissen. Sangreal sah noch einmal kurz zu mir, dann sagte sie: „Wir wollten nur noch einmal betonen, wie sehr wir bedauern, unsere Aufgabe nicht zufriedenstellend erfüllt zu haben.“ Ich sah sie etwas verdutzt an, hatte ich doch gar nichts davon gewusst, dass wir überhaupt mit den drei Anführern reden würden. „Das ist sehr vorbildlich, meine Liebe“, meinte Aro. „Zerbrich dir aber bitte nicht deinen hübschen Kopf. Falls es eure Gemüter beruhigt: Die Vampire, die in Venedig unser Geheimnis gefährdeten, wurden für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen.“ Ich übersetzte den Satz in einen verständlichen Wortlaut und nahm an, dass die übrigen Vampire jetzt tot waren. Ich spürte einen leisen Funken Genugtuung. „Nun...“, fuhr Aro fort. „Ich wünsche euch beiden noch eine angenehme Nachtruhe. Wir werden uns nun ebenfalls zurückziehen.“ Caius und Marcus standen auf. Sangreal und ich wendeten uns gerade zum gehen, da ertönte erneut Aros Sopran in der großen Halle. „Noch etwas...“, ergänzte er und wir drehten uns wieder zu ihm um. „Ich werde Volterra für einen Auslandsaufenthalt verlassen.“ „Ausland?“, hakte Sangreal nach, offenbar genauso verwundert darüber, wie ich. Aro nickte. „Eine wichtige Angelegenheit. Ich werde aber rasch wieder zurückkehren. Bestenfalls... werdet ihr gar nicht merken, dass ich nicht da bin.“ Aro sah nach links und nach rechts zu den beiden anderen Anführern und lächelte. Sangreal und ich verließen den Thronsaal wieder. Wir gingen stillschweigend durch ein paar Gänge, bis wir vor einer Tür stehen blieben. Als ich eintrat, traute ich meinen Augen kaum. Hinter ihr kam eine Suite zum Vorschein, die pompöser kaum hätte eingerichtet sein können. Sie war mit edlen weißen Marmor-Fliesen und rotem Samtteppich ausgestattet – und im Gegensatz zu allen anderen Zimmern, die ich hier gesehen hatte, hatte sie sogar ein Fenster. „Ich dachte, du hättest ein Zimmer im Erdgeschoss“, sagte ich verblüfft. „Hab ich auch.“ Ich sah mich weiter um, erblickte ein gigantisches, rundes Bett, bezogen mit weißem Satin und sogar eine kleine ebenfalls marmorierte Küche. Als Sangreal die Kühltruhe öffnete, kamen einige Blutbeutel zum Vorschein. Wir setzten uns in ihrem Wohnzimmer auf einen großen Lammfellteppich vor einem erloschenen Kamin, den Sangreal zu meiner Verwunderung anzündete. „Ist dir etwa kalt?“, fragte ich und stellte, ob ihrer meiner ähnlichen Körpertemperatur, sogleich fest, dass die Frage nichtig war. Wie erwartet schüttelte sie dann auch den Kopf. „Ich finde es einfach schön, wenn der Kamin brennt.“ „Ich dachte, die Volturi seien ohne das Wissen der Menschen hier drin. Fällt so Kaminqualm nicht auf?“ Sangreal schüttelte den Kopf. „Der Rauch wird umgeleitet. Der kommt nicht aus diesem Gebäude raus.“ Jetzt hatte sie sogar einen eigenen Kamin, dessen Ausdünstungen aufwendig vertuscht wurden. Zu gern hätte ich sie nun endlich gefragt, was sie an sich hatte, dass sie von den anderen Halbvampiren so sehr unterschied. „Also...“, ergriff sie dann das Wort und gab mir einen Blutbeutel. „Ich hab meinen Teil der Abmachung erfüllt. Jetzt bist du an der Reihe. Erzähl mir von deinem Zuhause.“ Ich sah etwas betrübt hinunter auf das Fell. „Nun... eigentlich ist Volterra jetzt mein Zuhause.“ „Na na“, mahnte das Mädchen und hob meinen Kopf sanft am Kinn hoch. „Keine Ausreden.“ „Also gut“, seufzte ich. „Ich hab in einem großen Anwesen in Irland gelebt. Zumindest die letzten paar Jahre. Wir sind nach drei bis fünf Jahren immer umgezogen, damit man nicht merkt, dass wir nicht altern. Ich hab dort im Keller gelebt, weil ich da am meisten Ruhe hatte... aber ich war sowieso lieber draußen unterwegs.“ „Als wir uns das erste Mal gesehen haben, hast du was von Geschwistern erzählt“, erinnerte sich Sangreal. „Ja, ich habe eine ältere Schwester und einen älteren Bruder. Wir sind dreieiige Drillinge.“ „Wo sind sie?“ „Meine Schwester, Mariella, lebt bei unserer Familie. William, mein Bruder, lebt mit seiner Frau und seinen Kindern in Washington, in dem Indianerreservat in dem mein Vater geboren wurde.“ „Wie sah dein Zuhause aus?“ „Nun...“, erinnerte ich mich. „Wir hatten ein großes Gelände nur für uns, auf dem zwei große Gebäude standen. Die meisten Wände waren verglast, so dass alles immerzu durchleuchtet war. Ich nehme an, das war so, weil wir uns sonst immer verstecken mussten, da konnten wir wenigstens zu Hause mal das Sonnenlicht spüren. Zumindest die anderen. Mir macht die Sonne nichts.“ „Mir auch nicht“, kommentierte mein Gegenüber. Ich lächelte sie nur an. „Oh, entschuldige“, sagte sie dann. „Ich wollte dich nicht unterbrechen.“ „Schon in Ordnung“, antwortete ich. „Ich freue mich über jedes neue Detail über dich.“ Sie lächelte verlegen und wandte ihren Blick ab. Im Schein des Kaminfeuers, sah ihr bleicher Teint rötlich-orange aus, aber wenn ich es nicht besser wüsste, hätte ich gesagt, dass sie etwas errötet war. „Wie hat deine Familie es geschafft, inmitten von Menschen zu leben?“, wollte sie uns wieder zurück auf unser Thema führen. „Wir haben uns nur von Tieren ernährt. Mein Urgroßvater ist sogar als Arzt im Krankenhaus beschäftigt und soweit ich weiß, kam er niemals auch nur im Entferntesten auf die Idee, einem Lebewesen Schaden zuzufügen.“ „Das ist bewundernswert“, sagte Sangreal. „Und es erfordert viel Selbstbeherrschung“, fügte ich hinzu. Sangreal setzte sich nun anders hin und stützte sich mit den Handflächen am Boden ab. „Was ist mit deinen anderen Familienmitgliedern?“, fragte sie neugierig. „Deine Mutter, dein Vater?“ „Nun...“, antwortete ich. „Mein Vater lernte meine Großmutter kennen, als sie noch ein Mensch war. Und... er verliebte sich in meine Mutter, als er sie das erste Mal sah.“ „Liebe auf den ersten Blick“, murmelte Sangreal. „Ich dachte immer, so was gibt es nur in Büchern und Filmen.“ Ich nickte gedankenverloren. „Und bei Gestaltwandlern...“ Sangreal sah mich fragend an. „Du erinnerst dich an den schwarzen Panther?“, half ich ihr auf die Sprünge. „Du hast meine Erklärung dazu gar nicht hören wollen.“ „Hier gibt es viele Vampire mit den seltsamsten Gaben“, meinte sie. Wahrscheinlich hielt sie meine Verwandlung für eine Vampirfähigkeit, die dem Gehirn Dinge vorgaukelte. „Warum hast du dein Zuhause verlassen?“, stellte sie dann die eine Frage, die ich am wenigsten hören wollte. Ich zuckte mit den Achseln und begann wieder über das Fell zu streicheln, ohne sie anzusehen. „Ich...“ Ich hielt inne. Ich wusste nicht, wie ich zum Ausdruck bringen konnte, was mich jahrelang zerfressen hatte. „Ich... hab mich nicht als Teil dieser Familie gefühlt. Ich war irgendwie... anders.“ Sie legte ihre zarte Hand an meine Wange und brachte mich durch sanften Druck dazu, sie anzusehen. „Du bist einfach was Besonderes. Genau wie ich. Und das ist nichts Schlechtes, Anthony.“ Und dann näherten sich ihre Lippen den meinen, bis sie sich berührten. Es war ein seltsames, neues, jedoch wunderbares Gefühl. Das erste Mal in meinem Leben küsste ich Lippen, die sich für mich warm anfühlten, ja, sogar fast heiß. Lippen, die ich leidenschaftlich küssen konnte, ohne zu befürchten, dass ich dem Mädchen im nächsten Augenblick den ganzen Mund aufriss. Und dann ließ ich meine Hand über ihren Rücken gleiten, fuhr unter ihr Shirt und streichelte ihre warme angenehme Haut. Sie tat es mir gleich. Ich legte eine Hand an ihren Hinterkopf. Sie ließ sich langsam tiefer sinken, bis sie auf dem Fell vor dem Kamin lag. Ich beugte mich über sie und spürte langsam ein Feuer in meinem Innern, das ähnlich stark loderte, wie das neben mir. Und als sie ihre Augen aufschlug und mich damit ansah, wusste ich, dass dasselbe Feuer auch in ihr brannte... *** Als ich am nächsten Morgen meine Augen aufschlug, wusste ich zunächst nicht, wo ich war. Das Erste, was ich sah, waren die Möbel, die von hier unten so unwirklich groß schienen und der saubere Fußboden. Wenige Augenblicke später spürte ich den warmen Körper, der sich an mich schmiegte. Als ich herabsah, sah ich, dass ihr Gesicht an meiner Brust lag. Sie schlief noch seelenruhig. Das Feuer im Kamin hinter uns war erloschen, aber ich erinnerte mich an das Feuer der letzten Nacht. Es war anders als alles, was ich zuvor je erlebt hatte. Und als ich sie so ansah, mit ihrem langen, braunen, seidigen Haar, kamen mir die Worte meiner Mutter in den Sinn. Es wirkte schon fast, wie aus einem Traum, so fern und unwirklich kam es mir vor. Damals war ich noch sehr klein gewesen. Es war der Tag ihrer Trauung gewesen. Kurz bevor sie mit meinem Vater in die Flitterwochen fuhr, hatte sie mich in den Arm genommen und mir leise zugeflüstert: „Du findest auch noch deinen Deckel.“ Vielleicht hatte sie recht behalten und ich war doch kein Wok? Vielleicht hielt ich meinen lange gesuchten Deckel gerade in den Armen. Jetzt erst bemerkte ich, wie sich mein Mund ganz von selbst zu einem Lächeln geformt hatte. Ich war mir nicht mal sicher, ob das hier nur Verliebtheit war oder gar eine Prägung, aber das war mir im Grunde auch egal. Dann klopfte es plötzlich an der Tür. Ich sah nur kurz etwas erschrocken auf, dann hielt ich inne. Sangreal seufzte kurz, öffnete jedoch nicht die Augen. Eigentlich wollte ich sie nicht wecken, also legte ich vorsichtig ihren Kopf auf das Lammfell, zog mir Hose und Hemd an und öffnete ganz langsam die Tür, weil ich Angst hatte, dass sie laute Geräusche von sich gab. Und dann stand plötzlich Nahuel vor mir. Und er sah nicht gerade glücklich aus. Im Gegenteil. Ich erinnerte mich an seine Warnung im Hotel und bekam einen dicken Kloß im Hals. Ich hatte nicht in den Spiegel geschaut, aber es war wahrscheinlich nicht zu übersehen und Nahuel würde problemlos eins und eins zusammenzählen. Für den Bruchteil einer Sekunde fixierten wir uns stumm, dann packte er mich plötzlich an meinem Hemd und zog mich aus dem Türrahmen. Sein Griff war derart fest, dass das Hemd reißen würde. Mit wütendem Blick presste er mich gegen die gegenüberliegende Wand. „Du folgst mir jetzt. Und du stellst keine Fragen. Halt einfach den Mund“, befahl er zischend. Ich überlegte einen Moment, nickte dann und folgte ihm zum Aufzug. Wir gingen wieder in die unterste Etage. Die letzten Meter zu unserem Zimmer, spürte ich immer mehr die Anspannung in mir aufsteigen. Ich konnte ja nachvollziehen, dass er sauer war, schließlich hatte ich mich trotz Vorwarnung an seine Nichte ran gemacht. Aber es war ja nicht so, als hätte ich sie zu irgendwas gezwungen. Nahuel sah kurz um sich, als er niemanden entdecken konnte schloss er die Tür von 626 auf, dann packte er mich plötzlich am Kragen und stieß mich grob in den Raum. Langsam kam ich zu dem Entschluss, dass er es ein wenig übertrieb. Ich taumelte einen Moment, dann stand ich wieder fest und drehte mich zu Nahuel um, der gerade die Tür hinter sich geschlossen hatte. Er sah noch immer derart wütend aus, dass ich befürchtete, dass er mir demnächst an die Gurgel springen könnte. Ich hob beschwichtigend die Hände. „Hör zu...“, begann ich. „Ich kann verstehen, dass du sauer bist, aber es ist nicht so, wie du denkst. Ich meine... ja, in der Vergangenheit, war ich vielleicht anders, aber mit ihr ist es nicht so. Ich-“ „Gar nichts verstehst du! GAR NICHTS!“, unterbrach er mich. Er ging zu dem kleinen Tisch am Ende des Raumes und setzte sich auf den Stuhl, dann strich er sich übers Gesicht. Mit einem Mal, wirkte er müde und ausgelaugt. So als wäre er mit den Nerven am Ende. Ich konnte das nicht verstehen. Vorsichtig trat ich näher, stützte meine Hände an dem Tischchen ab und sah zu ihm hinunter. „Ich verspreche dir, dass ich ihr niemals wehtun werde, Nahuel.“ Nahuel schüttelte den Kopf ohne mich anzusehen. „Das hast du schon.“ Ich verstand noch immer nicht. Als er seinen Kopf hob und mich wieder ansah, nahm ich meine Hände wieder vom Tisch. Nahuel stand auf. Und ich ging einige Schritte zurück, um Luft zwischen uns zu schaffen. „Du hast in einer einzigen Nacht den Hebel umgelegt, den ich dreißig Jahre lang unter allen Umständen unter Verschluss halten wollte.“ „Was?“, fragte ich ungläubig. Seine Sätze nahmen für mich langsam lächerliche Züge an. „Findest du nicht, du übertreibst es ein wenig mit deiner Fürsorgepflicht? Womit hast du in den letzten drei Jahrzehnten deine Zeit verbracht? Dafür zu sorgen, dass sie sich einem männlichen Wesen nicht auf weniger als zwei Meter nähert?“ Nahuel lachte auf. Es war ein falsches, gespieltes, bitteres Lachen. „Mach dich nur lustig über mich.“ „Wenn du ernst genommen werden möchtest“, sagte ich nun in bestimmtem, jedoch ruhigen Ton. „Rede Klartext mit mir.“ Nahuel strich sich nochmal übers Gesicht, dann sah er mich wieder an. „Ich weiß nicht, ob dir deine Familie von meinem Vater Joham erzählt hat.“ Ich nickte und er fuhr fort. „Er hat mehrfach versucht, Kontakt mit mir aufzunehmen. Mich davon zu überzeugen, mit ihm gemeinsam eine 'Super-Rasse' zu erschaffen. Ein Hybrid aus Mensch und Vampir. Mir waren seine Pläne zuwider“, erklärte Nahuel verächtlich. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn er im nächsten Moment auf den Boden gespuckt hätte. „Ich war, um ehrlich zu sein, sogar froh zu erfahren, dass die Volturi ihn wegen seiner wahnwitzigen Ideen getötet hatten. Ich dachte, damit hätte sich die Sache erledigt.“ Nahuel schüttelte den Kopf. „Aber ich hatte mich geirrt.“ Er stand auf und begann durch den Raum zu laufen. „Ich entschied mich hier bei meinen Schwestern zu bleiben, die die Volturi in ihre Obhut genommen hatten. Ich dachte zunächst, Aro entschied so, um das Geheimnis der Vampire zu schützen. Meine Schwestern waren nämlich teilweise eben so wild und unberechenbar, wie mein Vater es gewesen war. Aber dann wurde meine jüngste Schwester schwanger. Bis heute weiß ich nicht, ob es Aro war oder nicht. In jedem Fall war es jedoch ein Vampir gewesen, denn das Baby hatte starke vampirische Züge. Derart stark, dass es einem unsterblichen Kind ähnlicher war als einem Hybriden. Zu seinem Bedauern musste Aro das Kind töten. Doch der Gedanke an das Kind ließ ihn auch später nicht los. Irgendwann realisierte ich dann, dass sich alles nur verlagert hatte. Vom unkontrollierten Wahnsinn meines Vaters, zu Aros fein säuberlich ausgearbeiteten Studien. Nach einigen 'Versuchen' kristallisierte sich für ihn heraus, dass er nicht Schlag auf Schlag einen perfekten Hybriden erschaffen konnte. Er musste zunächst die menschlichen Züge beibehalten und nach und nach vampirische Eigenschaften hinzufügen, damit der Hybrid lebensfähig und kontrollierbar wurde. Er musste wachsen und lernen, aber dennoch so widerstandsfähig wie ein Vampir sein, dabei durfte er jedoch nicht in der Sonne glitzern und musste sowohl menschliche Nahrung als auch Blut zu sich nehmen können.“ „Moment...“, unterbrach ich ihn perplex. „Das Kind, dass deine Schwester im Bauch trug, als meine Mutter bei den Volturi war... ist tot?“ Nahuel nickte verhalten. Er wirkte nicht so, als sei er sonderlich traurig über den Tod seines Neffen oder seiner Nichte gewesen. Ich für meinen Teil realisierte nach und nach, auf was Nahuel hinaus wollte und setzte mich. „Wie...“, ich schluckte, „... wie alt ist Sangreal?“ „Fünf“, antwortete er. „Aber sie wächst sehr schnell. Geistig sogar noch schneller als körperlich. Sie ist nahezu das, was Aro sich als Endergebnis seiner Experimente wünscht. Sie ist fast perfekt. Für ihn ist sie der Schlüssel zum Erfolg. Der heilige Gral. Darum gab er ihr ihren Namen.“ Jetzt wurde mir schlagartig schlecht. In meinem Bauch kribbelte es und ich hatte eine böse Vorahnung, aber ich wollte, dass Nahuel es zur Sprache brachte. „Was meinst du mit fast?“ Nahuel machte eine Gestik mit seinem Zeigefinger und seinem Daumen. „Eine Kleinigkeit fehlt noch.“ „Und die wäre?“ „Sie besitzt keine Gabe.“ Ich stützte meinen Ellbogen auf den Tisch, legte mein Gesicht in die Handfläche und schüttelte den Kopf. Nahuel fuhr einfach fort. „Von dem Moment an, als ich erfuhr, dass du hier bist, wusste ich schon, warum sie dafür gesorgt hatten, dass du zu ihnen kommst. Die Volturi sind nicht vorrangig daran interessiert, dich für die Zerstörung deines Zirkels zu benutzen. Das ist nur ein lukrativer Nebeneffekt. Aro hofft, dass sich deine Fähigkeiten vererben.“ Jetzt wurde ich wütend, spürte wie meine Hand auf meinem Gesicht anfing zu zittern. Ich stand ruckartig auf und stieß derart kräftig gegen den kleinen Tisch, dass er quer durch den Raum flog und an der Wand ein Tischbein verlor. „WARUM HAST DU MIR NICHT DIE WAHRHEIT GESAGT?!“, fuhr ich ihn an. „Was hättest du getan, wenn du es gewusst hättest? Wärst du dann einfach gegangen? Wohl kaum. Du hättest genauso wie ich versucht, das zu beenden und alles nur schlimmer gemacht“, antwortete er mit einem leichten Anflug von Zorn. „Wenn du einfach zurück nach Hause gegangen wärst, so wie ich es dir gesagt habe, dann wären wir jetzt nicht in dieser Situation!“ „Ach?“, konterte ich und trat näher auf ihn zu. „In welcher Situation bist DU denn?“ „Ich habe dir gesagt, dass du gehen sollst. Ich habe dir gesagt, dass du die Finger von ihr lassen sollst!“, ignorierte er meine Frage. Ich funkelte ihn an und ballte meine Hände zu Fäusten. Ich musste mich zusammenreißen, um mich nicht erneut zu verwandeln. Und plötzlich ging die Tür auf und Felix stand im Raum. Nahuel und ich hielten inne und starrten ihn an. Er schien sich jedoch nicht weiter dafür zu interessieren, dass wir wenige Sekunden zuvor noch gestritten hatten und unweit von ihm ein verkrüppelter Tisch herum lag. „Anthony. Caius wünscht dich zu sehen“, sagte er in einer Tonlage, die einen Widerspruch nicht duldete. Ich musste Nahuel stehen lassen und unser Gespräch vertagen. Der Volturi führte mich durch die Gänge zum Aufzug in die obere Etage. Ich vermutete stark, dass dieser Aufruf mit der letzten Nacht zusammenhing. Hatten sie uns beobachtet? Mit Sicherheit. Und wahrscheinlich waren sie total aus dem Häuschen, dass alles nach Plan funktioniert hatte. War Sangreal eingeweiht gewesen? Hatte sie alles nur gespielt, um mich dazu zu bringen, mit ihr zu schlafen? Diese Frage beschäftigte mich mehr als alles andere. Mir war eigentlich egal, was kommen würde. Wenn sie mich aber angelogen hätte, wüsste ich nicht, was ich tun sollte. Ich hoffte, dass sie genauso unwissend gewesen war wie ich. Und ich wünschte, ich könnte bei ihr sein, wenn sie die Wahrheit erfuhr, so wie ich sie erfahren hatte. Denn wenn es stimmte, was sie erzählt hatte, dann hatte sie keine Ahnung, warum Aro ausgerechnet zu ihr so eine enge Bindung hatte und ihr alles durchgehen ließ. Hinter mir fiel eine Tür ins Schloss und schreckte mich aus meinen Gedanken. Doch es ging nicht um Sangreal. Caius stand auf der Anhöhe, auf der die drei Throne standen. Und etwa einen Meter vom Treppenabsatz entfernt stand mein Bruder. Als unsere Blicke sich trafen, spürte ich zur gleichen Zeit ein warmes, wohliges Gefühl und eine starre Kälte in mir. Caius winkte mich zu sich und lächelte gespielt freundlich. Ich folgte zwar seinem Befehl, blieb aber einen halben Meter vor ihm stehen und drehte mich zu Will um. Ich sah, wie seine Augen die meinen suchten, wie sein Blick an meinem Körper hinab wanderte und dann wieder hinauf. Ich kam mir vor, als stünde ich am Flughafenschalter unter einem Scanner. Sein Blick wurde traurig. „Ani“, begann er leise. Ich wusste, was jetzt kommen würde. „Bitte komm zurück nach Hause. Mutter... wir alle sind krank vor Sorge um dich.“ „Es geht mir gut“, antwortete ich kühl. „Ani... das hier... das ist kein Ort für dich“, versuchte er mir klarzumachen, doch ich schüttelte den Kopf. „Es ist kein Ort für dich. Geh zurück zu deiner Frau und deinen Kindern. Sie brauchen dich mehr, als ich es tue.“ „Aber wir brauchen dich“, antwortete er. Ich lachte bitter auf. „Es ist so, Ani“, bestätigte er mir daraufhin nochmal. „Bitte, komm mit mir nach Hause.“ „Nein“, antwortete ich knapp und sah ihn ausdruckslos an. Es war ohne Zweifel schwer für mich, diese Maske aufrecht zu erhalten. Ich durfte mir nicht anmerken lassen, wie weh es tat, meinen großen Bruder hier vor mir stehen zu sehen, wie er mich förmlich anflehte, an jenen Ort zurückzugehen, den ich einst mein Zuhause nannte. „Ani.“ Er sprach meinen Namen noch eindringlicher aus und trat etwas näher. „Ist es dir denn vollkommen egal, wie es Mutter geht. Oder Mariella?“ Ich schürzte die Lippen und sah zur Seite. Natürlich, er war mein Bruder, er wusste genau, wo meine wenigen kleinen, wunden Punkte waren. „Geh wieder“, sagte ich knapp, ohne zu wissen, dass dies fast dieselben Worte waren, die mein Vater an meine Großmutter gerichtet hatte, als sie nach seiner ersten Verwandlung nach La Push gekommen war. Und dann verließ ich mit schnellen Schritten den Raum und ließ meinen Bruder stehen. Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte, und ich war nicht mehr länger in der Lage, mir sein Flehen anzuhören. Ich mochte es nicht, wenn mein großer Bruder mich anflehte. Das war nicht richtig. Dementsprechend schrecklich fühlte ich mich, als ich die dunklen Gänge zurück zu Nahuel ging. Ich wusste nicht, wie es war, krank zu sein. Ich war nie krank gewesen. Aber jetzt spürte ich eine starke Übelkeit in mir hochkommen und hielt mir die Hand vor den Bauch. Doch all das war noch gar nichts, gegenüber dem Schmerz, der darauf folgte. Plötzlich sackte ich in die Knie und lehnte mich gegen die nächstgelegene Wand. Ich brauchte einen Moment, um zu erkennen, wo ich war. Und dann war der Schmerz auch wieder verschwunden. Aber das ungute Gefühl war geblieben. Mein Herz fing an zu rasen. Irgendetwas war passiert. Ich warf einen Blick hinter mich und dann rannte ich los. Zurück durch die Tunnel in den Thronsaal. Und dann sah ich jenes Bild vor Augen, dass ich nie wieder in meinem unsterblichen Leben vergessen sollte: Caius stand noch immer dort, wo er zuvor gestanden hatte. Doch mein Bruder lag vor dem Absatz auf dem Boden. Und um ihn herum... sah ich das Blut. Eine nicht unerhebliche Menge Blut. Ohne noch weiter zu zögern, rannte ich auf ihn zu und kniete mich neben ihn. Seine Augen waren geschlossen, seine Haut ungewöhnlich bleich. Als ich meine Hand an seinen Hals legte, konnte ich seinen Puls fühlen. Und dann sah ich die Bisswunden, und ich wusste genau, woher sie stammten. Langsam hob ich den Blick und fixierte Caius. Ich spürte die Wut in mir aufkochen, das Feuer in mir brannte und wollte herauskommen und ihn in seine Einzelteile zerfetzen. Als dann ein kleines, siegessicheres Lächeln über seine Lippen huschte, stand ich auf und ging auf ihn zu. Ein tiefes Knurren kam aus dem Inneren meiner Kehle, als ich den Mund leicht öffnete. „Ani...“, hörte ich dann die schwache Stimme meines Bruders und hielt schlagartig inne. Caius lächelte noch immer und mein Körper zitterte. Ich sehnte mich danach, ihn zu zerreißen, aber Wills schwache Rufe hielten mich zurück. Einen Moment haderte ich noch, dann drehte ich mich um und kniete mich wieder neben meinen Bruder. Ich hob seinen Kopf vorsichtig an. Seine Lider begannen zunächst zu flackern, dann öffnete er langsam seine Augen. Ich versuchte zu lächeln, aber stattdessen spürte ich, wie meine Augen feucht wurden. „Hey, Kleiner“, flüsterte Will. „Will“, antwortete ich leise. „Es tut mir so leid. Ich-“ „Nein“, unterbrach er mich, hob seine Hand und legte sie an meine Wange. „Das muss es nicht. Bitte, gib dir keine Schuld.“ Ich wollte etwas antworten, wollte ihm sagen, dass ich tun würde, worum er mich bat, aber die Worte kamen nicht über meine Lippen, also schloss ich den Mund wieder, ohne was zu sagen und stumme Tränen liefen meine Wangen hinunter, als ich meine Augen schloss. „Versprich mir, dass du dir keine Schuld gibst“, bat er mich erneut. Das kann ich nicht, waren die Worte, die in meinem Kopf herumschwirrten, die ich jedoch nicht auszusprechen vermochte. „Ani“, sagte er erneut und ich öffnete meine roten Augen und sah in sein von der Anstrengung verschwitztes Gesicht. „Bitte, geh zurück nach Hause.“ Ich glaubte fast, mich verhört zu haben. Obwohl er blutüberströmt in meinen Armen lag, kaum in der Lage zu atmen, bat er mich noch immer darum, wieder heimzukehren. Es gab tausende Dinge, die er hätte sagen können. Zum Beispiel, wie sehr er Leah liebte oder was sie seinen Kindern sagen sollte. Doch stattdessen ging es für ihn offenbar noch immer nur um mich. „Ich werde heimgehen“, antwortete ich, nahm seine Hand von meiner Wange und drückte sie. „Aber nicht ohne dich. Carlisle kann dir sicher helfen...“ Doch die Verzweiflung in meinen Worten war unüberhörbar und wie naiv sie waren, das wusste ich selbst. Auch mein Bruder schüttelte den Kopf und lächelte mich an. „Nein, Kleiner.“ Will begann zu husten und Blut zu spucken. Ich wusste nicht, was ich tun sollte und hob seinen Oberkörper noch ein wenig an, damit er nicht an seinem Blut erstickte, aber tief im Innern wusste ich, dass alles vergebens war. Mit einem Mal hörte er auf zu husten und sein Körper verlor jegliche Spannung. „Will!“, schrie ich fast. Er öffnete noch mal die Lider... schloss sie und öffnete sie erneut... anschließend lächelte er... und dann... verschwand sein Lächeln für immer. - Ende Kapitel 7 - Kapitel 8: [Mariella] Blutmond ------------------------------ Disclaimer: => Ich verdiene kein Geld mit meiner Fanfiction. => Alle Charaktere die schon in den Twilight-Bänden ihren Auftritt hatten, gehören Stephenie Meyer. Alle Anderen, wie etwa Schüler, Lehrer und vor allem Renesmees und Jakes Kinder, habe ich selbst erfunden. Weitere Infos zur FF, Trailer, Cover & mehr http://www.chaela.info --------- Kapitel 8 Blutmond „Alles wieder gut?“, fragte Seth, als er mir das Glas aus der Hand nahm. Seine dunklen Augen sahen mich besorgt an. Und auch die vielen Augenpaare meiner Familie musterten mich. „Ich denke... schon“, log ich. Ein paar Gesichtern konnte ich die Erleichterung ansehen, aber es gab auch welche, die ich nicht belügen konnte. Allen voran Seth. „Soll ich dich ins Bett bringen?“, fragte er. Ich nickte. Er stand vorsichtig vom Boden auf, legte einen Arm an meinen Rücken, den anderen unter meine Kniekehlen und hob mich von unserer Wohnzimmercouch. Ich legte mein Gesicht an seine Brust und schloss die Augen. Ich wollte versuchen, nur seinen Herzschlag zu hören, während er mich durch das Haus zu unserer Suite trug. Ich wollte so gern verdrängen, was eben geschehen war. Aber mein ungutes Gefühl ließ mich nicht mehr los. Es war ganz plötzlich gekommen. Ich war gerade mit Seth in der Küche gestanden. Es war zuerst wie ein kalter Schauer gewesen. Mein ganzer Körper war mit einem Mal von den Zehenspitzen bis hinauf zur Stirn erkaltet. Und dann... dann kam der Schmerz. „Mariella? Was ist?!!“, hatte Seth gerufen, als ich plötzlich zu schwanken begann und mir den Bauch hob. Später war ich auf dem Sofa aufgewacht, umringt von meiner Familie. Ich hatte es als normalen Schwindelanfall abgetan. Das war zwar auch ungewöhnlich, weil in unserer Familie so was eigentlich nicht vorkam, aber den wahren Grund konnte ich ihnen nicht sagen. Ich wollte sie nicht belasten. „Was ist es?“, fragte Seth und riss mich aus meinen Erinnerungen. Wir waren schon in unserer Suite angekommen. Er hatte sich zu mir aufs Bett gelegt, mich an sich gezogen und fuhr mit seinen warmen Fingern durch mein Haar. „Seth...“, begann ich und merkte, wie meine Stimme dann zu zittern anfing. „Ich glaube, Ani und Will ist etwas zugestoßen.“ Seth sagte nichts. Er sah mich an, streichelte mich weiter und schwieg. Was sollte er auch sagen? Dass es nur Einbildung gewesen war? Wohl kaum. Er kannte die Verbindung zwischen ihm und mir. Und er kannte auch die Verbindung zwischen meinen Brüdern und mir. Seth wusste, dass ich nicht falsch liegen konnte. Dass ich Recht hatte. Diese Verbindung log nie. „Sollen wir es den anderen sagen?“ Ich zog die Nase hoch, während meine Tränen weiter leise meine Wangen hinunterliefen. „Ich will Mom nicht belasten.“ „Ich denke, dafür ist es zu spät“, antwortet Seth. Ich sah zu ihm hinauf. „Sie werden auch gespürt haben, dass etwas nicht in Ordnung ist. Vielleicht nicht so deutlich wie du, aber irgendwie schon.“ „Was werden sie machen, wenn sie davon erfahren?“, fragte ich. Ich konnte keine Prognosen machen, dafür kannte ich meine Familie zu wenig. Ich wusste, wie sie alle im Alltag waren, wie sie die letzten dreißig Jahre gewesen waren. Aber Seth kannte die Zeit davor. Die Zeit, in der sie auch kämpfen mussten. Für das Leben meiner Großmutter und meiner Mutter. „Nach Volterra gehen“, antwortete Seth ohne einen Anflug von Zweifel. „Das ist die einzige Möglichkeit.“ Der Gedanke machte mir Angst. Ich verband nichts Gutes mit diesem Ort. Ich hatte Angst, meine Familie zu verlieren. Also schwieg ich. Vorerst. In der naiven Hoffnung, mich doch geirrt zu haben. Es war noch nicht lange her, da war Will nach Italien aufgebrochen, um unseren Bruder zurück nach Hause zu holen. Er war direkt von La Push nach Italien geflogen, um keine Zeit zu verlieren, schließlich erwartete Leah Nachwuchs. Aber er hatte mich angerufen und mir versprochen, in drei Tagen mit Anthony nach Hause zu kommen. Und von da an hatte ich immerzu gewartet wie ein Hund, der auf die Rückkehr seines Herrn wartete. In fester Überzeugung, dass er zurückkommen würde. Und wenn es klingelte, egal ob es der Postbote war oder ein Vertreter, war ich sofort an die Tür gesprungen. Einmal war ich zur Tür gestürmt, da stand plötzlich ein blondes Mädchen vor der Tür, die nach Ani gefragt hatte. Er sei ja länger nicht mehr zur Schule gekommen. Ich hatte ihr gesagt, dass er einen Auslandsaufenthalt machen würde. Und dann... schließlich... eines Abends - es war sehr kalt und dunkel draußen – spürte ich, dass sich etwas verändert hatte. Dass jemand unseren Hof betreten hatte, der weder ein Schulfreund, noch der Postbote war. Ich rannte zur Haustür und riss sie auf. Und dann sah ich in die roten Augen meines kleinen Bruders. Ich war so glücklich, ihn wieder zu Hause zu wissen, dass ich im ersten Moment, nur ihn wahrnahm. Nur dass er wieder da war. Und dann sah ich die Leere in seinem Blick. Wieder überkam mich ein kalter Schauer. Nie würde ich dieses Bild aus meinem Kopf kriegen... nie... Auf unserer Türschwelle stand Ani und in seinen Armen trug er Wills leblosen Körper. Ich schlug die Hand vor den Mund und starrte Ani an, aber er zeigte keinerlei Reaktion, war wie eine Statue. Dann spürte ich Seths Hände auf meinen Schultern. Er drückte mich an sich und zog mich sanft zurück. Und dann bekam ich alles nur wie durch einen Dunstschleier mit. Es war unwirklich. Wie in weiter Ferne. „Carlisle!“, rief Seth als erstes. Wie immer, wenn jemand verletzt war. Aber ich wusste es besser. Als nächstes kam Emmett und nahm Ani Will ab. Seth hielt mich noch immer fest. Wir standen keine drei Meter von der geöffneten Haustür entfernt. Ich spürte den kalten Wind, der von draußen herein wehte und ich sah, wie mein kleiner Bruder noch immer im Türrahmen stand. Er hatte noch keinen Ton gesagt. Ich legte meine Hand auf Seths Hand, die auf meiner Schulter lag und schob sie sanft weg. Ich wollte auf Ani zugehen, wollte ihn ins Haus ziehen. Ich hatte Angst, dass er sich plötzlich umdrehen und wieder gehen würde. Aber ich erreichte ihn gar nicht, da lagen schon wieder Seths Hände auf meinen Schultern. Und dann kam Rose ins Bild. „Geh zu Will. Ich kümmere mich um ihn“, sagte sie zu mir, als sie sich zu mir beugte und mich eindringlich ansah. Aber ich sah sie nur im Augenwinkel, weil ich noch immer Ani fokussierte. Seth legte einen Arm um mich und zog mich zu sich. „Du hast sie gehört“, sagte er leise. „Lass uns gehen.“ Und dann drehte er mich um und ging mit mir in Carlisles Arbeitszimmer. Das Licht brannte hell und durchleuchtete den Raum. Als wir ihn betraten, konnten wir Mom, Dad, Carlisle, Edward und Bella sehen. Letztere hatte ihre Arme komplett um Mom gelegt, die ihr Gesicht in Bellas weinroten Pullover vergraben hatte. „Carlisle, was ist mit ihm?!“, wollte Dad wissen. Er stand nervös neben Will, der auf dem Operationstisch lag. Carlisle tastete ihn kurz ab, dann hörte er plötzlich auf und ließ die Hände sinken. Seine ganze Ausstrahlung schien plötzlich zu schwinden, er wirkte richtig müde. Esme verstand. Sie ging hinüber zu den Lichtschaltern und das grelle Licht über dem OP-Tisch erlosch und mit ihm die schreckliche Krankenhausatmosphäre. „Carlisle?“, hakte Dad erneut nach. Carlisles Kopf drehte sich langsam zu meinem Vater. „Es tut mir leid“, sagte er leise. „W-was?“, hauchte Daddy kaum merklich. Mit leicht geöffnetem Mund starrte er Carlisle an. Wahrscheinlich hoffte er sich verhört zu haben. Mein Blick trübte sich langsam. Die Tränen quollen wieder aus meinen Augen. Meine Mutter rechts von mir, hob ihr tränennasses Gesicht aus der Deckung von Großmutters Pulli, sagte jedoch nichts. Niemand sagte etwas. Alle schwiegen. Carlisle hatte es nicht ausgesprochen, doch das war auch nicht notwendig. Mein Bruder war tot. Sein Herz hatte für immer aufgehört zu schlagen. Nie wieder würde er uns besuchen, nie wieder das Lachen seiner Kinder hören. Und sie würden ihren Vater nie wieder sehen. Leahs Warten auf seine Rückkehr war vergebens, denn er würde nie wieder zu ihr zurückkommen. Die Person, auf die sie geprägt war, die eine einzige Person auf dieser Welt, die für sie bestimmt war, war nun fort. Was würde nun mit ihr geschehen? Würde sie stark genug sein und für ihre Kinder weiterleben? Und das alles nur, weil ich ihn gebeten hatte, Ani zurückzuholen. Ich wusste, dass ein Teil von mir mit ihm gestorben war. Aber noch konnte ich dieser Leere und der Trauer keinen Raum in meiner Seele geben. Denn in mir machte sich noch ein weiteres Gefühl breit: Angst. Es gab noch jemanden, der die Schuld ganz sicher bei sich sah. Und was noch viel schlimmer war, ich befürchtete, dass noch mehrere die Schuld bei ihm sahen. Langsam kroch die Panik in mir hoch. Was würde nun mit Anthony passieren? Was würden sie mit ihm machen? Nein, für den Moment durfte ich noch nicht der Trauer nachgeben. Ich musste stark sein. Ganz so, als hätte er meine Gedanken gelesen, ergriff Edward plötzlich das Wort. „Ich will wissen, was passiert ist“, sagte er entschlossen. „Bella“, fügte er dann noch zu Bella gewandt hinzu. Sie ließ vorsichtig meine Mutter los. Esme kam sogleich, nahm sie zu sich und strich ihr beruhigend über den Rücken, dann verließen Bella und Edward den Raum. Er hatte sie mit sich genommen, damit sie Anthonys Fähigkeiten blockierte. Ich warf noch einen kurzen Blick auf meine Eltern und meinen Bruder, dann verließ ich das Zimmer ebenfalls und folgte ihnen. Anthony war inzwischen im Wohnzimmer. Er saß auf dem Sofa und Rose saß neben ihm. Sie hatte ein Glas in der Hand, aber es war noch immer bis zum Rand gefüllt. Offenbar nahm Ani es nicht an. Seine Augen waren nicht mehr so leer wie vorhin. Der Leere war jetzt einer seltsamen Müdigkeit gewichen, aber er sah Rose immer noch nicht an. Sein Blick war leicht gesenkt, wodurch seine Augen fast geschlossen aussahen. Als wir jedoch näher traten, hob er den Blick und musterte uns. Edward, Bella und ich standen einen Meter vom Sofa entfernt. Rose stellte das Glas auf den niedrigen Tisch vor ihr und Emmett setzte sich nun neben sie. „Was ist passiert, Anthony?“, stellte Edward nun jene Frage, die uns alle beschäftigte. Anthony fixierte wieder müde irgendeine Stelle des Wohnzimmertisches. Er zog es vor, Edward nicht anzusehen. Zuerst dachten wir, er würde gar nichts sagen. „Ich hatte mich mit Nahuel gestritten...“, begann er leise. „Dann wurde ich in den Thronsaal gerufen. Und dann... Will... er stand da.“ Ich konnte spüren, wie ihm die Erinnerung wehtat, während er sprach. Jedes Wort eine Tortur. „Er bat mich, die Volturi zu verlassen und wieder nach Hause zu kommen... Aber ich habe ihn zurückgewiesen... und dann bin ich gegangen... habe ihn stehen gelassen...“ Er machte eine kurze Pause, dann hielt er sich die rechte Hand an den Bauch. „Plötzlich war da dieser Schmerz...“ Ich spürte, wie die Blicke zu mir wanderten. Seth, hinter mir, umarmte mich erneut. Ich wandte den Blick jedoch nicht von meinem Bruder ab. Ich hatte gewusst, dass er denselben Schmerz gespürt haben musste wie ich. „Ich bin sofort zurück gerannt“, fuhr er fort. „Aber es war schon zu spät... da war... so viel Blut.“ „Zeig es mir“, sagte Edward plötzlich. Seine sonst so ruhige Stimme hatte einen leicht zu barschen Ton für die momentane Situation. Resultierend daraus starrten wir ihn alle mit einem Mal an. „Edward?“, fragte Bella vorsichtig und legte ihre Hand auf seine Schulter. Auch Anthony sah Edward nun direkt an. Seine roten Augen waren ebenso feucht wie meine, und ich konnte das selbe Unverständnis in ihnen sehen, wie ich es gerade fühlte. „Glaubst du, ich hab das alles nur erfunden?“, fragte er fassungslos. „Doch“, antwortete Edward, nun wieder sanfter. „Aber nichts kann Geschehenes besser visualisieren als eine Erinnerung. Also... bitte.“ Die sanftere Methode war bei Anthony eigentlich immer der bessere Weg, so auch dieses Mal. Bereitwillig ließ er seinen Schutzschild sinken und gewährte Edward den Zugriff auf seine Gedanken und Erinnerungen. Sowohl Edward als auch mein Bruder schlossen ihre Augen, um die Bilder besser sehen zu können, die sich vor ihrem inneren Auge, nun wahrscheinlich wie ein Film abspielten. Ich wusste, wie unangenehm es für Anthony war, seine Barriere herunterzufahren. Es war wahrscheinlich dasselbe Gefühl, wie es andere fühlten, wenn sie sich nackt zeigen mussten. Und dann öffneten die beiden wieder ihre Augen. Für uns war inzwischen eine kleine Ewigkeit vergangen. Jetzt musterten wir alle gespannt Edward. „Es war Caius“, sagte er. Drei Worte. Nur drei Worte. Aber diese drei Worte schienen meiner Familie mehr zu sagen als eine ganze Bibliothek. Ein Raunen und ein Knurren ging kurz durch das Wohnzimmer. Der Name war ihnen wohl nicht unbekannt. Ich für meinen Teil hatte nun die schreckliche Gewissheit, dass dieses Ereignis noch viele viele weitere schlimme Dinge nach sich ziehen würde... Ich spürte, wie Seths Körper hinter mir leicht zu zittern begann und drehte mich zu ihm um. Er hatte die Lippen geschürzt und schien zu überlegen. „Was ist?“, fragte ich besorgt. Schlagartig drehte er sich auf dem Absatz um und ging davon. „Seth?!“ Zügig folgte ich ihm. Sein Ziel war unsere Suite. Als ich sie betreten hatte, sah ich, wie Seth von einem Zimmer ins nächste rannte und wieder zurück. In seinen Händen trug er einen kleinen Stapel Kleider. Im Schlafzimmer sah ich dann, wie er sie in eine kleine Sporttasche legte und wieder ins Bad rannte, um seine Zahnbürste zu holen. „Du willst weg?“ „Ich muss“, antwortete er und zog ein Handtuch aus dem Badezimmerschrank. „Ich will nicht, dass Leah es durchs Telefon erfahren muss. Ich will bei ihr sein. Sie braucht jeden Halt, den sie nur kriegen kann.“ „Okay“, antwortete ich spontan. „Ich begleite dich.“ Seth hielt in seiner Bewegung inne und sah mich an. Er setzte ein sanftes Lächeln auf, dann schüttelte er den Kopf. „Nein“, sagte er und ging auf mich zu. Er umarmte mich und strich mir liebevoll durchs Haar. „Du weißt genau, wie ungern ich dich verlasse, aber du musst hier bleiben. Dein Bruder braucht dich jetzt mehr, als ich es tue.“ Wie recht er hatte... Und so blieb ich. Und ließ Seth allein nach La Push reisen, um ihr diese schreckliche Nachricht zu überbringen. Als ich in dieser Nacht allein in unserem Schlafzimmer lag – Seth hatte vor zwei Stunden das Haus verlassen –, war es so still wie selten zuvor. Es war so leise, dass man hätte meinen können, man sei das letzte lebende Wesen auf Erden. Ich hörte das Ticken meines Weckers und den Wind, der draußen durch die Bäume blies. Ich hörte die Blätter, die er mit sich trug. Aber ich hörte keinen Ton von meiner Familie. Kein Rumoren meines Vaters in der Küche. Kein leises Flüstern von Alice und Jasper. Kein Emmett, wie er eine Fernsehsendung kommentierte. Keine Waschmaschine, die Esme angeschaltet hatte. Nichts. Es machte mich unruhig. Ich drehte mich von einer Seite auf die andere, wusste jedoch, dass ich weder so noch so würde schlafen können. Also stand ich auf und verließ unsere Suite. Aus irgendeinem mir unerfindlichen Grund, schlich ich anschließend durch die Villa, als würde ich damit irgendjemanden stören. Die Lichter in den Räumen brannten hier und da, doch nirgendwo konnte ich jemanden sehen oder hören. Es war nach wie vor still. Ich wusste nicht mal, ob überhaupt wer da war oder ob alle das Haus verlassen hatten. Ich hätte es ihnen nicht verübelt. Nachdem ich den Flur betreten hatte, überkam mich ein plötzliches starkes Unwohlsein. Der Gedanke, dass ganz in der Nähe der tote Körper meines älteren Bruders lag, ließ mich schaudern und zittern. Ich blieb stehen und verschränkte die Arme, als wolle ich mich selbst damit umarmen, aber das ungute Gefühl blieb. Ich schluckte und ging weiter Richtung Keller. Hier unten brannte kein einziges Licht. Ich konnte nicht mal Licht unter Anis Türspalt sehen. Als ich die Türklinge vorsichtig berührte, befürchtete ich einen Augenblick, er sei gar nicht da, doch dann konnte ich deutlich seine Präsenz spüren und öffnete leise die Tür zu seinem Zimmer. Das Mondlicht schien von draußen durch die wenigen kleinen Fenster und tauchte das karge Mobiliar in ein weiches Licht. Anthony saß auf seinem Bett und hatte den Rücken an einige Kissen gelehnt. Bis jetzt schien er den Mond angesehen zu haben, doch dann bewegte er seinen Blick langsam zu mir. Die Dunkelheit der Nacht verbarg die rote Farbe seiner Augen, doch die Tränen vermochte es nicht zu verbergen. Seine Augen waren noch immer glasig. „Ich...“, sagte ich leise. „Ich kann nicht schlafen. K-kann ich bei d-dir...“ Er nickte, ohne dass ich den Satz beendet hatte. Sofort wurde mein Unwohlsein ein klein wenig besser. Ich schloss die Tür leise und krabbelte fast lautlos zu ihm ins Bett. Er legte einen Arm um mich, und ich lehnte meinen Kopf an seine Brust. Eine Weile lagen wir einfach so da. Irgendwann rutschte er dann etwas hinunter und legte seine Wange an meinen Kopf. Draußen heulte noch immer der Wind, und er war auch noch immer das einzige Geräusch, abgesehen von unseren schlagenden Herzen. Sein Herz schlug etwas schneller als das meiner Mutter und auch ein klein wenig schneller als meines. Doch dann kam mir in den Sinn, dass ich Wills Herz nie wieder schlagen hören würde, und ich bekam Angst, ich könnte irgendwann den Takt seines schlagenden Herzens vergessen. Oder seinen Geruch. Sein Lachen. Seine Stimme. Das Leuchten seiner Augen, wenn er seine Familie sah... Ich fragte mich, wo Seth gerade war. Wahrscheinlich saß er noch im Flugzeug. Dies war die letzte Nacht, in der Leah noch Hoffnung haben konnte, dass ihr Mann zu ihr zurückkehrte. Ich war mir recht sicher, dass sie spürte, dass etwas nicht in Ordnung war. Morgen früh, würde ihre Welt zerbrechen. Alles, was zurückblieb, war ein Scherbenmeer. Eines, in dem wir auch gerade badeten. Und noch lange baden würden... Nach meinem Erwachen am nächsten Morgen kam es mir so vor, als hätte ich gar nicht geschlafen. Ich erinnerte mich weder an einen Traum, noch an den Moment in dem ich eingeschlafen war. Zu meiner Erleichterung lag Ani noch immer neben mir. Er schien sich gar nicht bewegt, geschweige denn geschlafen zu haben. Als er merkte, dass ich wach war, sah er mich kurz an und gab mir einen Kuss auf die Stirn. „Du hast nicht geschlafen, mhm?“, fragte ich leise. Er schüttelte den Kopf. „Wie könnte ich das?“ Es waren die ersten Worte, die ich seit seiner Schilderung von Wills Tod von ihm gehört hatte. Ich antwortete nichts. Kuschelte mich einfach wieder an ihn und stellte mich mental darauf ein, dass wir den Rest des Tages auch hier verbringen würden, doch mein Bruder schaffte es immer wieder, mich zu überraschen. „Mariella...“, sagte er und löste sich vorsichtig von mir. „Ich... möchte zu Will.“ Er schien Angst vor diesem Gang zu haben. „Kommst du mit?“ Ich nickte. Der Weg zu Will war unendlich schwer und lang. Und irgendwie gleichzeitig viel zu kurz. Obwohl uns keiner gesagt hatte, wo er lag, wussten wir es. Es gab eigentlich keinen passenderen Ort, als das Zimmer, das mit Wills alten Möbeln ausgestattet war, und das er immer dann bezogen hatte, wenn er uns besuchen gekommen war. Niemand begegnete uns. Und so war meine einzige Angst, jener Moment, in dem ich ihn, wieder vor mir liegen sehen würde. Doch diese Angst wich, nachdem wir die Tür geöffnet hatten und wurde durch eine andere ersetzt: Vor Will saß unser Vater auf einem Stuhl. Er hatte den Rücken zu uns gedreht, doch ich hörte ein Schluchzen und konnte das Salz riechen. Ich nahm an, dass Ani sofort kehrt machen würde, doch das tat er nicht. Er haderte kurz, dann betrat er das Zimmer. Ich glaubte meinen Augen kaum, aber er ging auf Dad zu, hob die Hand und näherte sich ihm, um sie auf dessen Schulter zu legen. „Vater...“, flüsterte er leise, doch es kam zu keiner Berührung. „Lass mich allein...“, sagte Dad und Ani hielt in seiner Bewegung inne und sah Vaters Rücken an. Ich ging zu ihm und nahm ihn am Arm, doch er drehte sich schlagartig um, so dass ich ihn losließ und verließ den Raum. Es sollte Anis letzter und einziger Versuch sein, seinen Bruder noch einmal zu sehen... Ich glaubte, es könnte nicht mehr schlimmer kommen und war heilfroh, als es zwei Tage später an der Tür klingelte. Ich spürte, dass es Seth war und ging ins Wohnzimmer, um ihn zu begrüßen, doch als ich durch den Flur ging, merkte ich bereits, dass er nicht allein war. „Mein herzliches Beileid“, hörte ich Esmes mitfühlende, schöne Stimme. Und ich wusste, dass dieser Satz nur Leah gegolten haben konnte. Nachdem ich das Zimmer betreten hatte, strahlte Seth für einen kurzen Moment, ging auf mich zu und umarmte mich. Über seinen Rücken hinweg sah ich Leah, deren dunkle, feuchte Augen mich finster anfunkelten. Uns so zu sehen, war für sie wahrscheinlich, wie ein Schlag ins Gesicht, also löste ich mich aus Seths Umarmung und ging ebenfalls zu ihr. „Leah, es tut mir schrecklich leid. Ich weiß, wie du dich fühlen musst.“ Leah schnaubte trotzig. „Spar dir das.“ Ich sah Leah mit großen Augen an und schwieg. Als ich sie musterte, fiel mir mit einem Mal auf, dass sie wieder schlank war. Der Babybauch war fort. „Du möchtest sicher Will sehen“, vermutete Esme. Leah nickte. Seth legte einen Arm um mich und zeigte mir mit sanftem Druck an, dass es Zeit war zu gehen. Er berichtete mir, was nach seiner Ankunft in La Push geschehen war. Leah hatte die Nachricht zwar geahnt und im ersten Moment mit Fassung getragen, doch kaum hatte sie ihre Kinder in die Obhut einer Freundin gegeben, war sie förmlich zusammengebrochen. Glücklicherweise hatte sie ihr Baby bereits zuvor entbunden, denn ansonsten wäre es sicher jetzt gekommen. Williams kleine Tochter, wurde einen Tag nach seinem Tod geboren. Für Leah war es wie ein kleines Wunder. Eigentlich sollte die Kleine Sue heißen, nach ihrer Großmutter. Doch Leah taufte sie nun Billy-Sue, damit sie auch den Namen ihres Großvaters und ihres Vaters trug. Als ich das hörte, fiel mir ein Stein vom Herzen. Für mich war dies das Zeichen, dass sie den Willen hatte, für ihre Kinder weiterzuleben. „Sie ist herkommen, um ihn mitzunehmen“, sagte Seth, als wir gemeinsam auf unserem Bett saßen. Mir war klar gewesen, dass Will in La Push beigesetzt werden würde. Dort waren seine Kinder zur Welt gekommen, dort waren seine Wurzeln und seine Heimat. „Er hätte es so gewollt“, sagte ich. Seth lächelte zaghaft und ich lächelte zurück. Dann tat es plötzlich einen dumpfen Schlag. Das Lächeln wich aus unseren Gesichtern. Im vollem Bewusstsein, dass es nichts Gutes bedeuten konnte, rannten wir los. Als wir am Ort des Geschehens eintrafen, waren bereits andere Familienmitglieder dort. „Leah, Leah, beruhig dich“, redete Edward ihr gut zu, während er sie festhielt. Sie wand sich in seinem Griff, kam jedoch nicht frei. „Lass mich!“, schrie sie ihn an. Ihr Gesicht war feuerrot und voller Tränen. Auf der ihr gegenüberliegenden Seite, saß Ani auf dem Boden und rappelte sich gerade wieder langsam auf. Ich sah noch, wie der letzte Rest einer Wunde sich verschloss und schließlich verschwand. Leah hielt in ihrer Bewegung inne. „Ja“, sagte sie verbittert und mit zusammengebissenen Zähnen. „Ist es nicht schön, dass deine Wunden wieder verschwinden, als hätte es sie nie gegeben, während er an seinen sterben musste?!“ „Leah“, mahnte Edward, ehe er einen kurzen Blick nach hinten warf, wo sich bereits die komplette Familie, mit Ausnahme meiner Eltern, Esme und Bella, versammelt hatte. „Bitte geht“, sagte er zu uns gewandt. Die meisten folgten seiner Bitte und gingen, aber Seth und ich blieben. Anthony stand nun wieder und sah Leah an. Sein Blick war unergründlich und jeder, der ihn nicht so gut kannte, wie ich es tat, konnte den Schmerz in ihm wahrscheinlich nur erahnen. Als er näher an Leah herantrat, hörte sie auf sich zu bewegen und starrte ihn an. „Wenn du nur wüsstest, wie sehr ich mir wünschte, ich könnte den Platz mit ihm tauschen.“ Dann verließ Ani den Raum, und Edward ließ Leah los, die uns noch kurz anschaute und dann ebenfalls hinaustrat und in der anderen Richtung verschwand. Seth folgte ihr. Ich sah meinen Großvater an. „Sie sind sich zufällig begegnet“, antwortete er auf meine fragenden Gedanken. „Sie hat ihn angeschrien und attackiert. Er hat sich nicht gewehrt.“ Natürlich suchte Leah in ihrem Schmerz einen Schuldigen. Und wen sonst sollte sie beschuldigen, wenn nicht den, wegen dem er sie verlassen hatte? Am liebsten wäre ich sofort zu ihr gerannt und hätte sie um Verzeihung gebeten, hätte ihr gesagt, dass sie nicht Anthony die Schuld geben sollte, sondern mir. Schließlich war ich die gewesen, die Will darum gebeten hatte, nach Volterra zu gehen. Doch noch in derselben Nacht, nahm Seth mein Gesicht in seine Hände und sah mich eindringlich an. „Um Himmels willen, nein! Du bist nicht schuld an Wills Tod. Und Anthony ist es genauso wenig. Keiner von euch. Und es wird der Zeitpunkt kommen, da wird Leah das begreifen. Und Jake ebenfalls.“ „Aber-“, versuchte ich zu antworten, doch plötzlich legte Seth seine Lippen auf meine und küsste mich leidenschaftlich. Ich schloss meine Augen und erwiderte seinen Kuss. Ich spürte, wie seine Hand zu meinem Hinterkopf wanderte und durch mein Haar streichelte, während die andere über meinen Rücken strich. Nachdem sich unsere Lippen voneinander gelöst hatten, drückte er mich zärtlich an sich. „Bitte, hör auf, dir selbst die Schuld zu geben. Wenn jemand Schuld hat, dann derjenige, der Will tödlich verletzt hat. Weder du noch Anthony konnten wissen, was geschehen würde. Will hätte sicher nicht gewollt, dass ihr unter seinem Tod leidet.“ *** William Edward Black-Cullen, mein über alles geliebter Bruder, wurde einige Tage später auf dem Reservatsfriedhof von La Push, im Kreise seiner Familie, beigesetzt. Als ich das Reservat, zum ersten Mal, seit so vielen Jahren wieder sah, merkte ich, was für ein großer Verlust, sein Tod für diese Menschen hier war. Er hatte sie in den letzten zwölf Jahren geführt, ihnen Halt gegeben. Niemand hätte den Platz seines Großvaters, Billy Black, besser einnehmen können als er. Und nun war Leah alles was ihnen blieb. Und eines Tages, würde der kleine Harry vielleicht mal seinen Platz als Häuptling einnehmen. Aber bis dahin war es noch eine lange Zeit... . Es regnete wie so häufig hier. Seth drückte mich noch etwas enger an sich, als wir beide zusahen, wie Leah mit ihren schwarzen Kleidern und ihrem schwarzen Regenschirm, vor das große rechteckige Loch, in der Erde kniete. In der einen Hand hielt sie eine rote Rose, in der anderen trug sie ihre kleine Billy-Sue und links und rechts von ihr standen Harry und Madeleine, die beide noch nicht so recht begriffen hatten, was sie hier eigentlich taten. Es würde noch eine Weile dauern, ehe sie verstehen würden, dass ihr Vater nicht mehr wiederkommen würde. Doch die Trauer ihrer Mutter, ließ sie nicht unberührt und so war es kaum verwunderlich, dass Wills Kleinste bitterlich zu weinen anfing, nachdem Leah einige Minuten stumm vor dem Grab gekniet hatte. Sie schloss die Augen und küsste die rote Rose. „Hach awi. Quo pat ...“, wisperte sie sanft, ehe sie, sie hinunter zu Will warf und sich dann mit ihren Kindern zurückzog. Nach ihr durften unsere Eltern ans Grab. Mommy und Daddy hielten jeweils eine weiße Rose in ihrer Hand und während letzterer, mit feuchten Augen, die Hände vor dem Bauch gekreuzt hatte, begann meine Mutter leise zu flüstern: „Mein Kind... es war schon immer meine größte Angst, dass ich dich eines Tages verlieren würde. Ich hoffte, ich würde niemals mein Kind zu Grabe tragen müssen und jetzt sitze ich doch hier... du hast dich selbst gegen die Ewigkeit entschieden, und das war gut so, denn du hast sie gegen ein wundervolles, gewöhnliches Leben mit deiner Familie getauscht. Doch dieses Leben war viel zu kurz und wurde dir viel zu früh genommen. Ich hoffe... inständig, dass es dir gut geht, dort wo du jetzt bist... und... und ich... wir... werden dich niemals vergessen... denn wir lieben dich... von ganzem Herzen...“ Keine Worte konnten beschreiben, was ich fühlte, als ich schließlich vor seinem, in die Erde eingelassenen Sarg, stand und das nasse Holz ansah, auf dem die einzelnen Rosen lagen. Es gab so vieles, was ich sagen wollte, aber nichts davon kam mir über meine Lippen. Vor meinem geistigen Auge, sah ich Bilder aus vergangenen Tagen, Erinnerungen aus der Zeit, als Will noch bei uns war. Und ich erinnerte mich daran, wie ich ihm immer in die Arme gesprungen war, wenn er uns an den verschiedenen Feiertagen besuchte. Besonders gefallen hatten mir die vielen gemeinsamen Weihnachtsfeste. Jedes Jahr hatte Emmett die schönste Tanne aus dem Wald geholt und sie in unser Wohnzimmer gestellt, wo Alice sie geschmückt hatte. Bis heute waren mir die roten Weihnachtskugeln immer noch die liebsten am Baum. Gedankenverloren und mit Tränen in den Augen, griff ich nun in meine schwarze Umhängetasche. Meine Finger umfassten den weichen Stoff und zogen vorsichtig den kleinen Kuschelwolf hervor, den ich zu meinem ersten Weihnachten von Emmett bekommen hatte. Mommy hatte einige Weihnachten später mal erzählt, dass das Kuscheltier der Auslöser für Wills erste Verwandlung in einen Wolf gewesen war. Er hatte ihn unbedingt haben wollen und war so enttäuscht, nicht auch so einen geschenkt bekommen zu haben, dass er sich verwandelte und als Wolfsjunges über die Fliesen fegte. Einen Moment zweifelte ich noch und sah den, mittlerweile ein wenig mitgenommenen, Kuschelwolf an, auf dessen Kulleraugen nun ein paar Regentropfen gelandet waren. Ich hatte die Wahl, den Wolf zu behalten. Aber wie ich mich kannte, würde ich mich nur die nächsten Wochen oder Monate dran klammern, als sei er mein letztes Bindestück zu meinem Bruder, aber das stimmte nicht. Meine Erinnerungen würden reichen, ganz bestimmt. „Ich werde dich niemals vergessen, großer Bruder“, flüsterte ich und ließ das Wölfchen los. Es landete direkt neben Mommys weißer Rose... . Die wenigen anderen Trauerenden, die Leah noch zur Trauerfeier eingeladen hatte, sah ich dann nicht mehr. Meine tränenden Augen brannten wie Feuer und ich vergrub sie hilfesuchend in Seths Brust. Obwohl ihr der Gedanke missfiel, nach dem Tod ihres Mannes ein Essen zu veranstalten, hatte Leah einige wenige zu sich nach Hause gebeten. Und während meine Eltern aus Respekt, vor Wills Witwe und seinen geliebten Kindern, den Abend von Wills Beerdigung dort verbrachten, war ich mit Rosalie, Emmett und den anderen zu unserem alten Anwesen in Forks gegangen. Alice hatte es mit der Hilfe der anderen, kurzfristig soweit wieder entstaubt und die Folien von den Möbeln gezogen, dass wir für die nächsten paar Tage hier bleiben konnten. Der Wind blies durch mein braunes, leicht gelocktes Haar, als ich in dieser Nacht auf der Verandatreppe saß und in den Wald hinein starrte. Die Bäume wogen sich leicht in den Böen und die wenigen, im kalten Winde ruhenden Gräser, sahen ebenso müde und kaputt aus, wie ich mich fühlte. Dann spürte ich eine vertraute Hand an meiner Schulter. „Bella und Edward sind schon wieder hier, aber sie begleiten Charlie nun nach Hause“, klärte er mich auf. „Der Arme...“, sagte ich leise. „Es muss ein Schock für ihn sein, seinen Urenkel zu verlieren.“ Seth strich mir über den Rücken. „Mindestens so groß wie der Schock, der es für dich ist, deinen großen Bruder zu verlieren.“ Ich schluchzte, rümpfte die Nase und sah wieder nach unten. „Ist Anthony schon hier gewesen?“, fragte er nun. Ich schüttelte nur den Kopf. Mein Bruder war nicht mit unserem Privatjet geflogen. Er war nicht in der Lage gewesen, mit meinen Eltern, Leah und Will in einer Maschine zu sitzen, aber ich hoffte, er würde trotzdem einen Weg finden, hierher zu kommen. Und dass er den Mut haben würde, sich von Will zu verabschieden. „Er wird schon kommen“, flüsterte Seth. Wie immer las er förmlich in meinen Gedanken, als hätte er Großvaters Gabe. Er gab mir einen zärtlichen Kuss, dann ging er wieder ins Haus. Es tat gut, hier zu sitzen. Die Stille, die kühle Luft. Einfach nur die Sterne beobachten. Und dann spürte ich es. Das Gefühl, nachdem ich mich gesehnt hatte. Erwartungsvoll stand ich auf und stellte mich auf die unterste Stufe der Treppe. Noch ein Rascheln im Gebüsch am Waldrand, dann trat mein kleiner Bruder hervor. Obwohl die Situation so traurig war, musste ich unweigerlich lächeln, während mir erneut Tränen die Wangen herunterliefen. Ich war so froh, dass er doch noch gekommen war. Ohne noch länger zu zögern, rannte ich auf ihn zu und umarmte ihn. „Ani!“, sagte ich schluchzend. Er nahm mich in den Arm und strich mir über den Rücken. Nachdem ich mich wieder von ihm gelöst hatte und in seine roten Augen sah, erkannte ich auch in ihnen ein paar feuchte Tränen, doch auch er lächelte, wenn auch kaum merklich. Es war bereits nach Mitternacht, als wir an Wills Grab in La Push ankamen. Niemand war mehr hier und die kleinen Lichter flackerten und zuckten im Wind. Das Holzkreuz, das bald durch einen Grabstein ersetzt werden würde, steckte direkt hinter einem Berg aus aufgetürmter Erde und Blumen. Etwa zwei Meter vor dem Grab blieben wir stehen. Meine Augen wanderten von ihm zu Anthony, der stumm neben mir stand und die Blumen ansah, deren weiße und gelbe Blüten im Mondlicht leuchteten. Ich nahm die Hand meines Bruders und drückte sie. Er sah mich kurz an und nickte, dann ließ er meine Hand los und ging die wenigen, jedoch für ihn sicher sehr schweren, Schritte nach vorn zu Wills Grab. Ich blieb stehen. Ich wollte ihm möglichst viel Raum geben, ihn allerdings auch wissen lassen, dass er nicht allein war. Einige Zeit blieb er einfach nur so stehen, dann kniete er sich vor Wills Grab. Zunächst dachte ich, er würde nun einfach so stumm sitzen bleiben, doch dann vergrub er plötzlich seine Hand in die dunkle Erde und sank etwas mehr in sich zusammen. „Bruder...“, begann er leise. „Bitte vergib mir, dass ich nicht stark genug bin, um dir deinen letzten Wunsch zu erfüllen. Aber die Last meiner Schuld liegt so schwer auf meinen Schultern und ich trage sie mit mir... Tag für Tag. Ich hoffe...“, begann er nun zu schluchzen. „Eines Tages werden unsere Eltern mir vergeben können, dass ich ihnen ihren Sohn genommen habe. Ich hoffe... eines Tages wird unsere Schwester mir vergeben können, dass ich ihr ihren Bruder nahm...“ Jetzt sah ich erschrocken auf. Wie könnte ich Ani je die Schuld an Wills Tod geben? Ich wollte gerade auf ihn zugehen, um ihm das auszureden, doch er fuhr einfach fort und ich hielt in meiner Bewegung inne. „Ich hoffe...“, fing er nun zum dritten Mal an und hatte die Hände noch immer in der Erde. „Eines Tages... können deine Kinder mir vergeben, dass ich ihnen ihren Vater genommen habe. Und... und ich hoffe, eines Tages kann deine Frau mir vergeben, dass ihr ihren Mann nahm.“ „Ani...“, flüsterte ich. Doch das Schlimmste stand mir erst noch bevor. „Aber...“, sagte er nach einer kurzen Pause. Er zog die Hand aus dem Boden und drehte sie, so dass etwas Erde in seiner Handfläche lag, dann ballte er sie mitsamt der Erde zu einer Faust. „Ich werde mir niemals selbst vergeben, dass ich dir dein Leben nahm!“ Nun stand mir der Mund leicht offen. Dass er die Schuld ganz allein bei sich sah, hatte ich ja bereits gefürchtet, es nun aber aus seinem eigenen Mund zu hören, war noch mal etwas anderes. Ich wartete noch einen Augenblick, dann kniete ich mich neben meinen kleinen Bruder. „Bitte hör auf“, bat ich. Er hatte die Augen geschlossen. „Mit was?“, fragte er tonlos und ließ die Hände wieder sinken. „Es ist nicht deine Schuld!“ Plötzlich öffnete er sie und funkelte mich an. Durch das Rot in seinen Augen wurde sein finsterer Blick noch verstärkt. „Wessen Schuld soll es denn dann sein, Mariella?!“ Ich schrak nur einen Augenblick zurück, dann konterte ich. „Die des Vampirs, der ihn angegriffen hat!“ Er schüttelte den Kopf und schnaubte. „So einfach ist das nicht, Mariella. Wenn ich nicht gegangen wäre, dann wäre er noch am Leben!“ „Und was ist mit mir?!“, schrie ich nun auch fast selbst. „Ich hab ihn doch darum gebeten, dich zurückzuholen.“ Anthony drehte sich zu mir und nahm meine Hände in die seinen. „Das ändert nichts. Es bleibt dabei. Wenn ich nicht gegangen wäre, hättest du ihn nicht darum bitten müssen. Egal wer noch daran beteiligt war. Am Ende bin ich es doch, der es zu verantworten hat und genau deshalb werde ich auch gehen.“ „W-was?“ Meine Worte waren nahezu tonlos, nur ein Windhauch. Anthony ließ meine Hände los, stand auf und drehte sich zum gehen um. „Wohin?“, fragte ich verzweifelt. „Zurück nach Volterra.“ „Du willst wieder bei denen leben?“ Mein Bruder machte einen verächtlichen Ton. „Ganz sicher nicht. Ich will nur gleiches mit gleichem vergelten.“ „Was heißt das? Was hast du vor?“ Er schüttelte den Kopf und antwortete mir nicht. Jetzt stand ich auf und nahm ihn wieder an der Hand. Ich wusste nicht, wovon er redete, aber ich spürte, dass ich ihn auf gar keinen Fall gehen lassen konnte. „Tu das nicht“, flehte ich. „Bitte bleib bei mir, Ani.“ Sein Mund formte sich zu einem Lächeln, obwohl ein paar vereinzelte Tränen seine hellen Wangen herab liefen. „Wenn der Mond durch dein Verschulden in Blut getränkt ist, wohin willst du dann gehen?“ Mein kleiner Bruder drehte sich zu mir um, nahm mein Gesicht in seine Hände und gab mir einen sanften Kuss auf die Stirn und dann ging er. Und ich blieb allein zurück... nur noch das dumpfe Gefühl, ihn nie wieder zu sehen, blieb zurück. Und genau jenes Gefühl war es auch, das mich dann dazu trieb, so schnell zu laufen wie noch nie zuvor. Zurück zu meiner Familie, in der Hoffnung, Hilfe zu bekommen. Glücklicherweise stand die Verandatür offen, als ich ankam, andernfalls wäre ich vielleicht sogar durch die geschlossene Glastür gebrettert. Als ich dann im Wohnzimmer stand, sah ich meine versammelte Familie vor mir und jedes einzelne vorhandene Augenpaar starrte mich an. „Was ist los, Mariella?“, fragte Carlisle sanft wie eh und je. „Ani“, begann ich und sein Name ließ alle noch aufmerksamer drein blicken. „Er will nach Volterra.“ „Was?“, fragte Alice ungläubig. „Er sagte, er wolle Gleiches mit Gleichem vergelten“, gab ich die Worte meines Bruders wieder. „Das hört sich nicht gut an“, sagte Bella leise. „Nein“, stimmte Edward ihr zu. „Was könnte er vorhaben, Carlisle?“ Carlisle überlegte kurz, dann flüsterte er nur einen Namen: „Athenodora.“ „Was?“, zischte Edward. „Sie ist wahrscheinlich das Einzige, das Caius etwas bedeutet. Die Frage ist nur, ob Anthony sich dessen bewusst ist.“ „Er hat sie und Athenodora kennengelernt. Ich habe die Erinnerung in seinen Gedanken gehört.“ „Dann wird sie wahrscheinlich sein Ziel sein.“ „Wie? Was?“ Plötzlich schaltete sich Dad ins Gespräch ein. „Wovon redet ihr? Wer ist das?“ „Athenodora ist Caius Gefährtin“, klärte Bella ihn auf. „Carlisle vermutet, dass Ani sie angreifen will.“ „Wenn er, wie Mariella erzählte, wirklich davon sprach, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, dann nehme ich stark an, dass er Caius denselben Schmerz zufügen möchte, den Caius uns zufügte, in dem er Will tötete. Und das geht nur über seine Partnerin.“ „Das ist Wahnsinn!“, sagte Rosalie. „Das ist dumm!“, meinte Daddy. „Das sind deine Gene“, kommentierte Edward sarkastisch und die umliegenden Augenpaare fuhren in seine Richtung, während Dad ihn düster an funkelte. „Immer mit dem Kopf durch die Wand“, sagte Bella. Und plötzlich drängelte meine Mum sich in die Mitte. „Was stehen wir hier noch rum?!“, schrie sie uns fast an. „Wir müssen ihn aufhalten!“ Ihr Blick wanderte von einem zum nächsten und blieb dann an Dads Gesicht haften. „Du...“, sagte sie und ging nun langsam auf ihn zu, während die anderen Platz machten. „Wenn ich in Gefahr gewesen wäre und du davon erfahren hättest, wärst du der Erste, der sich verwandelt und durch das geschlossene Fenster gesprungen wäre.“ „Nessie“, flüsterte Dad sanft und sah zu ihr hinab, wie sie da mit rotem verweintem Gesicht vor ihm stand. „Du hast mal zu mir gesagt... die Prägung würde unsere Kinder einschließen und dass du ihnen deswegen nichts tun könntest.“ Dad nickte, doch ich konnte in seinem Blick sehen, dass er Angst vor dem hatte, was nun kommen würde. „Du tust aber auch nichts, um sie zu beschützen. Erinnerst du dich an den Tag, an dem unsere Kinder geboren wurden? Ich wäre für sie gestorben. Ich wäre fast nicht in der Lage gewesen, Ani auf die Welt zu helfen. Und ich habe dich darum gebeten, das für mich zu tun. Und du hast mir damals gesagt, dass ich dich nicht darum bitten solle, mich umzubringen. Du hattest starke Zweifel daran, ob du es schaffen würdest, ihm ins Leben zu helfen. Aber letzten Endes, haben wir beide überlebt. Unser Kind und ich. Wir hatten das Glück ein unsterbliches Leben im Kreise einer sorgenden Familie zu haben, zusammen mit drei wundervollen Kindern. Und jetzt ist eines davon tot und ein weiteres rennt dem Tod wahrscheinlich jetzt im Augenblick in die Arme.“ „Was redest du denn da?“, fragte Dad ungläubig. „Ich liebe meine Kinder!“ „Warum zeigst du es dann nicht? Alles... alles, was er je wollte, war etwas Anerkennung... und Liebe... von dir.“ Ihre Stimme war kurz davor zu versagen. „Was ist daran denn zuviel verlangt?“ „Nessie...“, flüsterte er. „Weißt du...“, setzte sie wieder an. „Ich hab ihm so oft im Vertrauen gesagt, dass du ihn so sehr liebst und dass du es ihm irgendwann zeigen wirst. Aber dieses Irgendwann kam nie.“ Dad sagte nichts mehr. So wie er den Blick senkte, versanken wir in einer unangenehmen Stille. Ich nahm Seths Hand und drückte sie, dann ging ich vor die Tür und mein Liebster folgte mir auf dem Fuß. „Ich kann dich wohl nicht davon abbringen, ihm zu folgen?“ Ich schüttelte den Kopf, ohne mich umzudrehen. „Na dann...“, seufzte er und dann hörte ich ein reißendes Geräusch. Das Nächste, was ich spürte, war Seths feuchte Wolfsnase, die mich sanft anstupste. Er kauerte sich leicht auf den Boden, so dass ich aufsteigen konnte und dann sprintete er mit einem gewaltigen Satz nach vorn. Wir fegten durch die Wälder und Wiesen Irlands. Mir war es inzwischen ganz gleich, ob unsere Familie es uns gleich tat. Je mehr Zeit wir durch bloße Worte verstreichen ließen, umso geringer wurde unsere Chance, meinen Bruder lebend aus Volterra zu holen. Und ich wollte diese Chance auf keinen Fall verstreichen lassen. Seth trug mich auf seinem Rücken in Windeseile so nah wie möglich an den Flughafen heran. Ich wartete nicht mal, bis er sich zurückverwandelt und bekleidet hatte. Ich rannte ohne ihn weiter, bis meine Schuhe über die glatten Fliesen in der Halle des Flughafens rutschten und ich vor dem nächsten freien Schalter zum Stehen kam. „Guten Abend, was kann ich für Sie tun?“, fragte die Frau hinter dem Schalter, die eine dunkelblaue Uniform trug und ihre Haare fein säuberlich hochgesteckt hatte. Plötzlich spürte ich Seths Hand mit ihrer, für mich angenehmen Temperatur. „Wann geht der nächste Flieger nach Pisa?“, sagte ich und schob ihr meinen gefälschten Pass zu. Auf diesem war ich gerade einmal 21. „Einen Augenblick, bitte“. Als die Dame sich umdrehte, drückte Seth meine Hand und sah mich eindringlich an. „Wollen wir nicht auf die anderen warten? Die fliegen sicher mit dem Privatflieger.“ Ich schüttelte den Kopf. „Nein, das dauert mir zu lange. Jede Sekunde, die wir warten, ist eine Sekunde zu viel. Mir ist es egal, wie wir nach Volterra kommen. Ich würde auch zwischen den Gepäckstücken sitzen!“ „Oh nein, das müssen Sie bei uns nicht, Miss Cullen. Wir hätten da noch zwei Plätze. First Class, allerdings nicht direkt nebeneinander. „Das ist uns egal. Wann startet die Maschine?“, fragte ich nervös und legte die Hände auf den Schalter. „Ihr Flug geht in einer Viertelstunde. Ich muss Sie daher bitten, sofort einzuchecken.“ „Das müssen Sie mir nicht zweimal sagen“, antwortete ich. „Das ist schön“, sagte sie weiterhin freundlich. Ihre ruhige Art mochte sonst toll sein, aber in diesem Moment, machte sie mich damit wahnsinnig. „Haben Sie Gepäck?“ „Nein“, sagte Seth. „Können wir dann?“, fragte ich ungeduldig. Sie nickte und druckte die Tickets aus. Am liebsten hätte ich das Gerät direkt gepackt und die Tickets einfach raus gezogen, damit es schneller ging. Bis wir das Papier in der Hand hatten und ich in meinem ledernen Sitz im Flugzeug saß, war ich bereits tausend Tode gestorben. Zumindest fühlte ich mich so. Denn während wir hier Zeit vertrödelten, konnte mein Bruder direkt Richtung Italien fliegen. Er brauchte dazu keine Hilfe und ich wusste aus Erfahrung um seine enorme Geschwindigkeit und seine Ausdauer. Besonders jetzt, da er ein so deutliches Ziel vor Augen hatte. Müde stützte ich mich mit dem Ellbogen auf die Armlehne zu meiner Rechten, legte das Kinn in die Handfläche und sah auf den Gang, wo ich Seths Hinterkopf zwei Plätze weiter vorn, auf der mir gegenüberliegenden Sitzreihe erblickte. Er plauderte gerade recht eifrig mit der Person neben ihm. Ich fragte mich, wie er so gelassen sein konnte und mit jemand wildfremden redete, obwohl wir gerade versuchten, das Leben meines Bruders zu retten. Das hörte sich für mich selbst in Gedanken an, wie aus dem Drehbuch eines Thrillers oder Actionfilms gegriffen, aber im Grunde traf es das auf den Punkt. Plötzlich erhob sich mein Seth und ging lächelnd auf meinen Platz zu. Er reichte mir seine Hand und ich sah verwundert zu ihm auf. „Na, nun nimm sie schon.“ Ich legte meine Hand in seine und er half mir aus dem Sitz und ging mit mir zurück zu seinem Platz. Der ältere Herr, der dort saß, war gerade eifrig damit beschäftigt, seine letzten Sachen einzupacken, dann stand er auf und lächelte mich an. „Nehmen Sie nur Platz, junges Fräulein. Ich wünsche Ihnen gute Besserung.“ „Danke“, antwortete ich ebenfalls lächelnd. Ich hatte aber keine Ahnung, was das sollte. Da mein Blick wohl Bände sprach, klärte Seth mich auf, kaum dass ich mich auf den Fensterplatz neben ihm gesetzt hatte. „Ich hab ihm gesagt, dir wird beim Fliegen schlecht, und dass wir nur getrennte Plätze gekriegt haben, weil wir aus familiären Gründen ganz schnell den nächstbesten Flug buchen mussten.“ „Ist ja nicht mal komplett gelogen“, antwortete ich leise. „Eigentlich, meine Liebste, ist es gar nicht gelogen.“ „Seh ich wirklich so schlecht aus?“ Er streichelte meine Wange. „Du bist das schönste Lebewesen im ganzen Universum, aber im Moment siehst du ziemlich fertig aus.“ „Oh...“, sagte ich und senkte den Blick. Er legte seine Hand unter mein Kinn und hob es sanft hoch. „Ich kann es dir nicht verübeln. Aber ich verspreche dir, dass wir rechtzeitig in Italien ankommen werden.“ „Danke“, flüsterte ich und kuschelte mich dann an ihn. Knapp vier Stunden später setzte ich meine Füße zum aller ersten Mal auf italienischen Boden. Unter anderen Umständen hätte ich es vielleicht sogar als toll empfunden, ein neues Land kennenzulernen. So aber hoffte ich, diesen Boden mitsamt meines kleinen Bruders, so bald wie möglich verlassen zu können. Inzwischen war es bereits früher Morgen und in wenigen Stunden, würde es dämmern. Auf Seths Rücken fegten die Zypressen ebenso schnell an mir vorbei, wie unsere heimischen Tannen. Ich konnte die Schönheit, die der Toskana immer nachgesagt wurde, zu keiner Zeit genießen und als ich die Mauern Volterras in der Ferne erblickte, machte mein Herz einen kleinen Hüpfer. Vor dem Stadtportal verwandelte Seth sich zurück. Wenn man es genau betrachtete, war ich schon einmal hier gewesen. Damals hatten meine Eltern noch nicht mal von Anis Existenz gewusst und so hatten sie nur um Wills Leben und das meine gebangt, als die Volturi entschieden, ob sie uns am Leben lassen würden oder nicht. Ich kannte die Geschichte. Aber ich kannte den Weg nicht. Das Einzige, was ich wusste, war, dass es einen Brunnen und eine Turmuhr gab. Und diverse Gassen deren Gullydeckel in die unterirdischen Tunnel, der hier lebenden Vampire führten. Genau so einer war es dann auch, vor dem ich zum stehen kam und den ich dann zur Seite schob. „Mariella, du weißt nicht, ob du damit in die Kläranlage oder zu den Volturi kommst“, meinte Seth. „Wenn wir es nicht versuchen, werden wir das auch nie erfahren“, konterte ich, sprang dann einfach hinab und begann, dem Tunnel zu folgen. Seth folgte mir. Abgesehen von Müll, Wasser und ein paar Ratten kreuzte lange Zeit nichts unseren Weg. „Bist du dir sicher, dass das eine gute Idee war?“, fragte Seth nach einer gefühlten Ewigkeit, die wir im Dunkeln durch die feuchten Kanäle liefen. „Nein.“ „Warte!“, zischte Seth dann plötzlich und packte mich am Handgelenk. Im nächsten Augenblick spürte ich einen Windhauch, dann sah ich in die glühend roten Augen eines Vampirs, in schwarzen Kleidern. Im Bruchteil weniger Sekunden hatte Seth mich hinter seinen Rücken gezogen und knurrte unser Gegenüber an. „Was wollt ihr hier?“, fragte der Vampir. „Wir wünschen meinen Bruder auf der Stelle zu sehen!“, schrie ich ihn an, wissend, dass es sich um einen Volturi handelte. „Mariella!“, flüsterte Seth. „Wie lautet dein Name?“, fragte der Vampir und nickte mir zu. „Mariella Cullen.“ Ich wusste, dass meine Doppelnamen in diesem Falle gleichgültig waren. Nur der Name Cullen war den Volturi ein Begriff. „Cullen“, wiederholte der Vampir und bestätigte meine Annahme. „Aro wäre nicht sehr erfreut, wenn du uns nicht passieren lässt“, sagte Seth. „Du stinkst“, antwortete der Vampir. Ich wusste gar nicht, was ich dazu sagen sollte, aber Seth hatte die Schlagfertigkeit meines Vaters. „Ein Grund mehr.“ Der namenlose Vampir zögerte noch einen Augenblick, dann deutete er uns an ihm zu folgen. Wir liefen nur noch wenige Meter durch den Kanal, dann kletterten wir wieder hoch zur Straße – und standen direkt vor einem alten Gemäuer mit einer großen, schweren Tür. Kaum das sie ins Schloss gefallen war, überkam mich bereits ein seltsames Gefühl. Ich wusste instinktiv, dass mein Bruder hier war. „Geht da nach vorn und meldete euch bei Antonella an“, erklärte der Vampir und nickte zu dem Schreibtisch am Ende des Ganges. Er stand direkt neben einer weiteren großen Tür und hinter ihm saß eine leicht gebräunte Frau mit langen, schwarzen, hochgesteckten Haaren und einem schwarzen Kleid. Als sie sich erhob, sah ich, dass sie einen breiten schwarzen Gürtel, mit goldener Schnalle, um ihre Hüfte gebunden hatte. Aber so edel und schön ihr Äußeres auch wirkte, nichts konnte mich davon ablenken, dass sie ein Mensch war. „Guten Morgen“, begrüßte sie uns mit ihrem deutlichen italienischen Akzent. „Guten Morgen“, übernahm Seth nun das Reden. Er hatte mehr Informationen über diese Vampire und den Umgang mit ihnen, als ich. „Wir wünschen eine Audienz bei Aro.“ „Aro zurzeit nicht im Haus“, antwortete sie förmlich, jedoch gebrochen, als handle es sich hier um eine Firma. Ich griff nach Seths Oberarm und er legte seine Hand auf meine und streichelte darüber. Carlisle hatte vermutet, dass Caius Will nur angegriffen hatte, weil Aro nicht da war, um ihm Einhalt zu gebieten. Wenn er also nicht hier war, bedeutete das, dass Caius erneut freie Bahn haben würde. „Seth“, flüsterte ich. Seth nickte sanft. Er wusste genau, was mir Angst einjagte. „Okay“, sagte er dann leise und schien zu überlegen. „Ähm... ist Nahuel dann zu sprechen?“ Wieder schüttelte die Empfangsdame den Kopf. „Er ist gegangen. Vor zehn Minuti.“ Das gibt’s doch nicht, dachte ich. Gab es denn an diesem Ort niemanden, der uns half? Im nächsten Moment öffnete sich dann die schwere Tür links des Schreibtisches. Ich erwartete schon wieder den nächsten grimmig guckenden Volturi, doch zu meiner Verwunderung stand dort ein Mädchen, mit langem braunem Haar. Sie trug ein tiefschwarzes Kleid und hatte wie alle Volturi rote Augen. Doch irgendetwas an ihr, schien anders zu sein. Zunächst musterte sie uns noch, doch dann wand sie ihren Blick der Frau vor uns zu. „Dov'è Nahuel?“ „Lui non c'è“, antwortete die Schwarzhaarige. Italienisch gehörte nicht gerade zu jenen Sprachen, die ich in meinem Repertoire hatte, aber ich vermutete stark, dass sie dieselbe Information haben wollte, wie Seth und ich und dieselbe Antwort bekommen hatte. „Kannst du sie denn nicht fragen, wo er hin ist und wann er wieder kommt, wir brauchen dringend seine Hilfe!“, schrie ich das Mädchen fast an. „Wer will das wissen?“, antwortete sie hochnäsig. - „Na wir!“ „Mariella!“, mahnte Seth, zog mich zurück und legte seine Arme um mich. „Du hilfst ihm nicht, wenn du es dir hier verscherzt und uns damit selbst in Gefahr bringst.“ „Aber... uns will doch keiner helfen...“, antwortete ich verzweifelt. Hätte ich nicht in Seths wundervolle dunkle Augen geschaut, während ich mir Mühe gab, meine Tränen zurückzuhalten, hätte ich bemerkt, dass sich in dem Blick des Mädchens, neben uns, etwas verändert hatte. „Folgt mir“, befahl sie knapp und ging durch die Tür. Seth und ich musterten uns kurz gegenseitig, ehe wir ihr folgten. Erst als wir drei im Aufzug standen, richtete sie das Wort wieder an uns. „Tut mir leid, wenn ich vorhin etwas unfreundlich war. Ich bin Fremden gegenüber immer etwas skeptisch.“ „Und trotzdem hilfst du uns?“, fragte Seth berechtigt. Das Mädchen drückte einen Knopf im Aufzug, dann gab es einen Ruck und er setzte sich in Bewegung. „Jetzt wo ich weiß, wer ihr seid, ja.“ „Wer wir sind?“, wiederholte Seth. Das Mädchen richtete ihre roten Augen auf mich. „Du bist Anthonys Schwester.“ Seth und mir klappte nahezu zeitgleich der Mund auf. „Mein Name ist Sangreal“, stellte sie sich schließlich vor und lächelte dabei sogar ein wenig, doch das Lächeln verschwand recht schnell, als wir nichts antworteten. „Also nehme ich an... dass er mich gar nicht erwähnte...“, sagte sie nun mit einem kleinen Anflug von Traurigkeit. Zumindest wirkte es so auf mich. „Dazu blieb ihm wohl keine Zeit“, meinte Seth. „Sein Bruder starb vor wenigen Tagen.“ „Ich weiß“, antwortete sie und verwunderte uns damit direkt wieder. „Ich habe ihm geholfen zurück nach Hause zu fliegen.“ Immerhin ein Bruchteil an Information, der mir half, eine Wissenslücke zu füllen. Ich hatte mich schon gefragt, wie Ani es geschafft hatte, zusammen mit Will, von Italien nach Irland zu kommen. „Und was wolltet ihr von Nahuel?“, fragte Sangreal. „Eigentlich suchen wir nicht Nahuel, sondern Anthony“, antwortete Seth. Jetzt war es an ihr, verblüfft zu sein. „Er ist hier in Volterra?“ Ich nickte. Ich hatte keinen Beweis dafür, ja, aber ich spürte es. Ich war mir ganz sicher. Und es gab noch eine Sache, derer ich mir ziemlich sicher war. Dieses Mädchen wollte weder uns noch meinem Bruder etwas Böses und sie war die Hilfe, die wir hier so dringend benötigten. „Wir sind hier, um ihn aufzuhalten. Wir glauben, dass er hier ist, um sich an Caius zu rächen.“ „Was?“, fragte sie geschockt. „Kannst du uns sagen, wo wir Caius Gefährtin finden?“ „Athenodora?“ Ohne weitere Fragen hatte Sangreal begriffen, worauf wir hinaus wollten. Sofort drückte sie einen anderen Knopf und der Aufzug brachte uns noch weiter nach oben, als er ursprünglich sollte. Und kaum, dass sich die stählernen Türen geöffnet hatten, stürmten wir alle drei nach draußen. Hier oben sah es so viel anders aus als unten. Aus den alten steinernen Gemäuern, schien eine Art Hotel geworden zu sein. Die Wände waren hell getäfelt, der Boden mit weißen Fliesen bedeckt und durch die Flure zog sich ein roter Teppich. Vor einer geöffneten Tür, machte das Mädchen schließlich halt. Im Türrahmen stand bereits eine weitere Vampirin. In dem pompös eingerichteten Raum, hinter ihr, konnte ich zwei weitere weibliche Vampire erblicken. Sie hatten beide langes Haar, das ihnen bis zu den Hüften reichte. Eine davon saß auf dem Bett und funkelte uns, die wir durch den Türrahmen schauten, etwas böse an. Sie war blond und trug ebenso schwarze Kleider wie Sangreal. Die Frau, die neben ihr saß und ihre Hand zu halten schien, war mindestens ebenso hübsch, hatte jedoch braune Haare. „Corin, was ist passiert?“, fragte Sangreal die Vampirdame im Türrahmen aufgeregt. „Nichts von Belang. Caius hat sich der Sache bereits angenommen.“ Sangreals Augen weiteten sich und mein Griff um Seths Hand wurde kräftiger. „Wo ist er?“ Corins Augen wurden schmal. „Dort, wo alle Verräter gerichtet werden.“ „Was?“, fragte Seth. „Was heißt das?“ „Keine Zeit für Erklärungen“, meinte Sangreal, machte kehrt und rannte den Gang wieder runter. Seth drückte meine Hand und rannte mit mir ebenfalls zurück zum Aufzug. Als wir im Aufzug standen, war ich fast verwundert darüber, dass Sangreal den Knopf für die Etage, die sie wählte, nicht gänzlich rein gedrückt hatte, so stark wie sie ihre ansonsten zart anmutenden Finger darauf presste. „Steigen Volturi etwa nie Treppen?“, fragte Seth. „Nein“, antwortete sie und blickte dabei hoch zur Etagenanzeige, deren Pfeil sich nun in Bewegung gesetzt hatte. „Der einzige Weg hoch und runter führt über die Aufzüge.“ Nach einer gefühlten Ewigkeit kam der Aufzug dann zum Stehen. Die Tür war noch nicht ganz auf, da hatten wir ihn bereits verlassen und fegten erneut durch den Korridor. Nur wenige Meter war sie gerannt, als sie mit einem mal eine Drehung zur Seite machte und das Tor in der Wand zu ihrer Rechten mit beiden Händen aufdrückte. „Caius!“, hörte ich sie noch rufen, als wir den Raum betraten. Dann jedoch, prallten wir fast gegen ihren Rücken, da sie stehen geblieben war. Als ich an ihr vorbei sah, bemerkte ich erst die Größe des Raumes, in dem wir uns befanden. Ganz rechts standen drei Throne. Und in der Mitte, direkt über der gigantischen Glaskuppel an der Decke, durch die inzwischen einiges Licht in den Raum fiel, sah ich meinen Bruder. Er flitzte agil über den Marmorboden und wich den Schlägen und Griffen eines weißhaarigen Vampirs aus – bis... ja, bis ich den Fehler machte, seinen Namen zu rufen. Kaum, dass er meine Stimme vernommen und sich in einem Moment der Unachtsamkeit unsere Blicke getroffen hatten, gelang es seinem Verfolger ihm einen kurzen Schlag zu versetzen. Mein kleiner Bruder schlitterte ein paar Meter über den Boden und kam dann, auf dem Bauch liegend, zum Stehen. Der Weißhaarige nutzte seine Chance, machte einen Satz nach vorn und kaum, dass er direkt über meinem Bruder stand, fuhr sein Arm ruckartig nach unten. Er packte Ani am Genick und zog ihn wieder auf die Beine. „Ani!“, rief ich quer durch den Raum. Mein Bruder wehrte sich gegen den feindlichen Griff, doch der Vampir legte ihm nun den kompletten Arm um den Hals und hielt ihn damit fest. Ani versuchte weiterhin sich zu befreien, indem er mit beiden Händen nach seinem Unterarm griff. Ich sah gerade noch das gehässige Lachen, das dem Volturi über die Lippen huschte, dann ging die große Tür am Ende des Raumes, direkt gegenüber der drei Thronen, auf. Eine Gänsehaut überkam meinen ganzen Körper, als ich sah, wie meine Familie zusammen mit Nahuel, durch die sich öffnenden Torflügel, den Raum betrat. Sie blieben in einiger Entfernung der beiden in einer Reihe stehen. Nur Carlisle allein, trat ein wenig hervor und hob beschwichtigend die Hand. „Caius, du machst einen gewaltigen Fehler“, sprach er ruhig. „Findest du, ja?“, antwortete der Vampir durch zusammengebissene Zähne. „Ich denke nicht. Ich denke, ich tue zum ersten Mal seit langem genau das Richtige.“ „Aro wird nicht erfreut sein, wenn er erfährt, dass du eigenmächtig gehandelt hast“, ergriff nun Edward das Wort. „Oh, im Gegenteil“, meinte Caius. „Nachdem Marcus Frau und gleichzeitig Aros geliebte Schwester Didyme auf tragische Weise ums Leben gekommen war, haben wir uns geschworen, unsere Gefährtinnen um jeden Preis zu schützen. Ich denke, die Tatsache, dass euer Balg meine Partnerin angriff, wird mein eigenmächtiges Handeln deutlich in den Schatten stellen!“ „Bastard!“, fauchte Anthony. „Stell es nicht so hin, als hätte ich das grundlos getan. Du hast meinen Bruder auf dem Gewissen!“ „Hab ich das?“, sagte Caius leise. Seine Stimme hatte einen gespielt freundlichen Unterton angenommenen. „Ich sehe das leider ein klein wenig anders. Du hast ihn mir ja praktisch auf einem silbernen Tablett geliefert. Hättest du ihn nicht allein mit mir gelassen, wer weiß, vielleicht wäre es nie dazu gekommen. Oder besser: wärst du schön brav bei deinen braven Vegetariern geblieben und hättest weiter Viecher verspeist, wärst du weit, sehr weit von deiner jetzigen Misslage entfernt.“ Caius Worte mochten nicht gänzlich falsch sein, trotzdem war mir immerzu deutlich bewusst, dass, ganz gleich was Ani getan oder nicht getan hatte, er es gewesen war, der Will getötet hatte. Doch dieses Bewusstsein hatte mein kleiner Bruder offensichtlich nicht. Obwohl er noch immer seine Hände an Caius Oberarm hatte, bröckelte sein Widerstand beträchtlich. Das konnte ich deutlich spüren. „Oh nein. Mir ist etwas noch Besseres eingefallen!“, verkündete Caius nun und richtete seine Augen nun auf meine Familie. „Hätte Aro es mir gestattet, diese Brut vor dreißig Jahren zu beseitigen, stünden wir jetzt alle nicht hier!“ Dann geschah etwas, das ich zwar erhofft, jedoch niemals für möglich gehalten hätte: Dad trat aus der Reihe hervor. „Ich hab es dir damals schon gesagt“, sagte er zornig. „Meine Kinder werden mehr Gefühl und Intelligenz im kleinen Finger haben, als ihr alle jemals zusammen haben werdet.“ Er machte eine kurze Pause. Anis Augen öffneten sich ein klein wenig mehr. „Heute weiß ich, dass ich Recht hatte. Und jetzt lass meinen Sohn los!“, schrie Dad nun und ging auf Caius zu. Wieder machte sich ein Schauer in mir breit, doch dieser wurde jäh gestoppt, als mit einem Mal Edward hervortrat und meinen Vater an der Schulter fasste. „Nein, nein Jacob!“, rief er nervös und starrte dann Caius an. „Nein! Nein, Caius! Nicht!“, schrie er und hob die Hand, so als wolle er ihn aufhalten, doch es war zu spät. Caius grub seine blanken Zähne in Anis Hals. Keiner rührte sich. Und keiner sagte etwas. Es war eine beängstigende Stille, die den großen Raum erfasst hatte. Am beunruhigendsten war für mich jedoch, dass mein Bruder ebenfalls keinen Ton von sich gab. Kein Gurgeln, kein Röcheln, kein Schrei. Gar nichts. Das Blut, das an Caius Lippen klebte und das, das an Anis Hals herunterlief und seine dunklen Kleider benetzte, waren die einzigen Zeugen dafür, dass wir uns das eben nicht nur eingebildet hatten. Mein Blick fiel auf Mum, die die Hände vor den Mund geschlagen hatte und damit ihren Schrei erstickte. Und dann wanderte er nach vorn, zu Edward, dessen Augen schnell zuckten. Er schien sich zu konzentrieren. Ich brauchte einen Moment, um darauf zu kommen, aber dann realisierte ich, dass mein Bruder sich zwar augenscheinlich nicht rührte, seinen Schutzschild jedoch heruntergefahren zu haben schien und gerade mit meinem Großvater mental kommunizierte. Es mochte eine einseitige Art der Verständigung sein, denn nur mein Großvater konnte die Gedanken meines Bruders hören, dieser jedoch konnte keine Antwort von ihm erwarten, denn selbst ein Nicken, würde vielleicht die Situation kippen. Und dann ging alles ganz schnell: Anthonys rote Augen schlossen sich und sein Körper verlor jegliche Spannung. Jeder hier in diesem Raum würde es für eine Ohnmacht halten. Selbst Caius tat es und ließ meinen Bruder los, woraufhin dieser zuerst auf die Knie ging und dann mit dem Gesicht voraus auf den Marmorboden aufzuschlagen drohte. Dad hechtete noch nach vorn, doch dann begann mein Bruder zu flackern, und ich wusste, dass er sich mitten im Fall unsichtbar gemacht hatte. Für alle, abgesehen von meiner Großmutter und mir, war er nun einfach verschwunden. Aber ich sah, wie er, kurz bevor er auf den Boden aufprallte, die Augen aufschlug und sich mit den Händen abfing. Er stieß sich mit ihnen vom Boden ab und kaum, dass er wieder stand, fegte er an uns vorbei und floh durch die Tür, durch die wir zuvor den Raum betreten hatten, hinaus in den Gang. Was meine Familie jetzt mit Caius machte oder ob noch Verstärkung kommen würde, war mir nun fürs Erste gleich. Ohne noch weiter auf das Geschehen im Thronsaal zu achten, drehte ich mich um und folgte meinem Bruder. Selbst als wir durch die Gänge spurteten, flackerte er noch. Er hatte seinen Schutzschild also noch immer komplett oben. Wenige Augenblicke später wusste ich auch warum. Wie ein verschrecktes Reh oder ein kopfloses Huhn rannte mein kleiner Bruder schlagartig gegen eine Tür auf der rechten Seite des Ganges, in dem wir uns befanden. Es kam mir so vor, als wüsste er, um welche Tür es sich handelte. Ob er nun aber vergessen hatte, dass sie wahrscheinlich abgeschlossen war, oder ob er gehofft hatte, die Tür einschlagen zu können, konnte ich nicht sagen. Ich blieb stehen und sah, wie er mit nur etwas mehr als einem Meter Abstand erneut gegen die Tür preschte. Sie gab immer noch nicht nach. Ich konnte jedoch deutlich die dunkelroten Flecken von Anthonys Blut an ihrer glatten Oberfläche sehen und als er zum dritten Mal Anstalten machte, gegen die Tür zu laufen, hielt ich ihn fest. „Ani! Ani! Bitte hör auf!“, gebot ich ihm Einhalt und zog ihn zurück. Er drehte sich zu mir um, legte seine Stirn an meine und schloss die Augen. Ich konnte seinen warmen, schweren Atem spüren. Ich hörte, wie sein Herz schnell schlug. Und ich roch das dunkle Blut. Aber zu keiner Zeit verspürte ich auch nur im geringsten Durst. Ich hatte einfach nur Angst, ihn zu verlieren. „Mariella...“, flüsterte er. Als nächstes hörte ich schnelle Schritte. Seth kam mit Sangreal um die Ecke gerannt. Letztere ging auf die Tür zu, nahm nur ganz kurz Notiz von den Flecken und schloss sie dann zügig auf. „Hier rein“, sagte sie und hielt uns die Tür auf. Kaum das wir das Zimmer betreten hatten, legte Ani sich auf den Boden und ich hörte, wie Sangreal hinter uns die Tür verriegelte. Dann rannte sie an uns vorbei und kam wenige Sekunden später mit einigen Tüchern wieder zurück. „Danke“, sagte ich außer Atem, knöpfe Anthonys Hemd ein wenig auf und presste die Tücher gegen die Wunde, um den Blutfluss zu stoppen, bis seine Heilungsfähigkeit einsetzte. Er blieb fast reglos am Boden liegen und stöhnte nur gelegentlich. Ich drehte mich um und konnte sehen, wie Seth sich vor der Tür postierte. „Ist er genau so anfällig für das Gift, wie sein Bruder?“, fragte Sangreal besorgt. Ich konnte sehen wie der weiße Stoff sich rot färbte. „Ich weiß es nicht“, sagte ich dann und sah zu ihr auf. „Hast du noch mehr?“ Sangreal nickte. „Natürlich. Moment.“ Sie erhob sich und rannte wieder davon, um einen weiteren Schub Tücher zu holen. Gerade, als sie sie mir reichen wollte, versuchte jemand die Tür zu öffnen. Sangreal und ich fuhren herum und mein Freund stemmte sich gegen das Metall. Dann tat es ein paar Schläge und ich hielt den Atem vor Schreck an. „Sangi!“, hörte ich dann eine Stimme hinter der Tür, die ich im ersten Moment nicht zuordnen konnte. Sangreal horchte auf und flüsterte: „Nahuel...“ „Mariella!“ Auch hier brauchte ich einen Moment, um meine Blockade zu lösen, ehe ich erkannte, dass hinter der Tür Carlisle gerufen hatte. „Lass sie rein!“, rief ich zu Seth. Sofort ließ Seth die Tür los und ging einige Schritte zurück. Sie sprang auf und neben Carlisle betrat auch meine Mum, zusammen mit Esme und Rosalie das Zimmer. Mommy kniete sich neben mich und ich nahm sie in den Arm, während Carlisle die Tücher entfernte, um Anis Wunden zu untersuchen. „Wird er es schaffen?“, fragte Mum mit Tränen in den Augen. „Das vermag ich nicht zu sagen, Nessie“, antwortete er, ohne aufzusehen. „Ich weiß nur eins.“ „Was?“, fragten Mum und ich gleichzeitig. Carlisle sah uns an. „Er hat bereits jetzt länger durchgehalten, als Will es getan hat.“ „Das heißt aber nichts, oder?“, kam es dann skeptisch von Nahuel. Und als meine Mutter ihn weinend ansah und ich spüren konnte, wie er ihr damit noch mehr Angst einjagte, hätte ich ihm am liebsten einen Schlag in den Bauchraum versetzt. Er mochte vielleicht recht haben, mit seiner Frage. Trotzdem störte seine Skepsis meine Hoffnung und rüttelte auch an der meiner Mutter herum. Er mochte kein Teil unserer Familie sein, trotzdem hätte ich mir mehr Feingefühl gewünscht. Mein Urgroßvater dagegen, blieb vollkommen ruhig und beantwortete seine Frage, wie auch jede Andere. „Nein. Aber immerhin hat die Blutung aufgehört.“ *** Wie ich später im Flugzeug erfuhr, hatte Caius nach Anis Flucht ebenfalls das Weite gesucht. Emmett und Jasper hatten meinen Vater gemeinsam davon abhalten müssen, ihm zu folgen, während meine Großmutter Bella mit ihrem Schutzschild alle abgeschirmt hatte. Aber es war niemand gekommen, der sie mental angriff. Die wenigen Wachen, die die Aufruhr aufgeschreckt hatte und die dann die 'Eindringlinge' attackiert hatten, konnten sie problemlos bezwingen. Nahuel erzählte uns, das Aro eine längere Abwesenheit verkündet und zusätzlich seine talentiertesten Mitglieder mitgenommen hatte. Einige wenige Talente, waren zum Schutz der Frauen zurück geblieben. Diese jedoch hatte Caius abziehen lassen, wohl wissend, dass mein Bruder kommen würde. Er wollte nicht Gefahr laufen, dass jemand anderes ihn tötete. Nachdem er ihn dann gestellt und gejagt hatte, war die Sache für die Übrigen erledigt gewesen und sie hatten nicht weiter gehandelt. Nur Marcus, der dritte der Volturianführer, war nach dem Tumult im Thronsaal noch aufgetaucht, als wir uns zusammen mit meinem Bruder zurück zum Flugzeug aufmachen wollten. „Ich werde Aro über das Geschehene unterrichten“, hatte er verkündet. „Wisset jedoch, dass es Konsequenzen nach sich ziehen kann.“ Danach waren wir gegangen. Nur Nahuel und Sangreal waren zurückgeblieben. „Ich hätte ihn erledigt“, hörte ich meinen Vater noch im Flugzeugsitz knurren, als ich an seiner Sitzreihe vorbei lief. „Mit Sicherheit“, antwortete Emmett und klopfte ihm auf die Schulter. „Du kannst mir glauben, dass ich nichts lieber sehen würde, als einen wütenden Werwolf, der diesem Bastard den Kopf abreißt.“ „Ich hätte dir auch ein Streichholz zum anzünden gegeben“, fügte Rosalie hinzu. Ich musste lächeln und ging weiter bis zur vordersten Reihe, wo mein Bruder zwischen Carlisle und Mum saß. „Dein Puls ist in Ordnung“, hörte ich ihn gerade noch sagen, dann erhob er sich und sah mich an. Sein Gesicht formte sich zu einem Lächeln und ich lächelte zurück, ehe er an mir vorbei lief. Ich setzte mich auf den Sitz, auf dem er zuvor gesessen hatte. „Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt“, sagte ich zu ihm. Er sah mich nur an und lächelte zaghaft, dann wanderte sein Blick wieder zu Mum, die sich auf seiner anderen Seite an seine Schulter gelehnt und die Augen geschlossen hatte. *** Einige Stunden danach kam ich gerade die Kellertreppe hoch, nachdem ich nach meinem Bruder geschaut hatte, da vernahm ich eine Diskussion im Wohnzimmer. „Nein, ich werde nicht gehen!“, hörte ich Mommy protestieren. „Aber Schatz“, antwortete Daddy. „Es ist doch nur für eine Stunde oder zwei. Damit wir ein bisschen runter kommen können. Nur ein bisschen frische Luft.“ „Ich geh doch nicht spazieren, kurz nachdem mein Kind dem Tod gerade so von der Schippe gesprungen ist!“ „Jetzt übertreibst du aber.“ Ich kam ins Zimmer und sah, wie meine Mutter sich zu meinem Vater drehte und ihn mürrisch anguckte. Dad hob die Hände. „Ich war eben bei ihm“, warf ich ein. Sofort wanderten alle Augenpaare zu mir. „Er schläft.“ „Siehst du“, kommentierte Dad und nahm ihre Hand. „Alles in Ordnung.“ Noch immer etwas widerwillig, ließ sie sich von Dad aus dem Haus führen. Wo die beiden dann Richtung Wald spazierten. Ich für meinen Teil ging zurück in unserer Suite. Es war sehr still in unserem Haus. Obwohl Vampire nicht schliefen, hatten die kürzlichen Ereignisse nicht nur meinen Eltern, Seth und mir zugesetzt. Auch der Rest unserer Familie hatte sich an diesem Mittag zurückgezogen, nachdem wir von Italien zurückgekehrt waren. Lediglich mein Urgroßvater hatte sich dem Piepsen in seiner Hosentasche gebeugt und war zu einer Notoperation ins Krankenhaus geeilt. Während mein Bruder also unten im Keller in seinem Zimmer schlief, ging ich zu Seth, der auf unserem Sofa lag und durch die Programme zappte. „Hallo schöne Frau“, sagte er charmant zu mir, als ich mich neben ihn setzte und nahm mich in den Arm. „Und? Wie geht es ihm?“ „Schläft“, sagte ich. „Meine Güte... ich weiß nicht was ich gemacht hätte, wenn er da verblutet oder vergiftet worden wäre...“ „Hey“, sagte Seth und strich mir über den Rücken. „Das musst du auch gar nicht wissen, schließlich ist alles nochmal gut gegangen. Und Ani wird sicher nicht nochmal den Fehler machen blindlings in eine uneinnehmbare Festung zu stürmen.“ „Bist du dir da sicher?“, fragte ich sarkastisch. „Nein“, antwortete Seth und zuckte mit den Achseln. „Aber ich bin mir sicher, dass wir es gar nicht soweit kommen lassen werden.“ „Mhm... ich denke ich geh besser wieder zu ihm“, murmelte ich und wollte aufstehen, doch Seth zog mich zurück und küsste mich. „Komm schon. Du sagtest doch er schläft. Außerdem sind die Anderen ja auch noch da.“ Ich streichelte über Seths rostrote Wange. „Schon okay, Schatz“, flüsterte ich. „Aber ich werde trotzdem mal kurz rüber gehen und uns was zum Essen holen.“ Seth lächelte und hob den Zeigefinger. „Das wiederum finde ich eine gute Idee.“ „Siehst du“, sagte ich mit einem Augenzwinkern. Abgesehen von einem kleinen Happen im Flugzeug, hatten wir nichts mehr gegessen. Uns war einfach nicht danach gewesen. Wir hatten den Hunger nicht mal bemerkt. Am liebsten wäre ich hinaus in den Wald und hätte etwas kleines gefangen, aber wie meine Mutter, zog ich es vor, zuhause zu bleiben und nahm dafür sogar das menschliche Essen in Kauf, das für mich teilweise kaum besser schmeckte, als es Sand für Menschen tat. Es gab nur weniges, was für mich genießbar war. Ich überlegte gerade was davon bei uns im Kühlschrank sein könnte, da blieb ich plötzlich im Türrahmen der Küche wie angewurzelt stehn. Mein kleiner Bruder schloss gerade die Tür des Kühlschranks und drehte sich zu mir um, kaum dass er meine Anwesenheit bemerkt hatte. Er trug einen schwarzen Frottee-Bademantel, eine schwarze Jogginghose, ein weißes Hemd und Schlappen und obwohl seine Haare ein bisschen ungekämmt waren, sah er in dem Zeug, in dem andere Menschen sich vor dem Fernseher gehen ließen, noch immer unverschämt gut aus. Trotzdem machte es mich rasend ihn da stehen zu sehen. „Was hast du hier zu suchen? Du gehörst ins Bett, mein Lieber!“ Mein Bruder drehte sich komplett zu mir um und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Küchentheke. „Tut mir Leid, dass ich Durst hatte.“ „Dafür musst du nicht aufstehen, jeder hier hätte dir was gebracht“, meinte ich, während ich auf ihn zuging. Ich stand direkt vor ihm, da sah er zu mir hinunter und sah mir mit seinen roten Augen tief in die meinen. „Mariella, ich bin kein Pflegefall.“ „Das hab ich auch nicht behauptet“, konterte ich und drehte mich etwas beleidigt um. „Du sollst dich doch nur noch ein bisschen schonen.“ Ani seufzte. „Schon gut. Bin schon weg“, sagte er und nahm sich eine Wasserflasche. Ich fragte mich, ob es schwer für ihn war, nach all dem Menschenblut, dass er, seiner Augenfarbe nach zu urteilen, auch bei den Volturi getrunken hatte, wieder zu gewöhnlichem Wasser zurückzukehren. Ich überlegte kurz, ob ich einen Beutel aus unserem Vorrat für Notfälle holen sollte, schließlich brauchte er jetzt Kraft und nichts würde ihm mehr davon geben, als Menschenblut. Aber ich wusste nicht, wie er darauf reagieren würde. Es konnte sein, dass er es verabscheute, es konnte aber auch sein, dass er es dankend annahm. Während meine Gedanken um den Blutbeutel kreisten, sah ich meinen kleinen Bruder an... und dann bemerkte ich etwas, das erst eben eingetreten war oder das er zuvor unterdrückt hatte oder das mir vielleicht bis jetzt entgangen war: er zitterte. „Du zitterst ja“, flüsterte ich besorgt und legte eine Hand an seine Stirn. Normalerweise hatte er eine leicht niedrigere Temperatur als ich. Jetzt war sie höher als meine. Er schloss die Augen, als meine Hand auf seiner Stirn lag und öffnete sie wieder, als ich sie wegnahm. Ich machte mich gerade auf die Protestreden gefasst. So was wie 'Das ist nichts' oder 'Unsinn, mir geht’s gut'. Aber nichts davon kam. Und genau das machte mir Angst. Stattdessen stöhnte er kurz schwer, kippte leicht nach vorn und stützte sich mit den Händen am Küchentisch vor ihm ab. In mir stieg langsam, jedoch unaufhörlich Panik auf. Ich spürte, wie sie, von den Zehenspitzen ausgehend, durch meinen Körper strömte und das Blut in meinen Adern pulsieren lies. Okay, jetzt ganz ruhig bleiben. Nur nicht durchdrehen, sagte ich zu mir selbst. Ich griff nach Anis Arm und zog ihn vorsichtig vom Tisch weg, darauf bedacht ihn notfalls aufzufangen, sollte er umkippen, aber das tat er nicht. Noch nicht. „Komm. Lass uns erst mal in Carlisles Arbeitszimmer gehen“, sagte ich mit einem Anflug von Nervosität in der Stimme. Die paar Treppen, die wir sonst mit Leichtigkeit nahmen, kamen mir jetzt vor, als hätten sie sich schlagartig verzehnfacht. Ich schaffte es gerade so, seinen Arm um meinen Hals zu legen und ihm so in die zweite Etage zu helfen. Aber nur wenige Sekunden nach der letzten Stufe, brach er zusammen und ging im Flur auf die Knie. Er stützte sich mit den Händen ab, um nicht mit dem Gesicht auf dem Boden zu landen, aber ich sah wie seine Arme zitterten. Er würde wahrscheinlich bald komplett liegen. „Hast du Schmerzen?!“, fragte ich besorgt, während ich mich neben ihn kniete. Doch er antwortete nicht, sondern kniff einfach nur die Augen zusammen. „Ani?!“, rief ich ihn an. Im nächsten Moment saß mit einem Mal Edward neben mir. „Was ist los?“ „Ich weiß nicht“, sagte ich, den Tränen nah. Plötzlich spürte ich eine warme Hand an meinem Oberarm. Seth zog mich vorsichtig auf die Beine und drückte meinen Kopf gegen seine Brust, während er mich umarmte. Kaum das ich stand, ging Anis Kraft zu Neige. Er lag nun der Länge nach auf dem Boden und atmete schwer. Großvater legte zwei Finger an seinen Hals, um seinen Puls zu überprüfen, dann wand er sich an Rosalie, deren Anwesenheit ich erst jetzt wahrnahm. „Rose, ruf sofort Carlisle an. Er soll sich schleunigst auf den Weg hier her machen.“ Rose nickte und rannte davon. Edward sah nun Seth an. „Kontaktier Jacob und Renesmee.“ „Okay“, sagte Seth und zog sein Mobiltelefon aus der Hosentasche. Er wählte die Tasten und hielt es sich ans Ohr, ohne mich loszulassen. „Jake,Ani ist gerade im Flur zusammengebrochen“, begann er nervös, jedoch noch immer ruhig. „Das weiß ich nicht“, antwortete er auf eine Frage von Dad. „Alles klar“, sagte er dann, ehe er auflegte. „Sind auf dem Weg“, gab er Edward zu Protokoll. Dieser begann gerade damit, Anis Hemd aufzuknöpfen. „Jetzt bring bitte Mariella weg“, bat Großvater. „Was?“, sagte ich empört. „Nein!“ Als er den letzten Knopf geöffnet hatte, sah er zu mir auf. „Mariella, bitte.“ Am liebsten wäre ich bei meinem Bruder geblieben und hätte ihm die Hand gehalten, denn ich spürte, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Doch ich verstand auch, dass ich wohl nur im Weg sein würde und Ani damit nicht half. Also ließ ich mich von Seth wegbringen. Weg von meinem Bruder. Hin zur Ungewissheit... - Ende Kapitel 8 - Kapitel 9: [Jacob] Vergebung ---------------------------- Disclaimer: => Ich verdiene kein Geld mit meiner Fanfiction. => Alle Charaktere die schon in den Twilight-Bänden ihren Auftritt hatten, gehören Stephenie Meyer. Alle Anderen, wie etwa Schüler, Lehrer und vor allem Renesmees und Jakes Kinder, habe ich selbst erfunden. Weitere Infos zur FF, Trailer, Cover & mehr http://www.chaela.info --------- Kapitel 9 Vergebung [Jacob] Während ich mit Renesmee durch den Wald lief, kamen mir die kürzlichen Ereignisse so vor, als seien sie bereits Jahre zuvor geschehen. Es war alles so idyllisch und ruhig, so harmonisch, dass ich fast vergaß, was wenige Stunden zuvor passiert war. Erst als ich gedankenverloren ihre Hand hielt und mit den Fingern über ihren Ring strich, sickerten die Erinnerungen zurück in mein Gehirn: „Ich hab ihm so oft im Vertrauen gesagt, dass du ihn sehr liebst und dass du es ihm irgendwann zeigen wirst. Aber dieses Irgendwann kam nie.“ Nessies Appell an mich, kam mir wieder in den Sinn. Ich hatte nicht gewusst, was ich darauf antworten sollte. Dieses Thema löste eine Blockade in mir aus. Eine die ziemlich tief saß. Aber Renesmee wäre nicht Renesmee, wenn sie nicht genau wüsste, was genau mein Problem war. Sie kannte mich einfach zu gut, manchmal sogar besser, als ich mich selbst. Ich wusste nicht wann, aber irgendwann war sie wohl dahinter gestiegen. Ihre Augen waren mit Tränen gefüllt, als sie langsam auf mich zu gegangen war. „Es war damals nicht schön für mich die Wahrheit über die Prägung von Emily und Sam zu erfahren. Aber ich habe es akzeptiert, wie es ist. Ich habe angefangen Liebe auf den ersten Blick und die Prägung auf eine Stufe zu stellen. Dass es ein kraftvolles Naturgesetz war, das dich an mich band und nicht etwa mein Charakter dich dazu gebracht hatte, dich in mich zu verlieben. Ich hab es hingenommen. Irgendwann hab ich sie sogar als schön empfunden. So was wie Schicksal... eine Seelenverwandtschaft... aber...“ Ich sah hinunter zu ihrer Hand. Meine Augen weiteten sich, als ich sah, wie sie bei ihren letzten Worten den Ring vom Finger zog. „Wenn die Prägung auf dem selben Naturgesetz basiert, das dich gleichzeitig davon abhält, dein Kind zu lieben, dann will ich sie nicht mehr!“ Renesmee schrie die Worte heraus und knallte den Ring auf den Boden. Ich vernahm den dumpfen Ton seines Aufkommens auf dem Teppich, sah jedoch nicht hinunter. Ich war nicht mehr in der Lage mich zu rühren. „Ich wusste es schon, als du dich das erste Mal von ihm abgewandt hattest, als du seine roten Augen gesehen hast. Als er noch ein unschuldiges kleines Baby war. Du hast in ihm deinen Feind erkannt und bist weggerannt. Weil du nicht damit umgehen konntest. Bis heute, kannst du damit nicht umgehen. So sehr du William mochtest, weil er dir so ähnlich war, so groß war deine Scheu vor Anthony. Du warst nie stark genug, dagegen anzukämpfen. Nicht stark genug, den Vampir in ihm bei Seite zu schieben und einfach nur dein Kind in ihm zu sehen. Dein Blut, deine Gene.“ Einen Augenblick hatte sie mich noch angesehen. Ihr Blick war hart und kalt wie Eis gewesen. Und dann war sie an mir vorbei geschritten. Ihre Worte waren den ganzen Flug über in meinem Kopf wieder und wieder erklungen. Wie ein Mantra, hatte ich sie stetig abgespielt. Sie hatte ja so recht. Ich war schwach. Zu schwach. Und als wir in Volterra gelandet waren, hatte ich mir fest vorgenommen, von nun an stark zu sein. Nach der Rückkehr, nach Irland, hatten wir uns ohne viel Worte wieder versöhnt und Nessie hatte ihren Ring wieder angesteckt. Und nun standen wir hier im Wald und Nessie, meine wunderschöne Nessie, strich mit ihrer zarten, bleichen Hand über die Rinde eines Baumes und lief mit sanften, leisen Schritten um ihn herum. Als sie einmal komplett um ihn gelaufen war, lehnte sie ihr Gesicht gegen den breiten Stamm und lächelte mich warm an. „Ich liebe dich.“ Meine Worte waren kaum mehr als ein Hauch. Renesmee nickte. „Und ich liebe dich.“ Mein Mund formte sich zu einem Lächeln – und dann vibrierte mein Handy. Als ich Seths Namen auf dem Display sah, hoffte ich insgeheim, er würde uns bitten irgendwelche Einkäufe zu erledigen, aber mein Gefühl sagte mir, dass das nicht der Grund für seinen Anruf war. Mit diesem unguten Gefühl in der Magengegend, ging ich ans Telefon. „Ja?“, meldete ich mich. Seth kam sofort zum Punkt: „Jake, Ani ist im Flur zusammengebrochen.“ „Warum? Was hat er?“, wollte ich wissen. „Das weiß ich nicht“, antwortete er. Die fehlenden Hintergrundgeräusche, beunruhigten mich nur noch mehr. „Wir kommen“, fuhr ich fort. „Alles klar“, hörte ich Seth noch sagen, dann legte ich auf. „Was ist los?“, fragte Nessie und ihre schokoladenbraunen Augen blickten voller Sorge zu mir auf. „Das war Seth“, antwortete ich schweren Herzens. „Mit Ani stimmt was nicht.“ „Wie? Was?“, wollte sie wissen, aber ich konnte nur den Kopf schütteln. „Das konnte Seth mir auch nicht sagen. Komm, steig auf.“ Zügig zog ich mein Shirt und meine Hose aus. Nessie nahm alles zitternd entgegen. Ich verwandelte mich und kauerte mich auf den Boden, damit sie auf meinen Rücken klettern konnte. Gemeinsam rasten wir anschließend durch den Wald. Den Weg, den wir zuvor gemütlich in einer halben Stunde zurückgelegt hatten, ließ ich nun binnen weniger Minuten hinter mir. Am Waldrand zog ich mich hinter ein paar Bäumen wieder an und lief mit Nessie zum Haus, wo Jasper und Alice schon auf der Veranda standen. „Oben im Flur“, sagte Jasper kurz und Alice schob uns die Tür auf. Nessie und ich traten ein und rannten ohne zu zögern weiter durchs Haus. Als wir die Treppe empor liefen, überholte Nessie mich und hätte ich dann nicht nach ihrem Arm gegriffen, wäre sie wahrscheinlich direkt auf Edward zu gestürmt. „Ani!“, brüllte sie herzzerreißend und weinte dabei, aber ich zog sie zurück und hielt sie fest. „Lass mich!“, schrie sie und wehrte sich gegen meinen Griff, aber ich konnte sie nicht loslassen, so sehr mir ihre Tränen und ihr Flehen auch im Herzen weh taten. „Ani!“ Ich hatte geglaubt, ich würde in meinem ganzen Leben, kein schlimmeres Bild vor Augen haben, als Wills toten Körper gesehen zu haben. Aber ich wusste nicht, was nun schrecklicher war: sein totes Kind zu sehen oder dabei zuzusehen, wie es gerade stirbt. Fassungslos stand ich da und sah, wie Edward etwa drei Meter von uns entfernt im Flur über Ani kniete, der leblos auf dem Boden lag. Mit seinen kalten Händen hielt er sein Gesicht fest und schien leise auf ihn einzureden. Ich zwang mich meinen Blick abzuwenden und drückte Nessie an mich. Ich drehte ihren Kopf leicht herum, so dass ihr Gesicht in Richtung meiner Brust zeigte. Ich konnte ihre Tränen auf meiner Haut spüren. „Oh, mein Gott, nein...“, wimmerte sie und schluchzte. Plötzlich trat Bella an meine Seite und nahm ihre Tochter zu sich. „Komm, mein Schatz“, flüsterte sie sanft. Auch ihr konnte ich ansehen, wie sehr die Situation sie mitnahm, Porzellangesicht hin oder her. Sie legte einen Arm um Renesmee und ging mit ihr fort. Jetzt waren nur noch Edward und ich hier. Die Situation erinnerte mich, auf grausame Art und Weise, an Renesmees Geburt. Mit zitternden Füßen ging ich auf die beiden zu und kniete mich auf Edwards gegenüberliegende Seite, so dass Ani nun zwischen uns lag. Edward ließ sich nicht davon ablenken, dass ich nun hier war. „Nein“, flüsterte er sanft. „Nein, du bleibst hier... bei uns. Du musst dagegen ankämpfen.“ Anis Augen waren nur ganz leicht geöffnet und wirkten leer. Es war als könnte ich dabei zusehen, wie er Edward... nein... wie er uns entglitt. „Ja, ich weiß dass es schmerzt. Ich kenne diesen Schmerz. Aber du musst kämpfen.“ Jetzt erst verstand ich. Edward las seine Gedanken. Es war als unterhielten sie sich, aber ich bekam natürlich nur den ausgesprochenen Teil mit. „Nein... nein!“ Edwards Worte wurden immer energischer und ich spürte, wie mein Herz wilder klopfte. Ich wusste nicht was los war. Ich wollte helfen, wusste aber nicht wie. Ich konnte nur hilflos mit ansehen, wie Edward meinen Sohn anschrie, er solle bei uns bleiben und stärker an ihm rüttelte. Doch nichts davon half. Edward hielt noch immer Anthonys Gesicht, als seine Augen sich schlossen. „Ani!“, rief er. Doch er reagierte nicht mehr. Edward sah regelrecht müde und ausgezehrt aus, als er Anthonys Kopf schließlich vorsichtig wieder zu Boden ließ. Mein Herz pochte in meiner Brust. „Was ist los, Edward?“, wollte ich wissen. Edward seufzte müde und schloss die Augen, dann öffnete er sie wieder. „Es tut mir Leid“, flüsterte er und ich fühlte ein schmerzhaftes Stechen in der Brust. Zu sehr erinnerte mich diese Szene an jene wenige Tage zuvor. Da war es statt Anthony William gewesen und die Worte waren aus Carlisles Mund gekommen. „Was?!“, schrie ich fast und spürte warme Tränen meine Augen emporsteigen. „Gottverdammte Scheiße was tut dir Leid?!“ Ich hatte das Bedürfnis ihn sofort am Kragen zu packen. Seine Worte waren wie Messerstiche, aber er stach nicht richtig zu, sondern ließ eine lange Pause entstehen. Edward hob beschwichtigend die Hände. „Jacob, beruhige dich. Er ist nicht tot.“ Das Messer wurde wieder herausgezogen und ich spürte, wie wieder Sauerstoff in meine Lunge strömte. Ich sackte ein klein wenig in mich zusammen und sah hinunter zu meinem Jüngsten. „Ich habe versucht ihn bei Bewusstsein zu halten.“ - „Warum? Was passiert, wenn er nicht wach ist?“ „Das ist in den meisten Fällen nicht gut. Bewusstlosigkeit bedeutet die Kontrolle zu verlieren.“ „Kontrolle über was?“, hakte ich nach. „Über sich selbst“, antwortete Edward. Eine kleine Pause entstand. „Jacob, ich bin mir ziemlich sicher, dass er brennt.“ „Was?“ Ich erinnerte mich vage, dass es eine Vampirsache war, von der er da sprach. „Caius' Vampirgift“, klärte er mich dann auf. „Was?“, fragte ich erneut. „Aber... aber... er hat das doch alles so gut weggesteckt.“ „Ja, das dachten wir alle“, sagte Edward. „Ich kann dir leider auch nicht sagen, warum es jetzt erst Wirkung zeigt. Ich habe zwar mehr als ein Medizinstudium hinter mir, aber darauf weiß ich keine Antwort. Ich denke nur Carlisle ist in der Lage das herauszufinden.“ Er sah hinunter zu Anthony, dann wand er seinen Blick zur Seite und mit einem Mal stand Emmett neben uns. „Bitte bring Anthony in Carlisles Zimmer“, bat er und der stämmige Vampir hob Anthony mit einer Leichtigkeit hoch, die einem glauben machen könnte, er hebe nur ein Taschentuch auf. *** Knapp eine halbe Stunde später, stand ich in Carlisles Zimmer und bemühte mich, nicht nervös durch den Raum zu laufen. Nur meine Augen folgten dem blonden Vampir, der verschiedene Utensilien aus den Schubladen und den Schränken holte. Er tat dies mit einer unglaublichen Ruhe und Gelassenheit. Wahrscheinlich bewusst, um mir das Gefühl zu geben, es sei alles in Ordnung, und dass Hektik und Unruhe nicht nötig seien. Aber das funktionierte bei mir nicht. Im Gegenteil, seine Ruhe trieb mich an den Rand der Verzweiflung. Ich spürte ein Kribbeln in mir aufsteigen, spürte den Drang auf ihn loszustürmen und ihn darum zu bitten endlich mal etwas Sinnvolles zu tun. Mein Sohn lag, noch immer ohne Bewusstsein, auf dem Krankenbett. Abgesehen von Edward waren gerade nur Emmett und ich hier. Und der Doc tat nichts weiter als kleine Spritzen und Fläschchen fein säuberlich nebeneinander aufzureihen. „Schon gut, Jacob“, sagte Edward, der neben Anthonys Bett stand und seinen Kopf in meine Richtung gedreht hatte. „Carlisle weiß genau, was er tut.“ „Verschwinde aus meinem Kopf“, knurrte ich. Edward schnaubte und lächelte aufgesetzt. Emmett lehnte sich regungslos, mit verschränkten Armen, gegen den Schreibtisch. Carlisle fing nun an einige seiner Medikamente miteinander zu vermischen. Für mich sahen sie alle gleich aus und die lateinischen Namen, die mit filigraner Handschrift auf den kleinen weißen Aufklebern der Flaschen notiert waren, sagten mir gar nichts. Meine einzige Fremdsprache, wenn man es so nennen konnte, war schon immer Quileute gewesen. Plötzlich vernahm ich ein leises Stöhnen. Ich drehte mich in Anis Richtung und sah, dass er seinen Kopf leicht bewegte und die Augen zusammenkniff. „Carlisle, er wacht auf“, kommentierte Edward, der noch immer neben dem Bett stand. Carlisle ging mit seiner soeben gefüllten Spritze zu Anthony, der flackernd seine Augen öffnete. „Wo... bin ich“, stöhnte er leise und sah als erstes hinauf zur Decke, ehe er die Gesichter der beiden Vampire links und rechts von ihm bemerkte. „Du bist in meinem Arbeitszimmer, Anthony“, antwortete Carlisle. Wieder kniff mein Sohn die Augen zusammen, diesmal noch mehr als beim ersten Mal. Und als sich dann die Muskeln in seinem Gesicht entspannten, brach es plötzlich aus ihm heraus. Ein Schmerzensschrei, derart laut, dass sogar Emmett am Schreibtisch zusammenzuckte. „Fixieren“, sagte Carlisle. Sofort machte Edward sich daran Anthony festzuhalten, der sich vor Schmerzen krümmte, stöhnte und schrie. Carlisle strich zuerst mit einem getränkten Tuch über die Einstichstelle, danach drückte er einmal auf die Spritze, so dass etwas von der klaren Flüssigkeit in die Luft spritzte. Dann stach er sie fachmännisch in Anis Arm, während mein Sohn sich noch immer quälte.Ich nahm zwar an, dass er ihm gerade ein Schmerzmittel gespritzt hatte, aber dass es keine Wirkung zeigte, machte mich nur noch nervöser. „Kannst du ihm die Schmerzen nicht nehmen?!“, fragte ich besorgt. „Das Medikament muss erst wirken, Jacob“, sagte Edward, immer noch Ani festhaltend. „Ich glaube es ist besser, wenn du mal nach Renesmee und Mariella siehst“, meinte Carlisle dann und lächelte mich an. Dann sah er hinüber zu Emmett und nickte. „Lass uns gehen“, sagte Emmett und ging auf mich zu. „Nein“, konterte ich. Emmett nahm mich am Oberarm. „Du hilfst ihm am meisten, wenn du Carlisle und Edward ihre Ruhe lässt.“ Mehr oder weniger widerwillig, ließ ich mich von dem bulligen Vampir aus dem Krankenzimmer zerren. Im Grunde hatte er recht. Ich konnte sowieso nicht helfen. Ich hatte meine Chance, ihm zu helfen bereits vertan... Müde ging ich die Treppen hinunter und betrat das Wohnzimmer, wo die Anderen stumm saßen. Die Schreie hatten sie bestimmt gehört, doch jetzt war alles still. „Nessie, kann ich dich kurz sprechen?“, fragte ich, ohne mich hinzusetzen. Nessie hob ihren Blick und sah mit tränennassem Gesicht zu mir hinauf. „Warum? Was ist mit Ani?“ „Carlisle kümmert sich um ihn. Edward vermutet, dass das Vampirgift von Caius ihm zu schaffen macht, aber er hat ihm Schmerzmittel gegeben. Wir können im Moment nichts weiter tun.“ Ich machte eine kurze Pause und sah, wie Nessie traurig auf den Boden sah. „Also...?“, fragte ich dann. Renesmee nickte. Ich nahm ihre Hand und ging mit ihr in unseren Teil des Anwesens, wo ich mich mit ihr aufs Sofa setzte. Sie nahm stumm Platz und starrte den Teppichboden an, bis ich das Wort ergriff. „Ich habe eine Bitte an dich“, sagte ich leise. Sie sah mich an und wartete darauf, dass ich fortfuhr. „Erinnerst du dich noch daran, wie Ani nach diesem ersten Vorfall mit dem Mädchen zu uns ins Wohnzimmer gekommen war?“ Wieder ein stummes Nicken. „Kannst du dir die Szene noch einmal ganz genau in Erinnerung rufen... und... sie mir zeigen?“ Es war eine seltsame Bitte. Etwas, worum ich noch nie zuvor gebeten hatte. Aber es war mir in diesem Moment unglaublich wichtig. Nessie schloss die Augen und ich blieb angespannt neben ihr sitzen und wartete. Nur einige Sekunden später, legte sie ihre Hand schließlich an meine Wange und dann strömten die Bilder direkt in meinen Kopf. So deutlich, als handelte es sich um einen Film, sah ich ihre Erinnerungen... Wir saßen gemeinsam auf dem Sofa und schauten einen Film. Ich stopfte mir gerade die letzte Portion Popcorn in den Mund. Es war seltsam, sich selbst aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. Nessies Blick fiel auf die leere Schüssel. Sie nahm sie und erhob sich um Nachschub zu holen. Sie war nur wenige Schritte gegangen, als ihr im Flur unser Sohn begegnete. Nessie erschrak und wich ein wenig zurück, dann sagte sie „Ani“. „Tut mir Leid, Mum. Ich wollte dich nicht erschrecken“, antwortete er. Nessie wollte gerade ebenfalls etwas sagen, wurde aber durch mich unterbrochen. Ich spürte wie nervös Nessie wurde, kaum das ich vor Ani stand. Niemand von uns bewegte sich, bis ich schließlich etwas sagte und mich dann wieder umdrehte. Vor meinem inneren Auge, blickte ich mir selbst nach und dann sah ich aus Nessies Perspektive, wie sie Anthony davon abhalten wollte, mir zu folgen. Doch er ließ sich nicht beirren und Nessie rannte ihm panisch hinterher. Nun sah ich mich selbst, vor dem laufenden Fernseher auf dem Sofa sitzen und unseren Sohn, wie er sich neben mich stellte und zu mir herunter sah. „Warum gehst du mir seit Tagen aus dem Weg?“, fragte er mürrisch. Ich drehte mich um und zuckte mit den Achseln. „Tu ich? Ich weiß nicht, was du meinst.“ „Das weißt du ganz genau“, zischte er zurück. Zur Antwort drehte ich mich ganz zu ihm. „Hör mal, was ist daran so ungewöhnlich, wenn wir uns ein paar Tage nicht sehen? Ich meine, du hast dein Leben. Ich hab meins. Du bist erwachsen. Das ist normal.“ „Vor wenigen Tagen erst, hab ich ein unschuldiges Mädchen umgebracht. Das ist nicht normal“, meinte er dann. Darauf folgte ein kurzer Moment der Stille. „Doch. Ist es“, sagte ich dann. „Du bist ein Vampir. Ich hab mir sagen lassen, so was machen die öfter.“ Aus Nessies Sicht war mein Ton wirklich schrecklich. Ich spürte regelrecht die Wut in ihr aufkeimen, die durch die Bilder in meinem Kopf sogar auf mich selbst hinüberschwappten. Und auch Ani schien ich damit zur Weißglut getrieben zu haben. Dass er gezittert hatte, hatte ich damals überhaupt nicht wahrgenommen. Aber Nessie hatte es, als seine Mutter, selbstverständlich bemerkt. „Es ist besser, wenn du jetzt gehst, Ani“, sagte sie leise und wollte ihn wegschieben. Doch er ließ es nicht zu und blieb stehen, ohne seinen Blick von mir abzuwenden. Ich hingegen, war dazu übergangen ihn zu ignorieren. „Ani“, wiederholte Nessie. „Ah!“, hörte ich mich plötzlich selbst sagen. Meine Frau und mein Sohn drehten sich beide zu mir um. „Noch was.“ Ich stand auf und trat näher an Ani heran. „Du kannst froh sein, dass wir deinem Bruder nichts erzählt haben, der hätte dir nämlich garantiert mehr dazu zu sagen gehabt, als wir“, flüsterte ich eindringlich. Und wieder sah ich aus Nessies Sicht der Dinge etwas, dass mir selbst entgangen war. Selbst im Halbdunkeln, dass in diesem Moment im Wohnzimmer geherrscht hatte, konnte ich deutlich sehen, wie sehr meine Worte Ani verletzt hatten. In Nessies Erinnerungen rutschten unwillkürlich weiter zurückliegende Ereignisse... William und ich, wie wir als Wölfe durch die Wälder fegten, wie ich mit ihm als kleinem Wölfchen im Arm eingeschlafen war, wie ich mit ihm spielte und tobte – und wie Anthony teilnahmslos daneben saß. Ich sah, wie wir beim Picknick saßen, als unsere Drillinge noch klein gewesen waren und wie ich auch dort mit Will spielte. Ich sah eines unserer Weihnachtsfeste, in denen Ani auf Rosalies Schoß gesessen hatte. Es war mir nie aufgefallen, aber er hatte sehr selten auf meinem gesessen... Plötzlich brach Nessie ab und senkte den Blick. „Es tut mir Leid“, wimmerte sie. Ich streichelte ihr bronzefarbenes Haar. „Es ist okay...“ „Ich... tut mir Leid...“, wiederholte sie. Ich zog sie zu mir auf den Schoß und umarmte sie. „Scht... scht...“, versuchte ich sie zu beruhigen. Meine Renesmee wimmerte und schluchzte in mein Shirt und ich strich ihr behutsam über den Rücken. „Ich wollte nicht, dass du das siehst... ich...“, sagte sie. Ihr Ton war durch das Weinen ziemlich hoch. „Du brauchst dich nicht dafür zu entschuldigen. Du hast es dir ja nicht ausgedacht. Alles was du mir gezeigt hast, ist wirklich so passiert. Und in all den Jahren, habe ich es nie bemerkt... oder nie bemerken wollen... ich war ein schlechter Vater.“ „Jake...“, flüsterte sie und setzte sich wieder hin, damit sie mich ansehen konnte. Eine Strähne ihres langen Haares klebte in ihrem Gesicht. „Du hattest Recht“, sagte ich, als ich ihr die Strähne aus dem Gesicht nahm. „So sehr ich mich um William gekümmert habe, so sehr vernachlässigte ich Anthony.“ Wieder spürte ich, wie meine Augen langsam glasig wurden. Auch Nessies Augen glänzten, als sie mich ansahen. Diese schönen, schokobraunen Augen. „Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung“, sagte sie leise. „Schon möglich“, antwortete ich tonlos. „Aber vielleicht habe ich keine Möglichkeit mehr, weitere Schritte mit meinem Sohn zu gehen...“ „Jake...“, wimmerte sie. Ich schürzte die Lippen, nahm ihren Kopf in beide Hände und küsste ihre Stirn, ehe ich mich erhob und ihr die Hand reichte. „Komm“, sagte ich. Nessie sah kurz zu mir hinauf, dann nahm sie meine Hand und ließ sich von mir aufhelfen. Zusammen lief ich mit ihr zügig durch das Anwesen. Wir waren nur wenige Meter von meinem Ziel entfernt, da hörte ich, wie eine Tür aufging und beschleunigte meine Schritte. Doch als wir um die Ecke bogen, sahen wir gerade noch wie Carlisle sein Arbeitszimmer abschloss. Nun etwas langsamer, gingen wir auf ihn zu. Er verstaute seine Schlüssel in der Hosentasche und lächelte uns mit seinem Arztlächeln an. Wie ich dieses Lächeln hasste. „Was ist los?!“, wollte ich sofort wissen und hatte einen dementsprechend bissigen Ton. „Bitte begleitet mich ins Wohnzimmer. Ich habe etwas zu sagen und würde mir wünschen, wenn die ganze Familie mich anhören würde.“ Sein Blick wanderte kurz von mir zu Renesmee, dann drehte er sich um und ging. Ich sah kurz hinunter zu Renesmee, die ihrem Großvater stumm hinterherschaute. Wenige Minuten später saß die ganze Familie, mit Ausnahme von Anthony, im Wohnzimmer. Während ich mit Renesmee, Mariella, Seth, Esme und Alice auf dem Sofa Platz genommen hatte, saß Bella im Sessel und Edward auf dessen Kante. Emmett hatte sich von hinten mit den Armen am Sofa abgestützt und Rosalie tat es ihm gleich. Jasper hingegen stand neben dem Sofa, ganz in der Nähe von Alice. Nur Carlisle stand frei im Raum. Alle Blicke waren gespannt auf ihn gerichtet und er ließ sich eine Weile Zeit, ehe er zu sprechen begann. „Ich hatte in den letzten paar Stunden die Möglichkeit Anthony eingehend zu untersuchen und kann bestätigen, was Edward schon vermutet hatte.“ „Das Gift“, kommentierte Edward. Carlisle nickte. „Aber warum wirkt es erst jetzt?“, fragte Bella. Als jüngster Vampir, in den Reihen der Cullens, war die Verwandlung für sie natürlich noch eine relativ frische Erfahrung und bei ihr hatte das Gift damals glücklicherweise rasch gewirkt. „Anthony ist kein Mensch, daher kann ich nur Vermutungen anstellen. Die Meisten von uns haben eine Verwandlung selbst erlebt und wissen daher wie es sich anfühlt, aber bei vielen liegt es schon einige Jahrzehnte zurück und fundiertes Wissen über den genauen Vorgang haben sie nicht unbedingt, daher will ich ihn nochmal kurz erläutern.“ Eigentlich hatte ich eine instinktive Abneigung gegen Verwandlungen. Als ich noch in La Push gelebt hatte, gingen sie mit einem Vertragsbruch einher und bedeuteten den Tod für die beteiligten Vampire. Nun aber, da mein eigenes Kind davon betroffen war, wartete ich genauso gespannt auf Carlisles Erläuterung, wie die um mich herum sitzende Vampirschar. „Also...“, begann er. „Wenn das Gift in den Körper gelangt, bahnt es sich seinen Weg durch sämtliche Blutbahnen. Auf diesem Weg legt es nach und nach die inneren Organe lahm. Diejenigen die für den vampirischen Organismus von Nöten sind, wandelt es anschließend um. Alle Anderen verbleiben funktionslos im Körper, werden allerdings für die Ewigkeit konserviert. Das Blut, dass wir trinken, beispielsweise, wandert direkt in unseren Blutkreislauf. Unseren Magen-Darm-Trakt brauchen wir daher nicht mehr. Wenn wir also nun menschliche Nahrung zu uns nehmen, müssen wir diese hervorwürgen, wenn wir sie wieder los haben wollen. Andernfalls würde sie einfach dort bleiben und irgendwann anfangen zu zerfallen. Da wir aber nicht krank werden können, wäre auch dies kein Problem. Das Herz ist das letzte Organ, das umgewandelt wird. Sobald es aufgehört hat zu schlagen, ist der Vorgang abgeschlossen und der Vampir erwacht in Kürze.“ Bella nickte zustimmend, sie wusste ja noch, wie es bei ihr war. „Man kann es auch mit einem Computer vergleichen. Das System wird komplett heruntergefahren und anschließend als Vampir neu gestartet“, sagte Alice. „Also verwandelt er sich gerade und wacht in einigen Tagen als vollwertiger Vampir wieder auf?“, fragte meine Tochter. Carlisle schüttelte sachte den Kopf. „Nein“, sagte er. „Anthony ist zu wenig Mensch um umgewandelt zu werden und trägt gleichzeitig zuviel Werwolf um Immun dagegen zu sein.“ „Und das bedeutet für Ani?“, wollte Nessie dann wissen. Wahrscheinlich dachten alle Personen hier im Raum das Gleiche. Alle wussten wir, was jetzt kam und warteten nur noch darauf, das der Arzt es aussprach. „Wenn sein Herz aufhört zu schlagen, wird er im Gegensatz zu uns, nicht aufwachen. Es tut mir Leid, Renesmee, Jacob“, sein Blick wanderte von ihr zu mir, „ich kann ihn nicht retten.“ Stille. „Wie lange noch...?“, fragte ich, ohne ihn anzusehen. „Es ist möglich, dass das Werwolfgen den Vorgang beschleunigt. Es kann aber auch sein, dass die Tatsache, dass einige Organe bereits vampirisch sind, ihn verlangsamen. Wenn es bei der jetzigen Geschwindigkeit bleibt... vielleicht vier Tage. Höchstens.“ In meinem Kopf hallten die Schreie wieder. Vier Tage Höllenqualen? Für Nichts? „Carlisle, hattest du nicht mal mit einem Antitoxin experimentiert?“, fragte Edward. „Ein Gegengift?“ Seth schien sein Fremdwortwissen bestätigt haben zu wollen. „Habe ich“, sagte Carlisle. „Aber ich konnte es nur an Tieren testen.“ „Hat das funktioniert?“, fragte Mariella. „Vampirgift tötet Tiere. Das ist auch der Grund weshalb die Gestaltwandler so anfällig dafür sind. Tiere denen ich das Antidot spritzte haben lediglich etwas länger gelebt, aber gestorben sind sie trotzdem. Es ist mir nie gelungen eines am Leben zu halten.“ „Aber es würde uns immerhin Zeit verschaffen“, meinte Edward. In mir begann wieder etwas zu brodeln. Das konnte doch nicht sein Ernst sein. Er hatte Anthony gesehen, er hatte ihn festgehalten, wie konnte er auch nur im geringsten daran denken, diese Qual noch zu verzögern? Ich stand schlagartig auf und sah ihn zornig an. „Du willst, dass er noch länger leidet?“ „Nein, Jacob“, antwortete er ruhig. „Ich versuche ihm zu helfen. Vielleicht gibt es eine Lösung, aber dafür brauchen wir Zeit. Und vier Tage, die sich möglicherweise auch noch verkürzen, sind zu wenig.“ „Wie lang hat denn das letzte Tier überlebt?“, fragte Jasper. „Sechs Tage, sofern man diesen Zustand Überleben nennen konnte“, antwortete der Doc. „Na toll“, sagte ich sarkastisch. „Dann haben wir eben zehn Tage. Wie viel Zeit hattest du noch gleich um das Gegengift zu entwickeln? Eintausend? Zweitausend?“ Carlisle lächelte leicht. „Vierhundert.“ „Vierhundert Jahre gegen zehn Tage. Zehn Tage in denen wir vielleicht keinen Deut weiter kommen, in denen Anthony im Gegenzug aber qualvoll krepiert!“, schrie ich in die komplette Runde. Renesmee tat nichts, um mich zurückzuhalten. Sie saß stumm auf dem Sofa, starrte vor sich hin und wirkte wie in einer Art Trance. „Carlisle hat Möglichkeiten die Schmerzen zu lindern“, erklärte Edward. Das war mir nicht unbekannt, schließlich hatte ich die Spritze vorhin selbst gesehen. Trotzdem war ich etwas verwundert, denn ich meinte mich zu erinnern, dass das bei Bella damals nicht funktioniert hatte und sie erinnerte sich wohl ebenso daran. „Ich dachte damit lähmt man nur den Körper?“, warf sie zielsicher ein. „Das ist korrekt“, antwortete Carlisle. „Das Morphium war nicht in der Lage dich vor den Schmerzen der Umwandlung zu schützen. Ich werde in seinem Fall jedoch auf ein anderes Schmerzmittel zurückgreifen. Ich bin guter Dinge, dass es in seinem besonderen Fall hilft.“ „Das tut es bereits“, sagte Edward. Ich knirschte leicht mit den Zähnen, senkte den Kopf und ließ meine Augen zu Edward wandern. Er schien um jeden Preis diese sechs Tage haben zu wollen. „Nun“, meldete sich Carlisle, nach einer kurzen Pause, wieder zu Wort. „Dein Enthusiasmus in allen Ehren Edward, aber die Entscheidung liegt letztlich nicht bei dir.“ Seine goldenen Augen fixierten mich. „Sondern bei seinen Eltern.“ Ich drehte mich zu Nessie um. Sie starrte noch immer teilnahmslos ins Leere. Mit einer Antwort von ihr war wohl nicht zu rechnen. Ich allein musste also nun entscheiden, ob ich in Kauf nahm, dass mein Sohn statt vier Tagen, zehn Tage durch die Hölle ging. Im Gegenzug würden wir sechs Tage mehr Zeit für ein aussichtsloses Unterfangen erhalten: ein Gegengift zu finden. Etwas das Carlisle über Hunderte von Jahren nicht gelungen war und das wahrscheinlich vergleichbar war mit einem Sechser im Lotto. Allerdings... sollten sie Erfolg haben, wäre der Gewinn für mich noch wertvoller, als jeder Jackpot der Welt. Hatte ich überhaupt eine Wahl? Wenn noch eine Chance bestand, konnte ich diese dann einfach so verwirken? Ich hatte bereits so viele Chancen verstreichen lassen. Vielleicht war dies, diese eine letzte Chance, die ich mir wünschte. „Also gut“, sagte ich entschlossen und sah dabei den Doc an. „Unter der Bedingung, dass alles Erdenkliche getan wird, um ihm diese Zeit so angenehm wie möglich zu machen.“ Carlisle lächelte. „Du hast mein Wort, Jacob. Er wird sehr wahrscheinlich sehr müde sein, aber ich werde mein Bestes geben, damit er keine Schmerzen hat.“ Carlisle und Edward machten sich sofort wieder auf ins Arbeitszimmer. Wir Anderen blieben zurück. Ich setzte mich wieder zu Nessie aufs Sofa und legte meinen Arm um sie. Erst nachdem sie ihr Gesicht an meiner Brust vergraben hatte, begann sie zu weinen. Ich hätte ihr gerne tröstende Worte zugeflüstert. Dass alles wieder gut wird. Dass Ani es schafft. Aber ich glaubte selbst so wenig daran, dass ich nicht mal in der Lage war, diese Sätze auch nur auszusprechen. Aber dass mein Glaube an Erfolg so schwach war, hieß nicht, dass ich nicht das Gegenteil hoffte. Ich hoffte, betete jeden Tag, der auf Diesen folgte, dass sie ein Mittel gegen das Vampirgift fanden. Eines das nicht nur ein paar Tage verschaffte, sondern komplette Heilung versprach. Nachdem Alice die Möglichkeit in den Raum gestellt hatte, dass noch andere Vampire eventuell um ein Heilmittel wussten, hatte sie sich mit Jasper, sowie Rosalie und Emmett in zwei Gruppen aufgemacht, um ihre Artgenossen ausfindig zu machen. Bei Renesmee hatte das damals sehr gut funktioniert, schließlich hatten sie Nahuel gefunden, den lebenden Beweis dafür, dass Nessie keine Gefahr darstellte. Dass Anthony nach fünf Tagen noch nicht gestorben war, war ein möglicher Beweis dafür, dass Carlisles vorhandenes Gegengift, die vermutete Wirkung zeigte. Uns blieben jetzt also noch fünf weitere Tage. Carlisle hatte angedeutet, dass es aufgrund des Unterschieds zwischen meinem Sohn und einem Tier möglich war, dass er auch länger lebte. Aber er wollte uns keine falschen Hoffnungen machen und stellte gleichermaßen klar, dass es uns nicht unbedingt helfen würde, wenn er noch einen Monat in diesem Zustand blieb. Gegengift oder nicht. Es verhinderte nicht, dass sich Caius scheußlicher Speichel durch Anthonys Körper fraß wie ätzende Säure. Es verringerte lediglich die Geschwindigkeit in der seine Organe in Mitleidenschaft gezogen wurden und es war ungewiss, ob das Werwolfgen, sollten sie ein Mittel gegen das Gift gefunden haben, stark genug war, um alles was es zerstört hatte, wieder aufzubauen. Der einzige Trost in diesen Tagen war es für mich, dass mein Sohn von alle dem kaum was mitbekam. Der Doc hatte ihm Sufentanil verabreicht. Ein Schmerzmittel. Siebenhundert bis Tausendfach so stark wie Morphium. Es brachte Anthony an einen Zustand nahe des Komas. Nur wenn Carlisle die Dosis verringerte, war er ansprechbar. Und genau darum bat ich ihn dann auch. Ich wollte mit ihm sprechen. Meine über alles geliebte Frau begleitete mich noch nach oben. Es kostete mich jede Menge Überwindung, Renesmees traurigem, flehenden Blick zu widerstehen. Ich nahm sie in den Arm, drückte sie an mich. Ihr Schmerz war schon immer auch der Meine gewesen, doch dieses Mal, kam mein Eigener noch hinzu. Und dann öffnete sich die Tür zu Carlisles Zimmer. Der blonde Vampir mit den topasfarbenen Augen sah mich verständnisvoll an und nickte – das Zeichen für mich, dass ich Eintreten durfte. Als ich gehen wollte, hielten mich Renesmees zarte Hände noch einen Moment zurück, denn sie ließ mich nicht los, hatte ihre hellen Finger noch immer in mein Hemd gekrallt. Ich wusste nicht, was ich ihr sagen sollte. Ich fand keine Worte, also sah ich sie einfach nur an und strich ihr mit der Hand über die Wange, über die bereits so unendlich viele Tränen gelaufen waren. Dann ließ sie mich schließlich gehen und ich betrat das Zimmer. Es war sehr dunkel hier. Durch das fahle Licht einer kleinen Lampe, sah ich, bis sich meine Augen angepasst hatten, nur die schwächlich beschienenen Buchrücken, die sich in den Regalen aneinander reihten. Ich weiß nicht, warum ich sie erst jetzt so richtig sah. Ich hatte schließlich mehr als dreißig Jahre Zeit gehabt, sie anzusehen, sie vielleicht sogar mal aufzuschlagen. Jetzt wünschte ich mir, ich stünde hier, um ein Buch aufzuschlagen. Aber das war ich nicht. Langsam setzte ich mich auf den Stuhl neben dem Bett. Erst jetzt wagte ich es, ihn anzusehen. Ich verfluchte meine übernatürlichen Sinne für den klaren Blick, den sie mir nun selbst im Dämmerlicht ermöglichten. Dann hätte ich vielleicht nicht gesehen, wie sein Brustkorb sich schwer hob und senkte, während sein Herz raste. Oder wie seine Haut durch die Anstrengungen und den Schweiß glänzte und wie sein schwarzes Haar an seiner Stirn klebte. Ich hatte in den dreißig Jahren zu viel Vampir in ihm gesehen, so sehr, dass es mir in all den Jahren als Unmöglich erschien, dass er jemals dazu in der Lage gewesen wäre zu weinen oder zu schwitzen, aber jetzt sah ich, wie menschlich er war. Wie sehr er mein Sohn war. Den allerletzten Beweis, bekam ich dann, als ich seine Hand nahm und die Nadel sah, die über einen durchsichtigen Schlauch mit dem Infusionsbeutel über dem Bett verbunden war. Was das für eine farblose Flüssigkeit war, wusste ich nicht. Ich hatte ja keine fünfzig Mal Medizin studiert, so wie das eine oder andere Familienmitglied. Das Einzige, was ich wusste war, dass die Heilungsfähigkeit der Werwölfe einen Venenkatheter eigentlich unmöglich machte. Doch das Gift blockierte diese Fähigkeit wohl... Als ich meinen Blick wieder davon abwandte, erschrak ich fast, als ich sah, dass er seinen Kopf in meine Richtung gedreht hatte. Seine Augen waren kaum geöffnet, aber ich meinte ein wenig von ihrem dunklen Rot wahrzunehmen. „Anthony...“, sagte ich leise. Er schloss die Augen und ich dachte schon, er sei wieder in die Bewusstlosigkeit abgeglitten, doch dann öffnete er sie wieder langsam. „Vater...“, brachte er dann heraus. „Es tut mir Leid.“ Es hörte sich so an, als viele ihm das Sprechen unglaublich schwer, als sei jedes Wort ein Marathonlauf. „Ich war dumm“, fuhr er fort. „Unsagbar dumm.“ Ich schüttelte leise den Kopf. Er schien es durchaus wahrzunehmen, ignorierte meine Geste jedoch. „Ich habe...“, hauchte er, dann versagte seine Stimme und er schloss wieder die Augen. Ich sah wie eine Träne seine Wange hinunter lief, dann öffnete sich das Lid erneut. „Ich habe in den letzten Wochen so viele Fehler begangen.“ „Nein“, antwortete ich sanft. Ich rückte etwas näher an das Bett und beugte mich vorsichtig etwas über den Rand, damit ich näher bei ihm war. „Ich habe Fehler begangen. In den letzten dreißig Jahren. Immer wieder und wieder.“ Ich schloss die Augen für einen Moment. Vor meinem geistigen Auge, sah ich das Bild eines Neugeborenen in meinen Armen. Ein Baby mit heller Haut und dunklem Haar. Wie sehr hatte ich für dieses Kind gekämpft? Was hatten wir alles auf uns genommen, um es zu schützen? „Den ersten Fehler“, sagte ich. „Habe ich gemacht, als ich dich zum ersten Mal in meinen Armen hielt. Ich hätte dich festhalten müssen, aber das habe ich nicht getan. Ich bin fort gelaufen.“ Jetzt spürte ich auch, wie bei mir die Tränen kamen. „Und von diesem Tage an, bin ich immer wieder davon gelaufen. Vielleicht nicht im eigentlichen Sinne, sondern immer auf eine andere Art und Weise, aber ich bin davon gelaufen.“ Und dann tat ich etwas, was ich nicht mehr getan hatte, seit er ein Baby gewesen war, ich beugte mich vor, strich ihm den Pony zur Seite und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. „Es tut mir Leid, Ani“, flüsterte ich dann. „Daddy...“, war das Letzte was er herausbrachte. Dann waren seine Augen wieder geschlossen. Und ich hoffte, betete, dass sie es nicht für immer waren... - Ende Kapitel 9 - Kapitel 10: [Jacob] Warten auf ein Wunder ----------------------------------------- Disclaimer: => Ich verdiene kein Geld mit meiner Fanfiction. => Alle Charaktere die schon in den Twilight-Bänden ihren Auftritt hatten, gehören Stephenie Meyer. Alle Anderen, wie etwa Schüler, Lehrer und vor allem Renesmees und Jakes Kinder, habe ich selbst erfunden. Weitere Infos zur FF, Trailer, Cover & mehr http://www.chaela.info --------- Kapitel 10 Warten auf ein Wunder [Jacob] „Wir haben alle unsere Zeitmaschinen. Unsere Erinnerungen lassen uns in die Vergangenheit reisen und in die Zukunft entführen uns die Träume.“ Das war ein Zitat, das ich mal in einem Film gehört hatte. Aber welcher Traum sollte das sein? Die Albträume, die mich plagten, wann immer ich es doch mal schaffte zu schlafen oder die Wunschträume, die mit jedem Tag mehr und mehr verblassten, während die Verzweiflung stieg. Und das nicht nur bei mir. Sondern bei allen. Seth hatte das Kinn auf die Tischplatte gelegt und starrte seine Tasse an, während er sie im Kreis drehte. Der Kaffee darin, schwappte hin und her und würde sicher bald über den Rand laufen. „Möchtest du auch einen Kaffee, Jake?“, fragte Bella, während sie das verbrauchte Kaffee-Pad im Müll entsorgte. „Ja, danke“, antwortete ich, ohne den Blick von Seths drehender Kaffeetasse abzuwenden. Im Hintergrund hörte ich, wie Bella die Dose mit den Pads öffnete, eines davon in die Maschine legte, die Abdeckung schloss und anschließend auf den Startknopf drückte. Dann verstaute sie die Dose wieder im Schrank und wand sich an Seth. „Gehst du nachher mit Mariella jagen?“ „Wohl kaum“, antwortete er müde und seufzte. Normalerweise verabscheute meine Tochter menschliche Nahrung und zog es vor, Tiere zu jagen, doch es war zu einem Ding der Unmöglichkeit geworden, Mariella und Nessie aus Carlisles Arbeitszimmer wegzubekommen. Sie waren nun beide auf menschliche Kost umgestiegen und aßen ohne zu murren alles, was man ihnen vorsetzte. Und wenn es noch so eklig schmeckte. Sie schienen nicht mal richtig Notiz von dem zu nehmen, was auf ihrem Teller lag. Hauptsache sie verhungerten nicht völlig, während sie Anis Herzmonitor anstarrten und dem immer gleichen monotonen Piepgeräusch lauschten. „Okay“, sagte Bella. „Dann werd ich nachher für die zwei was kochen.“ „Brauchst du nicht. Kann ich machen“, meinte Seth. Früher hätte er sich als einstiger Koch gefreut, wenn Mariella seine Kreationen gegessen hätte, heute sah ich ihn nur noch bedrückt in seinem Topf rum rühren. Im ganzen Haus war eine solche Stimmung permanent spürbar. Es war zudem ungewohnt still und regelrecht unheimlich. Da Emmett und Rose noch immer unterwegs waren, blieb auch das Geräusch des laufenden Fernsehers aus. „Haben Alice und Jasper eigentlich inzwischen die Vampire gefunden, die sie suchen sollten?“, fragte Seth, als ob er meine Gedanken gelesen hätte. Bella schüttelte den Kopf. Da Alice Gabe die einzige unserer Fähigkeiten war, die einigermaßen nützlich war, wenn es darum ging, Personen ausfindig zu machen, deren Aufenthaltsort man nicht kannte, hatte Carlisle sie losgeschickt, um die Nomaden zu finden. Von allen Vampiren, die Carlisle kannte, waren die Nomaden wohl mit Abstand am meisten herumgekommen und die Chance, dass sie etwas über ein mögliches Gegengift wussten, war entsprechend hoch. Doch Seths Mittagessen stand gerade noch auf dem Herd und 'zog nach' – wie er es nannte –, da stand eine andere Gruppe Vampire in unserem Wohnzimmer und unterhielt sich angeregt mit Carlisle, Edward und Bella. Sie waren mir alles andere als unbekannt, schließlich waren sie auch gekommen, als es darum gegangen war, Renesmee zu schützen. „Schön, dass ihr so schnell kommen konntet“, sagte Carlisle gerade, als ich das Wohnzimmer betrat. 'Schnell', wiederholte ich in Gedanken. Von Vampirspeed hatte ich mir in diesen Tagen eigentlich mehr erhofft, als sieben Tage zu warten. „Wir sind auch sehr froh darüber, euch wiederzusehen“, sagte eine Vampirin mit dunkelbraunem Haar. „Leider sind die Umstände unseres Wiedersehens nicht sonderlich erfreulich“, fügte einer der zwei männliche Vampire in der Gruppe hinzu. Carlisle nickte und lächelte dabei sanft, dann wand er seinen Blick plötzlich zu mir. „Jacob“, sagte er und deutete mir mit der Hand an, dass ich zu ihm herüberkommen sollte. „Das sind die Denalis. Vielleicht erinnerst du dich noch an sie.“ Ich nickte. Nur die Namen waren mir selbstverständlich nach vierzig Jahren entfallen, doch Carlisle half mir auf die Sprünge. „Das sind Tanya, ihre Schwester Kate und deren Gefährte Garrett.“ Das Pärchen und deren offensichtliche Anführerin mit rotblondem Haar, lächelte mich an. „Und das hier sind Eleazar und Carmen.“ Auch die übrigen zwei lächelten ruhig. Sie alle hatten bernsteinfarbene Augen, was es für mich leichter machte, ihnen ihr Lächeln abzunehmen. „Es tut mir sehr Leid, was mit deinen Kindern passiert ist“, sagte Eleazar. „Wir haben unsere Mutter und unsere Schwester ebenfalls durch die Hand der Volturi sterben sehen und kennen den Schmerz, den du gerade durchleben musst“, fügte Tanya hinzu. Ich antwortete nichts und beließ es bei einem Nicken, damit sie wussten, dass ihre Beileidsbekundungen bei mir ankam. „Ist es in Ordnung für dich, wenn ich Eleazar und Carmen zu Anthony lasse?“, fragte Carlisle umsichtig. Ich empfand die Frage zwar als durchaus korrekt, aber auch überflüssig. Sie waren extra deswegen hergekommen und eventuell dazu in der Lage uns zu helfen, warum sollte ich sie also nicht lassen? Ich nickte erneut und begleitete die Vampire nach oben. Als wir die Tür zu Carlisles Arbeitszimmer öffneten, stand Nessie schlagartig von ihrem Stuhl auf und starrte uns an. Es bestand kein Zweifel daran, dass wir sie gerade aus ihrer Trance gerissen hatten. Ihre Augen glänzten und vereinzelte Tränen kullerten über ihre Wange. „Nessie, das sind Freunde von Carlisle“, klärte ich meine Frau auf. Nessie sah die beiden noch immer etwas nervös an und schien über den plötzlichen Besuch erschrocken. Sie versuchte, ihre Tränen rasch mit dem Handrücken wegzuwischen. „Du bist groß geworden, bebé linda“, sagte Carmen und trat näher an Renesmee heran. Mariella stellte sich neben ihre Mutter und nahm deren Hand. „Hallo“, sagte sie, ebenfalls etwas reserviert. Der Besuch schien den beiden zu missfallen. Sie wussten wahrscheinlich, dass die Vampire nur helfen wollten, doch das Leben, dass durch den höheren Geräuschpegel und die um herlaufenden Personen in den Raum eingekehrt war, war für sie ungewohnt. Eleazar stellte sich neben Ani und musterte ihn. Im Augenwinkel sah ich, wie Renesmee ihn mit Argwohn beobachtete. „Eine interessante Variation der Gabe seiner Großmutter“, meinte der Vampir mit dem dunkelbraunen Haar. „Was?“, fragte Nessie. „Eleazar besitzt die Fähigkeit Talente zu erkennen“, klärte Edward sie auf. „Ach so“, antwortete Nessie. Eleazar schenkte ihr ein zartes Lächeln, doch in Nessies Gesicht konnte ich keine Veränderung wahrnehmen. Sie sah ihn mit einer Mischung aus Trauer, Misstrauen und vielleicht auch Wut an. „Seine Gabe konnte ihm gegen Caius aber auch nicht helfen“, sagte sie verbittert. Ich hatte den Drang, sofort zu ihr zu gehen und sie in meine Arme zu schließen, doch ich spürte, dass ihr Körperkontakt gerade nicht sonderlich wohl war. Eleazar nickte gedankenverloren. „Das ist bedauerlich aber wahr. Seine Gabe ist, wie die meisten unserer Talente, nur eine Illusion. Ein Trugbild.“ „Eleazar“, riss Carlisle die beiden aus ihrem Gespräch. Eleazar wand sich Carlisle zu und sah ihn fragend an. „In all den Jahren deines Lebens, ist dir irgendwann mal zu Ohren gekommen, ob jemand versucht hat, ein Gegenmittel für das Vampirgift zu finden?“ Alle Personen im Raum beobachteten gespannt Eleazars Reaktion. Teilweise konnte ich leichte Hoffnungsschimmer erkennen – die aber jäh zerschlagen wurden. Eleazar schüttelte den Kopf. „Nein, niemand“, sagte er. „Und in deiner Zeit bei den Volturi“, fragte nun Edward. „Da konntest du dir doch sicher als Leibwache ein gutes Bild von Aro machen. Meinst du, er hätte vielleicht Interesse daran gehabt, ein solches Mittel zu entwickeln?“ Wieder schüttelte er den Kopf. „Nein, es tut mir leid, aber das bezweifle ich stark. Aro ist nur daran interessiert, starke Talente für seinen Zirkel zu gewinnen. Nicht aber Verwandlungen zu stoppen oder rückgängig zu machen.“ Nessie setzte sich wieder auf ihren Stuhl, vergrub ihr Gesicht in Anis Bettdecke und begann zu schluchzen. Ich hielt es nicht aus, mich von ihr fernzuhalten, kniete mich neben sie und strich ihr über den Rücken. „Es tut mir wirklich sehr leid“, betonte Eleazar erneut. „Das muss es nicht“, erklärte Carlisle. „Ihr seid den weiten Weg zu uns gekommen, um uns zu helfen. Das bedeutet uns sehr viel.“ Carlisle und Edward begleiteten die Vampire nach unten. Ich blieb oben bei Nessie und versuchte weiter sie zu beruhigen. Plötzlich spürte ich Mariellas warme Hand auf meiner Schulter. „Du solltest auch mit runtergehen und sie verabschieden. Ich kümmere mich um Mommy.“ Meine Tochter lächelte mich freundlich an. Vielleicht hatte sie recht. Unten im Wohnzimmer war die Verabschiedung bereits in vollem Gange. „Bitte informiert uns, sobald es etwas Neues gibt“, bat Tanya. „Wir werden uns melden“, versprach Edward. Plötzlich ging die Tür auf und Esme kam mit einem Brief in der Hand herein. Schlagartig starrten alle sie an. Auch ich fixierte mit einem Mal das Papier. Ich hatte keine Zweifel, was den Absender anging. Diesen Geruch verband ich mit Tod. Die Volturi. „Der war im Briefkasten“, sagte sie nur und überreichte Carlisle das Schriftstück. Er öffnete es sorgfältig. Das Papier war sehr dick und hochwertig, ganz so, wie man es von der falschen, mörderischen Vampirsippe gewöhnt war. „Darf ich?“, fragte ich ungeduldig und griff nach dem Brief. Carlisle ließ ihn los. Die Zeilen, die der Blutsauger verfasst hatte, waren mit schwarzen dicken Lettern geschrieben worden: Ich bedauere sehr, was kürzlich geschah. In der Hoffnung, dass der junge Anthony wohlauf ist, Aro „Wohlauf“, hallten die Worte in meinem Kopf wieder. Ich spürte, wie meine Hände zu zittern begannen, spürte, wie sie das Papier zerreißen wollten, ebenso, wie ich den Blutsauger zerreißen wollte. Jede Faser seines Körpers, jedes Haar, jede Zelle wollte ich ihm einzeln genüsslich vom Körper schälen. „Jacob“, rief Edward mich an. Ich sah auf und bemerkte, dass mich die Vampire allesamt anstarrten. „Gib ihn lieber wieder mir“, riet Carlisle und nahm das Schriftstück wieder an sich. Warum sie den Papierfetzen in Sicherheit wissen wollten, war mir ein Rätsel, aber es war mir auch egal. Ich wollte sie, sie alle, nicht das von ihnen besudelte Papier. „Jacob“, sagte Edward erneut. „Es ist in Ordnung und es ist verständlich. Aber bitte lass dich von diesen Gefühlen nicht beherrschen. Du weißt, wohin sie Anthony gebracht haben.“ Ich funkelte ihn nur kurz an. Ja, ich wusste, wohin sie geführt hatten. Aber ich wusste, dass ich im Falle des Falles nicht so enden würde. Ich würde wahrscheinlich direkt tot umfallen. Und das war wahrscheinlich auch besser so. „Jake?“, fragte Edward nun. Sein Tonfall war nicht mehr länger mahnend. Es schwang etwas Unsicherheit mit. Ich machte einen verächtlichen Ton, drehte mich um und marschierte wieder die Treppen in Carlisles Arbeitszimmer hinauf, wo ich die Tür derart grob aufriss, dass Nessie erneut erschrocken aufsah. Ich schloss sie wieder hinter mir und lief direkt geradeaus durchs Zimmer Richtung Fenster, wo ich meine Stirn gegen die kühle Scheibe legte und die Augen schloss. „Daddy?“, fragte Mariella unsicher. Ich hatte meine Tochter deutlich vernommen, aber ich verspürte gerade weder die Lust, noch die Kraft, ihr zu antworten. Ich wollte einfach nur an diese kühle Glasscheibe denken, gegen die ich gerade meine Stirn drückte. „Jake?“, schaltete sich nun auch Nessie ein. Ich drehte mich müde um und ließ mich an der Wand entlang rutschen, bis ich auf dem Boden saß. Ich spürte die Rillen des Heizkörpers hinter mir. Die Unebenheiten waren ungemütlich, aber ich blieb dennoch sitzen und ließ meinen Kopf sinken. Bis auf das Schlagen der Herzen im Raum und das immer gleiche Piepen, hörte ich einige Minuten gar nichts mehr. Ich fühlte mich kraftlos, ausgezehrt. Es waren jetzt sieben Tage. Drei blieben also noch. Nur drei. Und ich konnte nichts tun, um zu helfen. Ich musste praktisch dabei zusehen, wie mein Kind langsam starb und wie meine Frau, ebenso wie meine Tochter und ich selbst, von der Verzweiflung darüber aufgefressen wurden. Es zehrte an unseren Nerven, an unserer Kraft, an unserer Seele. Und bis jetzt gab es noch nicht mal den kleinsten Hoffnungsschimmer am Horizont. Edward und Carlisle hatten keinerlei Erfolge gehabt. Keiner der fremden Vampire, zu denen wir bisher Kontakt aufbauen konnten, wusste etwas und Rose , Emmett, Alice und Jasper waren noch immer unterwegs. Es war aussichtslos. Ich winkelte die Knie an und vergrub mein Gesicht darin. Während ich die umliegenden Geräusche nur noch gedämpft vernahm, hörte ich meinen eigenen Atem und mein eigenes Herz nun deutlicher. Doch ich spürte genau, wie jemand den Raum verließ. Und dann... dann spürte ich, wie eine vertraute Hand mein schwarzes Haar streichelte. Ich sah mit feuchten Augen auf und blickte in Renesmees schönes, trauriges, wundervolles Gesicht. Die Tränen taten ihrer Schönheit keinen Abbruch. Sie war noch immer wie ein Engel für mich. „Entschuldige...“, sagte ich. Ich zog die Nase hoch und wischte meine eigenen Tränen weg. „Mhm?“, fragte Nessie. „Ich sollte eigentlich stark sein und dir Kraft und Halt geben, aber stattdessen sitze ich hier rum und heule vor mich hin.“ Nessie schüttelte den Kopf und lächelte sanft. Sie setzte sich neben mich und legte ihren Kopf an meine Schulter. „Ist schon in Ordnung, Jake.“ Ich küsste ihr bronzefarbenes Haar, dann sah sie zu mir hoch. Sie hob ihre bleiche Hand und streichelte über mein rostrotes Gesicht. Mit dem Daumen wischte sie eine einsame noch übrig gebliebene Träne weg, dann setzte sie sich etwas auf, um mich zu küssen. Ich erwiderte ihren Kuss und spürte, wie ihrer feuriger wurde. Ich legte meine Hände an ihre Hüfte und zog sie zu mir auf den Schoß. Nachdem sich unsere Lippen voneinander gelöst hatten, blieb sie dort, schloss die Augen und legte ihren Kopf an meine Brust. Ich streichelte weiter ihr Haar, ihren Nacken und ihren Rücken, bis ihr Atem gleichmäßiger wurde. Sie war eingeschlafen. Ich sah nach oben zu unserem Sohn, der noch immer regungslos im Bett lag. Ich fragte mich, ob er träumte und wenn ja, welcher Art seine Träume waren. Ich hoffte, dass ihm das starke Medikament wenigstens einen ruhigen sanften Schlaf bescherte. Vielleicht war er jetzt gerade in einer anderen Welt. Vielleicht einer Art Paralleluniversum. Ein Ort, an dem die letzten dreißig Jahre anders verlaufen waren. Vielleicht war er aber auch ein Mensch. Oder ein vollwertiger Vampir. Oder ein Gestaltwandler. Ich hatte ihn nie danach gefragt, wie er mit seiner Art eigentlich zurecht gekommen war. Ob er sich je gewünscht hatte, etwas anderes zu sein... Wenn ich so darüber nachdachte, konnte ich mich nicht daran erinnern, jemals ein tiefsinniges Gespräch mit ihm geführt zu haben, als er erwachsen war. Wir hatten eigentlich nur nebeneinanderher gelebt. Ich hatte mich darüber aufgeregt, wenn er sich mal wieder tagelang nicht hatte blicken lassen oder wenn er zu spät zu Terminen gekommen war, aber wenn er mal da gewesen war, dann hatte ich mich, um ehrlich zu sein, auch nicht sonderlich viel für ihn interessiert. Er war eben da gewesen. Ich war nie auf den Gedanken gekommen, dass er vielleicht gerade deswegen so häufig nicht da gewesen war. Jetzt erst begriff ich, wie paradox es für ihn gewesen sein musste. Ich hatte mit ihm geschimpft, weil er nicht da war, aber wenn er da war, hatte ich mich nicht für ihn interessiert. Wenn ich ihn so schlafen sah, wurde mir umso stärker bewusst, dass ich eigentlich kaum was über mein Kind wusste. Was war zum Beispiel sein Lieblingsessen? Gab es etwas was ihm Angst machte oder Spaß? Warum besuchte er nach dreißig Jahren immer noch die Schule, während seiner Schwester das Schulbankdrücken irgendwann zu langweilig geworden war? Ich hätte mir wahrscheinlich noch tagelang neue Fragen stellen können, auf die ich keine Antwort wusste, aber irgendwann versank auch ich in einen traumlosen Schlaf... Am nächsten Morgen wurde ich vom einfallenden Licht der Morgensonne geweckt. Ich saß an die Wand gelehnt auf dem Boden, Nessie schlief mit dem Kopf auf meinem Schoß, während sie die Beine angezogen hatte. Ich zog vorsichtig meine Jacke und mein Shirt aus und schob sie unter Nessies Kopf, damit sie nicht aufwachte, dann erhob ich mich leise und drückte auf den kleinen roten Knopf an der Wand. Nahezu geräuschlos fuhren die Rollläden nach unten und dunkelten den Raum ab. Ich warf noch einen Blick auf Renesmee, auf deren Gesicht die Streifen des Sonnenlichts langsam verschwanden. Sie sah so friedlich aus, während sie schlief. Ich hoffte, dass sie ihre Sorgen für einen Moment vergessen konnte und lächelte, ehe ich nach vorn zu Anthonys Bett lief. Noch immer war da dieses monotone Piepen, die vielen Zahlen auf dem Monitor, die mir nichts sagten und die zuckenden Kurven, die mir genauso wenig einleuchteten. Und dann fiel mein Blick auf den dünnen durchsichtigen Schlauch, durch den die Tropfen der klaren Flüssigkeit lief, die der Beutel, der neben Anis Bett an einem Haken hing, verlor. Ich hob die Handfläche unter den Schlauch und strich mit dem Daumen darüber. Es fühlte sich kalt und glatt an. Was würde wohl passieren, wenn ich ihn jetzt umfassen und herausziehen würde? Was würde so eine kleine Bewegung für eine Welle in Gang setzen? Für den Bruchteil weniger Sekunden blitzten die Bilder vor meinem inneren Auge. Der Schlauch, wie er herausgezogen wurde; Ani, wie er sich vor Schmerzen krümmte; das schreckliche permanente Piepen, verursacht durch ein nicht mehr schlagendes Herz. Ich kniff die Augen zu und nahm meine Hand wieder zurück. Ich spürte ein furchtbares kurzes Stechen in der Brust und wollte die Bilder aus meinem Kopf herausbekommen. „Was tust du da?“ Nessie stand auf einmal neben mir. Ich sah zu ihr hinunter. Ihr Blick war ernst, fast wütend. „I-ich. Gar nichts“, antwortete ich. Hatte sie gesehen, dass ich den Schlauch berührt hatte? Was ging in ihrem Kopf vor. Konnte sie wirklich glauben, dass ich...? „Du traust mir das nicht wirklich zu?“, fragte ich nach. Renesmee antwortete nichts und sah mich weiter böse an. „Nessie, so was würde ich niemals tun!“, beteuerte ich. Sie verschränkte die Arme und wand ihren Blick ab. Ich umschloss ihre Oberarme mit meinen Händen und sah sie eindringlich an. „Nessie, du kannst mir immer noch vertrauen. Er ist mein Kind. Ich würde das niemals... niemals tun!“ Langsam wanderten ihre Augen zu mir und füllten sich mit Tränen. „Nessie?“, fragte ich. Ihre Lippen begannen zu zittern. Sie schluchzte und drückte ihr Gesicht mit einem Mal an meine nackte Brust. „Es tut mir leid“, wimmerte sie. „Ich weiß gerade gar nicht mehr, was ich noch denken und glauben soll.“ „Scht... scht...“, versuchte ich, sie zu beruhigen und strich ihr durchs Haar, während ich sie sanft hin und her wog. „Ist schon okay.“ Langsam löste sie sich wieder von mir und sah zu Ani. „Ich... ich hab es dir nicht erzählt“, begann sie leise zu sprechen. „Aber am Tag vor unserer Hochzeit hat Alice mir Tarotkarten gelegt, weil sie meine Zukunft ja ansonsten nicht sehen kann. Die Karten für Vergangenheit und Gegenwart waren durchweg gut, aber die... die Karte, die etwas über meine Zukunft sagte... war der Teufel.“ Ich hatte mich noch nie mit Esoterik beschäftigt und wenn ich nicht selbst ein Werwolf wäre, würde ich es wahrscheinlich sogar als Schwachsinn abtun. Ich wusste nicht, was genau die Karte bedeutete, aber ich wusste, dass sie in jedem Fall wohl negativ war. „Warum hast du mir nie davon erzählt?“, fragte ich. „Ich dachte, es sei nicht notwendig“, antwortete Renesmee traurig. „Alice meinte das, worauf sich die Karte bezog, könnte Jahrzehnte dauern, ehe es in Erscheinung treten würde. Und das es sich nicht unbedingt um Krankheit oder Tod handeln müsste.“ Sie machte eine Pause. Langsam ging sie zu Anis Kopfende und strich ihm über die Stirn. „Aber ich bin mir jetzt ziemlich sicher, dass die Karte das hier meinte. Sie hat mich schon damals davor gewarnt und ich habe die Warnung einfach ignoriert.“ „Nessie... was hätte es dir gebracht permanent Angst zu haben, dass etwas geschieht, was auf einem Stück Pappe steht?“ „Du verstehst es nicht, Jake“, sagte sie und drehte sich zu mir um. „Ich hätte es sehen können, ich hätte es verhindern können.“ „Was sehen? Was verhindern?“ Ich verstand nicht. „Das hier“, sagte sie und deutete auf Anthony. „Und noch soviel mehr.“ „Und wie hättest du das anstellen sollen?“ Sie überlegte kurz. „Erinnerst du dich noch an den Moment auf dem Bootsdeck?“ „Vor unseren Flitterwochen, ja“, antwortete ich. „Wo war William, als wir uns verabschiedet haben?“, fragte sie. Ich musste einen Moment überlegen und versuchte die Erinnerung zu visualisieren, damit sich für mich ein richtiges Bild ergab. „Auf Leahs Arm“, sagte ich dann. „Und wo war Mariella?“, fragte sie nun. „Auf Seths Arm“, kam es von mir wie aus der Pistole geschossen. Wo hätte sie auch anders sein sollen? „Und wo war Anthony?“, stellte sie nun die entscheidende Frage. Diesmal musste ich wieder überlegen, aber dann erinnerte ich mich daran, dass Nessie sich zu ihm hinunter gekniet und ihn umarmt hatte. „Er... er stand auf dem Bootsdeck.“ Es war die richtige Antwort, da war ich mir sicher, aber ich stand noch immer etwas auf dem Schlauch und war dementsprechend verwirrt, als Nessies Unterlippe wieder zu zittern begann. „Genau“, sagte sie. Ihre Stimme war, durch den kläglichen Versuch nicht zu weinen, sehr hoch. „Er stand da. Er hatte keinen Seth. Keine Leah.“ Damit hatte sie durchaus Recht, trotzdem verstand ich nicht, was die Prägung mit der Warnung der Tarot-Karte zu tun hatte. Inwiefern hätte sie da etwas bewirken können? „Du kannst doch nichts dafür, dass er sich nicht geprägt hat. Vielleicht kann er sich ja gar nicht prägen.“ „Darum geht es nicht“, warf sie empört ein. „Man braucht keine Prägung, um glücklich zu werden. Meine Eltern sind der beste Beweis. Es geht mir darum, dass er immer allein war. Will war immer bei Leah, Mariella immer bei Seth. Er muss das doch gesehen haben. Er muss sich schrecklich ungeliebt gefühlt haben, weil er niemanden hatte. Er hat es doch als kleines Kind wahrscheinlich gar nicht verstanden. Er muss den Fehler bei sich gesehen haben, Jake.“ „Als Kind vielleicht“, antwortete ich. „Aber als er älter wurde, hat er doch gewusst, warum die Dinge so sind, wie sie sind. Er hatte ja nicht mal Interesse daran, sich zu prägen.“ „Woher willst du das wissen?“, fragte sie weinend. Ich wollte etwas kontern – aber die Worte blieben mir im Hals stecken. Ich erinnerte mich an die Zeit, in der ich selbst noch nicht geprägt war. Ich hatte die Prägung als krankhaft empfunden, als etwas, das einem den freien Willen nahm. Ich hatte immer vorgegeben, nie geprägt werden zu wollen. Aber tief im Innern, sehnte ich mich danach. Ich wollte geprägt werden, um den Schmerz einer unerfüllten Liebe nicht länger ertragen zu müssen. Ebenso wie Leah. Ich war sogar stundenlang durch den Park gerannt und hatte fremde Mädchen angestarrt, in der Hoffnung mich auf eine von ihnen zu prägen, wenn ich ihr in die Augen sah, aber es war nichts geschehen. Nichts, bis ich in Renesmees wunderschöne Augen gesehen hatte. Gut, so wenig ich mein Kind auch zu kennen schien, ich bezweifelte, dass er sich danach sehnte, weil ihn ein Mädchen abgelehnt hatte. Es erschien mir sogar fern jeder erdenklichen Möglichkeit, dass es ein Mädchen auf diesem Erdball gab, das ihn ablehnen würde. Aber eine unerfüllte Liebe musste ja nicht zwangsläufig etwas mit einem Mädchen zu tun haben. Es gab noch soviel mehr Liebe, die man im Leben erfahren konnte. Renesmee hatte verstanden. Mein Schweigen sagte ihr alles. Sie nickte sachte, wand ihren Blick wieder ab und strich Anthony mit einem Tuch über die Stirn. „Ich...“, begann ich den Satz und seufzte schwer. „Es tut mir leid. Ich muss mal an die frische Luft.“ Ich drehte mich um und verließ den Raum. Meine Beine trugen mich geradewegs hinaus auf die Veranda. Ich sog die kühle Luft ein wie ein Mann, der zu ertrinken drohte, und sah mich um. Draußen wogen sich die kahlen Bäume im sanften Wind. Wahrscheinlich würden bald wieder die ersten Blumen blühen. Müde strich ich mir über die Stirn. Ich fühlte mich, als sei ich in den letzten zwei Wochen um zweihundert Jahre gealtert und ich sehnte mich nach dem Gefühl von Sorglosigkeit, wie ich es gehabt hatte, als ich noch ein normaler Junge gewesen war. Oder damals, als Renesmee noch klein gewesen war und als unsere Kinder noch in ihren Babyschuhen steckten. Diese Zeiten, in denen ich einfach glücklich und zufrieden gewesen war. Momentan konnte ich nichts weiter tun, als an diese Momente denken und von ihnen zehren. Etwas anderes blieb mir gar nicht übrig, andernfalls würde mich die jetzige Situation gnadenlos auffressen. Ich wollte gerade wieder zurück zu Nessie gehen, da spürte ich plötzlich, wie jemand näher kam und sah zum Waldrand. Zwischen den Bäumen traten Emmett, Rose, Jasper und Alice hervor. Für einen Augenblick spürte ich in mir einen Funken Hoffnung, aber er verglühte direkt wieder, als ich sie beobachtete, wie sie so gar nicht im Vampirtempo auf das Haus zu kamen. Keiner von ihnen raste mir freudig entgegen, um mir eine frohe Botschaft zu überbringen, keiner lächelte auch nur im Ansatz. Im Gegenteil. Ich wartete gar nicht, bis sie das Haus erreicht hatten. Ich ging ohne sie zurück ins Haus. Im Wohnzimmer standen bereits Seth, Mariella, Edward, Bella, Esme und Carlisle. Ich ging langsam zum Sessel. Ihre Blicke folgten mir. Es musste für sie zunächst so aussehen, als wollte ich mich hinsetzen. Vielleicht wollte ich das im ersten Moment auch, denn nicht mal Edward reagierte schnell genug. Mir war es egal ob sie da standen, mir war es egal, was sie von mir dachten, ob ich sie erschreckte oder ob sie mich für unmöglich hielten. Aus heiterem Himmel schlug ich mit einer solchen Wucht gegen das Möbelstück, dass es quer durch den Raum rutschte. Wer es nun davor bewahrte die Wand zu durchschlagen oder in die nächste Kommode zu knallen, wusste ich nicht mal. Denn kaum, dass ich meine Wut am Mobiliar ausgelassen hatte, hatte ich einfach nur gebrüllt wie am Spieß und war auf die Knie gegangen. Dass ich mich nicht verwandelte, wunderte mich nicht mal. Es war keine Wut in mir, kein Hass, höchstens auf mich selbst. Es war nur Schmerz und Trauer und so sehr ich mir auch wünschte, beides durch die Verwandlung in ein Tier abzudämmen, ich tat es nicht. Ich nahm ihn an. *** „Kann ich dir vielleicht etwas bringen?“, fragte Esme mütterlich wie immer. Ich knirschte mit den Zähnen und schüttelte dann den Kopf, ohne sie anzusehen. Sie hatten mich auf die Wohnzimmercouch bugsiert, nachdem mein Schreikrampf aufgehört hatte. Aber ihre traurigen Versuche, mir in dieser Situation etwas Gutes tun zu wollen, empfand ich ebenfalls als unangenehm. Ich war eigentlich nicht derjenige, der gern jegliche Schuld auf sich nahm. Diesen Part hatte ich immerzu Edward zugestanden. Aber dieses Mal war es unzweifelhaft der Fall. Ich war Schuld am Zerfall meiner eigenen Familie. Ich hatte zwei meiner Kinder auf dem Gewissen und damit gleichzeitig das Leben der mir wichtigsten Person zerstört. Ich wollte ihr nie wehtun, ich wollte immer nur das Beste für sie und hatte ihr, ohne es zu merken, genau das genommen. Es hatte für Renesmee noch nie etwas Wichtigeres gegeben als ihre Familie. Ihr Leben bestand praktisch nur daraus. Ich wollte bis in alle Ewigkeit mit ihr zusammen sein. Ich hatte es ihr am Altar versprochen. Und ich würde bis zum Schluss an ihrer Seite bleiben. Aber ich war mir sicher, in dem Moment, an dem Anthonys Herz aufhören würde zu schlagen, würde auch unsere Ewigkeit ein Ende finden. Müde stand ich auf und schleifte mich, wie so oft, die Treppe wieder hinauf. Als ich eintrat, bot sich mir das übliche Bild. Ich war mir sicher, dass Nessie mein Geschrei gehört hatte, aber alles was außerhalb dieses Zimmers geschah, prallte momentan an ihr ab. Jede Sekunde, die sie nicht hier verbrachte, war für sie verschwendet. Es machte mir Angst. Sie wirkte auf mich wie hypnotisiert, aber ich verstand sie trotzdem. Und niemals würde ich ihr sagen, dass sie damit aufhören sollte. Stattdessen versuchte ich, sie zu unterstützen, so gut ich konnte. Bevor ich zu ihr hinüber lief, fiel mein Blick zu Carlisle. Er saß an seinem Schreibtisch und skizzierte mal wieder. Das hatte er in den vergangenen acht Tagen häufig getan. Er hatte mir erklärt, es half ihm, den Überblick zu behalten. Ich hatte von Medizin genauso wenig Ahnung wie vom Stricken, aber Carlisle machte sich regelmäßig ein Bild über Anthonys momentanen Zustand. Auf seinem Blatt Papier war mit dicken schwarzen Konturen die Silhouette eines Menschen gezeichnet. Innen war die Zeichnung ursprünglich leer gewesen. Als ich sie das letzte Mal betrachtet hatte, war sie zu einem Drittel mit Farbe bemalt gewesen. Jetzt war sie fast gänzlich ausgefüllt. Ich erschrak innerlich, obwohl ich es ja hatte kommen sehen. Ich sagte aber nichts. Plötzlich stand Nessie neben mir und sah ebenfalls auf Carlisles Schreibtisch. „Was ist das?“, fragte sie. Es erinnerte mich an ihre Kindheit, als vieles noch neu für sie gewesen war, so kindlich stellte sie ihre Frage. Carlisle sah kurz zu mir, dann wieder zu Nessie. „Das ist meine Art, mir Notizen über Anthonys Zustand zu machen“, antwortete er. Nessie sah traurig das Bild an und verstummte. Die dunkelrote Farbe füllte die schwarzen Umrisse fast komplett aus. Nur noch das Herz und ein für mich undefinierbarer Punkt in Anis Gesicht oder Hals war noch frei. „Das Gift frisst sich durch seinen Körper, Renesmee. Ich kann es nicht aufhalten. Es befällt ein Organ nach dem anderen.“ „Abgesehen vom Herz?“, fragte ich mit Blick auf den freien Punkt. Carlisle nickte. „Und was ist damit?“, fragte Nessie und zeigte auf die zweite Stelle. „Das weiß ich noch nicht“, antwortete Carlisle. „Sie hat sich erst bei der Kontrolle heute Nachmittag so deutlich herauskristallisiert.“ „Was heißt das?“, wollte ich wissen. Carlisle schüttelte den Kopf und betrachtete das Blatt. „Normalerweise befällt das Gift alle Organe nacheinander mit Ausnahme des Herzens. Aber es hat diesen Punkt einfach übergangen.“ „Übergangen?“ Es war Edwards Stimme. Er stand mit einem Mal neben Carlisles Schreibtisch und studierte ebenfalls die Skizze. Währenddessen stand der Doc auf und ging hinüber zu Anthony. Wir schauten ihm allesamt gebannt nach und beobachteten, wie er vorsichtig Anis Gesicht in seine Hände nahm. Seine Haut war inzwischen sogar deutlich heller, als die des Vampirs. Carlisle tastete Anis Unterkiefer behutsam mit beiden Daumen ab. „Aber natürlich“, flüsterte Carlisle. Mein Herz machte einen Hüpfer, ähnlich dem, als ich die Vampire am Waldrand gesehen hatte. Aber diesmal verschwand der Hoffnungsschimmer nicht sofort wieder. „Das Gift“, sagte er dann. „Natürlich...“, hauchte nun auch Edward. Ich drehte mich um und sah gerade noch, wie er zügig das Blatt auf den Tisch klatschte und dann zur Tür hinaus verschwand. Offensichtlich hatte er mal wieder etwas in Gedanken gelesen, was man uns erst erzählen musste. „Was?“, fragte ich fast schon bissig. „Was ist los?“ Ich bekam keine Antwort. Stattdessen betrat nun Bella den Raum und Carlisle wand sich an Nessie. „Renesmee, bitte verlass mit deiner Mutter den Raum.“ „Was?“, fragte nun auch Nessie. Sie schüttelte energisch den hübschen Kopf. „Nein!“ „Renesmee, bitte“, sagte Bella sanft. Nessie starrte ungläubig ihre Mutter an. „Was... was ist hier los?!“, wollte Nessie wissen. Ich hörte deutlich die Empörung in ihrer ansonsten schönen, sanften Stimme. Wie so oft sollte ihr Wissen vorenthalten und sie weggeschickt werden. Es war dieselbe Frage, die ich gestellt hatte und auf die auch ich keine Antwort erhalten hatte. „Schatz, bitte komm mit mir“, bat Bella erneut. „Carlisle und dein Vater werden alles tun, was in ihrer Macht steht, aber du kannst ihnen jetzt am meisten helfen, indem du sie in Ruhe das machen lässt, was sie tun müssen.“ Ich wusste nicht, ob es nur mir so vorkam, aber ihre Worte hörten sich so an, als würden die beiden Vampire gleich irgendetwas Schlimmes machen. Nessies Blick beim Verlassen des Zimmers verriet mir, dass es ihr wohl ebenso gegangen war. Ich war froh, dass sie ging, aber ich würde diesen Raum nicht verlassen. Das hatte ich mir vorgenommen. Egal was sie sagten, ich würde bleiben. Als Carlisles goldene Augen mich ansahen, machte ich mich bereits darauf gefasst alles zu verweigern, worum er mich bat. „Jacob, bitte geh und hole Mariella.“ Ich war verwundert darüber, nicht gebeten worden zu sein, den Raum komplett zu verlassen. Warum sollte ich meine Tochter holen? Sie schickten Renesmee weg, weil es ihr nicht gut tun würde, was gleich geschehen würde, aber Mariella, die sich genauso Sorgen machte, holten sie extra dazu? „Warum?“, fragte ich ungläubig. „Ich weiß um deine Bedenken, Jacob“, sagte Carlisle verständnisvoll. „Es wird Mariella nicht gefallen, aber ihre Anwesenheit wird ihrem Bruder eine Stütze sein. Sie weiß das. Sie wird es verstehen.“ Ich nickte und verließ das Zimmer, um meine Tochter zu holen, die sich mit Seth ins Wohnzimmer zurückgezogen hatte. Sie wusste nicht, was los war, hatte aber die plötzliche Bewegung im oberen Stockwerk mitbekommen. „Mariella“, sagte ich und versuchte dabei möglichst neutral zu klingen, um ihr weder Angst noch Hoffnung zu machen. „Kommst du bitte mit nach oben?“ Sie ließ sich natürlich nicht mehrmals bitten. Im Gegenteil. Das Mädchen war flinker oben als ich. Ich betrat erneut den Raum und schloss leise die Tür hinter mir. Mein Blick fiel zunächst auf den Doc, der die Informationen auszulesen schien, die eines der Geräte ihm ausspuckte. „Ja“, sagte Edward plötzlich als Antwort auf eine unausgesprochene Frage. „Ich bin bereit.“ In seiner Hand hielt er etwas, das ich am ehesten noch als Marmeladenglas bezeichnen würde. Es hatte keinen Deckel, seine Öffnung war aber mit einer milchigen Folie überspannt. Ich wollte gerade wieder fragen, was sie eigentlich vorhatten, aber Carlisle kam mir zuvor. „Was immer jetzt auch geschehen wird. Ganz gleich, wie schrecklich es aussehen mag oder welche Geräusche ihr hören werdet. Ihr dürft nicht eingreifen. Habt ihr das verstanden?“ Der Arzt sah uns eindringlich an. Meine Tochter und ich nickten nahezu gleichzeitig und schluckten dabei innerlich. Ein schwieriger zu haltendes Versprechen konnte man uns in diesen Minuten sicherlich nicht abverlangen. Er ging einmal um Anthonys Bett herum. „Bei dem weißen Fleck, den Renesmee entdeckte, handelte es sich um Anthonys Giftdrüse. Im Gegensatz zu Renesmee ist Anthony, genau wie Nahuel, giftig. Das wissen wir schon, seit er Jacob als Baby versehentlich biss. Im Gegensatz zu einem vollwertigen Vampir, fließt sein Gift jedoch nicht durch den ganzen Körper. Weder ersetzt es seine Tränenflüssigkeit, noch seinen Speichel, weswegen er auch in der Lage ist, menschliche Nahrung zu sich zu nehmen oder zu weinen. Sein Gift wird nur bei einem Biss freigesetzt und hat ansonsten keine weitere Verwendung in seinem Körper, weswegen es sich auch um eine deutlich kleinere Menge handelt, als es beispielsweise bei Edward der Fall ist. Aber wenn meine Vermutungen sich bewahrheiten sollten...“, er machte eine kleine Pause und ließ seine Worte wirken, „wenn sie sie sich bewahrheiten sollten, dann ist dieses Gift in der Lage Caius Gift zu neutralisieren, wenn es uns gelingt, es in Anthonys Kreislauf zu befördern.“ „Moment...“, sagte ich. Ich konnte kaum fassen, was er da sagte. „Heißt das, die Lösung war die ganze Zeit über... da?“ Carlisle nickte. „Wir sahen den Wald vor lauter Bäumen nicht. Es tut mir leid.“ „Das ist doch jetzt egal“, warf Mariella ein. „Wie kriegst du das Gift nun aus ihm raus und anschließend in seinen Blutkreislauf wieder rein? Mit einer Spritze?“ Carlisle seufzte. „Das wäre in der Tat eine Lösung, Mariella.“ „Es wäre die einfachere Lösung, aber nicht unbedingt die Schlauste“, meinte Edward, der noch immer mit dem Marmeladenglas da stand. „Warum?“, wollte meine Tochter wissen. „Ich weiß nicht, inwiefern ich die Drüse zerstöre, wenn ich mit der Nadel ein Loch hinein steche. Auch wenn es nur ein sehr kleines Loch wäre. Die Gefahr, dass Caius Gift dann hineinkommen und auch dieses Organ angreifen könnte, ist zu groß. Vielleicht würde es dann seine Produktion stoppen. Wenn wir kontinuierlich in den nächsten Tagen etwas davon nehmen und benutzen müssten, um ihm zu helfen, hätten wir dazu keine Möglichkeit mehr.“ Mein Blick wanderte wieder zum Glas in Edwards bleichen Fingern und mir schwante Böses. „Ach du scheiße...“, murmelte ich. „Das ist nicht euer Ernst?!“ Ich hatte in meiner Kindheit mal eine Doku über die Giftgewinnung von Schlangen zur Herstellung von Gegengiften gesehen. Ich hatte gesehen, wie sie das arme Tier mit aufgerissenem Maul gegen die Scheibe pressten, damit es aus Panik sein Gift abgab. Jetzt wusste ich, was Carlisle gemeint hatte, als er uns sagte, wir sollten ruhig bleiben, egal was wir sahen oder hörten. Mir wurde ganz schlecht. „Ich habe jetzt das Sufentanil durch ein leichteres Medikament ersetzt. Er wird gleich zu sich kommen“, fuhr Carlisle fort. „Er wird aber nur einen kurzen Moment ansprechbar sein. Diesen Moment brauchen wir. Du musst dich unbedingt beeilen, Edward.“ Edward nickte. „Das werde ich.“ Ich sah zu, wie sich der Vampir auf Anis Bettkante setzte, darauf wartend, dass dieser aus seinem komaartigen Zustand erwachte und griff schon mal nach der Hand meiner Tochter. Ich wusste jedoch nicht, ob ich sie zurückhalten wollte oder ob ich hoffte, dass sie mich zurückhielt. Ich erinnerte mich an die Giftschlange aus der Doku und als Anthony sich nach ein paar Minuten bewegte und langsam zu sich zu kommen schien, schüttelte ich gedanklich den Kopf. Es war vielleicht die einzige Möglichkeit, um ihn vor dem Tod zu bewahren, aber er tat mir in diesen Minuten fast noch mehr leid, als er es in den letzten Tagen bereits getan hatte. Denn er würde aufwachen, nichtsahnend, was sie gleich mit ihm anstellen würden. Kaum dass er zu sich gekommen war, nahm Edward erneut sein Gesicht in die kalten Hände. Anthony war kaum in der Lage, die roten Augen offen zu halten, da redete Edward schon auf ihn ein. So wie er es kurz nach Anthonys Zusammenbruch bereits getan hatte, um ihn wach zu halten. „Wir haben vielleicht eine Möglichkeit gefunden, dir zu helfen“, sagte er, jedes Wort deutlich betonend. „Aber dazu musst du jetzt mitarbeiten.“ Anis Lider flatterten. Es wirkte so, als würde er gleich wieder bewusstlos werden. „Nein, du darfst jetzt nicht schlafen. Du musst wach bleiben. Du hast in deinem Leben noch genug Zeit zu schlafen, aber nur wenn du jetzt wach bleibst.“ Edwards Worte waren klar und deutlich und doch prallten sie an meinem Sohn ab wie an einer Backsteinwand. Er glitt einfach wieder zurück in seine Trance. „ANTHONY!!“, brüllte Edward aus voller Kehle und meine Tochter und ich zuckten kurz zusammen. Ohne sein Gesicht loszulassen, drehte Edward sich hilfesuchend zu Carlisle um. „Du hast keine andere Wahl“, sagte dieser. Edwards topasfarbene Augen wanden sich zu mir, als wolle er sich versichern, dass ich ihm nicht gleich an den Hals sprang. Ich nickte, ohne zu wissen, für was ich ihm eigentlich gerade meine Zustimmung gab. Edward genügte diese Geste um fortzufahren. Es ging alles unheimlich schnell und obwohl ich am liebsten weg geschaut und weg gehört hätte, versuchten meine müden Augen dem Geschehen irgendwie zu folgen. Ohne noch einmal zu zögern oder eine Sekunde tatenlos verstreichen zu lassen, schaffte Edward es irgendwie, mit wenigen blitzschnellen Handgriffen, Anthonys Mund zu öffnen und ihn mit den Zähnen gegen das Glas zu pressen. Doch Edwards grober Griff an Anis Hinterkopf und die unübersehbare Gewalt die er dabei auszuüben schien, wirkte erst, als Anthony von der unangenehmen Situation aus seiner Trance erwachte. Er verstand nicht, was hier los war und vielleicht wirkten wir durch seine getrübten Sinne auch alle wie ein Haufen Monster. Ich wusste es nicht. Aber seine Gestik verriet, dass er Angst hatte. Er presste die Augen zusammen und versuchte den Vampir wegzudrücken, hatte aber bei weitem nicht genug Kraft. Wahrscheinlich hätte er in diesen Minuten nicht mal eine Bierkiste hoch gekriegt. Ich weiß nicht, ob derart viel rohe Gewalt wirklich notwendig gewesen war oder ob das Gift erst in einer Stress- oder Abwehrreaktion freigesetzt werden konnte und Edward deswegen keinen Ton von sich gab, als er das tat. Nicht mal ein „es tut mir leid“ oder ein beruhigendes „Scht... scht..“. Aber ich spürte Erleichterung, als ich die Flüssigkeit ins Glas tropfen sah. Ebenso klar wie Wasser war es und von ähnlicher Konsistenz. Das Licht an der Decke brach sich in ihm und erzeugte ein Spektrum aus bunten Farben, die je nach Lichteinfall zeitweise im Glas sichtbar waren. Kaum zu glauben, dass so etwas Schönes so todbringend war. Als der komplette Boden des Glases etwa ein Finger breit damit bedeckt war, ließ Edward Anthony plötzlich los. Er ließ seinen Kopf zurück in die Kissen sinken, fegte zu einem Schrank am anderen Ende des Raumes und riss dort eine Schublade auf. Neben mir löste sich die Hand Mariellas aus meinem Griff und ich sah, wie meine Tochter zu ihrem Bruder rannte. Sofort setzte sie sich neben ihn auf die Bettkante und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. „Es wird alles gut“, flüsterte sie. Währenddessen war Edward damit beschäftigt, die kostbare Flüssigkeit in mehrere kleine Spritzen ab zufüllen. Fasziniert sah ich zu, wie geschickt er sich dabei anstellte. Er achtete penibel darauf, ja keinen Tropfen davon zu verschütten. Erst ein kurzes Ausbleiben des ansonsten rhythmischen Piepen von Anthonys Herzmonitor ließ mich wieder zu meinen Kindern schauen. „Was war das?“, fragte ich unsicher und spürte, wie jegliche Wärme aus meinen Gliedern wich. Meine Fingerspitzen wurden plötzlich taub und eiskalt und die Kälte wanderte von ihnen ausgehend durch meinen Körper. „Edward, bitte beeil dich“, sagte Carlisle ruhig. Mariellas Stirn lag unterdessen auf der ihres Bruders, während sie ihre Hände links und rechts an seine Wangen gelegt hatte. Ihre Augen waren geschlossen, aber ich hörte ihr leises Wimmern und ich sah die zarten Tränen, die ihr hübsches Gesicht hinab liefen. Anthonys Lider öffneten sich ganz langsam, ehe er hinauf in das Gesicht seiner Schwester blicken konnte, die nun ebenfalls ihre Augen aufschlug, ohne jedoch ihre Stirn von seiner zu nehmen. „Alles wird gut“, flüsterte sie ihm zu. „Alles wird gut... ja?“ Ani nickte zaghaft, ohne etwas zu sagen. Auch wenn ich meinen Sohn kaum kannte, wusste ich doch, wie stark die Bindung zu seiner Schwester war, auch wenn dies das erste Mal war, dass ich sie förmlich spüren und sehen konnte. Es war wie ein unsichtbares Band. Ebenso stark und untrennbar, wie meine Prägung auf Renesmee. Während ich die Geschwister beobachtete, nahm ich nur am Rande wahr, wie Carlisle die Spritzen von Edward an sich nahm. Diese kleinen Gegenstände, die jetzt alles entscheiden sollten. Wenn das Gift versagte, dann war es vorbei. Das wussten wir alle. Auch mein Sohn. „Mariella“, sagte der blonde Vampir leise. Widerstrebend stand Mariella auf und machte Carlisle Platz. Insgesamt sieben kleine Spritzen, gefüllt mit wenigen Tropfen, waren es. Jede von ihnen für eine andere Einstichstelle. Das Gift musste, so Carlisle, komplett verteilt werden, um das von Caius zu neutralisieren. Danach konnten wir nur hoffen, dass seine Heilungsfähigkeiten nicht mehr blockiert sein würden und alle Schäden rückgängig gemacht werden konnten. Die achte Spritze injizierte er dann aber wieder über den Katheder. „Das ist ein Schlafmittel“, antwortete er auf meinen fragenden Blick hin. Ich nickte und setzte mich auf einen Stuhl. „Hat es denn funktioniert?“ „Das wird uns die Zeit zeigen“, sagte er. „Was soll das heißen?“, kam nun von Mariella. „Sollen wir hier die Nacht in Ungewissheit verbringen und Morgen früh wacht er vielleicht gar nicht mehr auf?“ „Ich kann dir leider nicht widersprechen“, sagte er ehrlich. „Die nächsten Stunden sind entscheidend. Es tut mir sehr leid, dass ich dir keine zufriedenstellendere Antwort geben kann.“ „Schon okay.“ Sie seufzte und setzte sich auf den Stuhl, der Anthonys Bett am nächsten stand. Was darauf folgte, war eine der schrecklichsten und schlaflosesten Nächte, die ich jemals erlebt hatte. Und doch würde ich diese Nacht um nichts in der Welt wieder hergeben, denn es war diese Nacht gewesen, die alles geändert hatte. All die Sorgen, all die Trauer – alle dunklen Schatten schienen von uns abzufallen. Wir hatten nicht vergessen, was geschehen war und ein Teil der Trauer würde nie verschwinden, denn unser ältestes Kind würde uns immer fehlen, aber in dieser Nacht war es, aufgrund von Renesmees wachsamen Augen und Edwards und Carlisles Wissen gelungen, einen weiteren Verlust zu verhindern. Meine Renesmee, meine wundervolle hübsche Frau, wirkte mit einem Mal wie ausgewechselt. Als ich ihr am nächsten Morgen verkündete, dass Anthony auf dem Weg der Besserung war, war sie wie erwartet aufgesprungen und nach oben gefegt. Ich blieb unten im Wohnzimmer und unterhielt mich mit den anderen, die mir alle mitteilten, wie erleichtert sie waren und man sah es ihnen auch an. Rosalie gab Emmett gerade einen Kuss auf die Wange, als ich plötzlich Renesmees klangvolle Stimme aus dem oberen Stock hörte. „Jake?“, rief sie mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Ich ging zum Fuß der Treppe und sah zu ihr hinauf, wie sie dort oben stand und mich förmlich anstrahlte. „Ja?“, fragte ich. Ihr Lächeln wurde größer und ohne dass sie irgendetwas darauf antwortete, wirbelte sie auf einmal die Treppe hinab und sprang mir direkt in die Arme. So wie sie es als kleines Kind immer gemacht hatte. Und genau wie damals fing ich sie zielsicher auf und umarmte sie. Ich drückte ihren warmen Körper eng an meinen. Ich hatte diese leichte, beflügelte, glückliche Seite an ihr schon so lange nicht mehr gesehen. Nessie löste sich langsam aus meinen Armen und sah zu mir hinauf. Sie legte ihre Hand an meine Wange, sah mir in die Augen und streichelte über meine rostrote Haut. „Ich liebe dich“, sagte sie. „So sehr...“ Ich lächelte zurück. „Und ich liebe dich, mein Sonnenschein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Du bist die Sonne, nicht ich.“ Ich widersprach ihr nicht, sondern ergriff die Initiative und küsste sie. Plötzlich hörte ich ein gekünsteltes Husten. Wir lösten uns voneinander und blickten hinter uns, wo Emmett und die anderen standen. „Vergesst nicht, dass wir auch noch hier sind.“ „Ich weiß“, sagte ich, ohne Nessie loszulassen. „Ist mir aber egal“, fuhr ich fort, zuckte mit den Achseln und nahm ihr Gesicht in meine Hände, um meine Lippen erneut auf die ihren zu legen. *** „Jacob“, sprach Seth am frühen Morgen zwei Tage später in Gedanken zu mir. „Ich denke, wir sollten langsam wieder aufbrechen.“ Ich nickte ihm zu. Wir waren schon lange nicht mehr so entspannt auf einem Streifzug gewesen. Dabei war es ein sehr erleichterndes Gefühl, ein Tier zu sein. Wenn man in der Wolfsform war, war alles, was man zuvor als Mensch getan oder gefühlt hatte, wie aus einer anderen Welt. Man erinnerte sich daran und doch schien es in weiter Ferne zu liegen. Man kam viel einfacher mit allem zurecht, weil man nicht auf dieselbe Weise mit den Problemen umging, wie man es als Mensch tun würde. Man konnte sagen, als Wolf war man frei. Das wohl einzige Gefühl, das man auch in dieser Form noch so sehr spürte, war die Liebe. „Wahrscheinlich“, kommentierte Seth meine Gedanken. Ich brummte. „Komm, lass uns zurück gehen. Wird Zeit, dass du wieder aus meinem Kopf verschwindest.“ Seth lachte und folgte mir dann zurück zum Anwesen, wo wir hinter dem Haus ein paar Kleider versteckt hatten. „Irgendwie hab ich total Hunger“, sagte Seth, während er sich ein weißes Shirt überzog. „Du hast doch vorhin erst gegessen.“ „Das war mein anderes Ich.“ Ich gab ihm einen gespielten Hieb gegen die Schulter. „Spinner.“ Seth lachte erneut. Diesmal jedoch als Mensch. „Na los, lass uns reingehen. Ich muss dringend duschen, sonst lässt mich Nessie heute bestimmt nicht neben sich schlafen und ich verbringe die Nacht ungern auf der Couch.“ „Ach wirklich?“, sagte Seth und plusterte sich auf, während wir die Treppen der Veranda hinauf liefen. „Also Mariella mag es, dass ich ein Naturbursche bin.“ „Och, komm Seth“, sagte ich und machte einen angewiderten Gesichtsausdruck. „Hör auf. Das Liebesleben meiner Kinder geht mich nichts an.“ „Stimmt“, antwortete mein Schwiegersohn in Spe. „Tut es nicht.“ Zusammen gingen wir zielsicher in Richtung des nächstgelegenen Badezimmers. Was Badezimmer anging, konnten wir uns hier eigentlich nicht beschweren. Wir hatten mehr als genug davon. Und daher waren uns lange Schlangen vor einem Badezimmer auch unbekannt. Umso verwunderter mussten unsere Gesichter demnach ausgesehen haben, als wir um die Ecke gingen und eine kleine Menschentraube vor der Tür vorfanden. „Was ist denn hier los?“, fragte Seth zu Mariella gewandt, die mit verschränkten Armen dort stand und sich seitlich an die Wand gelehnt hatte. „Also ursprünglich“, ergriff Emmett nun das Wort. „Waren hier nur Mariella und Nessie, aber als sich dann noch Edward, Bella, Jasper und Alice dazu gestellt hatten, blieb ich auch stehen, weil ich dachte, es gäbe hier vielleicht was umsonst.“ „Und? Gibt es hier was umsonst?“, fragte Seth in einer Tonlage, die einem glauben machen konnte, er meinte das tatsächlich ernst. Meine Tochter gab ihm einen leichten Klaps. „Schatz!“, fauchte sie bissig. „Das ist nicht lustig! Er ist jetzt schon viel zu lang da drin!“ „Du willst mir nicht ernsthaft sagen, dass ihr hier rumsteht, weil Anthony im Bad ist?“ Mariella antwortete nichts, aber das war auch gar nicht notwendig. Seth und ich wussten auch so, dass er genau richtig spekuliert hatte. Meine Tochter stöhnte entnervt. „Das macht mich wahnsinnig. Kann nicht einer von euch Jungs mal reingehn und nach dem Rechten sehen?“ „Au au“, sagte Emmett und hob die Hände. „Das Einzige, was ich gerne mal nackt in einem Badezimmer betrachte, ist meine Süße und das Einzige, was ich bewusstlos vor meinen Füßen liegen sehen will, ist ein leckerer Grizzly.“ Rose gab ihm einen Schlag mit dem Ellenbogen in die Seite, ohne seinen Satz weiter zu kommentieren. „Kommt schon!“, bat Mariella erneut. „Mariella... Süße“, sagte Alice. „Hör auf dir einen Kopf zu machen. Du kannst ihn doch genauso gut hören wie wir. Er hat vor fünf Minuten das Wasser abgestellt.“ Mariella lehnte sich mit leicht schmollendem Blick wieder gegen die Wand. „Ich mache mir nur Sorgen. Ihr könntet ruhig versuchen, mich zu verstehen.“ „Das tun wir“, meinte Rosalie, ehe sie sich zu Emmett wand und ihn wegschob. „Komm, lass uns gehen.“ Ich ging hinüber zu Nessie, die direkt gegenüber unserer Tochter auf der anderen Seite der Tür stand und gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Na? War die Jagd erfolgreich?“, fragte sie. Sie klang ein wenig müde und doch viel entspannter als die letzten Wochen. „Riecht man das nicht?“ Ich grinste sie breit an. Renesmee lachte. „Doch.“ „Na also“, antwortete ich. „Und genau deswegen, werd ich mir jetzt ein anderes Bad suchen.“ „Die oberste Tür im Schrank links vom Wäschekorb!“, rief Edward plötzlich und ich zuckte fast zusammen und starrte ihn an. Von innen vernahm ich ein leichtes Knurren. Anthony hatte es noch nie gemocht, wenn man seine Gedanken las. Das war eine Eigenschaft, die wir uns teilten. Und doch machte es mich traurig, dass dies vielleicht auch ein Grund dafür war, dass er nicht in meinem Rudel war. Er hatte noch nie die Wolfsgestalt angenommen und ich hatte noch nie seine Gedanken gehört, so wie ich es bei Will getan hatte. Mein Blick fiel jetzt auf Bella, deren Schutzschild das Einzige war, was seines blockieren konnte. „Er hat seinen Schild auf Carlisles Anweisung freiwillig unten gelassen. Du brauchst mich also nicht so anzuschauen, Jake.“ „Ist ja schon gut“, sagte ich und hob beschwichtigend die Hände. „Wir gehen dann auch jetzt. Komm Seth.“ Renesmee nahm meinen Oberarm, als ich gerade kehrt machen wollte. „Willst du nicht noch kurz warten?“ Ich gab ihr noch einen Kuss. „Tut mir leid, mein Herz, aber ich will heute die Nacht nicht auf der Couch verbringen.“ Dann legte ich einen Arm um Seths Schulter und ging mit ihm in Richtung unseres Hauses. Die Wahrheit war, dass ich seit Tagen vor meinem Sohn flüchtete. Ich wusste nicht, wie ich mit ihm umgehen sollte, was ich sagen, wie ich mich verhalten sollte. Jetzt einfach so zu tun, als sei alles geklärt, erschien mir falsch. Was ich getan hatte, tat mir leid. Wenn ich die Möglichkeit bekäme, alles anders zu machen, ich würde sie ergreifen. Beginnend von dem Tag an, an dem ich seine roten Augen das erste Mal gesehen hatte. Als er noch ein Baby gewesen war. Als ich zu schwach gewesen war, meinem Instinkt nicht nachzugeben und mein Kind dazu verurteilte, etwas zu sein, was es nicht war. Nessie hatte Recht. Er musste schon immer diese tief verwurzelte instinktive Abneigung, die ich ihm gegenüber immer gespürt hatte, wahrgenommen haben. Die Distanz zwischen uns war mit jedem Jahr, das er älter geworden war, größer geworden. Bis sie schließlich eine riesige Kluft war. Und ich hatte nie den Mut gehabt, über sie hinweg zu springen und auf mein Kind zuzugehen. Und jetzt, jetzt wo ich die Chance für einen Neuanfang hatte, da wagte ich den Sprung noch immer nicht. Nessie wusste das, da war ich mir sicher. Sie sagte aber nichts. Momentan war sie einfach nur froh, dass er nicht gestorben war und genoss jede Sekunde, in der sie sehen konnte, wie es ihm von Tag zu Tag wieder besser ging. Ich hingegen war gestern nicht da gewesen, als er wieder aufgewacht war. Ich hatte einfach Angst davor. Ich war heilfroh, dass unsere Familie so gut auf ihn aufpasste und ebenso wie Mariella, würde ich ihn am liebsten irgendwo einsperren, damit ihm nichts mehr passieren konnte. Aber er hatte schon immer ein sehr eigenständiges Leben und einen starken Wunsch nach Freiheit gehabt. Und das würde er sicher bald wieder einfordern. Doch zunächst musste er lernen, dass auch er auf Hilfe angewiesen war... *** Nachdem ich fertig geduscht und ein kleines Nickerchen gemacht hatte, ging ich zurück ins Haupthaus, um nach Renesmee zu schauen. Ich hatte eigentlich gedacht, mein Sohn hätte sich inzwischen wieder in Carlisles Zimmer zurückgezogen, schließlich war er noch lange nicht wieder fit. Doch kaum, dass ich das Haus betreten hatte, spürte ich deutlich die Unruhe, die hier herrschte. Die Stimmung von heute Morgen schien wieder komplett gekippt zu sein und schlug mir direkt auf den Magen. Allerdings war ich wohl nicht der Einzige, dessen Magen Zicken machte. Bevor ich das Wohnzimmer erreicht hatte, stürmte meine Frau schon an mir vorbei ins Badezimmer, versenkte irgendwas im Klo und zog einen Lappen aus dem Schrank. „Was ist passiert?“, fragte ich vorsichtig, als ich im Türrahmen stand. Nessie ließ einen Wasserstrahl über den Lappen laufen. „Er hat sich übergeben.“ „Oh“, sagte ich und spürte die Erleichterung in mir. Ich hatte schon Schlimmeres befürchtet. So was wie einen Rückfall oder so. „Ist das nicht normal, wenn man zum ersten Mal wieder feste Nahrung zu sich nimmt, nachdem man tagelang künstlich ernährt wurde oder gar nichts bekam?“ „Möglich“, sagte sie besorgt und wrang den Lappen aus, dann ging sie, ohne noch etwas zu sagen, an mir vorbei und lief schnellen Schrittes in Richtung Wohnzimmer. Natürlich war mir nicht entgangen, dass sie sich Sorgen machte. Aber mir war ebenso aufgefallen, dass sie mich irgendwie komisch angesehen hatte. Warum sie das getan hatte, erfuhr ich erst kurz darauf, als ich das Wohnzimmer nun auch betrat. Ani lag in Bauchlage auf dem Sofa, hatte jedoch den Kopf in Richtung des Glastisches gedreht. Seine Augen waren leicht geöffnet und im Grunde sah er eben aus, wie jemand aussah, dem einfach nur verdammt übel war. Für mich noch immer kein Grund zur Sorge, auch wenn das flaue Gefühl in meinem Magen langsam deutlicher spürbar wurde, denn die um mich herumwirbelten und sorgenden Vampire waren nicht unbedingt förderlich für meine innere Ruhe. „Wann ist das passiert?“, wollte Esme von Mariella wissen, die auf dem Boden neben dem Sofa kniete. „Sofort nach dem Essen oder erst später?“ „Eigentlich... sofort. Also... währenddessen, meine ich.“ „Das war das erste Mal, dass er wieder was gegessen hatte, oder nicht?“, fragte Bella. „Ist doch möglich, dass sich alles erst wieder einrenken muss.“ Sie sprach aus, was ich vermutete. Doch so einfach machten es sich die Vampire nicht. „Die Frage ist nur, wie lange das dauern wird“, fügte Edward hinzu, der soeben den Raum betreten hatte. „Ich denke, dass wir es hier nicht mit einer menschlichen Eingewöhnungsphase zu tun haben.“ „Sondern?“, wollte Mariella wissen. Jetzt wurde auch Anthony hinter ihr wieder aufmerksamer, setzte sich langsam und etwas zittrig wieder auf und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Armlehne. „Ich glaube, dass die menschlichen Organe einfach noch zu sehr angegriffen sind und nicht in der Lage sind menschliche Nahrung zu verdauen.“ „Das bedeutet...“, sagte Mariella tonlos. „Ja“, bestätigte Edward und sah Anthony eindringlich an, dessen Augen nun langsam nach oben zu Edwards Gesicht wanderten. „Was die Nahrungsaufnahme angeht, bist du momentan kein Halbvampir mehr.“ Nun wo er das sagte, fiel mein Blick erst auf die weiße blick dichte Plastiktüte, die er in der Hand hielt und aus der er einen Blutbeutel zog, identisch mit denen, die wir früher Nessie gegeben hatten. Anthonys Augen wurden größer und er begann langsam und dann bestimmter den Kopf zu schütteln und sich dann ziemlich deutlich abwehrend aufzusetzen. „Nein!“ Es war nahezu das erste Wort, dass ich seit seiner Genesung aus seinem Mund gehört hatte und es war so bestimmt und kräftig, dass es mich fast erschreckte. „Es ist der schnellste Weg, um wieder zu Kräften zu kommen“, sagte Edward. „Ich würde lieber sterben, als das zu trinken“, konterte Ani und wand den Blick von Edward ab. Er starrte jetzt stur geradeaus und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich akzeptiere deine Ansichten“, antwortete Edward. „Aber wir haben die letzten zwei Wochen nicht um dein Leben gekämpft, um dich jetzt verhungern zu lassen.“ Anthony reagierte nicht auf Edwards Satz. Er bewegte sich nicht und fixierte weiterhin irgendeinen Punkt hinten an der Wand. „Was ist mit Tierblut?“, warf Nessie ein. „Das ist nicht so effektiv, außerdem kann er nicht jagen.“ „Ich jage für ihn“, sagte Mariella und stand entschlossen auf. „Ja, genau“, meldete sich Emmett zu Wort. „Wo ist das Problem? Einmal blutiges Reh frisch auf den Tisch. Kommt sofort.“ „Kommt überhaupt nicht in Frage“, sagte Alice. „Gegessen wird natürlich außer Haus.“ Die Besorgnis um ihre Polstermöbel schien ihr ins Gesicht geschrieben, hatte sie doch fast das komplette Haus bei unserem Einzug sorgsam eingerichtet und alles bis ins Detail ausgearbeitet. Keine fünf Minuten später war das zuvor noch volle Wohnzimmer wieder leer und nur noch Edward, Bella und ich standen dort. Edward verstaute den Beutel wieder in der Tüte. „Was sollte das?“, fragte ich ihn. „Du wusstest, dass er auch das Tierblut als Option haben würde. Also... war das ein Test?“ Er lachte nur und verließ den Raum. Eine Antwort blieb er mir schuldig, aber wahrscheinlich überließ er es mir zu glauben, was immer ich glauben wollte. Im Grunde war es egal, ob er das ernst gemeint hatte oder ob er ihn lediglich prüfen wollte. Er hatte es strikt abgelehnt. Er hatte die einzige Reaktion gezeigt, die ich mir wünschte. Und auch die einzig richtige. *** Noch am selben Abend wurde ich zu einer Besprechung abermals ins Wohnzimmer gerufen. Draußen war es bereits stockfinster, so dass das Zimmer durch die hellen Deckenleuchten und die Stehlampen links und rechts des weißen Sofas beleuchtet wurde. Alle waren sie bereits da und hatten sich einen Platz gesucht. Lediglich Emmett stützte sich mit verschränkten Armen über der Rücklehne von Rosalies Sessel ab, auf dessen breiter Armlehne Bella saß. Edward war der Einzige, der zusammen mit Carlisle durch den Raum lief. „Ah, Jacob. Schön, dass du nun auch hier bist“, sagte er freundlich. Ich nickte ihm kurz zu und steckte dabei in einem Anflug von Verlegenheit meine beiden Hände in die Gesäßtaschen meiner Hose. Obwohl ich es nicht wollte, ging mein Blick als erstes direkt zu Anthony. Er saß ganz links außen komplett auf dem Sofa. Da er in eine Decke gehüllt war, konnte ich es nicht richtig erkennen, aber ich nahm an, dass er es sich im Schneidersitz bequem gemacht hatte. Er erwiderte meinen Blick nur sehr kurz und wand ihn dann wieder ab. Ich konnte nicht mal herauslesen, welcher Art seine Gesinnung momentan zu mir war. „Warum kannst du nicht eine Weile warten?“ Edwards Frage galt Anthony und seine Tonlage war bereits etwas höher, als es bei einem normalen Gespräch der Fall wäre. Ich wusste nicht, auf was sie sich bezog, denn ich hatte den Anfang nicht mitbekommen, versuchte aber aus dem Kontext eine Antwort zu bekommen. „Für die Volturi wird das Geschehene auch in Jahren noch so aktuell sein wie heute. Es ist ihnen egal, ob du morgen ihre Haustür eintrittst oder erst in dreihundert Jahren. Du musst nicht, kaum dass du wieder stehen kannst, direkt wieder in ihre Arme rennen“, fuhr er fort. „Ich kann aber nun mal eben keine dreihundert Jahre warten“, antwortete er mit einem leicht bissigen Unterton. „Um was geht es dir überhaupt?“, fragte Carlisle ruhig wie eh und je. „Meinst du, Rache bringt dich weiter? Nehmen wir an, du seist an Williams Stelle gestorben. Würdest du wollen, dass er für dich ins offene Messer rennt und sein Leben aufs Spiel setzt, obwohl du davon nicht mehr lebendig wirst?“ „Natürlich nicht“, antwortete Anthony. Darauf folgte eine kurze Stille, ehe mein Sohn erneut sprach und zeitgleich mit dem Aussprechen seines nächsten Satzes aufstand. „Es geht aber hier nicht um Rache!“ „Ani, setz dich bitte wieder hin“, bat Mariella, doch ihre sanftmütigen Worte gingen einfach unter und wurden von ihrem Bruder ignoriert. „Um was dann?“, wollte Edward wissen. „Ihr denkt vielleicht, Nahuel, seine Schwestern, Mariella und ich wären die einzigen Halbvampire, aber das stimmt nicht!“ Anthony deutete mit einem Arm zum Fenster. „Da draußen sind noch zwei Dutzend mehr und sie werden von den Volturi gefangen gehalten und gezüchtet wie Tiere!“ Entsetzte Blicke. Damit hatte hier wohl keiner gerechnet, hatte man sich doch fest vorgenommen, unseren Jüngsten einfach nur von seinen Rachegedanken fortzubringen, hatte er nun etwas hervorgebracht, das man nicht so einfach beiseite schieben konnte. Mal ganz davon abgesehen, dass es mir dabei momentan lediglich darum ging, meinen Sohn zu schützen. Caius den Kopf abreißen, würde ich definitiv noch. Das hatte ich mir fest vorgenommen. „Bist du sicher?“, hakte Carlisle nach. „Ich hab es selber gesehen“, antwortete er ihm. Dann wand er seinen Blick zu Edward. „Was glaubst du, warum sie mich langsam zu sich zogen, angefangen damit, dass sie mir dieses unschuldige Kind vor die Füße warfen? Um unseren Zirkel zu entzweien? Das hab ich auch mal geglaubt. Aber das war nicht Aros Absicht. Er hat es sich zum Ziel gesetzt, eine 'Super-Rasse' zu züchten.“ Jasper legte nachdenklich eine Hand an sein Kinn. „Er tötete Joham, nur um dessen Plan fortzuführen...“ Ich machte einen verächtlichen Ton. „Und zu uns sagen sie, wir würden wie die bekloppten Hybriden züchten, dabei machen sie das quasi am Fließband...“ In all dem Stimmgewirr, dem Entsetzen und dem Spott drang plötzlich Nessies Stimme hervor, als sie panisch aufsprang, zu Ani rannte und sich in dessen Hemd krallte. „Was haben sie mit dir gemacht?!“, schrie sie ihn förmlich an, doch er blieb ganz ruhig und zupfte ihre zarten Finger vorsichtig aus seinem Shirt. „Gar nichts, Mutter. Ich war fort, ehe Aro mich benutzen konnte.“ „Ah...“, kam es mir plötzlich. „Das erklärt natürlich ihren scheinheiligen Kotz-Brief.“ „Brief?“, fragte Anthony, der davon natürlich nichts wusste. „Nein“, meinte Carlisle. „Ich denke, der war zur allgemeinen Besänftigung gedacht. Aro weiß, dass er durch den Mord an William und den Angriff auf Anthony eine Basis für eine Verfeindung unserer beiden Zirkel geschaffen hat.“ „Zum gegenwärtigen Zeitpunkt weiß er nicht mal, dass es bei letzterem bei einem Mordversuch geblieben ist, und ich halte es für besser, wenn das auch so bleibt.“ „Keine Sorge“, versicherte Ani. „Ich werd nicht noch mal alleine da rein gehen.“ „Sehr vernünftig.“ „Aber ich werde die Halbvampire dort auch nicht einfach weiter wie Vieh leben lassen. Und ich hab auch schon eine Idee, wer mir dabei behilflich sein könnte.“ „Ah ja?“, fragte Edward erwartungsvoll. „Du kennst sie nicht... oder vielleicht doch...“, antwortete er und Edward sah genauso schlau aus wie vorher. „Kennen oder nicht kennen“, schaltete Carlisle sich ein. „Alles was heute Abend besprochen wurde, wird sicherlich noch einmal aufgegriffen werden. Aber fürs Erste ist es das Wichtigste, dass du wieder auf die Beine kommst.“ „Ich steh doch schon.“ „Du weißt, was ich meine. Du wirst in den nächsten zwei bis drei Wochen Hausarrest haben und das Haus lediglich zum Jagen und nur in Begleitung verlassen. Und jetzt, ab ins Bett.“ Anthony verdrehte die Augen und ließ sich etwas angesäuert von Carlisle wegschieben. - Ende Kapitel 10 - Kapitel 11: Vater und Sohn -------------------------- Disclaimer: => Ich verdiene kein Geld mit meiner Fanfiction. => Alle Charaktere die schon in den Twilight-Bänden ihren Auftritt hatten, gehören Stephenie Meyer. Alle Anderen, wie etwa Schüler, Lehrer und vor allem Renesmees und Jakes Kinder, habe ich selbst erfunden. Weitere Infos zur FF, Trailer, Cover & mehr http://www.chaela.info --------- Kapitel 11 Vater und Sohn Dieser Morgen war verblüffend schön, dafür dass wir noch immer Winter hatten. Der Schnee war fort. Stattdessen waren die Wiesen rund um unser Anwesen wieder grün und die Sonne schien kräftig und warm vom Himmel. Keine Wolke war zu sehen. Das Geräusch des klappernden Geschirrs war nicht zu überhören, waren doch abgesehen von meiner Schwester und mir offensichtlich heute alle anderen ausgeflogen. Es war selten, dass es so still hier war. Eigentlich war immer jemand da, aber heute nicht. Die Ruhe war angenehm, auch wenn ich die letzten Tage reichlich wenig von meinem Leben mitbekommen hatte. Ich war so kurz davor gewesen es zu verlieren. Meine Schwester räumte den Geschirrspüler aus und stellte die frisch gewaschenen Teller zurück an ihre Plätze im Küchenschrank. Ihre leicht rostrote Haut, die sie von Vater geerbt hatte, glitzerte ein wenig im einfallenden Sonnenlicht. Sie sah glücklich aus. Auf ihren Lippen lag ein ganz zartes Lächeln und während sie mit einem trockenen Tuch noch einmal über das Geschirr strich, bevor sie es zurückstellte, summte sie leise eine Melodie, die ich entweder nicht kannte oder nicht deuten konnte. Doch dann wurde sie vom Klingeln der Haustür unterbrochen. Noch immer summend, ging Mariella langsam zur Tür. Es kam zwar nicht häufig vor, dass wir Post bekamen, oder dass uns jemand besuchte, trotzdem öffnete sie arglos die Tür, ohne sich zu wundern. Doch als sie sie geöffnet hatte, erstarrte sie plötzlich: vor der Tür stand ein junges Vampirmädchen mit braunem, hochgesteckten Haaren und feurig roten Augen. Jane. Obwohl sie sie nicht kannte, spürte meine Schwester die Gefahr, die von dem Mädchen ausging. Mariella wollte die Tür sofort wieder zuschlagen, obwohl eine geschlossene Tür ganz sicher kein Hindernis für die Volturi war, doch blockierte der Arm von Janes Begleitung das Holz. Erschrocken wich Mariella zurück. Plötzlich stand ich am oberen Ende der Treppe zum ersten Obergeschoss, wo sich auch Carlisles Arbeitszimmer befand und in dem ich die heutige Nacht, wie auch die Nächte davor, verbracht hatte. „Mariella?“, fragte ich besorgt. Ich konnte sie von hier oben nicht sehen, aber ich spürte die Gefahr. „Verschwinde!“, rief sie. Ihre Aufforderung galt mir. Sie wollte, dass ich mich in Sicherheit brachte, wusste sie doch, dass die Volturi meinetwegen hier waren. Aus dem Nichts erschien etwas hinter mir. Als ich mich umdrehte, blickte ich in die roten Augen von Janes Zwillingsbruder Alec. Obwohl er kleiner war als ich, wich ich reflexartig einen Schritt zurück. Ein Schritt zu viel, der mich rücklings die komplette Treppe runter fallen ließ. Nachdem ich für einen kurzen Augenblick das Gefühl hatte, das man hatte, wenn man einfach nur eine Stufe übersah, schlug ich unten hart auf den gefliesten Boden auf, spürte dabei jedoch keinerlei Schmerzen. Unten stützte ich mich mit den Händen ab, so dass ich aufblicken konnte. Hinter Mariella standen Jane und Demetri. Und dann war da noch ein dritter Vampir. Ich kannte sie. Das Mädchen mit dem hüftlangen, schwarzen Haaren, dem ich nicht in die Augen blicken sollte. Obwohl Sangreal mir erzählt hatte, sie sei Marcus Leibwache und meistens unter Verschluss, wunderte ich mich nicht über ihre Anwesenheit. „Ani!“, rief meine Schwester und wollte zu mir, ging dann jedoch plötzlich laut schreiend auf die Knie und hielt sich den hübschen Kopf. Sofort fixierte ich Jane. „Lass sie in Ruhe!“, schrie ich. Ich hätte nie geglaubt, dass es irgendetwas bewirken würde, wenn ich das sagte, aber Jane stoppte ihren psychischen Angriff auf meine Schwester und Mariella sank kraftlos zusammen. „Es war sehr töricht von dir, zu glauben, dass du einfach so Caius' Gefährtin attackieren und heil aus der Sache herauskommen könntest. Mein Meister ist zutiefst verärgert und da seine Vergeltung an dir offensichtlich fehlschlug, schickte er uns aus, um das richtig zu stellen.“ Ein tiefes Knurren kam aus meiner Kehle. „Und was ist mit meinem Bruder? Dass er ihn grundlos tötete, wird einfach mal übergangen?!“ Jane kicherte gehässig. „Auch das ist im Grunde nicht unsere Schuld, sondern die deine. Und wenn du tief in dich hinein hörst, wirst du auch erkennen, dass ich Recht habe, Anthony.“ Ihre Worte brannten und fraßen sich ebenso in mich hinein, wie Caius' Gift es zuvor getan hatte. „Hör nicht auf sie!“, flehte meine Schwester, die wieder zu sich gekommen war. „Das ist nicht wahr, dich trifft keine Schuld!“ Ich wollte ihr glauben. Aber es war so schwierig... „Lästig“, sagte Jane verächtlich. Ganz so, als sei dies ein unausgesprochener Befehl gewesen, packte Gabriella meine Schwester und zog sie hoch. Ein schrecklich ungutes Gefühl stieg in mir auf. „Nein...“, flüsterte ich, ehe ich das Wort hinaus schrie. „NEIN!“ Ich versuchte zu ihr zu kommen, doch spürte ich meine Beine plötzlich nicht mehr. Erschrocken starrte ich hinter mich und stellte fest, dass ich gar keine mehr hatte. „Ani“, flüsterte Mariella. Ich ignorierte meine verschwundenen Beine und sah wieder nach vorn zu meiner Schwester. Inzwischen hatte Gabriella sie zurück auf die Knie gezwungen und ihre bleichen Hände, links und rechts, an die Seiten ihres Kopfes gelegt. „Ani“, flüsterte sie erneut. „Nein, nein, Mariella nicht! Bitte! Mariella!“, rief ich verzweifelt und versuchte zu ihr hinüber zu robben, doch schien der Abstand zwischen uns sich nicht im geringsten zu verändern. „Nein!“ Noch immer schrie ich aus voller Kehle, stets versuchend zu meiner Schwester zu kommen, sie zu retten, das Unausweichliche zu verhindern. Nicht noch ein Opfer. Nicht sie. Nicht Mariella. Die einzige Person, abgesehen von meiner Mutter, die mir stets so nahe gestanden hatte. Die ich aufrichtig und aus vollem Herzen liebte. Für die ich ohne zu zögern mein Leben geben würde. „Ani“, hauchte sie zum dritten Mal, ehe Gabriella plötzlich ihren Kopf drehte. Es gab ein schreckliches Knacken. Ich sah nicht hin. Ich hörte nur den dumpfen Aufschlag von Mariellas leblosem Körper. Mit zusammengekniffenen Augen schrie ich aus voller Kehle. „MARIELLAAA!!“ Und dann, verschwamm alles um mich herum... „Ani?! Ani?! Ani, bitte. Ani, es ist alles gut! Bitte wach auf!“, hörte ich sie wieder. Die Stimme meiner Schwester. Sie wurde mit jedem Wort, das sie sagte, klarer und schien näher zu kommen. Und dann schlug ich meine Augen auf. Ich befand mich noch immer in Carlisles Arbeitszimmer und ich trug auch noch immer das selbe schwarze Shirt, mit dem ich heute Nacht ins Bett gegangen war. Ich versuchte mich zu erinnern, was ich eben noch getragen hatte, doch die Erinnerung an dieses Detail verblasste bereits. Das Einzige, was sich dagegen in mein Hirn gebrannt hatte, war das schreckliche Knacken von Mariellas Genick und der anschließende dumpfe Ton. Während ich immer wieder diese beiden Geräusche in meinem Kopf hörte, musste ich meine Schwester wohl ganz entgeistert angestarrt haben, denn sie sah besorgt zurück und legte mir ihre warme Hand an die Stirn. „Alles okay? Tut dir etwas weh? Hast du Schmerzen?“, fragte sie. Ich antwortete zunächst nicht auf ihre Fragen. Stattdessen stellte ich fest, dass meine Kleider an mir klebten und mein Herz ziemlich raste. Ich kniff die Augen zusammen und versuchte mich zu beruhigen. Ich war froh, dass Carlisle wenigstens den Herzmonitor ab gekappt hatte, sonst stünde jetzt wahrscheinlich schon ein Rettungstrupp bestehend aus Carlisle und Edward im Zimmer. Aber wenn Mariella weiter so in Sorge war, würde Letzterer mit Sicherheit bald ihre Gedanken hören und trotzdem hoch kommen. „Nein, alles in Ordnung“, sagte ich zu ihr. „Es war nur ein Traum. Nur ein Traum. Nichts weiter.“ Meine Worte zeigten sogleich Wirkung. Mariella setzte sich wieder ordentlich auf die Bettkante und hörte auf sich zu mir zu beugen. „Was hast du denn geträumt?“, wollte sie wissen. „Ich weiß es nicht mehr“, log ich, denn obwohl mir die Details entfallen waren, wusste ich im Groben noch immer, was ich gesehen hatte. Aber auch wenn Mariella nicht in der Lage war, meine Gedanken zu lesen, es war schier unmöglich, meine kleine, große Schwester zu belügen. „Du hast regelrecht geschrien, Ani“, informierte sie mich. „Ich hab wie eine Wahnsinnige probiert, dich wach zu kriegen, aber du hast einfach weiter gebrüllt.“ „Was hab ich denn gesagt?“ Mariella überlegte kurz. „Nein“, sagte sie. „Und immer wieder meinen Namen und 'Bitte'. Was hast du gesehen, Ani?“ „Die Volturi“, sagte ich tonlos, ohne meiner Schwester in die Augen zu blicken. Erst als es um sie ging, hob ich meinen Blick und sah sie an. „Sie kamen hier her und töteten dich.“ Mariella öffnete kurz leicht den Mund, schloss ihn dann jedoch wieder, ohne etwas zu sagen. „Ich muss sie töten, Mariella. Ich muss ihnen zuvorkommen, bevor sie dir etwas antun können.“ Mariella sah traurig aus. Sie legte ihre Hand an meine Wange. „Ani, das war nur ein Traum. Niemand wird mich töten.“ Ich schloss die Augen, nahm ihre Hand aus meinem Gesicht, gab ihr einen Kuss auf den Handrücken und öffnete sie wieder. Mariella lächelte mich an und zog ihre Hand langsam wieder zurück. Ich beließ es dabei. Natürlich war es nur ein Traum, aber der konnte schnell bittere Realität werden. Caius hatte keine Sekunde gezögert meinen Bruder umzubringen und ich war mir sicher, dass er nicht ruhen würde, bis wir alle tot waren. Wahrscheinlich ergötze er sich gerade seines scheinbaren Triumphs, mich getötet zu haben. Ich hatte den Überraschungsmoment auf meiner Seite. Das war gut. Ich würde diesmal nicht mehr so dumm sein und allein zurück nach Volterra gehen. Selbst wenn es mir gelingen würde, Caius zu töten, wären die Halbvampire noch lange nicht in Sicherheit. Ich hatte nicht viele von ihnen kennengelernt und die, die ich etwas besser kannte, unterschieden sich von ihrer Art her kaum, von meinen menschlichen Mitschülern hier in Irland. Doch gerade das war es, was mich darin bestärkte, ihnen zu helfen. Sie waren in diese Welt als Versuchsobjekte hineingeboren worden, obwohl sie, genau wie jedes andere Lebewesen auch, ein freies Leben haben sollten. Sie würden zwischen den Menschen wahrscheinlich kaum auffallen. Sie würden wahrscheinlich als Hochbegabte abgestempelt werden, aber da sie kein Blut tranken, würde man sie leicht integrieren können. Doch dazu müsste man sie erst aus Aros Gefangenschaft befreien. Und dann schweiften meine Gedanken zu dem einzigen Halbvampir ab, den ich wirklich zu kennen geglaubt hatte. Ich wusste noch immer nicht, ob sie berechnend gehandelt hatte oder ob sie genauso unwissend gewesen war, wie ich. Und genauso wenig wusste ich, ob diese Nacht nun tatsächlich 'Konsequenzen' haben würde, oder nicht. Ich nahm mir fest vor, sie zur Rede zu stellen, sobald ich konnte, aber erst, musste ein handfester Plan her. „Traum oder Realität. Ich brauche deine Hilfe“, nahm ich das Gespräch mit meiner Schwester wieder auf. „Bei was?“, fragte sie skeptisch. „Ich kenne jemanden, der uns vielleicht helfen kann, die Volturi zu stürzen. Aber dazu müsste ich erst mal diese Person aufsuchen und mit ihr reden.“ „Das kannst du ja auch noch in ein paar Wochen machen, weder werden die Volturi dir davon laufen, noch diese Person, oder etwa nicht?“ „Ich hab es schon Edward gesagt, ich kann nicht solange warten.“ „'Lang'?“, fragte sie empört. „Ani, du bist jetzt seit drei Tagen wieder bei Bewusstsein, davor lagst du über eine Woche lang lebensbedrohlich verletzt im Koma und wir waren so kurz davor, dich zu verlieren!“ Bei dem Wörtchen 'kurz' formte sie einen kleinen Spalt mit dem Daumen und dem Zeigefinger. „Urgroßvater hat dir strikte Bettruhe verordnet und ich werde einen Teufel tun, dich irgendetwas anderes tun zu lassen, mein Lieber!“ „Mariella, bitte! Es ist ja nicht weit und ich nehme auch das Auto. Gib mir nur ein oder zwei Stunden, dann bin ich wieder hier.“ „Nein!“, sagte sie strikt und verschränkte die Arme. „Bitte!“ Sie schüttelte den Kopf. Ich umschloss mit beiden Händen ihre Oberarme und sah ihr tief in die Augen. „Mariella, bitte! Wann hab ich dich denn zuletzt um etwas gebeten?“ „Keine Ahnung“, sagte sie. „Aber ich kann dich nicht gehen lassen. Dafür hab ich mir in den letzten Tagen einfach viel zu viele Sorgen gemacht. Du bist immer noch angeschlagen und musst dich ausruhen.“ „Es ist ja nur für zwei Stunden. Ich komme zurück so schnell ich kann. Versprochen.“ Mariellas harter Widerstand begann langsam zu bröckeln. „Also gut. Aber nur unter einer Bedingung.“ „Und die wäre?“ „Ich begleite dich.“ Ich schüttelte den Kopf. „Sie ist sehr scheu.“ Ich wusste nicht, wie ich es besser erklären sollte und 'scheu' war einfach der erste Ausdruck, der mir einigermaßen zahm und dennoch irgendwie passend vorkam. Temperamentvoll und zickig wäre wahrscheinlich treffender gewesen, aber da hatte ich die Befürchtung, dass meine Schwester darauf beharren würde, mitzukommen, damit sie dem Mädchen im Falle des Falles eins über braten konnte, sollte sie sich mir gegenüber, in den Augen meiner großen Schwester, nicht korrekt verhalten. Und da ich nicht wusste, zu was Cat in der Lage war, hielt ich es für besser, meine Schwester keiner eventuellen Gefahr auszusetzen. Mariella brummte leise verärgert vor sich hin und tippte mit dem Fingern der verschränkten Arme auf ihrem Oberarm herum. „Also gut. Eine Stunde. Mit dem Auto. Und ich schwöre dir, wenn du nach einundsechzig Minuten nicht wieder hier bist, such ich dich unter jedem verdammten Stein dieser Welt! Und wenn ich dich gefunden haben sollte und du dich einfach, wie fast immer, nur verspätet haben solltest, fessle ich dich an dieses Bett, bis du irgendwann graue Haare hast!“ Ich wollte gerade erwidern, dass ich mich seit fast zwei Jahrzehnten nicht mehr verändert hatte und die Wahrscheinlichkeit jemals ein graues Haar zu haben gen Nullpunkt ging, aber dem war sie sich wohl bewusst und wollte mir damit nur klar machen, dass sie mich auf ewig festhalten würde. Ich musste zugeben, ich fand ihre Fürsorge irgendwie... niedlich. Aber momentan freute ich mich nur, eine Verbündete bei meinem Fluchtversuch zu haben. Meine besorgte Schwester ging, unter dem Vorwand mir neue Klamotten holen zu wollen, hinunter in den Keller. Das war nicht mal komplett gelogen, schließlich konnte ich schlecht in meinen verschwitzten Klamotten und mit meinem Morgenmantel vor die Tür gehen. In erster Linie war es jedoch wichtig, dass Mariella die Türen für mich öffnete. Türen, die sich wie von Geisterhand selbstständig öffneten, würden mich sofort verraten. „Mach schnell“, mahnte sie, während sie ungeduldig an der Tür stand und immer wieder hinaus horchte. Ich war gerade damit beschäftigt meine Kontaktlinsen einzusetzen, als wir Besuch bekamen. Durch meine unfreiwillige Diät und das anschließende Tierblut waren meine Augen zwar schon fast mehr grün als rot, aber sicher war sicher. Dann hörte ich draußen Stimmen. Alice stand plötzlich im Keller und begann sich mit meiner Schwester zu unterhalten. Ich bekam von dem Gespräch nur Fetzen mit. Irgendwas über das Wetter, über meine Klamotten und den Luftzug hier unten. Eigentlich Nonsens. Eigentlich hätte mich das stutzig machen müssen. Aber ich war zu sehr damit beschäftigt, aus meinem eigenen Zuhause zu fliehen. Doch erst als Mariella mit Alice wieder nach oben gegangen war, konnte ich mein Zimmer schlussendlich verlassen. Allerdings nicht, ohne vorher den Schlüssel meines Autos, aus der Schublade meines Nachttisches, zu holen. Danach ging ich direkt den Weg vom Keller aus in die anliegende Garage. Von der Größe her hätten hier mit Leichtigkeit nochmal zwei Drei-Zimmer-Wohnungen reingepasst, bot sie doch genügend Platz für unseren gesamten Fuhrpark. Die Deckenleuchten sprangen eine nach der anderen an und hüllten den Raum in ein helles Licht. Als ich auf den Knopf auf meinem Schlüssel drückte, vernahm ich das Piepen und Blinken aus der hinteren Ecke. Mein schwarzer BMW Z4 mit den weinroten Details, die in Sonderausstattung darauf appliziert wurden, war seit meiner eiligen Fahrt zur Schule, um Catriona wegen der Sache mit den Volturi in der Gasse zur Rede zu stellen, nicht mehr benutzt worden. Und nun stieg ich erneut ihretwegen in mein Auto. Doch ich kam nicht mal dazu, den Schlüssel rumzudrehen. Nachdem ich ihn ins Schloss gesteckt hatte und meinen Blick wieder nach vorn richtete, erblickte ich plötzlich Bella vor meiner Motorhaube. Sie hatte die Arme verschränkt und sah mich missmutig an. Ich seufzte und verdrehte die Augen, ehe ich auf den Knopf drückte, der mein komplettes Hardtop runter fuhr. Alternativ hätte ich auch die Scheibe runter lassen können. Aber irgendwie war mir da gerade nicht danach. „Wohin des Weges, junger Mann?“, fragte sie neckisch. „Ich hab hier 340 PS, die alles niederwalzen, was vor ihnen steht“, sagte ich gelassen. Ihre Worte waren nicht weniger besonnen. „Und ich hab hier einen Vampir, der deinen kompletten Wagen, mitsamt dir, Huckepack nehmen und dich sofort wieder in den zweiten Stock befördern kann.“ „Oh bitte, Bella, ich hab nur eine Stunde...“ „Muss Aschenputtel dann wieder Zuhause sein?“, fragte sie, während sie um die Motorhaube herumlief und sich neben die Fahrertür stellte. Ich hob den Blick, sah ihr in die Augen und hob gelangweilt einen Mundwinkel. „Normalerweise mag ich es nicht, wenn man mich Oma nennt“, fuhr sie plötzlich mit einem ganz anderen Thema fort. „Aber bei dir würde ich mich glatt darüber freuen, wenn du mich mal Grandma nennen würdest, oder so.“ „Wenn ich dich so nenne, lässt du mich dann gehen?“ Sie lachte kurz, wurde dann jedoch wieder ernst. „Welchen Teil von „strikte Bettruhe“ hast du nicht verstanden?“ „Sieh mir in die Augen und sag mir, dass du noch nie das Haus verlassen hast, obwohl es dir jemand verboten hat.“ Ich sah in ihre bernsteinfarbenen Augen, als ich die Worte sagte, und wartete gespannt auf ihre Reaktion. Wie ich erwartet hatte, stöhnte sie kurz und sah weg. „Also gut, eine Stunde.“ „Danke“, sagte ich. „Grandma“, fügte ich anschließend noch hinzu. Bella lächelte mich an und schüttelte den Kopf. „Mach wenigstens das Dach zu.“ Ich nickte und drückte erneut auf den Knopf, damit sich mein Hardtop wieder schloss. *** Die erste Hürde war also nun geschafft. Nun war ich unterwegs zu Catrionas Haus, das sich recht außerhalb der Stadt befand. Die Äcker waren noch immer so farblos wie an jenem Tag, als ich das Haus zum ersten Mal gesehen hatte. Es wirkte noch immer etwas seltsam. Durch die hölzerne Fassade hatte es irgendwie Ranch-Charakter und es sah auch etwas krumm aus, trotzdem wirkte es so, als könne es allen Unwettern hier trotzen und stünde schon seit Ewigkeiten hier. Und wenn ich daran dachte, was Cat mir bei unserer letzten Begegnung erzählt hatte, dann lag ich damit vielleicht nicht mal falsch. Etwas zögerlich drückte mein Finger auf die Türklingel. Danach begann ich innerlich zu hoffen, dass Cat an die Tür gehen würde und nicht ihr Vater. Ich hatte ihn noch nie gesehen, aber wenn ich Cats Geschichten glauben schenkte, dann war er wohl kein guter Umgang für mich. Vor meinem geistigen Auge stellte ich mir ihn immer vor wie einen bulligen Wikinger, mit dichtem Bart und rotem langen Haar. Und Muskeln. Und zwar nicht zu wenig. „Tony“, sagte Cat tonlos, als sie plötzlich vor mir stand und mich aus meinen Gedanken riss. „Hi“, sagte ich nur. Ich wusste nicht wirklich, was ich sagen sollte, also beließ ich es erst mal dabei. „Was willst du nach so langer Zeit?“, flüsterte sie fast. Wahrscheinlich war ihr Vater hinten im Haus, aber irgendwie bezweifelte ich, dass da Flüstern half. „Hast du deine Welttournee abgebrochen?“ „Was?“, fragte ich ungläubig. „Du hast dich hier nicht mehr blicken lassen. Ich war sogar mal bei dir zu Hause, aber mir wurde gesagt, du seist nicht da und man wisse nicht mal, wann du wieder kommst. Hast du dich von deiner Familie losgerissen, um ungehindert Menschen zu töten?“ „Nein“, sagte ich entschlossen. „Ich habe in den letzten Monaten mehr als einen Fehler begangen und wenn ich könnte, würde ich alles rückgängig machen, aber das kann ich nicht. Ich kann nur die Zukunft besser machen, und dafür brauche ich deine Hilfe!“ Cats blaue Augen wanderten von oben nach unten und musterten mich. „Du siehst irgendwie anders aus“, sagte sie dann, meine Antwort ignorierend. „Irgendwie müde. Ist das bei Vampiren, die kein Blut trinken, so?“ „Das hat nichts damit zu tun“, flüsterte ich nun ebenfalls. „Na ja, ist ja schön, dass du vom Blut losgekommen zu sein scheinst, aber bitte geh jetzt.“ Sie wollte die Tür wieder schließen, doch ich stemmte blitzschnell meinen Arm dagegen und hielt sie auf, so wie es Janes Begleiter in meinem Traum mit Mariella gemacht hatte. „Ich mag vielleicht schwach sein“, sagte ich mit einem Anflug von Wut. „Aber ich bin immer noch stark genug, um deine Tür aus den Angeln zu heben.“ „Das würde ich dir aber nicht raten“, sagte sie. Ihr Gesicht war jetzt ganz nah an meinem. „Ich brauche wirklich deine Hilfe, Cat.“ Ihre Augen huschten hin und her. Sie sagte nichts. „Du sagtest, deine Art sei das Gegenstück zu den Vampiren. Heißt das, ihr könnt sie töten?“ Catriona nickte. „Cat, ich will den größten und mächtigsten, bekannten Vampir-Zirkel der Welt auslöschen. Und dazu brauche ich deine Hilfe und die deines Vaters.“ Cat starrte mich einen Moment nur an. Was ich gerade gesagt hatte, schien ein wenig die Größenordnung, die sie erwartet hatte, zu übersteigen. „Ich kann dir nicht helfen“, sagte sie, nachdem sie sich wieder gefangen hatte. „Und mein Vater wird dir nicht helfen.“ „Lass es mich wenigstens versuchen“, bat ich. „Dann kann ich dir nicht garantieren, dass du dieses Haus lebend wieder verlässt.“ Ihre Warnung war ernst gemeint. Doch meine Worte waren es ebenso. „Ich war dem Tod so nah. Ich habe keine Angst mehr vor ihm.“ Dies waren dann auch die Worte, die meine Mitschülerin dazu brachten, mich in ihr Haus zu lassen. Es war hier drin ebenso krumm, wie es von draußen den Anschein hatte. Fast alles war aus Holz und der Boden quietschte bei jedem Schritt. Das war ungewohnt für mich, denn normalerweise war ich beim Gehen so leise, dass mich niemand hörte. Im Geiste malte ich mir aus, dass Cats Vater mit Absicht in so einem quietschenden alten Haus lebte, damit er selbst Vampire direkt hören konnte, wenn sie sich durch seine Hütte bewegten. Doch dass er diese Methode nicht nötig hatte, sollte ich wenige Sekunden später erfahren. Als er plötzlich vor mir stand, ersetzte sein wirkliches Bild sogleich meine Vorstellungen, die gar nicht so weit entfernt waren. Er hatte langes rotblondes Haar, dass er auf dem Kopf zurück gebunden und im Hinterkopf mit einer silbernen Spange fixiert hatte. Sein Körperbau war groß und kräftig, jedoch nicht ganz so bullig wie in meinen Gedanken und er trug einen Drei-Tage-Bart. Seine auffallend saphirblauen Augen sahen mich nur kurz an, dann wandte er mir den Rücken zu und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. Ich dachte zuerst, er würde mich nicht erkennen und für einen einfachen Schulkamerad halten, doch dann richtete er doch noch das Wort an mich. „Was willst du hier, gottlose Kreatur?“ Ich musste schlucken. So hatte mich nun tatsächlich noch nie jemand genannt. Catriona stand noch immer in etwa einem Meter Abstand hinter mir. Als ich noch etwas näher an ihren Vater heran trat, blieb sie jedoch stehen. Und ich hätte gut daran getan, es ebenso zu tun. „Ich bin kein Vampir“, sagte ich in normalem, ruhigem Ton. Etwa einen Meter betrug der Abstand zu ihm noch, da drehte er sich plötzlich um. „Ach nein?“, fragte er mit einem Anflug von Arroganz. Noch während er sich umdrehte, hob er seinen kräftigen Arm in meine Richtung, die Handfläche auf mich gerichtet. Ich dachte zuerst, er würde mir eine klatschen, doch das war gar nicht notwendig. Er hatte mich nicht einmal berührt, da sackte ich schon auf die Knie und anschließend zusammengekauert komplett auf den Boden. Der Schmerz war nicht so stark wie Caius Vampirgift. Er war eher vergleichbar mit Janes Illusion von Schmerz und ich würde mich nicht wundern, wenn es sich hier auch um Einbildung handelte. Dass mein Schutzschild bei ihm nicht wirkte, darüber machte ich mir nur kurz Gedanken, denn ich hatte es schon fast vermutet. Ich kannte das Gefühl von Schmerzen nun schon zu Genüge, genauso wie das nun herannahende Gefühl von Bewusstlosigkeit. „Daddy! Bitte hör auf!“ Aus heiterem Himmel verschwand der Schmerz und wich einem kurzen Augenblick der Stille, letztlich unterbrochen durch das Geräusch eines betätigten Feuerzeugs. Ich öffnete meine zuvor zusammengekniffenen Augen wieder und sah in deren Winkel, wie Cats Vater sich gelassen eine Zigarette anzündete. „Dafür, dass du kein Vampir bist, bist du jedoch überraschend anfällig, findest du nicht?“ Ich versuchte, mich wieder aufzurappeln. Schaffte es aber gerade mal meinen Oberkörper komplett aufzurichten. Wahrscheinlich war die Stunde schon längst vorbei und Mariella drehte zu Hause durch. Ich malte mir ihr Gesicht aus, wenn ich nach Haus gekrochen kommen würde, sollte ich es bis dorthin schaffen. Momentan fühlte ich mich nicht mal dazu in der Lage, den Zündschlüssel umzudrehen. Es fühlte sich fast so jämmerlich schwach und müde an wie vor drei Tagen, als ich wieder aufgewacht war. „Ich bin nur zu einem Viertel Vampir“, nuschelte ich, ehe ich los hustete. Er lachte spöttisch. „Die Menschen sind immer noch so naiv und töricht, wie sie es im Mittelalter waren. Dumm genug, sich auf Bestien einzulassen. Illusionen, Trugbilder, Lügen. Sie lassen sich blenden. Von eurer Schönheit, eurer Grazie, eurer Anmut. Könnten sie in euer Innerstes blicken, würden sie das ganze Ausmaß eurer Hässlichkeit sehen und sich von euch fernhalten.“ „Und was ist mit den Menschen?“, fragte ich atemlos. „Mörder, Vergewaltiger. Wie sieht es in denen aus?“ Er nahm einen Schluck von seinem Kaffee. „Ich leugne nicht, dass es auch unter den Menschen jene gibt, die ohne Seele zu sein scheinen, aber Vampire sind dazu geboren, zu töten.“ „Ist es dann nicht genauso möglich, dass es unter den Vampiren Ausnahmen gibt?“ Cats Vater machte erneut einen verächtlichen Ton. Ich stand mit zittrigen Beinen wieder mehr oder weniger auf, musste mich allerdings an der Küchentheke zu meiner Rechten abstützen. „Meinetwegen bleibt bei eurem sturen Glauben. Aber ich habe noch nie eine warmherzigere Familie gesehen als meine, und ich zweifle keine Sekunde daran, dass meine Mutter, meine Schwester und alle anderen im Besitz einer Seele sind. Und sollte es so etwas wie einen Himmel geben, dann ist mein Bruder jetzt ganz sicher dort und irrt nicht seelenlos durchs Fegefeuer!“ Ob meine Predigt Wirkung gezeigt hatte oder nicht, konnte ich nicht sagen. Sein Gesicht sah noch immer genauso leicht zornig aus wie zuvor. Er sagte auch nichts dazu, also fuhr ich einfach fort. „Und genau deswegen brauche ich eure Hilfe!“ „Warum sollten wir euch helfen?“, fragte er herablassend. „Ich biete euch die Möglichkeit, den mächtigsten Vampir-Zirkel der Welt zu zerstören.“ „So? Tust du?“, fragte er sarkastisch. „Du hast gespürt, wozu wir fähig sind. Meinst du wirklich, wir sind auf eine Zusammenarbeit mit Euresgleichen angewiesen, wenn es darum geht, unserer natürlichen Bestimmung nachzugehen?“ „Gibt es noch mehr von euch?“, wollte ich wissen. Alleine würde seine Gottes gleiche Gabe, Vampire ohne Berührung auf die Knie zu zwingen, sicherlich nützlich gegen die Volturi sein, jedoch niemals ausreichend, um sie zu bezwingen. „Wenn die Zeit gekommen ist, werden wir uns dieser Sache selbst annehmen.“ Er ignorierte meine Frage, was in mir die Vermutung aufkeimen ließ, dass er sie gar nicht beantworten konnte. Ob seine kleine Familie vielleicht sogar die letzten seiner Spezies waren? „Wie viele Jahrhunderte gedenkt ihr denn zu warten?“ Meine Stimme wurde langsam lauter. „Wir haben Zeit.“ „Die haben die Volturi genauso! Und während ihr hier Däumchen dreht und euch eine Zigarette nach der anderen anzündet und noch ein Tässchen Kaffee dazu schlürft, bauen die sich in Italien ihre Armee auf! Eine Armee aus Wesen, die ihr nicht kennt, und auf die eure Fähigkeit vielleicht irgendwann gar nicht mehr wirkt!“ Plötzlich meldete sich Cat zu Wort: „Vielleicht hat er Recht, Daddy.“ Ihr Vater rümpfte nur die Nase. „Vielleicht ist das die Chance, auf die wir gewartet haben!“, schrie sie ihm förmlich entgegen. Er drehte sich um und schenkte sich noch einen Kaffee ein. Cat wand sich nun an mich. „Es gibt wohl noch andere, die so sind wie wir, aber in all unseren Reisen konnten wir sie bisher nicht finden. Die Vampire haben schon vor Jahrtausenden Jagd auf uns gemacht und unsere Art stark dezimiert.“ „Schweig!“, fuhr ihr Vater dazwischen. „Diese Informationen sind nicht für die Seelenlosen bestimmt!“ „Dad!“ „Du begleitest ihn jetzt zur Tür, Catriona“, befahl er und sah anschließend zu mir. „Und dich will ich hier nie wieder sehen. Du kannst dich glücklich schätzen, dass ich dich gehen lasse, sollte ich aber erfahren, dass du irgendjemandem von unserer Existenz erzählt hast, werde ich deinen ganzen Zirkel auslöschen.“ Diese Drohung nahm ich stillschweigend hin und ließ mich von Cat vor die Tür schleifen. „Es tut mir leid“, flüsterte sie durch den Türspalt, den sie noch offen ließ. „Wenn dein Vater nicht helfen will, kannst du uns doch wenigstens unterstützen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht. Ich bin noch zu jung“, sagte sie, dann stand ich vor einer geschlossenen Tür. Ich konnte nicht mal ein Geräusch von Innen wahrnehmen. Einen Augenblick horchte ich noch dem Wind, der um das Häuschen fegte, dann erst fiel mir ein, dass ich ja nur begrenzt Zeit hatte! So schnell mich meine müden Beine trugen, lief ich zurück zu meinem Wagen und sah dort auf das Display. Ich hatte meine Frist bereits um eine halbe Stunde überzogen. Mariellas Predigt war mir sicher... Schon als ich in die Auffahrt fuhr, überkam mich ein mulmiges Gefühl und ich lag selten falsch damit. Im Gegenteil. Als sich das automatische Garagentor langsam hob, sah ich, kaum dass es wenige Zentimeter vom Boden weg war, schon mehr als nur ein Paar Schuhe. Ich wusste ja, dass meine Schwester sich Sorgen machte und ich fand es auch rührend, wie sie an mich dachte, aber musste sie mich direkt der versammelten Familie vorführen? Wenn es wenigstens nur Bella und Edward oder Carlisle gewesen wären, die da standen, aber nein, ausgerechnet mein Vater stand dort. Direkt vor allen anderen. In Reih und Glied hatten sie sich aufgestellt und warteten darauf, meiner persönlichen Folter beizuwohnen, aber diesen Triumph wollte ich keinem geben. Ohne ihnen allen große Beachtung zu schenken, parkte ich mein Auto an seine gewohnte Stelle und stieg aus. Der Ausgang war unglücklicherweise direkt neben ihnen, aber da musste ich wohl durch – im wahrsten Sinne des Wortes. Ich hatte gerade noch drei Meter Abstand, da hob mein Vater die Hand mit dem Handrücken nach unten in meine Richtung. Natürlich. Wenn das Kind unartig war, nimmt man ihm eben was weg. War ja schon in der Schule nicht anders, wenn man im Unterricht heimlich gesimst hatte. Dann wurde eben mal das Handy konfisziert. Kein Wort verließ meine Lippen, als ich möglichst emotionslos ebenfalls die Hand hob und den Schlüssel in seine Handfläche legte. Ich warf nur noch einen kurzen Seitenblick zu meiner Schwester, dann ließ ich sie alle einfach stehen und ging durch die Tür neben ihnen. Der Weg durch die schmalen Gänge würde mich direkt wieder zu meinem eigenen Zimmer bringen. Der einzige Ort, an dem ich meine gepflegte Ruhe haben würde. „Glaubst du nicht, dass du uns wenigstens eine Erklärung schuldest?“ Was für eine vertraute Szene. Vater und Sohn. Im Streit. Wie eh und je. Wenn ich mich an die Gespräche mit meinem Vater erinnerte, dann hatte ich unmittelbar davor immer irgendetwas getan oder gesagt, was ihm nicht gepasst hatte. Und auch jetzt fiel ihm, nach allem was passiert war, nichts besseres ein, als mir erneut Vorwürfe zu machen. Dieser eine Satz von ihm, zerschlug meine letzte Hoffnung, dass sich zwischen uns jemals etwas ändern würde. Dass unser zerrüttetes Verhältnis sich erholen würde. Dass wir mal wie Vater und Sohn miteinander umgehen könnten. So wie er es bei Will getan hatte. Aber ich war nicht Will. „Wir haben uns schließlich Sorgen gemacht!“, fuhr er fort. „Sorgen?“, fragte ich spöttisch. „Du?“ Ich war mir sicher, dass mein Vater immer der Letzte gewesen wäre, der sich wirklich um mein Wohlbefinden gesorgt hätte. Auch wenn ich mich tagelang herumgetrieben hatte, nur um ihm aus dem Weg zu gehen, hatte er mich danach nur angebellt, wo ich denn gewesen war oder was mir einfiele, so lange weg zu bleiben, schließlich würde Mum ja fast umkommen vor Sorge. Nie hatte er auch nur mit einer Silbe erwähnt, dass es ihn selbst interessierte, was mit mir war. Ich war eben nicht das Kind, das er haben wollte. Ich war nicht der perfekte Sohn, der zum Wolf wurde, eine Frau gefunden, Kinder bekommen hatte. Der den Stamm als Oberhaupt leitete und die Tradition fortführte. Ich war immer nur der Vampir gewesen. Das bleiche Wesen mit den feuerroten Augen. „Ja, ich! Bleib doch bitte stehen“, bestätigte er meine Frage und ignorierte meinen Spott. Ich war derart in Gedanken, dass ich gar nicht bemerkt hatte, dass ich immer noch schnellen Schrittes durch den Keller lief und er knapp zwei Meter hinter mir herlief. Ruckartig blieb ich stehen und mein Vater und der Rest der Familie - in einigen Metern 'Sicherheitsabstand' – taten es mir gleich. Meine Zimmertür lag knapp hinter mir. „Sorgen also, ja?“, fragte ich leise, ohne mich umzudrehen. Stille. „Ja“, sagte mein Vater dann ebenso leise. Er sagte es, als fiele es ihm schwer, es auszusprechen. Als hätte er Angst vor meiner Reaktion. Eine Angst, die vielleicht berechtigt war. Langsam drehte ich mich um und sah ihn an. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt, sah angespannt aus. „Und wo waren deine Sorgen in den letzten dreißig Jahren?“ Er antwortete nichts. Sein Mund ging ganz leicht auf und schloss sich wieder, ohne dass ein Wort seine Lippen verlassen hatte. „Wo warst du, als ich nicht verstand, warum Will in den Kindergarten durfte und ich immer zuhause bleiben musste? Wo warst du, um mir zu erklären, dass ich keine Schuld dafür trug? Wo warst du, als ich erwachsen wurde? Als ich so viele Fragen hatte? Warum musste Mutter mir da helfen, wo es doch deine Aufgabe gewesen wäre? Wo warst du, wenn ich mich mal beim Jagen verletzte? Wo warst du, als Scherben meine Hand blutig schnitten, weil ich auf mein eigenes Spiegelbild schlug? Natürlich“, sagte ich bitter. „Ich bin ein Vampir. Ich kenne ja keinen Schmerz. Hab ich vergessen.“ - „An-“ Er wollte etwas erwidern, jedoch unterbrach ich ihn. „Aber das ist alles lange her. Und niemand kann die Zeit zurückdrehen. Ich wäre der Erste, der es täte, wenn ich könnte. Allein für Will. Vergessen wir mal alles, was du mein ganzes Leben über nicht getan hast. Die letzten drei Monate hätten mir auch gereicht. Als ich dieses Mädchen tötete, oder die Menschen danach. Als ich dich um Verzeihung bat. Als ich das Gespräch mit dir suchte.“ Ich spürte, wie meine Augen langsam feucht wurden, während ich sprach, aber ich versuchte noch die Tränen zu unterdrücken. „Du hast mir nie auch nur eine Chance gegeben. Das wolltest du gar nicht, hattest du nie vor. Für dich war ich nie so, wie du es wolltest, und das hast du mich jeden verdammten Tag spüren lassen.“ „Und jeder einzelne davon tut mir unendlich leid“, nutzte er die Stille, um sich zu Wort zu melden. Ich sah kurz weg. Ich wusste, dass diese Konfrontation nötig war, aber sie überforderte mich. Ich war müde, meine Beine hatten eine puddingartige Konsistenz und der dumpfe Schmerz, der seit meinem Erwachen, in unregelmäßigen Abständen, überall in mir aufkam, wurde gerade wieder stärker. „Warum jetzt?“, fragte ich und sah ihm nun wieder in die dunklen Augen. „Warum ausgerechnet jetzt? Ist es, weil du plötzlich bemerkt hast, dass ich gar nicht das Überwesen bin, für das du mich gehalten hast? Dass ich genauso bluten kann wie du? Dass ich krank sein und sterben kann?“ Mein Vater senkte den Blick. „Es tut mir leid. Wenn ich jetzt nein sage, würde ich lügen.“ Ich schürzte die Lippen und sah wieder weg. Ich hatte mir eigentlich gewünscht, er wäre irgendwann von selbst darauf gekommen. Wenn ich gewusst hätte, dass ich erst fast sterben musste, damit er realisierte, dass ich kein Vampir war, sondern selbst menschlicher als meine Mutter, hätte ich mich auch vor einen Zug werfen können. „Ich war nie bei dir, weil ich immer dachte, dass du meine Hilfe nicht nötig hast. Dass du sie gar nicht willst und brauchst. Ich habe mich auf deinen Bruder fixiert, weil ich mich besser in ihn hineinversetzen konnte, weil ich bei ihm sofort wusste, dass er mir ähnlich war. Ich habe nie bemerkt, dass du mir genauso ähnlich bist. Ich weiß, ich hätte das wissen müssen. Du bist mein Kind, mein Blut. Du bist ein Teil von mir. Wie könntest du mir da nicht ähnlich sein? Aber ich war blind. Mein Instinkt hat mich geblendet. Ich war nicht stark genug, nachzugeben und in dich hinein zu sehen. Um ehrlich zu sein, habe ich lange Zeit nicht mal an der Oberfläche gekratzt. Und das tut mir unendlich leid.“ Und da war er. Der Moment, auf den ich immer gewartet hatte. Aber jetzt da er gekommen war, fehlten mir die Worte. Ich wusste nicht, was ich sagen, was ich tun sollte. Ich konnte nach dreißig Jahren unmöglich so einfach vergessen. Aber ignorieren konnte ich seine Worte auch nicht. Ich versuchte, mich zu sammeln, um wenigstens noch ein paar Sätze zu sagen. „Ich gebe dir nicht die Schuld an den Dingen, die ich in den letzten Monaten getan habe, Vater. Ich weiß nur, dass du nicht da warst, als ich dich brauchte“, sagte ich entschlossen. Müde drehte ich mich anschließend um und öffnete die Tür zu meinem Zimmer. Plötzlich stand meine Schwester neben mir und legte ihre Hand auf meinen Arm, während meine Hand auf der Türklinke lag. „Ani“, sagte sie. „Ich möchte gern allein sein, Mariella“, bat ich. „Aber-“, wollte sie sagen. „Allein“, wiederholte ich, betrat den Raum und schloss die Tür hinter mir zu. *** Als ich die Augen aufschlug, brummte mir noch immer ein wenig der Kopf. Die roten Ziffern der Digitaluhr auf meinem Nachttisch zeigte nun 1:38 und draußen war das bisschen Sonne längst dem Mond gewichen. Doch bis auf das Brummen war der Schmerz weitgehend verschwunden. Manchmal spürte ich regelrecht, wie der Heilungsprozess, ausgelöst durch das Wolfsgen, die von Caius zerstörten Teile in mir wieder regenerierte. Von einem leichten Ziehen bis hin zu starken Krämpfen war alles möglich, aber Letzteres hielt sich in Grenzen und war lange nicht so schlimm wie jener Schmerz, den ich in diesen zwei Wochen gespürt hatte. Ja, ich erinnerte mich noch immer an ihn. Wenn ich die Augen schloss, dann sah ich auch wieder die verzerrten Bilder vor mir, hörte die dumpfen Geräusche. Ich sah noch immer die goldenen Augen Edwards. Der schlimmste Moment, den ich mit ihm in Verbindung brachte, war der gewesen, als er mir das Gift abnehmen wollte. In diesem Augenblick hatte es sich so angefühlt, als wollte er mir den Kopf abreißen oder den Kiefer brechen. Ich hatte einfach nur noch blanke Panik in mir gespürt. Alles andere, was ich von dieser Zeit noch wusste, war weniger furchteinflößend gewesen. Ich hatte wohl die Anwesenheit meiner Familie gespürt, ich hatte gewusst, dass meine Schwester und meine Mutter immer da gewesen waren. Ich hatte ihre Worte teilweise vernommen, wenn sie mit mir geredet hatten, wenn sie mir versichern wollten, dass alles wieder gut werden würde. Ich erinnerte mich auch noch an Edwards Zureden an mich, als ich im Flur auf dem Boden zusammengebrochen war. Aber ich hatte all das nicht hören wollen. Ich hatte schlafen wollen. Nur schlafen. Fern von allem. Fern von den traurigen Gesichtern meiner Familie, fern vom leisen Wimmern meiner Mutter, fern vom Schmerz. Es war genauso, wie ich es Catriona gesagt hatte: den Tod fürchtete ich nun nicht mehr. Was ich gelernt hatte zu fürchten, war der Weg dahin. Ich stand auf, zog meine Vorhänge zurück, setzte mich auf meine Fensterbank und sah durch das kleine Kellerfenster den Wolken zu, wie sie am Mond vorbei schwebten und ihn in dunkle Schatten hüllten. Ebenso fühlte ich mich auch: in Schatten gehüllt. Wenn ich so zurückdachte, gab es nicht wirklich viele Momente in meinem Leben, in denen ich einfach nur glücklich gewesen war. Natürlich hatte ich mich wohl gefühlt, wenn ich mit meiner Schwester gespielt hatte, wenn ich in der Bibliothek mit ihr gescherzt oder mit meiner Mutter ein vertrautes Gespräch geführt hatte. Aber das Glücklichsein aus tiefster Seele, jenes Gefühl, von dem ich ausging, dass meine Eltern, meine Geschwister und der Rest der Familie es kannten, hatte ich noch nie verspürt. Ich hatte nie zu mir selbst sagen können: 'Das ist es, so soll es bleiben, so bin ich glücklich.' Mir hatte immer etwas gefehlt, um wirklich glücklich sein zu können. Während meine Geschwister mit ihren Partnern ein eigenes Leben geführt hatten, hatte ich immer in diesem Zimmer gelebt. Ich war genauso alt wie sie, aber während sie Erwachsene waren, war ich irgendwo als Teenager stehen geblieben. Ich ging zur Schule, machte Hausaufgaben und hatte diverse Liebschaften gehabt, aber ich war nie irgendwo angekommen. Ich war rastlos gewesen. Immer in Bewegung. Immer irgendwo. Aber nie zuhause. Ja, vielleicht, dachte ich, vielleicht fehlte mir jemand, mit dem ich mein Leben verbringen wollte oder eine Perspektive. Aber bevor ich eine Perspektive würde finden können, müsste ich erst die Dinge verarbeiten, die mich belasteten Und ganz vorn unter diesen Dingen stand mein Vater. Ich erinnerte mich an seine Worte, während ich hier saß. Im Prinzip hatte er mir nur bestätigt, was ich schon längst vermutet hatte. Und er hatte sich dafür entschuldigt. Ich hatte jetzt die Wahl. Ich konnte seine Entschuldigung zurückweisen und so weitermachen wie bisher. Oder aber, ich konnte ihm verzeihen und einen neuen Anfang machen. Der eine Weg war der, den ich immer gegangen war, der andere würde Überwindung kosten. Meistens hatte ich die einfacheren Dinge den Schwierigen vorgezogen. Und wohin hatte mich das gebracht? Nirgendwo. Ich war gefangen in einem ewigen, rastlosen, perspektivlosen Leben. Mit meinem Vater stritt ich seit drei Jahrzehnten, mein Bruder war tot und irgendwo im entfernten Italien waren drei Dutzend Halbvampire, die wie Tiere gehalten wurden. Meinen Bruder würde ich nie wieder sehen, die Halbvampire zu retten, das hatte ich mir fest vorgenommen, auch ohne Cats Hilfe. Jetzt gab es nur noch meinen Vater... *** Die Sonne erhob sich hinter den Baumwipfeln, als ich dann schließlich die Treppen ins Erdgeschoss nahm. In der Küche hörte ich die vertrauten Stimmen von Esme und Carlisle. Als ich durch den Türrahmen sah, konnte ich sehen, wie letzterer seinen Piepser in den Fingern drehte und seiner Frau einen Kuss gab, ehe er das Gerät in der Tasche verschwinden ließ. „Oh, guten Morgen, Anthony“, begrüßte er mich, nachdem sie mich bemerkt hatten. „Morgen“, sagte ich und lehnte mich wie üblich seitlich gegen den Türrahmen. „So früh schon auf den Beinen?“, fragte Esme. Ich nickte nur. „Froh wieder im eigenen Bett zu schlafen?“, fragte Carlisle lächelnd. „Natürlich“, antwortete ich. „Das ist schön“, sagte er. „Ich würde gerne weiter plaudern, aber die Pflicht ruft.“ Er gab Esme noch einen Kuss, dann ging er auf mich zu und legte seine helle Hand an meine Schulter. „Ich wünsche dir einen schönen Tag. Wenn irgendetwas ist, ich bin jederzeit zu erreichen.“ „Alles klar“, sagte ich abermals nickend. Carlisle ging weiter Richtung Haustür. „Möchtest du vielleicht ein Schlückchen Kaffee probieren?“ Ich schüttelte den Kopf. „Lieber nicht.“ „Ist in Ordnung“, antwortete sie lächelnd und faltete ein Geschirrtuch fein säuberlich zusammen. „Sind meine Eltern in ihrem Trakt?“ „Ja, ich weiß aber nicht, ob sie noch schlafen. Du musst wissen, dein Vater war gestern noch etwas aufgewühlt. Aber ich verstehe dich genauso.“ „Danke, Esme“, sagte ich und nickte ihr zum Abschied zu, dann ging ich weiter und verließ das Hauptgebäude. Wenige Minuten später stand ich genauso wie vor einigen Wochen wieder im Flur meiner Eltern. Nur eine Mauer trennte mich, wie schon zuvor, von ihrem Wohnzimmer und genauso wie damals saßen sie wieder auf ihrem Sofa und unterhielten sich. Nur die Tageszeit war anders. Während es damals stockfinster gewesen war und das Licht aus dem Wohnzimmer nur wenig Licht in den Flur geworfen hatte, war es heute hell und die Morgensonne tauchte alles in ein sanftes Licht. Ich hoffte, dass ich das als gutes Omen deuten konnte. Ich blieb noch einen Augenblick stehen. Zu meinem Verwundern hörte ich plötzlich Mariellas Stimme. „Jetzt siehs doch nicht so schwarz, Dad“, redete sie auf Vater ein. „Es hat dreißig Jahre bis zu diesem Gespräch gedauert, jetzt musst du ihm wenigstens einen Bruchteil dieser Zeit geben, um das zu verarbeiten.“ „Deine Tochter hat Recht“, stimmte Mum zu. „Nessie“, antwortete Dad müde. „Ich glaube, ich würde mir ja nicht mal selbst verzeihen, wenn ich an seiner Stelle wäre. Was hätte ich wohl gemacht, wenn mein Vater so abweisend gewesen wäre, als er erfahren hat, dass ich ein Werwolf bin?“ „Du hättest ihm verziehen, wenn er deine Unschuld erkannt und sich entschuldigt hätte“, meinte Mum dazu. „Und da er dir sehr ähnlich ist, wird er dasselbe tun“, fügte meine Schwester hinzu. „Mhm...“, murmelte Dad. „Weißt du, ob Ani sein Zimmer später noch mal verlassen hat?“, fragte meine Mutter und lenkte so auf ein anderes Thema. „Er wollte allein sein. Ich glaube nicht, dass er das Zimmer durch die Klappe verlassen hat. Er sah ziemlich müde aus und wird wohl dort geschlafen haben.“ „Mhm... würdest du?“ Meine Mutter hatte nicht mal ganze Sätze nötig, damit Mariella verstand. „Natürlich. Ich werd gleich mal nach ihm sehen.“ Dann hörte ich, wie sie aufstand und sich im normalem Tempo näherte. Selbst unsichtbar machen, hätte mir nichts genützt, schließlich konnte meine Schwester mich trotzdem sehen, wenn auch nicht ganz klar, also zog ich die Offensive vor. „Das musst du nicht“, sagte ich und ging um die Ecke. Mariella blieb schlagartig stehen. „Ani“, flüsterte sie und sah mich mit großen Augen an. Hinter ihr hob meine Mutter den Blick und mein Vater drehte sich zu mir um. „Es geht mir gut“, sagte ich, in der Hoffnung, dass sie ihre permanente Sorge ablegen würde. Meine Mutter begann wieder über beide Ohren zu strahlen. Sie stand auf, schwebte auf mich zu, ging auf die Zehenspitzen und gab mir einen Kuss auf die Wange. Anschließend legte sie ihre Hände, links und rechts, an mein Gesicht. „Deine Augen sind fast gänzlich grün“, stellte sie fest. Ein sanftes Lächeln war meine einzige Antwort. Sie ließ mich wieder langsam los, dann sah sie nach hinten zu Dad, der noch immer zu uns herüber blickte. Es war ein seltsames Gefühl, mit meiner Familie hier zu stehen – oder zumindest dem, was von meinem engsten Kreis noch übrig war, denn Will würde immer fehlen. Selten war es vorgekommen, dass wir alle mal in einem Raum waren, ohne dass noch mehr Vampire daneben standen. Es hatte irgendwie etwas vertrautes Idyllisches. Und doch machte sich wieder Unruhe in mir breit, denn ewig konnten wir hier nicht so stumm herumstehen und meine Chance, das zu tun, was ich vor hatte, würde bald verstreichen, also riss ich mich zusammen. „Dad...“, begann ich. Dieses Wort allein ließ alle aufhorchen, besonders meinen Vater. Nicht etwa aufgrund der banalen Tatsache, dass ich ihn angesprochen hatte. Nein, meine Wortwahl war der Grund. Ich hatte ihn schon lange nicht mehr so genannt. Das letzte Mal war irgendwann in meiner kurzen Kindheit gewesen. Danach war mir der Begriff fremd geworden. Zu vertraut, um ihn für jemanden zu benutzen, der sich nicht wirklich um mich scherte. Doch nun empfand ich ihn angemessen, um das Eis zu brechen. „Wir sollten uns unterhalten.“ Ich pausierte einen Augenblick. Die Augenpaare in diesem Raum waren gebannt auf mich gerichtet. Was dann kam war für sie wohl etwas befremdlich. „ Draußen.“ Verwirrte Blicke. Ohne ihnen eine Chance zum Fragen zu geben, machte ich auf dem Absatz kehrt und ging Richtung Terrassentür. Die Veranda des Gebäudes meiner Eltern war auf derselben Seite, wie die im Haupthaus. Es würde mich also nicht wundern, wenn der Rest der Familie alles mit ansah, aber es war mir gleich. Mitbekommen würden sie es trotzdem, nur am Gespräch teilhaben, würden sie nicht können. Ich hörte das Knarzen des Holzes, als Dad die Veranda betrat und ging die wenigen Stufen hinunter zur Wiese. Unbewusst hielt ich mir die Hand kurz an den Bauch. Was ich vor hatte, war vielleicht dumm und könnte mich in meiner Genesung zurückwerfen, aber für mich schien es der einzige Weg zu einer glaubhaften Versöhnung zu sein. Ich spürte tief in mir, dass es keinen anderen gab, dass es richtig war und so sein musste. Ich sah nur noch einen Augenblick zurück, als ich unten stand. Mein Vater stand auf der zweiten Stufe der Treppe. Hinter ihm auf der Veranda standen meine Schwester und meine Mutter. Wie ich vermutet hatte, hatte sich nebenan der Rest meiner Familie ebenfalls neugierig nach draußen begeben. Ob Menschen oder Vampire. Schaulustig waren sie doch alle. Normalerweise mochte ich es nicht, angestarrt zu werden, aber dieses eine Mal ging es wohl nicht anders. „Willkommen zur Premiere“, sagte ich in normalem Ton, ohne jemand bestimmtes dabei anzusehen, wohl wissend, dass sie mich alle hören würden. Und dann lief ich los. Nur wenige Meter rannte ich, ehe ich zum Sprung ansetzte. Es war dasselbe heiße Gefühl, das immer in mir aufstieg, dasselbe Zittern meines Körpers und dasselbe reißende Geräusch, und doch war es ganz anders als sonst. Denn es war nicht mehr länger der Adler, der Rabe oder der Panther. Ich hatte tatsächlich die Form angenommen, von der ich dachte, dass ich sie aus Protest nie annehmen würde. Auf der weiten, grünen Wiese vor unserem Haus stand nun, zum allerersten Mal, der schwarze Wolf mit den grünen Augen. So groß wie ein Pferd. So wie mein zweiter Vorname es mir vorbestimmt hatte und so wie meine Vorfahren seit Jahrhunderten in ihrer Tiergestalt ausgesehen hatten. Als ich mich auf vier Pfoten umdrehte und zurück zum Haus sah, stand ein Großteil meiner Familie einfach nur starr und perplex da. Mein Vater hatte den Mund offen und die Hände meiner Mutter hatten sich fest um das Geländer gelegt. Keiner sagte etwas und niemand rührte sich. Ich wartete noch eben, dann ging ich ein paar Schritte auf meinen Vater zu. Er schloss seinen Mund wieder und zog zügig sein Shirt aus. Des Überraschungseffekts wegen, hatte ich das versäumt. Die herumliegenden Kleiderfetzen, wusste ich aber gekonnt zu ignorieren. Mein Vater war der begabteste Gestaltwandler seines Rudels, hatte Seth mir mal erzählt. In der Tat war er in der Lage, sich sowohl im Stand als auch im Sprung zu verwandeln. Er stellte etwas Abstand zur Treppe her, dann verwandelte er sich in den großen rostroten Wolf. Er war nur etwa eine Wolfsohrlänge größer als ich, während wir uns gegenüber standen. Stimmt, kommentierte er meine Gedanken und zuckte kurz mit den Ohren, dann hielt er plötzlich wieder inne und sah mich erneut überrascht an. Moment...? Ich kann deine Gedanken hören? Ja, antwortete ich. Ich bin jetzt Teil deines Rudels. Ich nehme deine Entschuldigung an. - Danke, das bedeutet mir sehr viel. Ich weiß. Meine Kindheit bekomme ich nie wieder zurück. Diese Zeit werden wir nie wieder aufholen können, aber ich hoffe, dass wir in Zukunft neue gemeinsame Momente finden werden, an die wir uns dann erinnern können. Es ist also noch nicht zu spät?, fragte er unsicher. Nein, antwortete ich und schüttelte den Kopf. Die Ewigkeit gehört uns. Aber ich möchte dich trotzdem um etwas bitten. Alles, antwortete er, ohne dass ich meine Bitte aussprechen musste, aber ich fuhr fort. Hilf mir, die Volturi zu zerschlagen. - Ich freue mich darauf, mit dir an meiner Seite zu kämpfen, mein Sohn. Eigentlich wäre das jetzt der Moment gewesen, an dem wir uns hätten in die Arme fallen oder wenigstens zusammen durch Irland hätten rennen sollen, doch dazu kam es nicht. Plötzlich stieg mir ein bekannter Geruch in die Nase. Mein Vater knurrte leise und sah über meine Schulter in Richtung Wald. Ich drehte meinen Kopf und sah zum Waldrand. Aus dem Schatten der Bäume traten zwei Personen, die eine kleiner als die andere: Nahuel und Sangreal. Dies allein war schon Überraschung genug gewesen, doch dann fiel mein Blick auf das weiße Bündel, das Sangreal auf dem Arm trug und mein Herz rutschte mir schlagartig in die nicht vorhandene Hose... - Ende Kapitel 11 - Kapitel 12: [Sangreal] Versprechen und Vorurteile (Teil 1) ---------------------------------------------------------- Disclaimer: => Ich verdiene kein Geld mit meiner Fanfiction. => Alle Charaktere die schon in den Twilight-Bänden ihren Auftritt hatten, gehören Stephenie Meyer. Alle Anderen, wie etwa Schüler, Lehrer und vor allem Renesmees und Jakes Kinder, habe ich selbst erfunden. UPDATE neue Webseite http://www.chaela.info oder... liked mich auf Facebook http://www.facebook.com/chaela.info --------- Kapitel 12 [Sangreal] Versprechen und Vorurteile (Teil 1) Das Wasser in meinem Glas schlug sanfte Wellen. Meine Hände zitterten, als ich auf dem Sofa der Cullens saß. Neben mir saß Nahuel und begann mit dem Versuch, das Geschehene in Worte zu fassen. Die Vampirfamilie, mit den bernsteinfarbenen Augen, hörte aufmerksam zu. Aus ihren Gesichtern las ich Mitleid und Entsetzen. Nie hätte ich gedacht, dass ich jemals in ihrem Wohnzimmer sitzen würde. Erst recht nicht unter diesen Umständen. Aber mir war das Glück einfach vergönnt. Ich vernahm das leise Brabbeln des Mädchens neben mir. Eine freundliche Vampirin, mit langem blondem Haar, hatte die Kleine auf ihren Schoß genommen und schaukelte sie ein wenig auf dem Schoß auf und ab. „Zuckersüß“, flüsterte sie leise und lächelte mich kurz an, ehe sie sich wieder dem Baby widmete. Sie schien nur noch Augen für das Mädchen zu haben und blendete den Rest der Anwesenden in diesem Raum aus. Ich konnte dieses Verhalten nicht wirklich nachvollziehen, doch dann ertappte ich mich dabei, wie ich selbst die Stimmen im Raum zu ignorieren begann, als mein sensibles Gehör Schritte vernahm. Schritte, die näher kamen und die ich kannte. Und dann lief er plötzlich schnellen Schrittes durch den Raum, ohne einmal stehen zu bleiben oder Notiz von den Anderen zu nehmen. Er ging direkt auf mich zu, nahm mich am Handgelenk und zog mich zunächst auf die Beine und anschließend quer durch das Haus. Ich fragte nicht nach, was er vorhatte, sondern wartete einfach, bis er stehen blieb und sich schließlich zu mir umdrehte. „Was ist passiert?“, fragte er atemlos und mit misstrauischem Unterton. „Und wo kommt das Baby her?“ Ich öffnete leicht den Mund und schüttelte fassungslos den Kopf ohne etwas zu sagen. „Nun sag schon“, forderte er mich auf. „Wenn du einfach gewartet und zugehört hättest, müsstest du nicht fragen. Nahuel wollte es gerade erklären.“ „Ich denke, ich bin der Erste, dem du etwas erklären solltest“, sagte er. „Was ist los mit dir?“, fragte ich. „Das sollte ich wohl eher dich fragen“, antwortete er. Ich brauchte einen Moment, um Eins und Eins zusammen zu zählen, doch dann hatte ich kaum noch Zweifel daran. Ich wusste zwar nichts um seine Kinderliebe, aber er hatte auf mich nie den Eindruck gemacht, als hätte er je auch nur einen Gedanken daran verschwendet, eine Familie zu gründen. Es gab nur einen einzigen Grund, weswegen ihn das Baby interessieren würde – wenn sie seine Tochter war. „Du denkst, das Baby sei von dir!“ Er antwortete nichts, und das war für mich dann auch Antwort genug. Ich knirschte einmal kurz mit den Zähnen und nickte. „Das ist es doch, was du glaubst, oder nicht?“ „Nahuel hat mir alles erzählt“, sagte er. „Was hat er dir erzählt?“, wollte ich wissen. „Alles.“ „Und was genau ist 'Alles'?“, ich sah etwas angesäuert zu ihm hoch und verschränkte die Arme. „Alles über dich, darüber, warum du für Aro so wichtig bist und was ich damit zu tun hatte.“ „Hör auf, in Rätseln zu sprechen“, befahl ich. „Wenn du aufhörst, mich für dumm zu verkaufen!“ „Was?“, fragte ich verdutzt. Er ging seitlich an mir vorbei. „Aufträge auf Mauritius, freie Spaziergänge in Volterra, deine riesige Suite. Du kannst mir doch nicht erzählen, du wüsstest nichts davon!“ „Wovon?“ Dass er die Kleine für sein Kind halten könnte, war ja noch nachvollziehbar, schließlich war so was nun mal möglich, wenn man miteinander schlief, aber was er nun von sich gab, verstand ich nicht. „Du hast mich doch nur benutzt! Genau wie sie es wollten!“, schrie er mich auf einmal an. Und dann verstand ich. Mein Mund öffnete sich, er begann zu zittern, ich wollte irgendetwas sagen, bekam aber kein Wort heraus. Er funkelte mich finster an, dann fasste ich mich wieder so weit, dass ich antworten konnte, doch meine Augen wurden glasig. „Denkst du wirklich so wenig von mir? Ist es das, was ich für dich bin? Du hältst mich für so berechnend? Die vertrauten Gespräche, die Nacht am Kamin?“ Tränen kullerten langsam meine Wangen hinunter. „Die Tücher, die ich deiner Schwester gegeben habe, um deine Blutung zu stillen, die waren dann wohl auch nur, damit du nicht krepierst, weil ich dich ja noch für irgendwas brauchte! Das denkst du doch, oder?!“ Sein Blick änderte sich, als ich meine letzte Erinnerung an ihn erwähnte. Die Backsteinwand begann zu bröckeln und seine sanfte Seite kam wieder zum Vorschein. Doch es war zu spät. Mein Herz blutete bereits. Ich wandte meinen Blick von ihm ab und starrte seitlich an ihm vorbei und mit leicht gesenktem Kopf auf einen Punkt auf halber Höhe der Wand. Als wir hierher geflüchtet waren, hatte ich nicht gewusst, was uns erwartete. Ich hatte gehofft und gebetet, dass er Caius' Angriff überstanden hatte. Dass wir hier nicht auf eine Familie trafen, die einen weiteren Todesfall in ihrer Mitte zu beklagen hätte. Und nun stand er vor mir. Zwar quicklebendig, jedoch kalt wie ein Stein, warf mir Dinge an den Kopf, die ich nie für möglich gehalten hätte. Er war die erste Person gewesen, die ich jemals an mich heran gelassen hatte. Mit ihm hatte ich meinen ersten Kuss erlebt – und noch soviel mehr. Und nun erkannte ich, dass es falsch gewesen war, ihn überhaupt in mein Herz zu lassen. Und von einem Augenblick auf den nächsten, entschied ich, die Tore zu verschließen. „Sangi...“, flüsterte er und wollte nach meiner Hand greifen, doch ich schüttelte ihn ab und zog sie zurück. „Geh mir bloß aus den Augen“, sagte ich angewidert und lief an ihm vorbei. Er folgte mir nicht. Meine ansonsten leichten, nahezu schwerelosen Schritte, waren nun denen eines bockigen Kindes ähnlich. Für Vampirverhältnisse trampelte ich regelrecht zurück zu den Anderen. „Ja, sie ist ein wirklich niedliches Kind“, hörte ich gerade noch Nahuel sagen, als ich den Raum betrat. Er hatte seinen Blick, wie auch der Rest der Anwesenden, auf das Baby gerichtet. Wahrscheinlich hatten sie gerade über sie geredet. Sie schien die Aufmerksamkeit zu genießen und strahlte zufrieden. Als ich sie sah, verflog mein Zorn und ich blieb schlagartig stehen und lächelte ebenfalls. „Sangi, da bist du ja. Was ist passiert?“, wollte Nahuel wissen. Doch ich schüttelte den Kopf. „Nichts.“ Nahuel sah mich skeptisch an. Ich wusste, dass er Anthony nicht sonderlich zu mögen schien und mir war klar, dass er das Thema später wieder aufgreifen würde. Ich setzte mich wieder neben ihn und drehte mich zu der Vampirdame zu meiner Linken um. Sie verstand sofort, hob die Kleine hoch und gab sie mir. „Danke“, flüsterte ich kurz und strich dem Zwerg durch das weiche schwarze Haar. Sie begann wieder leise vor sich hin zu brabbeln. Und im Gegensatz zum Rest des Raumes verstummte sie nicht erneut, als Anthony wieder den Raum betrat. Er funkelte mich einen Augenblick an, dann sah er wieder weg und lehnte sich mit verschränkten Armen an die gegenüberliegende Wand. „Alles okay?“, fragte seine Schwester sogleich. „Alles okay“, antwortete er kurz und ließ seine Schwester genauso verunsichert zurück, wie ich es bei Nahuel getan hatte. „Kann ich also nun?“, wollte Nahuel wissen. „Natürlich“, antwortete ein Vampir mit blondem Haar. Er machte einen außergewöhnlich ruhigen und sanften Eindruck. „Ich bin dieses Mal nicht hier, um euch eine Botschaft der Volturi zu überbringen. Wir sind hier, um euch um eure Hilfe zu bitten, euren Schutz.“ „Schutz?“, fragte der Blonde ruhig. „Aro hat die Ermordung der Hälfte der Halbvampire von Volterra veranlasst.“ Nahuels Worte ließen Anthony aus seiner leicht beleidigten, sturen Haltung fallen. „Was?!“, schrie er plötzlich fast und sah ihn erschrocken an. „Er tat es, um Caius milde zu stimmen.“ „Wie darf man das denn verstehen?“, wollte der Blonde wissen. Neben ihm sah ich einen anderen Vampir, dessen Haare denselben Rotton wie die von Anthonys Mutter hatten. Er schüttelte den Kopf. „Aro hatte ihn zur Rede gestellt, nachdem er von seinem Angriff auf Will und Ani gehört hatte und stellte ihm dann die Vertrauensfrage. Aro ist nichts wichtiger, als um die Loyalität seiner Mitstreiter zu wissen. Caius meinte, er fühle sich ungerecht behandelt. Er meinte, er könne nicht mehr mit Sicherheit sagen, dass seine Ansichten innerhalb der Zirkelführung überhaupt noch von Wert waren. Aro würde ja doch nur für seine eigenen Ziele handeln, ganz gleich, was Marcus und Caius wollten. Aro wollte Caius einen Beweis dafür liefern, dass ihm seine Bedürfnisse, Ziele und Wünsche etwas bedeuteten.“ „Und Caius forderte den Tod der Halbvampire...“, sagte der Vampir mit dem rostroten Haar. „Er konnte nicht durchsetzen, dass alle sterben mussten. Aro willigte ein, diejenigen umzubringen, die ihn in seinen Forschungen nicht merklich weiterbringen würden“, erklärte Nahuel weiter. Anthonys Blick sank. Er starrte nun auf den gefliesten Fußboden. „Meine Schwestern, Sangi, ich und drei weitere Halbvampire sind die letzten Überlebenden.“ Jetzt sprach ich: „Nayeli stand auch auf der Abschussliste, aber wir konnten sie gerade noch so retten. Ihre Mutter“, meine Augen huschten zu Ani hinüber, als ich das Wort aussprach, „hat es leider nicht geschafft.“ „Wenn wir nach Volterra zurückkehren, ist das Nayelis Todesurteil“, erklärte Nahuel. „Das müsst ihr nicht. Ihr könnt natürlich bei uns bleiben“, sagte eine freundliche Vampirdame und lächelte uns an. „Unser Zuhause ist groß genug.“ Ich versuchte zurück zulächeln, doch bei dem Gedanken, an das, was hinter uns lag, fiel es mir schwer... Die verzweifelten Schreie bekam ich nicht mehr aus meinem Kopf. Die hilfesuchenden, flehenden Gesichter verfolgten mich in meinen Träumen. Wann immer ich die Augen schloss, sah ich sie. Wann immer es still um mich wurde, erklang das Wehklagen... Unsere Flucht aus Volterra war das Schlimmste gewesen, was ich je erlebt hatte. Es war Nacht gewesen. Ich hatte in meinem Bett gelegen. Meine Gedanken waren abgeschweift. Fort von dem, was ich damals meine Heimat nannte, hinüber nach Irland. Seit ihrer Abreise hatte ich nichts mehr von ihnen gehört. Als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, lag er blutüberströmt auf meinem Fußboden, nachdem er zuvor mehrfach Hals über Kopf gegen meine Stahltür gerannt war. Vollkommen verwirrt und am Ende. Ich wusste nichts über seinen Zustand. Ich wusste nicht, ob er überlebt hatte oder ob er vielleicht schon längst gestorben war. Alles, was mir geblieben war, war die Erinnerung an unsere Nacht am Kaminfeuer. Es war wahrscheinlich die bisher schönste, aufregendste und sinnlichste Nacht meines Lebens gewesen... Ich starrte mit einem Lächeln auf den Lippen an die Zimmerdecke, als ich daran dachte und ein Kribbeln durchfuhr meinen Körper, wenn ich mich an das Gefühl seiner Lippen auf meiner Haut erinnerte... Und plötzlich hörte ich draußen einen ohrenbetäubenden Lärm, ehe es gegen meine Tür polterte und Nahuel in mein Zimmer platzte. Erschrocken setzte ich mich auf und zog die Decke hoch. „Nahuel?!“, fragte ich erschrocken. Im Dämmerlicht sah ich sein erschrockenes Gesicht. „Steh auf, Sangi. Wir müssen fort!“ Er ging zu meinem Schrank, zog wahllos ein Hemd und eine Hose hervor und warf sie mir aufs Bett, ehe er zur Eingangstür zurückkehrte. Ich knöpfte gerade noch eilig mein Hemd zu, als ich zu ihm ging. Er hatte sich hingesetzt und lehnte seinen Rücken gegen die metallene Tür. „Was ist los?“, wollte ich wissen. Er stand auf und nahm meine beiden Hände in die Seinen. „Wir sind hier nicht mehr sicher, Sangi. Aro lässt die Halbvampire auf Caius' Wunsch hin dezimieren.“ „Was? Warum?“ Mein Herz begann zu rasen. Ich hatte nie viel mit den anderen Halbvampiren zu tun gehabt. Sie hatte mich wegen meiner Sonderstellung auch nie wie eine der ihren behandelt. Aber ich kannte diese Art von Brutalität von Aro gar nicht. Zu mir war er immer freundlich gewesen. Natürlich hatte ich auch Menschen getötet, aber das war für mich eine Notwendigkeit gewesen, schließlich gehörte das Blut trinken zu unserer Natur, genauso wie eine Katze Mäuse fraß. Ich wusste auch, dass Aro schon andere Vampire hatte ermorden lassen, doch war mir immer klar gewesen, dass er es getan hatte, weil sie gegen die Regeln verstoßen hatten und damit die anderen Vampire gefährdeten. Doch den Mord meiner Artgenossen empfand ich als reine Willkür. Sie waren keine Nahrung und sie hatten nie eine Regel missachtet. Nahuel nahm mich am Handgelenk und öffnete die Tür. „Lass uns verschwinden, Sangi.“ Ich blieb im Türrahmen stehen und zog meine Hand weg. „Nein!“ Nahuel sah mich verwundert an. „Wir können sie doch nicht einfach so sterben lassen und uns selbst in Sicherheit bringen!“ „Das müssen wir! Entweder du rettest dein eigenes Leben oder keines!“ „Nein...“, hauchte ich und schüttelte den Kopf, dann rannte ich an ihm vorbei davon. Er hob noch seine Hand in meine Richtung, wollte mich festhalten. „SANGREAL!“, schrie er mir hinterher. Schleunigst rannte ich Richtung Aufzug, hoffend, dass niemand sonst dort war. Tatsächlich. Wie durch ein Wunder, war ich allein dort. Wahrscheinlich waren sie bereits im Kellergeschoss und vollbrachten ihr teuflisches Werk. Unten angekommen stürmte ich hinaus, kaum das die Türen weit genug geöffnet waren, damit ich hindurch passte. Ich war noch nicht weit gelaufen, da stolperte ich in meiner Eile, in der Dunkelheit, über etwas Weiches. Ich schlug hart auf und spürte den kalten Fußboden an meinem Gesicht. Mit zusammengekniffenen Augen stützte ich mich mit den Armen vom Boden ab, dann erst sah ich hinter mich – und erschrak: hinter mir lag der leblose Körper von Samuel, einer der Halbvampir-Zwillinge. Sein blondes Haar war blutverschmiert, seine Augen leer. Ich schrie auf, erhob mich und stolperte davon. Doch je weiter ich den Gang entlang lief, um so mehr kreuzte der Tod meinen Weg. An den Wänden und den Böden klebte rotes Blut. Und gelegentlich kreuzten ein oder zwei tote Körper meinen Weg. Die Gliedmaßen grotesk verdreht und übersät mit blutenden Bisswunden. In der Kantine ankommen, wurde ich fast von dem hellen Licht geblendet, das von der Decke strahlte. Sämtliche Tische waren verrückt, umgefallen oder zerbrochen. Nichts stand mehr an seinem angestammten Platz. Als ich plötzlich Schritte hinter mir hörte, ergriff ich erneut die Flucht. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich mit einem Satz hinter dem nächsten Tisch verschwand, meinen Rücken gegen das weiß bemalte Holz presste und hoffte, nicht entdeckt zu werden. Erst als die Schritte leiser wurden und die Person sich entfernt hatte, atmete ich wieder auf. Und dann hörte ich es: das Schreien eines Babys. Ich sah verwundert auf und lauschte dem Wimmern und Weinen, dessen Ursprung wohl hinter der großen Theke zu sein schien, hinter der sonst immer die etwas pummelige Martha gestanden und Essen verteilt hatte. Mit einem Hüpfer verschwand auch ich dort. Das Nächste, was ich vernahm, waren entsetzte Schreie. Hinter der Theke lagen zwei Halbvampirmädchen, die mich wahrscheinlich für eine Gefahr hielten. „Sht... sht!“, versuchte ich sie zu beruhigen und legte einen Finger an meine Lippen. „Ich will euch nichts tun“, flüsterte ich. Erst jetzt erkannte ich sie. In der Ecke lag Suti. Sie schwitzte stark und ihre langen Locken klebten in ihrem Gesicht. In ihrem Arm hielt sie ihre Tochter: Nayeli. Die Kleine war erst vor kurzem auf die Welt gekommen. Während ihre Mutter müde und schwach wirkte, schien das Baby jedoch gesund zu sein. Neben den Beiden saß Samantha, Samuels Zwillingsschwester. Ihr langes blondes Haar war ebenso blutverklebt wie das ihres Bruders, offensichtlich waren sie schon einem Angriff entkommen. „Warum passiert das alles?“, wollte Samantha verzweifelt wissen. „Was haben wir getan, dass wir das verdient haben?“ Ihre blauen Augen füllten sich mit Tränen. Ich schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht.“ Plötzlich begann das Baby wieder zu schreien. Samantha nahm es zu sich auf den Schoß und begann ihm beruhigend auf den Rücken zu klopfen und es hin und her zu wiegen. Die Mutter der Kleinen hustete dagegen mit einem Mal stark und spuckte dabei Blut. Dennoch setzte sie sich mit ihrer verbliebenen Kraft auf und hob ihr Shirt hoch, woraufhin Sam das Baby wieder in die Arme seiner Mutter legte, sodass es von ihrer Brust trinken konnte. Ich hatte nie sonderlich viel von der Aufzucht der hier geborenen Halbvampire mitbekommen. Ich erinnerte mich auch nicht an meine eigene. Aber soweit ich wusste, nahm man die Kinder sofort nach der Geburt weg, um schnellstmöglich in Erfahrung zu bringen, wie menschlich es war oder eben nicht. Das ein Halbvampir eines seiner Kinder säugte, hatte ich nun wirklich noch nie gesehen und es war faszinierend und traurig zu gleich, denn wie ich später erfahren sollte, war es gerade diese Menschlichkeit, die Nayeli und ihrer Mutter das Leben kosten sollte. Wachsam saßen Sam und ich in den folgenden Minuten an Sutis Seite und lauschten jedem noch so kleinen Geräusch. Während Nayeli friedlich trank, rechneten wir mit einem Angriff. Kurz später sprang schließlich die Tür zur Kantine auf, knallte gegen die Wand und einige Brocken Beton bröselten herab, während zwei Vampire den Raum betraten. Suti hinter mir, drückte ihr Kind fester an sich und Sam und ich, obgleich sie noch nie gekämpft hatte, gingen in eine Abwehrhaltung über, bereit um um das junge Leben hinter uns zu kämpfen. Die zwei Vampire sprangen auf die Theke zu. Ich hechtete einem davon entgegen, so dass wir vor der Theke auf den Boden knallten. Sein Kollege verschwand dahinter und ich hoffte, dass ich es rechtzeitig schaffen würde, Sam zur Hilfe zu kommen. Der Raum wurde von Nayelis bitterem Schreien und Sutis Wehklagen erfüllt, als ich mit dem Angreifer über den Boden fegte. Der mir relativ unbekannte Volturi packte meine beiden Arme, drehte sie mir auf den Rücken und zwang mich zuerst auf die Knie und dann komplett zu Boden. Ich spürte die Last seines Gewichts auf meinem Körper. „Du hast Glück, dass du eine der wenigen bist, die nicht auf unsere Abschussliste stehen.“ „Monster...“, presste ich unter Schmerzen heraus. „Sie steht vielleicht nicht auf deiner, aber du auf meiner!“ Nahuels Schrei hallte durch den ganzen Raum. Ich vernahm einen dumpfen Schlag und ein Stöhnen, dann war das Gewicht von mir verschwunden und meine Arme wieder frei. Wenige Augenblicke später knallte der Volturi mit gebrochenem Genick zu Boden. Nahuel hatte ihm den Hals umgedreht. Ich hätte mich gern bei ihm bedankt, doch ein markerschütternder Schrei hielt mich davon ab. Atemlos rannte ich zurück zur Theke, Nahuel folgte mir. Suti lag noch immer in ihrer Ecke, hatte sich aber mit dem Gesicht zum Holz gedreht und schirmte ihr Kind ab, so dass man nur noch ihren blutigen Rücken sah. Sam hingegen war ihrem Bruder gefolgt. Ihr Leichnam lag nur wenige Meter von den beiden entfernt. Kaum dass der Vampir von ihr abgelassen hatte und sich auf machte, um auch Suti zu töten, packte Nahuel ihn am Genick und zog ihn weg. Ich hingegen krabbelte vorsichtig hinüber zu Mutter und Tochter. Vorsichtig legte ich eine Hand an ihre Schulter und drehte sie um. Sie hatte die Augen geschlossen und ich fürchtete schon, zu spät gekommen zu sein, doch dann öffnete sie sie langsam. Sie waren ebenso grau, wie die ihrer Tochter. Doch waren sie müde. „Du musst durchhalten. Vielleicht können wir dich retten“, flüsterte ich. Suti schüttelte den hübschen Kopf, mit dem zart gelockten schwarzen Haar. „Nein. Meine Zeit ist vorbei. Aber vor Nayeli liegt noch ein ganzes Leben. Und alles was ich ihr geben kann, ist die Chance auf dieses Leben. Kannst du mir diesen letzten Wunsch erfüllen und meiner Tochter das Leben geben, das sie verdient hat, das wir alle verdient hätten?“ Tränen liefen meine Wangen herunter und zogen feuchte Bahnen über meinem Gesicht. Ich spürte wie sie über meine Lippen und mein Kinn wanderten, hinab fielen und meine Hand berührten. Suti hob mir mit letzter Kraft ihr Baby hingegen. Ich hob langsam die müden Arme und nahm Nayeli in meine Obhut. „Gib ihr ein freies, lebenswertes Leben, Sangreal. Ohne Hass. Ohne Tod.“ Ich nahm die Kleine in den Arm und drückte sie an mich. „Das werde ich. Versprochen.“ „Danke...“, sagte sie, dann begannen ihre Augen zu flackern und schließlich wurde ihr Körper lasch und ihre Augen schlossen sich... Das Nächste, woran ich mich erinnerte, war Nahuels erneuter Griff um mein Handgelenk. „Lass uns gehen, Sangi“, sagte er und zog mich, mitsamt dem Kind auf meinem Arm, hinter sich her. Wir liefen durch einige enge, mir unbekannte, dunkle Gänge, bis Nahuel schließlich vor einer runden metallenen Luke stehen blieb. Sie war rostig und sah schwer aus. Nahuel ließ meine Hand los, ging zu ihr hinüber, nahm den Griff und drückte ihn mit aller Kraft herunter. Er stöhnte angestrengt dabei, doch der letzte Schrei wurde von dem befreienden Geräusch des nachgebenden Griffes übertönt. Mit einem Quietschen öffnete sich die Schleuse. Vorsichtig warf ich einen Blick an Nahuel vorbei hinein. Es war ebenso dunkel, wie die Gänge, die wir hinter uns hatten, mit dem Unterschied, dass jetzt noch ein fauler Geruch und eine unglaubliche Feuchte dazu kam. Nahuel stieg durch die Luke hinein und hob mir seine ausgestreckte Hand, mit der Handfläche nach oben, entgegen. „Komm...“, sagte er sanft. Ich zögerte einen Augenblick. Nahuel verharrte in seiner Stellung. Erst als ich meine Hand in seine legte, schlossen sich seine Finger sanft und er zog mich zu sich. Ich stieg durch die Luke in die Dunkelheit und stand sofort mit den Füßen im Wasser. „Igitt...“, stöhnte ich leise. „Was ist das?“ „Wasser“, antwortete er und schloss die Luke hinter uns. „Und andere Dinge, deren Bezeichnung du nicht wissen möchtest.“ „Na dann...“, sagte ich und begann, Nahuel eine Stunde lang durch die Dunkelheit des Abwasserkanals zu folgen. „Wohin gehen wir?“, wollte ich wissen. „Weißt du, dass du mich gerade sehr stark an jemanden erinnerst?“, sagte Nahuel nun und ignorierte meine Frage. „An wen denn?“ „An Anthonys Mutter.“ Ich sah ihn verdutzt an. „Was? Warum das denn?“ „Als sie damals schwanger war, hatten die Volturi sie gefangen gehalten. Ich half ihr damals zu entkommen. Wir sind genau denselben Weg gegangen, den wir jetzt gehen.“ „Durch diese Brühe?“, hakte ich nach. Nahuel lachte leise. „Sie war auch nicht sonderlich begeistert gewesen, das kannst du mir glauben.“ „Tue ich“, sagte ich, woraufhin eine kurze Stille folgte, ehe ich nochmal das Wort ergriff. „Aber wahrscheinlich hätte sie für ihre Kinder noch viel mehr getan, als hier durch zu waten.“ „Tut sie noch immer.“ Das Gesprächsthema brachte mich auf eine Idee. „Nahuel?“, fragte ich vorsichtig. „Ja?“ „Wie kam es damals eigentlich dazu, dass du mit allen Cullens den Thronsaal gestürmt hast?“ „Das ist eigentlich relativ schnell erzählt. Carlisle rief mich an und erzählte mir, dass Anthony sich wohl mal wieder in Schwierigkeiten gebracht hatte. Sie folgten Mariella und Seth nach Volterra und während die Beiden dir über den Weg liefen, hatte ich mich mit den Cullens getroffen.“ „Gut, dass du das getan hast. Wer weiß was sonst geschehen wäre...“ „Niemand kann das sagen, Sangi. Aber es ist nicht der erste Gefallen, den ich ihnen tat. Und nun ist es an der Zeit, dass wir eine Gegenleistung verlangen müssen.“ „Gegenleistung?“ Obwohl es dunkel war, sah ich, dass er nickte. „Wir werden zu ihnen gehen und sie um Hilfe bitten. Ich kenne keinen anderen Zirkel, der es mit den Volturi aufnehmen könnte. Bei ihnen sind wir am sichersten.“ „Aro wird aber wissen wo wir sind und dann sind sie in Gefahr. Das will ich nicht“, protestierte ich. „Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Eine andere Wahl haben wir nicht. Sag mir wohin wir gehen sollen?!“ Ich blieb stehen und sah zu Boden. „Ich weiß es nicht.“ Er legte eine Hand an meine Schulter. „Die Cullens werden die Volturi sowieso angreifen, früher oder später. Ob sie es nun tun, um uns zu beschützen oder aus Rache.“ „Was ist wenn Ani es nicht geschafft hat? Meinst du sie kommen damit klar, dass wir plötzlich auf der Bildfläche auftauchen und um Asyl bitten?“ „Ich denke schon. Mach dir keine Sorgen.“ Worüber ich mir keine Sorgen machen sollte, ob nun wegen der Asylfrage oder wegen Anthonys Leben, das fragte ich nicht nach. Zu überfordert war ich mit der ganzen Situation gewesen. „Sangi?“ Nahuels Hand berührte meine Schulter und riss mich aus meinen Gedanken. Ich blickte mich etwas verwirrt um, ehe mir wieder einfiel wo und warum ich hier war. „Alles in Ordnung?“, fragte Nahuel mit besorgtem Blick. Ich schluckte und nickte dan. „Ja... ja... i-ich...“ Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen. Lauter besorgte Gesichter. „Ich bin nur müde...“ „Oh, natürlich, Liebes“, sagte die Vampirdame neben dem Blonden und lächelte mich sanft an, ehe sie mit der Hand gestikulierte, dass ich aufstehen sollte. „Na komm... ich zeig dir dein Zimmer.“ Ich lächelte mit der Kleinen auf meinem Arm zurück und erhob mich, ehe ich ihr folgte... - Ende Kapitel 12 (Teil 1) - ------- Sorry für das kurze Kapitel. Aber nach meiner langen Pause wollte ich euch nicht noch länger ausharren lassen, bis ich ein komplettes Kapitel im August veröffentlichen kann, daher gibt's vorab schonmal ein Stückchen. =) Kapitel 13: [Sangreal] Versprechen und Vorurteile (Teil 2) ---------------------------------------------------------- Disclaimer: => Ich verdiene kein Geld mit meiner Fanfiction. => Alle Charaktere die schon in den Twilight-Bänden ihren Auftritt hatten, gehören Stephenie Meyer. Alle Anderen, wie etwa Schüler, Lehrer und vor allem Renesmees und Jakes Kinder, habe ich selbst erfunden. UPDATE neue Webseite http://www.chaela.info oder... liked mich auf Facebook http://www.facebook.com/chaela.info --------- Kapitel 12 [Sangreal] Versprechen und Vorurteile (Teil 2) In dieser Nacht liefen kleine, einzelne Tränen meine hellen Wangen hinunter, während ich an die Decke starrte, auf der die Äste der Bäume, vor meinem Fenster, ihre Schatten warfen. Sie wurden vom Wind sanft hin und her gewogen. Ihre Schattenspiele hatten, gerade bedingt dadurch, dass es nur sehr leichte, kaum merkliche Bewegungen waren, eine beruhigende Wirkung auf mich. Zusätzlich hüllte der Mond das kleine Zimmer, das ich zusammen mit Nayeli bezogen hatte, in ein bläuliches Licht. Ich erinnerte mich noch sehr genau an den Moment, an dem ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Er war in die Halle rein geplatzt gewesen. Hatte sich mit Alerio angelegt und wäre fast von ihm erdrosselt worden. Doch ich hatte sofort gesehen, dass er etwas Besonderes war. Und dass er mir ähnlicher war, als irgendjemand sonst in diesen Mauern es je gewesen war. Sogar ähnlicher als Nahuel. Nicht nur körperlich, sondern auch geistig. Wir waren einfach auf einer Ebene gewesen. Zumindest war ich immer davon ausgegangen. Und als Aro mir dann sagte, dass ich mit ihm zusammen arbeiten müsse, hatte mein Herz einen kleinen Hüpfer gemacht. Schon damals hatte es so etwas wie Sympathie für diesen jungen, mir unbekannten Mann empfunden. Sympathie, die bald zu mehr wurde. Fatalerweise. Ich seufzte, drehte mich zur Seite, zog meine dünne Decke noch etwas höher und wischte ein paar Tränen weg. Ich konnte es einfach nicht fassen, dass er mich für so ein falsches Biest hatte halten können. Fast noch schlimmer war es für mich, dass all die schönen Momente, die ich mit ihm erlebt hatte, nun ihren Zauber verloren hatten. Wann immer ich nun daran dachte, wie wir uns vor meinem Kamin geküsst hatten oder wie er mich gestreichelt hatte, musste ich unweigerlich daran denken, wie er sich gefühlt haben muss, als er an diese Augenblicke gedacht hatte, als er noch in dem Glauben gewesen war, dass ich ihn nur benutzt hatte. Es ließ mich fast so viel Ekel empfinden, wie ich ihn empfunden hätte, hätte ich das wirklich getan. Aber das hatte ich nicht. Es gab keinen Grund sich zu schämen. Ich hatte etwas für ihn empfunden. Ich war weder kalt noch berechnend gewesen. Arsch..., dachte ich und drehte mich auf die andere Seite. Für mich war es absolutes Neuland verletzt zu werden. Ich war nie verliebt gewesen. Ich hatte immer alles bekommen, was ich wollte, sofern es Aro möglich gewesen war, es mir zu geben. Lange Zeit hatte ich nicht das Gefühl gehabt, dass mir etwas fehlte. Ein normales Leben, wie es andere Mädchen hatten, hatte ich für einen Halbvampir sowieso immer für unmöglich gehalten. Erst Anthonys Erscheinen und seine Erzählungen davon, wie seine Familie lebte, hatte in mir das Bedürfnis geweckt, ein anderes Leben kennenzulernen. Ich seufzte abermals. Plötzlich vernahm ich Nayelis Wimmern. Zuerst kaum merklich, dann immer lauter, bis sie letztlich laut losweinte. Eilig streckte ich meine Hand zum Nachttisch, schaltete die kleine Lampe darauf ein und lief zu ihrem Bettchen. Sie bewegte ihren kleinen Kopf hin und her, hatte die Augen zusammengekniffen und schrie, während sie mit ihren kleinen Füßchen ihre Decke wegtrat. Ich hob sie aus dem Bettchen, nahm sie auf den Arm und wog sie sanft hin und her. Ihre kleinen Finger umfassten zwei Zipfel meines weißen T-Shirts. Sie hörte auf zu weinen und wimmerte nur noch leise. Meiner feinen Nase entging natürlich nicht, was der Grund für ihr Unwohlsein war. Ich strich ihr sanft durch ihr schwarzes Haar und flüsterte ihr beruhigende Worte zu. „Das haben wir gleich...“ Bis vor ein paar Tagen hätte ich nie gedacht, dass ich jemals Mutter werden würde und nun hatte ich schlagartig ein etwa sechs bis acht Monate altes Baby. Sie brabbelte vor sich hin, konnte sich hinsetzen und sogar etwas unbeholfen Krabbeln. Ihr tatsächliches Alter war mir jedoch unbekannt. Nahuel schätzte, dass sie keinen Monat alt war. Ich hatte ihrer Mutter versprochen, mich um die Kleine zu kümmern. Und dieses Versprechen würde ich halten. Das hatte ich mir fest vorgenommen. Auch wenn es bedeutete, dass ich jetzt im Eiltempo lernen musste, wie man ein Baby versorgte und aufzog. Ich hatte keine neun Monate gehabt, um mich darauf vorzubereiten. Aber wenn ich so recht darüber nachdachte, dann fürchtete ich, dass ich, wenn Nayeli wirklich meine und Anthonys Tochter gewesen wäre, auch keine neun Monate gehabt hätte. Jedoch, wenn sie unser – ich betonte das Wort selbst in Gedanken – Kind gewesen wäre, dann würde ich mir nun wenigstens nicht so allein gelassen vorkommen. Dann hätte die Kleine einen Vater. Vielleicht wäre Anthony am Anfang etwas überfordert gewesen, aber ich meinte zu spüren, dass er sich trotzdem um sie gekümmert hätte. Die Cullens hätten niemals zugelassen, dass unser Nachwuchs bei den Volturi blieb. Aber Nayeli war nicht meine und Anthonys Tochter. Sie war mein Adoptivkind und sie war mir schon sehr ans Herz gewachsen. Und wir beide waren nun trotzdem nicht mehr bei den Volturi und genossen den Schutz eines freundlichen Zirkels. Der einzige Unterschied zu dem Szenario in meinen 'Was-wäre-wenn?' - Gedankengängen war, dass Anthony sich nicht um Nayeli kümmern würde. Er würde weiter leben wie er es bisher getan hatte. So wie ich ihn kennengelernt hatte. Unabhängig. Ein Einzelgänger. Ohne Verantwortung für das Leben eines kleinen Menschen und damit frei zu tun und zu lassen, was immer er wollte. Und vielleicht, das dachte ich, als ich die Tür öffnete, um Nayeli ins Bad zu tragen, war es auch besser so... „Sangi...“ Ich erschrak, als ich die Stimme jener Person hörte, an die ich gerade noch so intensiv gedacht hatte. Ich zuckte zusammen und machte wieder einen Schritt zurück in den Türrahmen. Etwa einen Meter vor mir stand Anthony. Das Licht im Flur brannte und doch hatte sein plötzliches Auftauchen mich erschreckt. Zumindest war es für mich so plötzlich gewesen. Wie lange er da tatsächlich schon stand, wusste ich nicht. „Hast du gelauscht?!“, zischte ich empört und legte meine Hand schützend an Nayelis Hinterkopf. Er schüttelte sachte den Kopf. „Ich hab nur das Baby schreien hören.“ „Was kümmert dich das Baby?“, fragte ich giftig. „Sangi“, begann er erneut und nannte mich wieder bei dem Kosenamen, den mir Nahuel gegeben hatte. „Ich weiß ich hab dir Unrecht getan und -“ „Wo ist das nächste Badezimmer?“, unterbrach ich ihn. Er ignorierte meine Frage. „Bitte hör mir zu.“ „Das Badezimmer“, wiederholte ich zornig. Er schnalzte mit der Zunge, ließ die Schultern hängen und schüttelte den Kopf. Da er mir meine Frage nicht beantwortete, drehte ich mich einfach um und lief den Flur entlang. Ob das Bad in dieser Richtung lag, wusste ich gar nicht, aber auf der anderen Seite stand schließlich er im Weg. Ich kam an ein, zwei Türen vorbei, die jeweils links und rechts vom Flur lagen und versuchte zu riechen, ob sich dahinter Wasser befand oder zu lauschen, ob es in den Rohren knarzte. Doch er begann mir langsam nachzulaufen und machte mich damit derart nervös, dass ich fast den Verstand verlor und einfach blind den Flur weiter lang lief. Nayeli, einfühlsam wie sie war, begann meine Unsicherheit zu fühlen und begann wieder lauter zu wimmern, bis sie leise vor sich hin weinte. Ich tätschelte ihr den Rücken, während ich langsam weiter lief. Warum musste dieses Haus so viele Zimmer haben? Und warum waren sie nicht wenigstens beschriftet wie in Volterra? „Ich hätte dir das nicht unterstellen sollen, Sangi“, begann er wieder mit flehender Stimme auf mich einzureden. „Aber du musst versuchen mich auch zu verstehen. Die Volturi haben mir so vieles genommen, wenn du darüber nachdenkst, wirst du erkennen, dass es gar nicht so abwegig ist -“ Jetzt begann etwas in mir zu brodeln. Seine Worte waren wie Salz, das in eine offene Wunde gestreut wurde. Verlangte er von mir auch noch, dass ich anfing, mich selbst als Bestie zu sehen, um sein Verhalten besser nachvollziehen zu können!? „Ich weiß von deinem Bruder. Und ich war dabei, als Caius dich gebissen hat.. Das gibt dir aber noch lange nicht das Recht, mich als eine solche Person hinzustellen! Ich bin nicht Caius!“ „Ich weiß, Sangreal. Und es tut mir auch Leid!“ „Wo ist denn nun das Badezimmer?“ Ich wollte mich mit seinen Entschuldigungen nicht auseinandersetzen. Zu groß war meine Wut auf ihn. „Sangi!“ „Badezimmer...“, sagte ich ungeduldig. „Bitte!“, kam es von ihm erneut. Nayelis Schrei wurde immer lauter. Womöglich würden bald alle hier im Flur stehen, uns anglotzen und zu dem Entschluss kommen, dass ich mit der Kleinen überfordert war. Und darauf hatte ich garantiert keine Lust. Ich sah ihn eindringlich an und schüttelte den Kopf. Er seufzte erneut, dann senkte er den Blick. Anthony hob seinen linken Arm. Er reichte genau bis zur Tür neben ihm. Seine hellen Finger umfassten die Klinke. Er schloss die Augen, drückte den Griff nach unten und übte kurz leichten Druck auf die Tür aus, so dass sie langsam aufschwang, ohne das er auch nur einmal hingesehen hatte. „Danke“, sagte ich kalt, um ihm ja nichts schuldig zu sein und lief erhobenen Blickes an ihm vorbei, um das Badezimmer zu betreten. Hinter mir schlug ich die Tür etwas zu heftig für jemanden zu, der ein schreiendes Kind im Arm hatte. Aber ich wusste mir nicht anders zu helfen. Doch kaum dass ich im Badezimmer stand, blieb ich verblüfft stehen und starrte auf den Gegenstand vor mir. Ich weiß nicht, wann sie es gemacht hatten, aber ich war den Cullens für ihr vorausschauendes Handeln unglaublich dankbar, als ich Nayeli auf den bereits vorbereiteten Wickeltisch legte. Für einen Moment kam mir der Gedanke, dass die Babysachen noch Überbleibsel des letzten Nachwuchses im Haus sein könnten. Ein seltsamer Gedanke, Nayeli eine Windel anzuziehen, die vielleicht Anthony oder eines seiner Geschwister getragen hätte, wären sie nicht vor Anbruch dieser Packung trocken geworden. Aber als ich sie aufriss, entdeckte ich auf der Rückseite der Schachtel einen Hinweis zu einem Gewinnspiel dessen Einsendeschluss Endes des Monats war und aus einem mir undefinierbaren Grund stieg Erleichterung in mir auf. Ich hatte wirklich absolut keine Ahnung, wie man ein Kind wickelte. Das Einzige, was ich aus meiner Erinnerung kramen konnte, waren Filmszenen aus irgendwelchen Filmen, die man uns zur Unterhaltung gegeben hatte. Ich beschloss es einfach auf mich zukommen zu lassen, zog Nayeli den Strampler aus und schmiss die volle Windel in den, bis dato, leeren Mülleimer. Allerdings tat ich das nicht, ohne vorher die Luft anzuhalten, bis sich der metallene Deckel geschlossen hatte. „Okay...“, sagte ich leise vor mich hin, als ich nun etwas ratlos vor dem halb entkleideten Baby stand. Meine Hände hingen starr in der Luft und ich wusste nicht, was ich mit ihnen als Nächstes tun sollte. Nayeli lutschte derweil unbekümmert an ihrer kompletten Faust, die sie sich in den Mund gestopft hatte. Ich strich mir müde durchs Haar. „Au man...“ Ich nahm eine frische Windel aus der Packung, faltete sie auseinander und versuchte unbeholfen, sie unter Nayeli zu schieben. Plötzlich ging die Badezimmertür auf und ich erstarrte einen Moment. Ehe ich stöhnte. „Wann verstehst du endlich, dass du dir deine Entschuldigungsfloskeln sparen kannst?“, fauchte ich, ohne mich umzudrehen. „Entschuldigung?“ Ich erstarrte erneut. Die Glockenstimme, die hinter mir erklang, war die sanfte Stimme der Vampirdame, die mir mein Zimmer gezeigt hatte: Esme. Ich drehte mich um und hob peinlich berührt die Hände. „Oh, das tut mir Leid. Ich dachte Sie wären jemand anderes!“ Sie lächelte mich an. „Ist schon in Ordnung. Du kannst mich Esme nennen.“ Ich war erleichtert, dass sie das Thema nicht weiter ansprach. Stattdessen kam sie näher. „Darf ich?“, fragte sie freudig und sah Nayeli an.Ich ging etwas zur Seite, um ihr vor dem Wickeltisch Platz zu machen. „Bevor du ihr eine neue Windel anziehst, musst du die Kleine erst ganz sauber machen.“ Mit einigen geschickten Handgriffen feuchtete Esme ein Tuch an und wusch das Baby ratzfatz sauber, ehe sie die neue Windel um ihren kleinen Körper legte und sorgsam verschloss. „Was ist denn mit Babypuder und diesen ganzen Sachen?“, fragte ich und deutete auf eine Box in der jede Menge Döschen und Cremes standen. „Die sind erst notwendig, wenn sie wirklich wund ist. Normalerweise genügt es, sie mit lauwarmem Wasser zu waschen. „Ach so...“ „Das wirst du alles noch lernen. Du darfst dich nur nicht selbst unter Druck setzen. Man kriegt ja schließlich nicht jeden Tag plötzlich ein Kind.“ Ich lachte leise und nickte, während Esme Nayeli wieder anzog. „Dankeschön“, sagte ich, als sie mir das kleine Mädchen in den Arm legte. Die Süße war derart zufrieden und glücklich jetzt wieder sauber zu sein, dass sie bereits im Halbschlaf zu sein schien. „Ich wünsche euch eine angenehme Nacht“, antwortete Esme und strich Nayeli kurz mit einem Finger über die kleine Wange. Sie hatte ihre Äuglein zu und ließ sich nicht davon beirren. Ich lächelte Esme an und verließ den Raum. Als ich in den Flur trat, rechnete ich einen kurzen Moment damit, dass Anthony noch dort stand, aber es war niemand zu sehen, also huschte ich zurück in unser Zimmer und legte mein Adoptivtöchterchen vorsichtig wieder in ihr Bettchen. Als ich kurz darauf selbst wieder die Augen schloss, tat ich dies in dem Bewusstsein, dass es keinen Ort auf der Welt geben konnte, an dem Nayeli und ich jetzt besser aufgehoben wären, als hier... *** Am nächsten Morgen fühlte ich mich außergewöhnlich entspannt. Ich schlug die Augen auf und warf einen Blick auf den kleinen Wecker neben mir. Er zeigte bereits zwanzig nach elf. Es war äußerst ungewöhnlich für mich, so lange zu schlafen. Normalerweise war ich eine Frühaufsteherin. Dann schoss mir plötzlich wieder in den Kopf, wo ich eigentlich war und das Nayeli mit mir das Zimmer teilte. Sie war sicher schon ewig wach. Ich fuhr hoch und setzte mich auf. Zwei Meter von meinem Fußende entfernt stand das Babybettchen in dem sie geschlafen hatte. Jetzt saß sie aufrecht darin und zog an den Ohren eines Plüschhäschens herum. Es schien sie nicht zu stören, dass sie sich allein beschäftigen musste und ich war froh, dass sie mich hatte schlafen lassen, denn offenbar war dieser Schlaf bitter nötig gewesen. Mein nächster Gang ging zum Kleiderschrank an der gegenüberliegenden Wand. Es war sicherlich nicht der größte im ganzen Haus, aber für mich war er ein kleines Schlaraffenland. Endlich kein Schwarz mehr! Endlich konnte ich anziehen was immer ich wollte. Einfach so. Ohne Grund. Ohne Mission. Nicht um mich den Menschen anzupassen, um nicht aufzufallen, sondern weil ich es wollte. Ich ganz allein! Ein Klopfen an der Tür ließ mich erneut aufhorchen. Ich überlegte kurz, dann rief ich: „Herein?“ Die Tür schwang auf und Esme kam mit einem Tablett herein. „Guten Morgen. Frühstück?“ Ich warf einen Blick auf das Tablett. Toast mit Marmelade und Orangensaft. Ich runzelte die Stirn und sah etwas peinlich berührt drein. „Oh... es tut mir Leid, ich esse keine Menschennahrung.“ „Oh“, antwortete die freundliche Vampirfrau. „Dann wirst du sicherlich heute Nacht Mariella auf ihrer Jagd begleiten wollen, oder?“ Jetzt wurde ich noch beschämter. „Ich jage keine Tiere.“ Esme verstummte einen Moment. Ich meinte einen Anflug von Traurigkeit in ihren goldenen Augen zu sehen, als sie ihren Blick senkte und das Toastbrot musterte. Mein Herz pochte etwas schneller. Ich wollte auf keinen Fall, dass diese freundliche Person mich für eine Menschenfressende Kreatur hielt und riss das Ruder rum. „Ich... ich jage keine Menschen, falls Sie... du das denkst!“ Ihr Mund formte sich zu einem leichten Lächeln. „Ich trinke für gewöhnlich Blutkonserven“, erklärte ich und sah zu ihr hinauf. Sie sah erleichtert aus. „Ich würde mich trotzdem sehr freuen, wenn du Mariella begleitest“, fügte sie hinzu, dann verließ sie den Raum mitsamt dem einst für mich bestimmten Frühstück und ich blieb mit einem schlechten Gewissen zurück. Ich beschloss Esme eine Freude zu machen und mit Anthonys Schwester auf die Jagd zu gehen. Dass dieser Schritt auch für mich etwas Gutes hatte, sah ich in diesem Moment noch nicht. Ich hatte außer Blutkonserven noch nie etwas anderes gekostet. Wann immer ich mich an Menschennahrung gewagt hatte – und das war meistens zur Tarnung gewesen – hatte es für mich seltsam fade geschmeckt oder war fast ungenießbar gewesen. Ich wusste, dass die anderen Halbvampire sich anders ernährten. Aber Nahuel hatte mich erst sehr spät über Aros Beweggründe dazu aufgeklärt. Offensichtlich war ich zu viel Vampir und zu wenig Mensch gewesen und hatte die Stärke, die das menschliche Blut mir gab, benötigt, um seine Aufgaben zu erfüllen. Zumindest hatte er das geglaubt. Hätte ich aber tatsächlich Menschen gejagt, wäre ich möglicherweise nutzlos für eben diese Missionen gewesen. Er fürchtete ich wäre zu 'anfällig' um in Menschenmassen unbemerkt herumlaufen zu können. Also ließ er mich Blut nicht mit Menschen in Verbindung bringen, sondern mit Plastikbeuteln. „Bereit?“, fragte Mariella sicherheitshalber. Ich nickte. Ich hatte noch nie in meinem Leben ein Tier gejagt. Ich wusste, dass ich schnell war und ich hatte schon andere, vollwertige Vampire zur Strecke gebracht und doch war mir etwas mulmig, als ich an das dachte, was gleich geschehen würde. Anthonys Schwester stürmte los und verschwand zwischen den Bäumen und Sträuchern des Waldes. Ich starrte noch einen Moment auf die Äste, die durch ihre Berührung in Bewegung geraten waren, dann folgt ich ihr. Ich konnte den Geruch des Tieres, das wir jagten nicht zuordnen. Wie auch? Ich kannte die Gerüche von Waldtieren nicht. Ich hatte Bilder und Filme von ihnen gesehen, mehr nicht. Als wir näher an es heran gekommen waren, sah ich, dass es Hufe, sowie ein grau-bräunliches Fell hatte und mir etwa bis zur Hüfte reichte. Vielleicht ein Reh? Mariella war es schließlich, die das Lebewesen, was immer es nun auch gewesen war, zur Strecke brachte. Ein gezielter Biss und es brach zusammen und sein Herz machte einige letzte kurze Hopser, ehe es für immer verstummte. Es tat mir fast Leid. Umso mehr noch, weil ich seinen Geschmack nicht für wertvoll genug hielt, um dafür das Leben lassen zu müssen. Solange ich jedoch bei den Cullens lebte, musste ich mich ihren Ernährungsgewohnheiten wohl anpassen. 'Vegetarier' sein, wie man so schön sagte. Und so grässlich es auch schmeckte, ich fühlte mich trotzdem gut dabei. „Anthony ist nicht so abgrundtief böse, wie du ihn hinstellst.“ In Mariellas Stimme schwang etwas zickiges mit. Sie war ohne Zweifel wütend auf mich. Das hörte ich und das spürte ich. Ich hatte zwar gehofft, ich würde mir die Moralkeule der großen Schwester ersparen können, aber gerade dieser Moment, in dem wir nach unserer erfolgreichen kleinen Jagd hier auf einem Fleckchen Gras am Ende des Waldes saßen, bot sich dafür an. Direkt vor uns ging es etwa drei Meter steil bergab, wo ein kleiner Bach vor sich hin plätscherte. Wir hatten beide die Knie angewinkelt und die Arme um unsere Beine geschlungen. „Weißt du“, fuhr sie nun etwas freundlicher fort. „Seit ich denken kann, war Seth immer bei mir. Er war immer da gewesen. Erst als Spielkamerad, dann als Freund und später wurde er zu meiner großen Liebe. Unserem Bruder ging es genauso. Er hatte seine Leah. Seine Traumfrau. Die Eine“ - sie betonte das Wort und lächelte dabei. „Das ist eine 'Wolfssache', musst du wissen. Ani hat dir doch sicher erzählt, dass unser Vater ein Gestaltwandler ist?“ Ich nickte, sagte aber nichts weiter dazu. In meinen Kopf schossen die Bilder aus der Nacht in Venedig, als der große schwarze Panther mich gerettet hatte. „Es ist, als fände man seinen Seelenverwandten. Diesen einen besonderen Menschen, für den man alles tun und alles sein würde.“ „Hast du das auch? Diese 'Wolfssache'?“, fragte ich. Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Vielleicht bin ich zu wenig Gestaltwandler um mich prägen zu können, aber Seth hat es und ich habe nie daran gezweifelt, dass er der Richtige ist.“ „Das ist schön“, sagte ich leise. Wie schön es wirklich war, das konnte ich natürlich nur vermuten. „Ja, das ist es. Will und ich. Wir waren nie allein gewesen. Leah und Seth waren in allen Lebenslagen unsere Begleiter. Natürlich waren das unsere Eltern auch. Aber auf eine andere Art und Weise. Und später, als wir dann zu Teenagern heranwuchsen, als die Zeit kam, in der wir bei Problemen nicht mehr unsere Eltern einweihten, waren Leah und Seth umso wichtiger geworden. Ich kann mir nichts schöneres vorstellen, als die ersten Erfahrungen mit der einen Person zu machen, die man am meisten liebt auf der Welt.“ Sie sprach die Worte aus und ihre Glockenstimme, obgleich sie bereits wunderschön war, hörte sich noch um ein vielfaches beschwingter an. „Ich auch nicht“, flüsterte ich fast. „Aber all das, hatte Ani nicht.“ Ihre Stimme war prompt wieder auf dem Boden der Tatsachen. „Wir hatten unsere Seelenverwandten, doch er war allein. Er hatte die Liebe unserer Mutter und dem Rest der Familie, aber das reichte nicht. Er sah, wie wir mit unseren geliebten Menschen glücklich waren und war selbst tot unglücklich.“ Ich seufzte. Plötzlich spürte ich wie ein Regentropfen meine Haut berührte. Es folgten weitere, bis ein kühler Frühjahresregen uns abkühlte, dessen Tropfen in dem Bächlein unter uns Kreise im Wasser zogen. „Vielleicht sollte er losziehen und diesen einen Menschen suchen“, schlug ich mit beleidigtem Unterton vor, während der Regen uns sanft berieselte. „Ich denke das ist nicht notwendig. Es gibt da jemanden, den er ziemlich zu mögen scheint.“ „Schön für sie“, sagte ich trotzig. „Ach komm schon“, sagte Mariella enttäuscht. „Du weißt genau, wovon ich rede.“ „Menschen die man mag, unterstellt man nicht, dass man nur ihrer DNA wegen mit ihnen schläft“, gab ich zurück. „Gerade weil er so für dich empfindet, hat ihm der Gedanke unglaublich weh getan!“, meinte sie. Ich stand wütend auf. „Dann hätte er ihn vielleicht nicht denken sollen!“ „Du bist bei den Volturi aufgewachsen, hast besondere Privilegien unter ihnen genossen, du siehst aus wie sie, du bewegst dich wie sie. Du hast ihr Wappen und ihre Kleidung getragen.“ „Was hat mein Gang oder meine Kleidung mit meinem Herzen zu tun?!“ Mariella stand nun ebenfalls auf. „Die Volturi haben Kräfte. Sie können manipulieren und verderben.“ „Aber ich bin beides nicht!“, beteuerte ich. „Das weiß ich! Und das weiß er!“ Plötzlich griff sie nach meinen beiden Handgelenken. „Bitte, bitte tu ihm nicht weiter weh!“ Ihre Augen wurden glasig. „Er leidet. Er leidet jeden Tag! Allein schon wegen Will. Bitte mach es nicht noch schlimmer!“ Überfordert zog ich meine Hände weg und sah sie mit leicht geöffnetem Mund an. Was sie in den letzten Wochen durchgemacht hatte, das vermochte ich nicht zu sagen. Aber es musste sehr hart gewesen sein, wenn sie jetzt derart die Fassung verlor. Ich wusste nicht was ich sagen sollte, also tat ich, was mir als Erstes einfiel: ich lief davon. Flink trugen mich meine Beine zurück zum Anwesen der Cullens. Ich trat über die Veranda ein und begab mich dann sofort in den ersten Stock. Eigentlich hatte ich vorgehabt ohne Umschweife in mein Zimmer zu stürmen, doch Stimmen, aus einem der Zimmer auf meinem Weg, brachten mich dazu, inne zu halten. Ich blieb auf dem Flur stehen. Vier Räume von meinem Gästezimmer entfernt. „Es ist einfach zu gefährlich“, hörte ich eine Stimme sagen. Vielleicht lag ich falsch, aber ich vermutete hinter der sanften Stimme Carlisle, Esmes Ehemann und so etwas wie der Hausherr. Das Wort 'gefährlich' ließ mich noch genauer hin horchen. „Wie lange?“ Ich spitzte meine Ohren noch mehr. Es war Anthony. „Schwer zu sagen. Es kann Wochen oder Monate dauern. Lass es einfach nicht darauf ankommen“, antwortete Carlisle. „Ich weiß wie schwer das fallen muss.“ Diese dritte Stimme fiel mir dann leichter. Sie war deutlich tiefer als die meisten anderen Stimmen der Bewohner dieses Hauses. Es war eindeutig Anthonys Vater. „Schon in Ordnung“, antwortete Anthony. Nun etwas niedergeschlagener. Dann ging plötzlich die Tür auf. Er stand direkt dahinter und starrte mich an. Einen Moment tat ich es ihm gleich, konnte meinen Blick von seinen grünen Augen kaum abwenden. Wie hatten sie mir bis jetzt entgehen können? Ich hatte sie bei seiner Standpauke, bei der ich, wenn ich an sie dachte, direkt wieder ein flaues Gefühl im Magen spürte, und bei seinem Entschuldigungsversuch der letzten Nacht, nicht bemerkt. Wahrscheinlich war ich zu perplex oder zu zornig gewesen. Aber ich musste unweigerlich und absolut offen zugeben, dass es ein wunderschöner Grünton war. Kein bisschen zu hell und kein bisschen zu dunkel. Einfach perfekt. - Aber nein. Daran durfte ich jetzt nicht denken! „Verfolgst du mich etwa?“, bluffte ich ihn an. Ich war mir bewusst, dass ich diejenige gewesen war, die soeben an der Tür gelauscht hatte, aber das wollte ich keinesfalls zugeben und ihn anzumachen erschien mir die einfachste Möglichkeit, mich der Situation schnellstmöglich zu entziehen. Anthony antwortete nichts. Er sah mich stumm an, die Hand noch immer an der Türklinke, als hätte er sie gerade herunter gedrückt. Carlisle trat etwas aus dem Hintergrund, legte seine Hände an Anthonys Schultern und schob ihn ein ganz klein wenig nach vorn. „Aber nein, er hatte nur ein kleines Gespräch mit uns. Nichts wichtiges“, log er mich an und setzte dabei ein Lächeln auf, dass seine Lüge perfekt tarnen würde, wüsste ich die Wahrheit nicht. „Na dann...“, antwortete ich und begab mich in mein Zimmer ohne mich nochmal umzudrehen. Dort angekommen fiel mir sofort ein kleines Stück Papier ins Auge, dass auf meinem Bett lag: „Habe Esme Nayeli abgenommen. Du kannst sie jederzeit in meinem Zimmer abholen, wenn du möchtest – Rosalie.“ Ich hatte sowieso nichts zu tun, also entschied ich, dass ich ihrem Vorschlag nachkommen und ihr einen Besuch abstatten konnte. Rosalies Zimmer zu finden gestaltete sich als deutlich einfacher, als das Badezimmer zu finden. Und das lag nicht nur daran, dass mich diesmal niemand verfolgte, sondern auch an Nayelis Duft. Den kannte ich nämlich bereits wie keinen Anderen. Ich klopfte vorsichtig an und trat erst ein, nachdem Rosalie mich herein gebeten hatte. In der Tat war ihr 'Zimmer' allerdings eher eine Suite bestehend aus einem Eingangsbereich, einem eigenen Bad und zwei Zimmern. Die Wände hatten ein sanftes Cremeweiß verziert mit taupefarbenen Ornamenten, die aussahen wie Pflanzenranken, stellenweise auch Blumen oder Schmetterlingen. Rosalie saß mit Nayeli auf dem Boden. Um die beiden herum lag jede Menge Spielzeug. Von Beißringen, über Plüschtiere bis hin zu kleinen Holzfiguren. Ich ging auf sie zu und wollte mich gerade zu ihnen setzen, da fiel mir eine beleuchtete Vitrine hinter ihnen ins Auge. Ich trat näher an sie heran. Was ich darin sah war schön und grotesk zu gleich: etwa ein Dutzend kleine Figuren, jene Figuren die ich von Hochzeitstorten aus Filmen und Bildern kannte, standen dort aufgereiht. „Jedes von ihnen steht für eine meiner Hochzeiten mit Emmett“, erklärte Rosalie. Sie hatte Nayeli auf den Arm genommen und sich neben mich gestellt. „Ihr habt so oft geheiratet?“ „Es ist nicht so, dass ich unsere Ehe festigen will. Ich liebe einfach die Feierlichkeiten an sich.“ Ich musterte weiter die Pärchenfiguren. Jedes von ihnen ein Unikat. Keine glich einer Anderen. „Ich weiß, dass es eigenartig ist.“ „Ist es“, antwortete ich. „Aber es ist trotzdem wunderschön.“ „Danke“, sagte sie, ehe sie mir die Kleine reichte. „Sie war ein braves Mädchen. Wenn du wieder einen Babysitter brauchst, ich mache es gern.“ Nayeli begann an meinen Haaren herum zu zupfen und sie in den Mund zu nehmen. „Danke, ich werde darauf zurückkommen.“ Im nächsten Moment schwang dann die Tür auf. Rosalies Mann stand im Türrahmen. „Carlisle bittet alle ins Wohnzimmer zu kommen. Es ist sehr wichtig.“ „Oh“, sagten Rosalie und ich gleichzeitig und folgten ihm ins Erdgeschoss, wo die komplette Familie und Nahuel bereits wartete. Ich blieb in der Nähe des Eingangs neben Rosalie und Emmett mit Nayeli stehen. Zu meiner Überraschung ergriff allerdings nun nicht Carlisle das Wort, sondern Edward. „Ich möchte euch alle darüber in Kenntnis setzen, dass wir momentan nicht die einzigen Vampire in dieser Gegend sind.“ „Die Volturi?“, fragte Mariella sofort besorgt. „Das wissen wir nicht. Siobhan hat mich nur informiert, dass ein ihr unbekannter Vampir das irische Festland betreten hat.“ „Siobhan?“, hakte Nahuel nach und stellte damit eine jener Fragen, die auch in meinem Kopf vorgingen. Zusammen mit: War es ein Volturi? Wenn ja, was hatte er vor? Sollten Nahuel und ich mit Nayeli fortgehen, um diese Familie zu schützen? Oder brauchten sie diesen Schutz vielleicht gar nicht? „Siobhan ist die Anführerin des irischen Zirkels. Sie leben seit Jahrhunderten in Irland und sind neben uns der einzige Vampirzirkel auf der Insel. Sie beobachten sehr genau, was in ihrer Heimat vorgeht und sind alte Freunde der Familie“, beantwortete Carlisle freundlich Nahuels Frage. Nahuel nickte. „Die Iren halten ihre Augen und Ohren offen und wir tun dies ebenfalls“, fuhr Edward fort. „Angesichts der kürzlichen Ereignisse, müssen wir jedoch mit dem Schlimmsten rechnen.“ „Wenn ich es richtig verstanden habe, ist es nur einer“, warf Anthonys Vater ein. „Können wir ihn nicht einfach ausfindig machen und die Sache klar stellen oder ihn einfach gleich erledigen?“ Edward lächelte verschmitzt. „Jacob, Jacob. Wie immer mit dem Kopf durch die Wand.“ „Da ist er nicht der Einzige“, meinte Emmett. „Wir sollten trotzdem in Betracht ziehen, dass es keinen Grund gibt, diesem Vampir zu schaden.“ Carlisles Vorschlag wurde nicht weiter dementiert. „Für uns bedeutet das nun also, dass wir alle in Sichtweite des Anwesens bleiben, wenn wir allein sind und es lediglich in Gruppen verlassen.“ Nun nickten alle. *** Die kommenden Tage verbrachte ich damit, mich an die Hoffnung zu klammern, dass es einfach nur irgendein Vampir und kein Volturi war, der vielleicht unseren Standort auskundschaftete. Ich wusste ehrlich gesagt nicht mal, ob die Volturi den Wohnort der Cullens kannten. Nahuel hatte ihn gekannt und sie hatten ihn bedenkenlos immer zu ihnen schicken können, wenn sie mit ihnen in Kontakt treten wollten. Gut möglich also, dass der Vampir bis her noch nicht aufgetaucht war, weil er ganz Irland absuchen musste. Es sei denn Aro hätte Demetri geschickt. Aber wenn er wirklich den talentiertesten Tracker der Welt schicken würde, um uns zu finden, hätte er uns schon längst gefunden. Es musste also, sofern es ein Volturi war, jemand anderes sein. Vielleicht jemand weniger gefährliches? Ich seufzte. Eigentlich hatte ich mir geschworen, zu vergessen, was Edward gesagt hatte und mich stattdessen voll und ganz um Nayeli zu kümmern. Auf die Art konnte ich nämlich noch ein weiteres Thema verdrängen, dass mich unweigerlich permanent beschäftigte. Es begann mit A und endete mit Y. Und es war immerzu in meinem Kopf. Und wenn es gerade aus ihm entglitt, lief ich ihm im nächsten Augenblick wieder über den Weg. Ich hatte schon überlegt, Esme um ein anderes Zimmer zu bitten oder mit Nahuel zu tauschen. Denn während dessen Zimmer im Nebengebäude lag, befand sich meines im Haupthaus. Und im Keller des Haupthauses lebte eben auch Anthony. Und obwohl mir Esme mal erzählt hatte, dass er normalerweise sehr zurückgezogen lebte und sich selten am Familiengeschehen beteiligte, war er verblüffend oft in meiner Nähe. *** „Bist du dir sicher, dass da soviel Natron reinkommt?“, fragte Mariella unsicher. Es war inzwischen sieben Tage her, dass Edward uns die Nachricht des irischen Zirkels überbracht hatte und die Cullens waren sehr geschickt darin, ihr Familienleben nicht von dieser Meldung überschatten zu lassen. Das lag zu einem guten Teil sicher auch daran, dass sie ein relativ großer Zirkel waren und damit einen gewissen Schutz genossen. Nicht zuletzt weil hier auch Gestaltwandler herumliefen und ihre Gaben überaus nützlich waren. Insbesondere Alice Fähigkeit, die Zukunft zu sehen (auch wenn es mir leid tat, dass ich ihr Kopfschmerzen bereitete, so wie alle Mischwesen) oder Bellas kraftvolles Schutzschild. „Aber sicher“, antwortete Seth auf die Frage seiner Freundin. „Im Kochbuch steht aber was von einem Teelöffel“, warf Jacob ein und legte das Buch wieder auf den Tisch. Er saß mir gegenüber am Esstisch und sah den Beiden beim Backen zu. „Wer hat hier eine Ausbildung gemacht? Ich oder das Buch?“, fragte Seth neckisch und streckte Jacob die Zunge raus. „Mit Büchern kenne ich mich wenigstens aus“, sagte Mariella unsicher und steckte den Stecker des Handrührgerätes in die Steckdose. „Da fällt mir ein, ich hab im Internet so eine schicke Silikonbackform gesehen. Die sah aus wie ein Buch. Back das doch nächstes Mal anstatt Muffins, vielleicht gelingt dir das besser!“ „Dad!“, schrie Mariella, schaltete das Gerät ein und spritzte dabei erst Mal eine ordentliche Menge Teig durch den Raum. Beim Einfüllen des Teiges in die Förmchen stellte sie sich dann schon besser an, auch wenn sie dabei für einen Halbvampir relativ ungelenk wirkte. Aber ich hatte selbst noch nie gekocht, geschweige denn gebacken, also kommentierte ich das Szenario nicht, sondern sah einfach nur stumm zu, während Nayeli im Wohnzimmer ihren Mittagsschlaf hielt. „Hoffentlich gehen sie wenigstens gut auf“, sagte sie besorgt, als sie das Blech mit den 24 Muffin-Förmchen in den Ofen schob. „Mach dir lieber Sorgen, dass der Backofen nicht gesprengt wird“, meinte Jacob und lachte dabei. „Bei Seth weiß man nie. Das werden sicher Werwolf-Muffins.“ Mariella sah ihren Vater nur an und verdrehte die Augen. „Du weißt schon“, redete er einfach weiter. „Mindestens fünf Mal größer als die Normalen.“ „Sehr witzig, Jake“, sagte Seth. „Erinnerst du dich noch an Emilys Muffins?“, fragte Jacob. „Du meinst die, um die du dich immer mit Paul geprügelt hast? Ja.“ „Die waren jede Prügelei wert!“, lobte mein Gegenüber. „Möchtest du mit mir vor die Tür?“, forderte Seth ihn offensichtlich heraus. „Seth“, mahnte Mariella. „Was denn Schatz? Ich will doch nur deine Muffin-Ehre sichern.“ „Ihr seid doch alle beide bekloppt!“, sagte sie und zeigte ihnen den Vogel. In der Küche machte sich jetzt der Duft frischgebackener Muffins breit. Doch mein Geruchssinn sagte mir, dass ein mir bekannter Geruch sich ebenfalls der Küche näherte. Und ich sollte mich nicht irren, denn nicht mal 10 Sekunden später, betrat auch Anthony die Küche. Und im Gegensatz zu mir freute sich dessen Schwester über den Neuankömmling. „Ah, Ani! Gut, dass du kommst. Die Beiden ärgern mich!“ Sein Mund formte sich nur zu einem sehr leichten Lächeln, als er stehen blieb und sich in etwa zwei Metern Entfernung zu mir, mit dem Rücken gegen die Küchenzeile lehnte. „Bellende Hunde, beißen nicht. Weißt du doch“, kommentierte er. „Oh doch“, sagte Seth. „Ich beiße gleich in Mariellas herrliche Muffins, die mindestens so lecker sind, wie die von Emily.“ „Tu das, Schatz“, antwortete Mariella. „Möchtest du auch einen, Ani?“ Ihr Bruder schüttelte den Kopf und lächelte dabei erneut ganz leicht. „Du weißt wo der dann höchstwahrscheinlich landet. Und das hat nichts mit deiner Kochkunst zu tun.“ Mariella sah traurig zurück. „Okay...“ Ich für meinen Teil sah nun die Zeit gekommen, die Küche zu verlassen. „Und ich verlass euch dann mal. Hat auch nichts mit deinen Muffins zu tun.“ Ich ging, ohne mich umzudrehen. Seit unserer gemeinsamen Jagd hatte ich mit Mariella kein Wort mehr gewechselt. Es war nicht so, dass ich die Liebe, die sie für ihren Bruder fühlte und ihre Beweggründe, mir eine Standpauke zu halten, nicht verstand. Im Gegenteil: ich bewunderte und beneidete sie für das, was sie hatte. Ich war einfach nur nicht fähig ihr das zu sagen und dafür schämte ich mich und versuchte ihr aus dem Weg zu gehen. Genau wie ich es bei ihrem Bruder tat. Wenn es nach meinem Herzen ginge, hätte ich ihm längst verziehen... Aus der Küche hörte ich noch vereinzelte Muffin-Gespräche, als ich Nayeli, die bereits wach war, aus ihrem Laufstall hob. Draußen war schönes Frühlingswetter, also entschloss ich mich, mit der Kleinen ein wenig die Sonne zu genießen. Nachdem ich das Baby also frisch gewickelt hatte, schnappte ich mir eine Decke und setzte mich mit ihr auf die Wiese vor dem Haus. Nayeli genoss das Sonnenlicht. Wie ich bereits vermutet hatte, glitzerte sie nicht. Sie zupfte brabbelnd und lächelnd kleine Grashalme aus dem Boden und ließ sie wie Schneeflocken auf unsere bunte Decke fallen. Gedankenverloren lehnte ich mich ein wenig zurück und vergrub meine Hände ebenfalls im grünen Teppich aus Gräsern und Blüten. Als ich meine rechte Hand betrachtete, erblickte ich direkt neben ihr ein kleines Gänseblümchen. Ich zupfte es heraus und drehte es mit Daumen und Zeigefinger im Kreis. „Mhm...“, murmelte ich und zog vorsichtig eines der kleinen weißen Blütenblätter weg. Und dann noch eins. Und noch eins. Er liebt mich. Er liebt mich nicht... Noch bevor ich bei der Hälfte angekommen war, ließ ich das Blümchen frustriert auf die Decke fallen. „Was machst du hier überhaupt?“, sagte ich zu mir selbst. Nayeli antwortete mit ihrer üblichen Babysprache. „Hast ja recht, meine Süße“, sagte ich zu ihr und lächelte sie an. Mein Lächeln verschwand schlagartig, als ich im Augenwinkel eine Bewegung in der Nähe des Hauses wahrnahm, die mein Instinkt nicht als 'normal' einschätzte. Erschrocken suchte ich den 'Übeltäter' – und entdeckte ihn auf dem Dach! Doch es war nicht der geheimnisvolle unbekannte Vampir, sondern Anthony, der es sich dort bequem gemacht hatte. Ein unangenehmes Kribbeln machte sich wieder in mir breit. Ich mochte es nicht beobachtet zu werden. Leider konnte ich nicht mal sagen, wie lange er das schon tat. Vielleicht hatten sie auch eben erst die Muffins aus dem Ofen gezogen und er hatte sich dann verdrückt. Er schien menschliche Nahrung genauso zu verschmähen wie ich es tat. Nayeli wollte gerade nach dem Blümchen greifen, dass ich für einen kurzen Moment gänzlich vergessen hatte. Hatte er gesehen, wie ich daran herum gezupft hatte? Wenn ja, was hatte er sich dabei gedacht? Ich war mir sicher, dass ich just im Moment rot anlief. Noch ehe ihre kleinen Finger sich um den grünen Stil legen konnten, hatte ich das Kind auf den Arm genommen und war mit ihr aufgestanden. Warum ich jetzt die Flucht ergriff, das wusste ich. Warum ich aber anstatt ins Haus zu gehen, die andere Richtung wählte und in den Wald lief, das wusste ich nicht. Vielleicht war es eine Kurzschlussreaktion gewesen, weil Anthony ja auf der anderen Seite gestanden hatte. Ähnlich der Situation im Flur. Aber diesmal ging es nicht um ein Badezimmer. Und der Einsatz war auch keine volle Windel. Ich eilte derart schnell durch die Bäume, dass ich regelrecht erschrak, als ich mich nach wenigen Sekunden umdrehte. In der Ferne konnte ich das Anwesen selbst mit meinem übernatürlichen Blick nicht ausmachen. Instinktiv drückte ich das Baby näher an mich und sah mich um. Die Geräusche des Waldes wirkten plötzlich unheimlich. Selbst das Rascheln eines Mäuschens unter dem Laub, ließ mich erschrocken aufhorchen. Wieder schien das Kind in meinem Arm zu spüren, dass ich nervös wurde. Sie verstummte ebenfalls schlagartig. „Na Süße“, sagte ich zu ihr gewandt und streichelte ihr kleines Köpfchen. „Lass uns lieber wieder zurück zu den Anderen gehen.“ Ich legte wieder meine Arme um sie und drehte mich um, um zurück zu den Cullens zu gehen. Das ungute Gefühl gab mir keine Ruhe und in der Tat war es sehr dumm von mir gewesen, einfach in den Wald zu rennen. Wie dumm, das sollte mir wenige Augenblicke später in aller Deutlichkeit klar werden... Ich lief mit nahezu menschlich langsamen, unsicheren Schritten über den mit Laub und Moos übersäten Waldboden. Keine zwanzig Meter war ich gekommen, als ich die Anwesenheit eines weiteren Lebewesens, das größer als eine Maus war, registrierte. Irgendetwas in mir schrie und sehnte sich danach, dass es lediglich Anthony war, der mich wieder verfolgte. Aber eine kleine Stimme in mir flüsterte „Lauf!“ - Und dann rannte ich los. Rannte so schnell mich meine Beine trugen. Ich huschte zwischen den Bäumen hindurch, wie ein Eichhörnchen über ihre Äste fegen würde. Immerzu das Baby, das nicht meines war, das ich aber um jeden Preis beschützen wollte, an meine Brust gedrückt. - Aus dem Nichts erschien eine Gestalt vor mir. Ich blieb abrupt stehen. Vor mir stand Carlo. Ein Volturi. Ein unwichtiges Mitglied. Weder der Leibgarde noch den allgemeinen Wachen zugehörig. Er hatte keine Gabe. War auswechselbar. Was tat er hier? Er trug ein kleines Kinnbärtchen und einen leichten Oberlippenbart. Der Mund dazwischen formte sich zu einem falschen Lächeln und seine Augenbrauen hoben sich verzückt. „Wohin so eilig, Sangreal?“ Er rollte das „R“ in meinem Namen, als er mit seinem italienischen Akzent mit mir sprach. „Was willst du?“, fragte ich misstrauisch und machte einen halben Schritt zurück. Er legte den Kopf leicht schief. „Aro schickt mich.“ Sein Tonfall war hoch, eingebildet und überlegen. Wahrscheinlich war er froh gewesen, eine so wichtige Aufgabe erhalten zu haben. Kam bei ihm gewiss nicht oft vor. Vielleicht war das auch seine Premiere. „Aro?“, fragte ich, nur um etwas Zeit zu gewinnen. Zeit um nachzudenken und eine Lösung zu finden. Hoffentlich. „Gib mir das Kind und komm mit mir und alles wird gut“, sagte er und streckte mir seine Hand entgegen, wohl damit ich ihm Nayeli überreichte. Niemals, dachte ich. „Ich muss Nahuel Bescheid sagen“, antwortete ich, ignorierte seinen ausgestreckten Arm und wollte an ihm vorbei. Er machte einen Schritt zur Seite und versperrte mir den Weg. „Aro sprach nur von dir und dem Kind.“ Ich ging wieder zurück. Dieses Mal war es ein ganzer Schritt. „Komm. Komm mit mir nach Hause“, säuselte er und trat näher. Ich starrte ihn stumm an. Mein Herz schlug sonst wo, aber garantiert nicht dort wo es hingehörte. Es klopfte überall, als meine Augen seiner Hand folgte, wie sie näher kam. In dem Moment, in dem seine kalten Finger meinen Oberarm berührten, holte ich aus und schlug seinen Arm mit meinem Handrücken von mir weg. „Ich habe kein Zuhause mehr!“, schrie ich und floh in die ihm entgegengesetzte Richtung. Ich wusste, dass ich mich so noch weiter von jenem Ort entfernte, der meine Zuflucht sein sollte. Aber ich fürchtete, dass er mich vielleicht zu fassen bekommen hätte, wenn ich an ihm vorbei gerannt wäre. Als ich aber vor mir nichts als eine endlose Masse an Bäumen erblickte, verfluchte ich mich für diese Entscheidung. Zu allem übel schrie Nayeli nun aus vollem Hals. Ich konnte es ihr nicht verübeln. Ich hätte jetzt zu gern selbst geschrien wie ein Baby, wenn ich wüsste, dass es mir helfen würde. Aber wer sollte mich hier draußen hören? Wahrscheinlich waren wir zu weit vom Haus entfernt, um gehört zu werden. Also rannte ich. Weiter und weiter... Verfolgte er mich noch? Ich hatte Angst mich umzudrehen, da ich dadurch kostbare Zeit verlieren würde, aber ich musste wissen, wo er war, also sah ich in vollem Spurt kurz hinter mich. Ich konnte niemanden sehen. Wo um Himmels willen, war er nur? War er einen anderen Weg gelaufen? Schnitt er mir den Weg ab? Ich wollte gerade wieder nach vorn blicken, da knallte ich mit einem Mal mit voller Wucht gegen etwas Hartes. Zuerst dachte ich, es wäre ein Stein gewesen. Ich landete rücklings auf dem Waldboden und spürte den Aufprall böse am Rückgrat. Noch bevor ich richtig schaute, gegen was ich gerannt war, sah ich hinunter zu Nayeli. Der Kleinen schien es trotz des Stoßes gut zu gehen. Offenbar hatte ich sie gut abgeschirmt. War ja auch nur mein Kopf und mein Arm gewesen, nicht ihrer. „Du bist eine sehr ungezogene junge Dame“, mahnte Carlo, als er mit verschränkten Armen auf mich hinab schaute. Bei seinem Anblick entfuhr mir ein tiefes Knurren. „Das macht dich nicht ansehnlicher“, kommentierte er hochnäsig. Ich funkelte ihn finster an und verstummte wieder. Für einen kurzen Moment war es still. Dann hörte ich plötzlich ein viel bedrohlicheres, tieferes Knurren. Und das kam weder von mir, noch von ihm – und schon gar nicht von der Kleinen. Carlo's Augen weiteten sich. Er sah mich verwundert an, als ob er sich erhoffte, dass ich ihm sagen konnte, woher das Geräusch gekommen war. Aber ich war eben so ratlos, wie er. Bis ich den mir bekannten Duft ausmachte. Weder die Gerüche des Waldes, noch meine Angst schafften es, meinen Geruchssinn zu trüben. Ich würde ihn aus Tausenden ausmachen. Den einzigen Geruch der Welt, den ich je so sehr in mir aufgesogen hatte. In jener Nacht am Kamin. Ich würde ihn nie vergessen. Und dann schoss er plötzlich aus einem Gebüsch unweit von uns entfernt hervor. So blitzschnell, zielsicher und grazil wie ein schwarzer Pfeil, jedoch mit der Wucht eines wutentbrannten gehörnten Stiers. Er schob Carlo einfach in einer einzigen fließenden Bewegung aus meinem Sichtfeld und beide verschwanden im gegenüberliegenden Dickicht. Ich vernahm nur noch ihr Knurren und das Geräusch von Klamotten, die zerfetzt wurden und Porzellan, das brach. Als ein erster Regentropfen auf meiner Hand landete, drückte ich Nayeli erneut an mich und stand auf. Ich überlegte einen Moment, ob ich weglaufen sollte, um wenigstens das Baby in Sicherheit zu bringen. Zweifelsohne hatte er den Volturi angegriffen, um mir Zeit zu verschaffen, aber mein Gefühl hielt mich davon ab, zu fliehen. Ich ging gerade mal drei Schritte, dann blieb ich wieder stehen und spürte, wie das nasse Moos unter mir nachgab. Ich wollte mich gerade umdrehen, da spürte ich, wie sich jemand näherte. Blitzschnell hatte er mein Handgelenk gepackt, mich umgedreht und mit dem Rücken gegen den nächsten Baum gepresst. Ich schrie auf, weil ich ihn zunächst für Carlo hielt, aber als ich, mit der anderen Hand immer noch das Baby an mich drückend, meine Augen aufschlug, sah ich ein Gesicht mit grünen Augen und alabasterfarbener Haut, an dessen Schläfe etwas Blut herunterlief und sich mit dem Regenwasser vermischte. „Geh!“, befahl er und verstärkte den Druck auf mein Handgelenk, dass er immer noch über meinem Kopf gegen den Baum drückte, ehe er es gänzlich losließ. Ich ließ meine Hand sinken, verharrte dann aber in meiner Bewegung und legte sie stattdessen an sein Gesicht. Ich strich ihm den schwarzen Pony zur Seite, der durch ein Gemisch aus Wasser und etwas Blut an seiner Haut klebte. „Nein“, flüsterte ich und sah ihm dabei in die Augen. Für einen Augenblick versank ich in den vielen Grünfacetten. Ich vergaß den Regen, das Donnergrollen über uns und sogar den Vampir im Gebüsch, der nun hinter uns langsam näher kam. Ruckartig drehte Anthony sich um, blieb aber an Ort und Stelle stehen, so als wollte er die Kleine und mich abschirmen. Als ich den Volturi über Anthonys Schulter hinweg musterte, sah ich gerade noch, wie ein Riss auf seinem Gesicht sich verschloss. „Ihr habt Glück, dass Aro es mir nicht gestattet hat, euch einfach abzumurksen!“, fauchte er. Wir antworteten nichts. Lediglich der Himmel grollte noch einmal kräftig zur Antwort. „Aber“, fuhr er fort und kam dabei näher. „Vielleicht vergesse ich mich auch...“ „Na dann komm und versuch es“, provozierte Anthony ihn. - Ende Kapitel 12 (Teil 2) - Kapitel 14: [Sangreal] Versprechen und Vorurteile (Teil 3) ---------------------------------------------------------- Disclaimer: => Ich verdiene kein Geld mit meiner Fanfiction. => Alle Charaktere die schon in den Twilight-Bänden ihren Auftritt hatten, gehören Stephenie Meyer. Alle Anderen, wie etwa Schüler, Lehrer und vor allem Renesmees und Jakes Kinder, habe ich selbst erfunden. UPDATE neue Webseite http://www.chaela.info oder... liked mich auf Facebook http://www.facebook.com/chaela.info --------- Kapitel 12 [Sangreal] Versprechen und Vorurteile (Teil 3) Ruckartig drehte Anthony sich um, blieb aber an Ort und Stelle stehen, so als wollte er die Kleine und mich abschirmen. Als ich den Volturi über Anthonys Schulter hinweg musterte, sah ich gerade noch, wie ein Riss auf seinem Gesicht sich verschloss. „Ihr habt Glück, dass Aro es mir nicht gestattet hat, euch einfach abzumurksen!“, fauchte er. Wir antworteten nichts. Lediglich der Himmel grollte noch einmal kräftig zur Antwort. „Aber“, fuhr er fort und kam dabei näher. „Vielleicht vergesse ich mich auch...“ „Na dann komm und versuch es“, provozierte Anthony ihn. Das ließ er sich nicht zwei Mal sagen. Er sprang mit einem einzigen Satz auf Anthony zu, wie eine Raubkatze auf ihre Beute. Im selben Augenblick machte ich reflexartig einen Schritt zur Seite. Hätte ich das nicht getan, wäre ich wahrscheinlich zum Puffer zwischen Anthony und dem Baum geworden. Andererseits tat er mir Leid, als ich einfach nur zusah, wie er von Carlo mit voller Wucht gegen die Eiche gepresst wurde. Ich hörte wie der Baum, unter dem starken Druck, leicht knarzte. Schließlich konnte Anthony sich aus Carlos Griff befreien, doch kaum dass er seitlich an ihm vorbei wollte, gab der Volturi ihm einen kräftigen Tritt in die Magengegend, woraufhin er zwei Meter über den nassen Boden schlitterte, sich aber sofort wieder aufrappelte, um wieder auf den Vampir loszugehen. Wie zwei wilde Tiger, die ihr Revier verteidigten, attackierten sie einander. Von Menschlichkeit war weder auf der einen noch auf der anderen Seite etwas zu sehen. Abgesehen davon, dass sie auf zwei Beinen standen und offensichtlich wie Menschen aussahen oder zumindest starke Ähnlichkeit mit diesen aufwiesen. Für ein menschliches Auge waren ihre Bewegungen sicher nicht auszumachen, aber ich sah, wie sie sich immerzu schlugen und versuchten den jeweils anderen zu Boden zu zwingen. Aber keiner gab nach und während Carlo mehr auf Kraft setzte, hatte Anthony die Schnelligkeit auf seiner Seite. Das war mir schon auf Mauritius aufgefallen. Immer wieder konnte er Carlos Schlägen ausweichen. Doch mit Flucht gewann man leider keinen Kampf. Das wussten sie beide. Warum verwandelte er sich also nicht einfach und riss ihm als pferdegroßer Panther den Kopf ab? Ich verstand es nicht, aber mir blieb auch keine Zeit mehr, um mir Gedanken darüber zu machen. Ich zwinkerte nur noch ein einziges Mal, dann sah ich, wie Carlo Anthony packte und ihn durch die Luft wirbelte, ehe er drei Meter links von mir wieder gegen die Eiche prallte. Ich hörte erneut ein Knacksen, wusste jedoch, dass es diesmal nicht das Holz war. Er landete ohne einen Ton von sich zu geben im nassen Laub, wobei sein Unterkörper in Richtung des Stammes zeigte. Ich wusste nicht, ob er bewusstlos war oder gleich die Augen aufschlagen würde. Ich wartete gar nicht so lang. Ich spürte nur noch den Zorn in mir. Und wenn ich diesen jetzt nicht nutzte, würde der Volturi wahrscheinlich nicht nur Nayeli töten. Im Bruchteil weniger Sekunden setzte ich das Baby neben Anthony ab und stürmte anschließend auf den Vampir zu, der nach Nayelis Leben und meiner Freiheit trachtete. Dass er nur ein Bote Aros war, interessierte mich nun nicht mehr. Er würde für seine Taten und Absichten bezahlen. Ich wusste nicht, warum es mir so leicht fiel. Vielleicht war es der Zorn gewesen, der es mir so einfach gemacht hatte. Vielleicht hatte es auch daran gelegen, dass ich den Überraschungsmoment auf meiner Seite gehabt hatte. Jedenfalls brauchte ich ihn nur zu packen und ihm mit zwei, drei Bewegungen das Genick zu brechen. Es gab erneut das Geräusch von zerberstenden Porzellan, dann ging er zu Boden. Und dann hörte ich nur noch herabfallende Regentropfen. Nun wieder müde und etwas zittrig, starrte ich auf den leblosen Körper vor mir. Sein schwarzer Umhang war komplett durchnässt und einige Blätter, vom Wind getragen, hafteten nun an ihm. Ich ließ ihn einfach liegen und lief zurück zu Anthony. Er schien noch immer nicht bei Bewusstsein zu sein, also schlug ich ihm ein paar Mal vorsichtig gegen die Wange. Er kniff zuerst die Augen zusammen, dann öffnete er sie. „Hey“, begrüßte er mich heiser. „Hey“, sagte ich ebenfalls und lächelte ihn an. „Alles okay?“, fragte er. Zur Antwort zog ich Nayeli zu mir auf den Schoß, damit er sie sehen konnte. „Ja, gerade nochmal gut gegangen.“ „Warum bist du in den Wald gelaufen?“, wollte er wissen. Ich wusste nicht, ob es ein Vorwurf oder eine Frage war. Ich schluckte kurz. Sollte ich das in dieser Situation wirklich sagen? „Ich weiß, dass es dumm war. Das musst du mir nicht sagen“, antwortete ich einfach, um den Details auszuweichen. „Schon gut, schon gut“, winkte er ab. „Lass uns später streiten. Ich kann gerade nicht beleidigt weglaufen.“ Ich schmollte innerlich. Er wusste also ganz genau, warum ich es getan hatte. Warum fragte er dann? Aber Moment. Das war jetzt nicht wichtig. „Wie meinst du das?“ Meinte er das etwa wörtlich? „Na ja“, sagte er und machte eine Pause, in der ich meinen Blick kurz schweifen ließ. Mir war vor Aufregung bisher entgangen, dass er sehr unbequem da lag und sich noch noch nicht mal im geringsten gerührt hatte. „Ich glaub, ich hab mir die Beine gebrochen“, bestätigte er meine Vermutung. „Oh“, sagte ich. Ich wusste einfach nur nicht, was ich stattdessen sagen sollte, schließlich war ich nicht ganz unschuldig. „Wie lange dauert es... bis das verheilt ist?“ „Das kann schon eine Weile dauern“, antwortete er und machte dann Anstalten den Oberkörper zu heben, ließ sich aber dann wieder entkräftet auf das Laub sinken. Am liebsten hätte ich jetzt gesagt, dass es mir leid tat. Natürlich tat es das. Es tat mir schrecklich Leid, aber irgendwie erschien mir das nun Fehl am Platz. So was sagten sie doch in Filmen in so einer Situation immer, aber würde es helfen? Nein, davon würde er nicht gesund werden. „Kannst du bitte mal mein Handy aus meiner rechten Hosentasche holen?“, bat er. Ich nickte, obwohl er die Augen wieder geschlossen hatte und zog vorsichtig sein Mobiltelefon hervor – oder das was davon noch übrig war. „Das hier?“, fragte ich. Er öffnete die Augen leicht und sah in meine Richtung ohne den Kopf zu drehen. „Scheiße.“ Das Gerät hatte den Kampf genauso wenig heil überstanden wie er. Die Scheibe war total zertrümmert und ein paar Teile der Rückwand lösten sich und landeten im Moos. „Geh los und hol Hilfe“, schlug er nun müde vor. „Und dich lasse ich hier liegen oder was?“, fragte ich empört. „Willst du mich nach Hause tragen?“, entgegnete er. „Nein“, antwortete ich kleinlaut. Wenn ich könnte, würde ich das natürlich. Aber ich hatte ja noch Nayeli und beide zu tragen war selbst für mich nicht möglich. „Na also. Dann geh und hol Hilfe. Ich komme schon klar.“ „Aber es ist dunkel und es regnet und du bist verletzt.“ Er lachte kurz bitter. „Ich habe keine Angst. Nun geh schon.“ Mein Blick wanderte hinüber zu dem, was von Carlo noch übrig war. „Der wird sich in der nächsten halben Stunde wohl kaum von selbst zusammen bauen“, versuchte er meine Angst zu zerschlagen. „Obwohl es auch ziemlich dumm war, ihn umzubringen.“ „Er wollte Nayeli. Was hattest du denn vor?“ „Ich wollte ihn jedenfalls nicht umbringen.“ „Sah aber nicht danach aus“, meinte ich. „Ist ja jetzt auch egal“, beendete er das Thema. „Jetzt geh bitte.“ „Nein“, sagte ich stur. Er brummte und drehte den Kopf zur Seite. Dann bekam ich plötzlich DIE zündete Idee! „Ich hab's!“, machte ich mich gleich daran, sie zu verkünden. „Du verwandelst dich einfach in etwas Kleines, dann kann ich dich und Nayeli ganz einfach zurück tragen!“ „Keine gute Idee“, nahm er mir sofort den Wind aus den Segeln. „Warum nicht?“, fragte ich nun etwas bockig, schließlich hatte ich sie als absolut genial empfunden. „Weil ich das nicht tun werde.“ Jetzt wurde ich langsam wütend. Obwohl er praktisch hilflos vor mir lag, stellte er sich noch so an. „Bist du dir jetzt etwa zu fein, dich mal in was kleines Handliches zu verwandeln?!“ „Nein“, konterte er. „Darum geht es nicht!“ „Natürlich geht es darum. Der Herr will immer den Starken markieren. Ein kleines Tierchen passt ihm nicht ins Image!“ „Was hättest du denn gern?“, antwortete er sarkastisch. „Darf's ein kleines, schwarzes, flauschiges Kaninchen sein?“ „Oh bitte! Jetzt stell dich doch nicht so an, das sieht doch niemand!“ „Außer meiner kompletten Familie. Richtig.“ „Wenn du das nicht machst, dann bleib ich hier solange sitzen, bis deine Knochen wieder verheilt sind.“ „Bis dahin bist du verhungert und Nayeli ein Eiszapfen.“ „Ist sie für mich jetzt schon. Wenn du sie je angefasst hättest, wüsstest du das.“ Zum Beweis legte ich Nayelis kleines Händchen an Anthonys Wange. Er zuckte kurz zusammen. Sie hatte eine menschliche Temperatur und war damit für uns recht kalt. Im Vergleich mit seiner Haut, war ihre auch deutlich dunkler und rosiger. Ich sah ein kurzes Lächeln über seine Lippen huschen, dann nahm ich Nayelis Hand wieder weg. Er seufzte. „Also gut“, sagte er. „Aber nimm bitte meine Sachen mit, ja?“ *** Wenig später rannte ich über die Wiese vor dem Anwesen der Cullens. Wenn er nicht sofort nach seiner Verwandlung wie ein angefahrenes totes Kaninchen ausgesehen hätte, wer weiß, vielleicht hätte ich es niedlich gefunden, wie Nayeli auf meinem Arm wiederum Ani trug, den ich behutsam in seine eigene schwarze Jacke gewickelt hatte. Ich konnte leider nicht ganz so schnell laufen, wie ich es gern tun würde, weil ich immerzu ein wachsames Auge auf das kleine Fellbündel in Nayelis Arm warf. Ich kannte sie inzwischen gut genug, um zu wissen, wie schnell sie das Interesse verlor und zuvor liebgewonnene Spielzeuge in eine Ecke warf. Das Unwetter tobte weiter über unseren Köpfen. Und das Regenwasser-Erde-Gemisch, das den Boden benetzte, spritzte bei jedem meiner eiligen Schritte auf meine Hose. Schon in jenem Moment, in dem ich die letzten Bäume des Waldes hinter mir gelassen hatte, spürte ich, dass ich bereits erwartet wurde. Ich konnte gar nicht so schnell schauen, da stand Mariella schon auf der obersten Verandastufe. Sie hatte die Arme verschränkt und sah ziemlich sauer aus. Die große Schwester, immerzu um ihren kleinen Bruder besorgt. Na gut, sie hatte jeden Grund dazu – und mein schlechtes Gewissen und ihre finstere Miene spazierten Hand in Hand. Ich würde mich am liebsten jetzt auch in etwas winzig kleines verwandeln und unter die Treppe krabbeln. „Was ist passiert?“, fragte sie sofort. „Wo warst du? Und wo ist A-“ Sie verstummte mit offenem Mund. Ihr Blick war hinunter zu Nayeli gewandert. Man sah nur ein sehr kleines bisschen Fell zwischen dem ganzen Stoff der Jacke, aber für Mariella schien das mehr als genug zu sein. „Du meine Güte!“, rief sie aus, schob ohne zu zögern, jedoch immer noch behutsam ihre beiden Hände unter Anis Jacke und hob das gesamte Päckchen aus Nayelis Armen, ehe sie es ganz nah an ihre Brust hob und vorsichtig den Stoff beiseite schob. Sie kraulte das Kaninchen mit den geschlossenen Augen, während ihre Eigenen sich mit Tränen zu füllen begannen. Sie hatte ihren Blick gesenkt, daher sah ich sie nicht, aber ich roch das Salz. 'Es tut mir Leid', wollte ich flüstern. Wieder mal. Aber ich kam gar nicht dazu. „Das ist nicht dein Ernst“, sagte sie zitternd. Ich wusste nicht, ob sie mich meinte oder ihren Bruder. Ich wollte zur Antwort den Mund aufmachen, die Entschuldigung aussprechen, doch sie drehte sich um und rief weinend und mit gebrochener Stimme: „Carlisle!“ Dann ging sie schnellen Schrittes zurück ins Haus. Ich trat nun ebenfalls durch die Tür und wollte ihr folgen, doch kaum hatte ich sie betreten, umfassten ein paar bräunliche Finger meinen Oberarm und zogen mich zur Seite. „Komm“, befahl Nahuel. „Nein“, protestierte ich. „Ich will bei ihm bleiben.“ „Du hast genug getan.“ Na danke, die Worte klangen wie eine Ohrfeige. Selbst Nahuel. Er hatte nie den Eindruck gemacht, Anthony sonderlich zu mögen. Aber gut, das musste ja nichts heißen, schließlich muss jemanden nicht zu mögen nicht gleichbedeutend damit sein, ihm den Tod zu wünschen. „Nayeli steht sicher unter Schock. Es ist wichtig, dass wir uns jetzt erst mal um ihr Wohl kümmern. Anthonys Familie wird schon nach ihm schauen.“ Natürlich. Wir waren ja kein Teil davon. Wir waren nur Gäste. Nahuel verstand es immer wieder mich aus meinen Träumen zu reißen. Ich hatte mich beinahe zuhause gefühlt. Er ließ keinen Protest zu und zog mich nun, noch immer meinen Oberarm umschließend, hinter sich her. In meinem Zimmer ließ er mich auf dem Bettrand Platz nehmen. Er ging ans andere Ende des Raumes und holte einen nostalgischen Holzstuhl, der neben meinem Kleiderschrank stand. Er war wahrscheinlich nur zur Deko gedacht, aber Nahuel kümmerten derlei Dinge nicht. „Was ist passiert?“ Er stellte die selbe Frage wie zuvor Mariella. „Carlo“, antwortete ich nur. Nahuel öffnete den Mund leicht, ohne ein Wort zu sagen. Er kam auch nicht dazu, denn im nächsten Moment ging die Tür auf. Ohne das zuvor jemand anklopfte, flog sie schwungvoll auf und knallte dabei gegen die nächste Wand. Anthonys Vater kam hereingestürmt. Hinter ihm folgten Emmett und Edward. „Jacob“, sagte Nahuel müde. „Bitte lass sie sich ausruhen.“ „Das kann sie später noch“, fuhr Jacob ihn an. „Es ist sehr wichtig, dass wir schnellstmöglich erfahren, was im Wald passiert ist“, sagte Edward sachlich. Nahuel schien erneut etwas kontern zu wollen, nickte aber dann, wand den Blick von ihnen ab und musterte anschließend mich. „Schon okay“, sagte ich. Er nickte erneut. „Also“, begann Jacob zu mir gewandt. „Ich wurde angegriffen“, versuchte ich möglichst ruhig zu antworten, aber es fiel mir schwer, während dem Sprechen nicht zu zittern. Wenn ich daran dachte, wie die beiden im Wald aufeinander losgegangen waren, durchfuhr ein Schauer meinen ganzen Körper. „Von Carlo. Einem Volturi.“ „Also doch“, kommentierte Emmett. „Was wollte er?“, fragte Edward. „Er wollte Nayeli töten und mich zurück nach Volterra bringen.“ „Aber du hast dich geweigert.“ Edwards Worte waren keine Frage, sondern eine Feststellung. Ich nickte. „Und du bist geflohen, bis Anthony kam, um dir zu helfen.“ „Wo ist der Blutsauger jetzt?“, fragte Jacob zornig. „Tot“, antwortete Edward. Nahuel hatte mir erzählt, wozu er in der Lage war. Zum ersten Mal war ich froh, dass er meine Erinnerungen in meinen Gedanken sah, so brauchte ich wenigstens nicht mehr reden. Die Bilder in meinem Kopf allein reichten mir aus, um mein Herz zum rasen zu bringen. „Hat Ani ihn getötet?“, fragte Jacob. Wahrscheinlich gab es für ihn als stolzen Papa gar keine andere Option, als dass sein Sohn diesen Kampf gewonnen haben musste. „Nein, Sangreal hat es getan.“ Über Edward Cullens Lippen huschte ein ganz zartes verschmitztes Lächeln, als er die Worte aussprach und mich ansah. Jacobs Blick hingegen wanderte von Edward aus zu mir. „Sie ist stärker, als sie aussieht“, warf Nahuel ein. Offenbar genoss er Jacobs verblüfften Gesichtsausdruck genau wie Edward. Ich konnte ihre Begeisterung nicht teilen. Ich wünschte, ich hätte ihn nicht töten müssen. Aber ich bereute es dennoch nicht. „Emmett“, sagte Edward und drehte sich zu seinem Bruder um. „Bitte geh mit Jasper und Alice in den Wald und such nach dem Leichnam. Und vergesst den Kopf nicht.“ Jacob sah noch verdutzter aus. „Interessantes Mädchen.“ Nun huschte auch über meine Lippen ein kleines kurzes Lächeln. Aus mir unbekannten Gründen wog Jacobs Meinung über mich besonders viel. Vielleicht lag es daran, dass ich seinem Sohn so nahe stand – oder gestanden hatte. Das musste ich erst noch herausfinden. Emmett verließ den Raum und wurde direkt durch Carlisle ersetzt, der nach seinem Abgang durch den Türrahmen eintrat. „Doc, wie geht es Ani?“, wollte Jacob sofort wissen. „Oh, er schläft“, antwortete der freundliche Vampir mit dem blonden Haar ruhig. Es war nicht zu übersehen, dass er eigentlich mit mir sprechen wollte. „Ich denke ihr wisst alle beide, dass euer Handeln ziemlich dumm war“, tadelte er. Ich ließ den Blick sinken und nickte betroffen. Natürlich war es das. Sehr, sehr, sehr dumm sogar. „Wir hatten ausdrücklich vor Alleingängen gewarnt.“ „Ich weiß“, antwortete ich leise. „Ich hab in dem Moment nicht nachgedacht. Es tut mir Leid.“ „Reue ist immer ein guter Schritt in die richtige Richtung“, sagte Carlisle freundlich. „Du kannst das Geschehene nicht rückgängig machen. Aber ein paar Antworten würden mir vielleicht etwas die Dunkelheit in meinem Kopf erhellen.“ „Natürlich“, sagte ich. „Hat Anthony sich verwandelt um dich zu verteidigen?“ Ich schüttelte den Kopf. „Ähm, Carlisle... Kaninchen sind jetzt nicht unbedingt die beste Wahl, um einen Blutsauger zur Strecke zu bringen.“ Die Aussicht, dass es seinem Kind offenbar gut ging, schien Jacob derart zu erheitern, dass er schon anfing kleine Witze zu reißen, die aber wohl niemand, außer ihm, sonderlich erheiternd fand. Edward warf ihm einen finsteren Blick zu. Carlisle jedoch ignorierte dessen Kommentar und sah mich weiterhin unverwandt an. „Er war verletzt und ich habe mich geweigert, ihn allein zu lassen, um Hilfe zu holen. Also hab ich ihn gebeten, sich in etwas zu verwandeln, das ich problemlos tragen kann. Zuerst hat er sich dagegen gesträubt, aber da ich stur blieb, hat er nachgegeben.“ Edward lächelte wieder. „Dein Gedankengang ist nachvollziehbar“, meinte er zu mir. „Aber er hat sich nicht dagegen gewehrt, weil es ihm peinlich war.“ „Nicht?“, fragte ich verwundert. „Er tat es, weil ich ihm verboten hatte, sich zu verwandeln, bis die Folgen von Caius' Angriff nicht vollkommen verheilt waren“, klärte Carlisle mich auf. „Ach so...“ „Jede Verwandlung wirft seinen Genesungsprozess durcheinander und verlangsamt die Heilung, weil die durch Caius' Gift verletzten Organe in einer anderen Form wieder anders funktionieren müssen. Aber die Verwandlung allein war nicht das größte Übel. Die Wahl seiner Tierform war äußert unglücklich gewählt.“ „Warum das?“, wollte ich wissen. Mein Gewissen war ohnehin schon derart strapaziert, dass ich nun auch wissen wollte, warum die Idee mit dem Kaninchen nicht sehr klug gewesen war. „Ein Kaninchen hat zunächst einmal einen vollkommen anderen Magen-Darm-Trakt, als unsereins.“ „Oh...“ Ich hatte verstanden. Pflanzenfresser. „Anthony ist ohnehin schon auf einer besonderen Diät“, sagte Edward. „Diät?“ „Er war seit dem Vorfall in Volterra nicht mehr in der Lage menschliche Nahrung zu verdauen, was ihn stark einschränkte. Im Gegensatz zu Mariella hat er auch eine gute Pizza selten verschmäht.“ Carlisle nickte ob Edwards Worten. „Zum jetzigen Zeitpunkt kann ich leider nicht sagen, wie es für ihn in Sachen Ernährung weitergehen wird. Aber wie gesagt, das ist leider nicht der einzige Haken. Du musst bedenken, dass ein großes Tier mit Verletzungen viel besser zurecht kommt, als ein Kleines.“ Deswegen hatte er sich also nicht mehr gerührt. „Richtig“, bestätigte mich der Vampir mit dem bronzefarbenen Haar. „Zwei gebrochene Hinterläufe sind für ein Kaninchen vergleichbar mit einem mehrfachen Rippenbruch beim Menschen. Äußerst Schmerzhaft.“ „Daran hab ich nicht gedacht...“ „Es war nicht ganz einfach, ihn dazu zu bringen sich zurück zu verwandeln.“ Jacob grummelte. „Ich weiß genau wie es ist, wenn Carlisle einem die Knochen brechen muss, weil alles falsch zusammenwächst, wenn man sich in verwandelter Form etwas bricht.“ Ich schluckte und starrte Jacob mit weit aufgerissenen Augen an. „Keine Angst“, sagte Edward nun freundlich. „Jacob erinnert sich lediglich an einen Vorfall vor einigen Jahren.“ „Jahrzehnte“, korrigierte Jacob. Edward redete einfach weiter: „Es war in Anthonys aktuellem Fall nicht nötig, ihm irgendetwas zu brechen, weil er sich gar nicht so schnell heilen konnte.“ „Es kommt mir vor wie aus einem anderen Leben.“ Jacob redete an Edwards Worten vorbei. „Ich frage mich was für Anthony wohl schlimmer wäre?“, warf Carlisle ein. „Ob er ein erneutes Knochenbrechen vielleicht der Bettruhe vorgezogen hätte?“ Nun lachten alle Drei. Aber mir war gar nicht zum Lachen zumute... *** „Möchtest du nicht lieber erst mal schlafen und morgen nach ihm schauen?“, fragte Nahuel und legte seine dunkle Hand auf meine Schulter. Ich schob sie weg und schüttelte den Kopf. Ich wusste nicht, was er hier überhaupt suchte. Seit über einer Stunde stand ich nun schon hier, darauf wartend, dass ich in Anthonys Zimmer durfte. Nahuels Anwesenheit machte mich nervös und es wäre mir lieber gewesen, wenn er mich allein gelassen hätte. „Du kannst ruhig schlafen gehen. Ich kann sehr gut allein warten.“ Er sah mich an und schien etwas antworten zu wollen, tat es aber nicht. Stattdessen nickte er und ließ mich endlich allein. Seine übertriebene Fürsorge fühlte sich für mich inzwischen so an, wie das Leben in einem Käfig. Ich wollte meine eigenen Entscheidungen treffen und gehen, wohin es mir beliebte und nicht immer nur das tun, was Nahuel von mir verlangte. Auch wenn er mir sehr wichtig war und alles, was von dem bisschen Familie, dass ich je zu spüren bekommen hatte, noch übrig war. Eine weitere halbe Stunde später kam Edward, ob nun zufällig oder nicht, hinunter in die Kellerräume. „Warst du immer noch nicht bei ihm?“, fragte er. Ich schüttelte den Kopf. Er lächelte, sagte „Moment“ und verschwand dann hinter der Tür vor mir. Ich konnte nicht anders, als an ihr zu lauschen, wusste ich doch, das Mariella dort drin war und sich sicher nicht einfach so zurückziehen würde. „Aber sie ist doch schuld daran!“, beschwerte Anthonys Schwester sich. „Mehr oder weniger. Trotzdem will er sie sicher bei sich haben.“ Ein Moment der Stille folgte, ehe er fortfuhr: „Was denn? Du warst doch selbst der Ansicht, dass er sie zu mögen scheint.“ „Du solltest dich etwas weniger in meinem Kopf aufhalten“, riet sie ihm, dann hörte ich, wie ihre Schritte näher kamen und lehnte mich zügig wieder an die der Tür gegenüberliegende Wand. Eine Sekunde später verließ Mariella den Raum und warf mir den 'Ich hatte dir doch gesagt tu ihm nicht weh und wenn du noch einen Fehler machst, kauf dir einen Sarg'-Blick zu. Edward folgte ihr und zwinkerte mir noch kurz zu. Ich wartete noch, bis sie um die nächste Ecke gebogen waren, ehe ich das Zimmer betrat und die Tür möglichst leise hinter mir schloss. Es war das erste Mal, dass ich Anthonys eigenes Zimmer sah. Es war ziemlich spärlich eingerichtet. Abgesehen von einer Kommode neben der Tür und einem Schreibtisch im hinteren Eck, stand da nur noch sein Bett samt Nachttischchen. Der meiste Raum blieb ungenutzt, aber ich führte dies darauf zurück, dass er sich hier nicht oft aufhielt. Er lag auf dem Rücken und hatte die Augen geschlossen, als ich mich dem Bett näherte. Ich versuchte ganz leise zu sein, um ihn ja nicht zu wecken, aber kaum dass ich bei ihm angekommen war, öffnete er die Lider und sah mich an. Mein Herz machte einen kleinen Hüpfer. Ich wusste nicht was ich sagen sollte, konnte meinen Blick aber auch nicht abwenden. Als ich nervös einen Schritt zurück machen wollte, umschlossen seine Finger plötzlich meine Hand. Ich sah zu ihr hinunter und dann wieder zu ihm, der sanft den Kopf schüttelte und mir dann mit einer Kopfbewegung andeutete, dass ich mich auf die Bettkante setzen konnte. Doch selbst als ich saß, ließ er mich noch immer nicht los. „Es tut mir Leid“, sagte ich dann leise. Seine Finger lösten seinen Griff. Zuerst dachte ich, dass ich was falsches gesagt hätte, doch er brauchte seine Hände lediglich, um sich ab zu stützen und sich aufrecht hinzusetzen, schließlich konnte er sich nicht mithilfe seiner Beine nach oben schieben, wie man es normalerweise tun würde, wenn man sich aufsetzen mag. „Ich wollte dir nicht weh tun“, beteuerte ich. Er hob eine Augenbraue. „Natürlich.“ Der Sarkasmus in seiner Stimme war kaum zu überhören. Ich wusste worauf er anspielte. „Nicht auf diese Weise“, sagte ich und deutete auf den Teil der Decke, unter dem seine Beine lagen. „Mhm...“, murmelte er nur. „Ich verleugne ja gar nicht, dass ich dich bestrafen wollte, weil du mir so gemeine Dinge vorgeworfen hast. Aber das hier wollte ich wirklich nicht. Ich meine, du hast mein Leben wirklich auf den Kopf gestellt. Ich hatte meinen Platz in Volterra, habe die Welt, die Aro um mich herum geschaffen hat, niemals in Frage gestellt und war zufrieden mit meinem Leben, aber dann kamst du und plötzlich war alles anders. Ich wollte frei sein. Die Welt sehen. Mein bisheriges Leben reichte mir nicht mehr. Ich wollte mehr. Viel, viel mehr und -“ Er ließ mich nicht ausreden. Plötzlich legte er seine warmen Hände an mein Gesicht und küsste mich. Ein zartes Kribbeln durchfuhr mich wie eine Welle vom Kopf bis zu den Zehenspitzen. Ich wehrte mich nicht dagegen. Warum sollte ich? Es war viel zu schön und im Grunde hatte ich mir nicht sehnlicher gewünscht, als diesen Streit endlich zu begraben. Ich schloss meine Augen und begann seinen Kuss zu erwidern. Er ließ sich langsam wieder herab auf sein Kissen sinken. Doch selbst, als er dann unter mir lag, lösten wir uns nicht voneinander. Diesmal war es kein feuriger, gieriger Kuss, wie wir ihn vor dem Kamin gehabt hatten. Dennoch war er nicht weniger intensiv. Ich nahm ganz genau wahr, an welchen Stellen er mich berührte. Seine Lippen, die angenehm warm auf meinen lagen. Seine Hand, die mein Haar streichelte. Ich spürte, wie eine meiner Strähnen von meiner Schulter rutschte und knapp neben seinem Gesicht landete. Er lachte zaghaft, nahm meine dunkelbraune Strähne und wickelte sie mit ein paar sanften Drehungen um seinen Finger. Er hob sich wieder ein kleines Stückchen vom Bett ab, legte die rechte Hand an mein Gesicht und küsste mich sanft auf die Wange, während er mir mit der anderen Hand die Strähne hinters Ohr legte. Ich lächelte ihn an. Ich fand einfach keine Worte in diesem Moment. Aber das war auch nicht weiter schlimm. Ich bettete meinen Kopf auf seiner Brust und schloss die Augen. Alles was ich nun noch hörte, war sein schlagendes Herz, dessen immer gleicher Rhythmus, ein klein wenig schneller war, als der eines Menschen und der mich langsam ins Land der Träume sinken ließ... *** „Du bist besessen von Hass!“, schrie Edward. Es war inzwischen knapp eine Woche her, dass ich den Volturi im Wald getroffen hatte. Die komplette Familie Cullen saß zusammen mit Nahuel und mir im Wohnzimmer. Wir saßen fast in der selben Konstellation, wie wir es kurz vor meinem Eintreffen getan hatten. Anthony stand an seiner Stelle nahe der Wand. Seine Verletzung war noch nicht ganz verheilt und man sah ihm an, dass ihm das Stehen und Laufen noch Schmerzen bereitete. Ich kam nicht umhin, es langsam als reine Provokation anzusehen, dass er sich einfach nicht hinsetzte. Wenn es darum ging genau das Gegenteil von dem zu tun, was Andere von einem verlangten, verhielt er sich oft wie ein bockiges Kind – soviel hatte ich schon mitbekommen, seit ich ihn kannte. „Das stimmt doch gar nicht“, konterte er. „Welchen anderen Grund hast du noch? Die Halbvampire sind bereits tot und Sangreal ist hier. Es gibt kein anderes Motiv mehr, um bei den Volturi einzufallen, Anthony!“ „Wollt ihr etwa abwarten, bis sie bei uns einfallen?!“, schrie er fast. „Wollt ihr tatenlos zusehen, wie sie tun und lassen, was sie wollen?“ „Das tut die Welt der Vampire seit Jahrhunderten“, sagte Carlisle. „Dann wird es erst recht Zeit, sich endlich dagegen zu wehren!“, meinte Anthony zu Carlisle gewandt, ehe er wieder uns alle ansah. „Es ist doch unausweichlich“, fuhr er fort. „Einen von ihnen haben sie ja schon geschickt und wir haben ihn getötet. Das werden sie nicht auf sich sitzen lassen!“ „Wir haben ihn nicht getötet“, warf Mariella ein und betonte das 'Wir' überdeutlich. Sie war noch immer nicht gut auf mich zu sprechen. Alles gut Zureden von Seiten ihres Bruders hatte nicht geholfen. Ich hoffte insgeheim, dass ich eines Tages wieder gut mit ihr auskommen würde können. Die Ewigkeit war mir doch ein wenig zu lang, um zu streiten. „Ich hab es dir schon einmal gesagt, Anthony“, sagte Edward nun ruhiger. „Alles zu seiner Zeit. Für die Volturi haben Jahre keine Bedeutung. Wir werden gar nichts auf sich beruhen lassen. Die Volturi werden für das Büßen müssen, was sie getan haben, das verspreche ich dir. Aber... nicht jetzt. Nicht heute. Auch nicht morgen.“ „Wann dann? Edward, sie haben doch schon-“ „Nein!“, Edward unterbrach ihn forsch. „Merkst du das denn nicht? Der Hass und deine Gedanken an Rache, fressen dich auf! Du machst dich kaputt, du zerstörst dich selbst! Immer wieder kommst du mit dem selben Thema an. Du lässt dir selbst keine Ruhe. Ich weiß, dass du stark bist, sogar sehr stark. Aber all die Dinge, die in den letzten Monaten passiert sind, all diese Dinge, sind selbst für dich zu viel. Vor ein paar Monaten bist du dem Tod knapp von der Schippe gesprungen. Die Folgen von damals, nagen noch immer an dir. Du bist momentan nicht mal mehr ein Halbvampir und ein Gestaltwandler ebenso wenig.“ Ich konnte förmlich spüren und sehen, wie Anthonys Fassade zu bröckeln begann, während Edward sprach. Sein Körper wurde schlaffer, die Anspannung und der Widerstand wurden geringer. „Weißt du, vor fast vierzig Jahren war ich wirklich sauer auf Jake, weil er mit meiner Tochter geschlafen hatte“, sagte er nun und ringsherum wurden die Augen größer. „Dad!“, beklagte sich Renesmee, aber ihr Vater ignorierte sie. „Ich hätte ihm am liebsten den Kopf abgerissen. Nach Renesmees Geburt hatte ich eigentlich gedacht, es wäre nun vorbei mit den Wundern in unserer Familie. Aber ich hatte mich geirrt und mein Kind hat mich eines besseren belehrt. Ich hab mich immer für ein Monster gehalten. Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals im Leben Enkel haben würde. Ich habe das für unmöglich gehalten, weil ich im Zeitfluss eingefroren bin bis in alle Ewigkeit. Und als dann der Tag eurer Geburt kam, an diesem einen 21. November und Nessie nach der Geburt von William und Mariella in dieser Badewanne lag, da waren wir erst mal alle total überfordert. Nessie war so müde und keiner hatte mit dir gerechnet, weil ich deine Gedanken in ihrem Bauch nicht hatte hören können. Aber Nessie war von der ersten Sekunde an wild entschlossen, dein Leben zu retten, koste es was es wolle und wenn der Preis ihr eigenes Leben war. Sie hat um dein Leben gekämpft – und gewonnen. Und jetzt zu sehen, wie leichtfertig du dieses Leben, dass sie so verzweifelt retten wollte, immer und immer wieder aufs Spiel setzt, schmerzt. Es schmerzt mir. Aber wenn es mir schon so weh tut, was glaubst du dann, wie sehr es meiner Tochter weh tut.“ Ich nahm sofort den Salzgeruch in der Luft wahr. Renesmees Tränen. Anthony schien es auch gerochen zu haben, denn er senkte den Blick. „Bitte lass diesen Kampf nicht umsonst gewesen sein und ruh dich endlich aus.“ Anthony sah ihn nicht an, aber er nickte. Nun wurde Edwards Stimme wieder etwas fröhlicher. „Aber weißt du was?“, fragte er. „Mhm?“, murmelte Anthony und sah ihn wieder zaghaft an. „Ich zweifle immer noch daran, dass Vampire eine Seele haben. Bei Halbvampiren war ich mir bisher nicht so sicher. Aber dank dir weiß ich nun, dass zumindest Halbvampire eine Seele haben müssen. Du musst eine Armada an Schutzengeln haben. Anders kann ich mir dein Glück nicht erklären.“ Ringsherum lachten alle. Einige lauter, andere leiser, aber im allgemeinen war die Stimmung besser, als wenige Sekunden zuvor. „Kann schon sein“, sagte Anthony nur dazu. Er wirkte immer noch bedrückt. Edward ging zu ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Du hast mein Versprechen. Die Volturi werden bezahlen. Aber wir werden diesen Kampf nicht allein kämpfen...“ - Ende Kapitel 12 - Kapitel 15: Verbündete (Teil 1: Augen die niemals lügen") --------------------------------------------------------- Disclaimer: => Ich verdiene kein Geld mit meiner Fanfiction. => Alle Charaktere die schon in den Twilight-Bänden ihren Auftritt hatten, gehören Stephenie Meyer. Alle Anderen, wie etwa Schüler, Lehrer und vor allem Renesmees und Jakes Kinder, habe ich selbst erfunden. Webseite http://www.chaela.info oder... liked mich auf Facebook http://www.facebook.com/chaela.info --------- Kapitel 13 - "Verbündete" (Teil 1: Augen die niemals lügen) Mit einigen geübten Handgriffen zog ich den seidenen Stoff durch die Schlaufe und zog anschließend den Knoten meiner Krawatte an meinem Kragen fest. Wenn etwas gab, was Alice mir beigebracht hatte, dann wie man sich als Gentleman zu kleiden hatte – und wie man eine Krawatte richtig band. Ich trat ein paar Schritte zurück, um mich im Spiegel zu betrachten. Die Krawatte hatte fast den selben dunklen Grünton, wie meine Augen. Ja, so würde ich sicher nicht negativ auffallen, sagte ich mir und nickte dem Spiegelbild zu, ehe ich aus dem Badezimmer trat und durch den stockfinsteren Keller lief, um in mein Zimmer zurückzugehen. Als ich es jedoch betrat, musste ich feststellen, dass ich nicht allein hier war. Da mein Blick eher auf den Boden gerichtet gewesen war, war es selbstverständlich zunächst einmal der grüne, zart glänzende Satinstoff gewesen, der meine Aufmerksamkeit erweckt hatte. Genau der selbe Grünton wie der meiner Krawatte – und damit der meiner Augenfarbe. Aber ich blieb natürlich nicht am Saum kleben, sondern ließ meinen Blick langsam nach oben wandern. Der weich fließende Stoff schmeichelte ihrer perfekten Silhouette. Sie hatte mir ihren entzückenden Rücken zugewandt und ich kam nicht umhin, ein paar Sekunden länger an gewissen Stellen zu verweilen, als eigentlich notwendig. An der Stelle an der das rückenfreie, bodenlange Kleid ihre alabasterfarbene Haut freigab, begannen die leicht gekräuselten Haarspitzen ihrer Hochsteckfrisur. Das dunkle Braun harmonierte so schön mit der Farbe des Kleides und der ihrer Haut, dass man meinen könnte, sie sei direkt aus einem Gemälde getreten. Sie war so schön – und ich so angewurzelt. Als sie sich mit einer sanften, geschmeidigen Bewegung umdrehte, riss sie mich aus meiner Trance und ich griff erschrocken nach der Kommode, die neben dem Türrahmen stand, damit es so aussah, als hätte ich die ganze Zeit nichts anderes im Sinn gehabt. Sie kam näher und ich stellte mich vor das Möbelstück, riss die Schublade auf und begann darin herum zu wühlen. „Bist du noch nicht fertig?“, fragte sie mit einer Stimme, die nur zu einer solch schönen jungen Frau passen konnte. „Nein, ich äh...“, antwortete ich, wusste aber nicht, wie ich den Satz beenden sollte und griff nach einer silbernen Rolex, die sonst immer in den Untiefen meiner Klamotten lag und die ich wahrscheinlich irgendwann, in den letzten dreißig Jahren, zum Geburtstag bekommen hatte. Ich drehte mich zu Sangreal um, ohne sie anzusehen und wollte die Uhr anlegen. „Warte“, sagte sie. Sie griff nach meinem Handgelenk und nahm mir dieses Vorhaben ab. „Hat Alice dir die Haare gemacht?“, fragte ich, um die aufkeimende Stille zu brechen. „Rosalie“, antwortete Sangreal. „Das Kleid hab ich aber mit Alice ausgesucht.“ Jetzt war mir auch klar, warum ich keine von meinen Krawatten hatte nehmen dürfen... „Alice hat ein Händchen für so was“, kommentierte ich. „Das stimmt“, sagte sie. „So.“ Das war dann wohl das Zeichen für mich, dass sie die Uhr nun befestigt hatte. Doch sie ließ mich nicht sofort los. Ihre zarten Finger, die die selbe Temperatur, wie meine hatten, strichen zunächst über die Innenseiten meiner Handfläche, ehe sie ihre Hand komplett auf meine legte. Aneinander gelegt, war es noch deutlicher, was für eine kleine, zarte Hand sie doch hatte. Ich musste daran denken, dass sie mich noch vor wenigen Wochen gerettet und einem Volturi den Kopf im wahrsten Sinne des Worte verdreht hatte und musste schmunzeln. Sie musterte zunächst noch unsere beiden Hände, dann hob sie den Blick und sah mich an. Es waren ihre Augen gewesen, die mir, bevor wir uns wirklich kannten, bewusst gemacht hatten, wie ähnlich wir uns waren. Sie war ein Halbvampir, genau wie ich und doch hatten sie sich rot gefärbt, weil sie menschliches Blut trank. So sehr mich das damals allerdings fasziniert hatte , es kam mir jetzt töricht vor, war ihre wirkliche Augenfarbe doch soviel schöner. Nun da sie die letzten Wochen über auf Tierblut umgestiegen war, sah man schon mehr als deutlich, in welche Richtung die Farbe einschlug: silbergrau. „Deine neue Augenfarbe steht dir“, flüsterte ich fast. Sie sah geschmeichelt weg. „Danke. Aber es ist schade, dass ich sie nicht mal selbst wusste.“ Dann hörten wir, wie jemand die Treppe hinunter kam, horchten auf und traten vor die Tür. Im Kellerflur stand meine große Schwester, ebenfalls wunderhübsch herausgeputzt. Sie trug ein dunkelviolettes Kleid und offene Haare, die jedoch deutlich welliger und voluminöser waren, als sonst. „Seid ihr zwei so weit?“, fragte sie etwas ungeduldig. Ich verdrehte die Augen. „Ja, Schwesterherz.“ Mariella lächelte, verdrehte sie ebenfalls und machte dann auf dem Absatz kehrt. Sangreal und ich folgten ihr. Am Ende der Treppe stand Seth. In Schale geworfen und mit zurückgelegten Haaren, reichte er Mariella die Hand und half ihr die letzte Stufe hoch. Wie nicht anders zu erwarten, passte seine Krawatte wiederum zu ihrem Kleid. „Na, seid ihr bereit für den großen Showdown?“, fragte er erheitert. Wir lachten nur vereinzelt, ohne eine genaue Antwort zu geben, dann traten wir ins Wohnzimmer. Zumindest das was davon noch übrig war. Hätte ich nicht mit Sicherheit gewusst, dass es dieser Raum sein musste, hätte ich ihn für einen anderen gehalten. Alice hatte den Raum, mit allen Regeln der Kunst, in ein romantisches Setting verwandelt. „Wow“, kommentierte Sangreal treffend. Ich nickte nur. Ich kannte das Prozedere ja schon längst und wusste um das Talent meiner Großtante, wenn es darum ging, Orte und Leute aufzuhübschen, die aufgehört hatten, sich dagegen zu wehren. „Ani!“, hörte ich dann, wie meine Mutter meinen Kosenamen rief und sah, wie sie im nächsten Moment mit einigen schnellen, jedoch deswegen nicht weniger grazilen Schritten, auf mich zugelaufen kam. Sie trug ein Cocktailkleid in ihrer Lieblingsfarbe: Türkisblau. Mit einem strahlenden Lächeln nahm sie meine Hand und zog mich von Sangreal, Seth und Mariella fort. „Tut mir Leid, ich muss ihn mal kurz entführen“, strahlte sie sie alle an. „Kommst du bitte kurz mit?“ Ich nickte und ließ mich von ihr nach draußen bugsieren. Dort sah alles aus, als hätte man es direkt aus einem Hochglanzmagazin gezogen: strahlender Sonnenschein knallte vom Himmel, es wuchsen Blumen um uns herum, die hier noch nie gewachsen waren (und von Alice wahrscheinlich gepflanzt wurden) und die Holzbänke rochen noch so sehr nach Wald, als hätte man sie eben erst nebenan gefällt und zusammen gezimmert. Aber all das wurde noch von dem gigantischen, blumigen Pavillon überschattet, der nun auf der großen Wiese stand und unter den mich meine Mutter führte. Und dann wusste ich auch, was der Grund für das Gelaufe war. In der Mitte, direkt vor der großen Torte standen Esme Bella, Edward, mein Vater und ein Haufen sowohl weibliche als auch männliche Vampire, die ich nicht kannte oder zumindest nicht zuordnen konnte. „Oh, bebé linda“, sagte ein der Vampirfrauen zu meiner Mutter gewandt und richtete ihre Worte anschließend an Bella. „Bella, deine Tochter ist noch immer der selbe strahlende Sonnenschein, den du uns damals so einfühlsam vorgestellt hast.“ Bella lächelte zur Antwort. „Ich muss meiner Gefährtin recht geben“, sagte nun der dunkelhaarige Vampir zu ihrer Linken. „Von der tieftraurigen, besorgten jungen Dame unserer letzten Begegnung, ist nun zu uns aller Freude keine Spur mehr zu sehen.“ „Es tut mir Leid, dass ihr das alles mitansehen musstet, aber ich war euch trotz allem sehr dankbar, dass ihr den weiten Weg zu uns gekommen seid, um zu helfen, auch wenn ich es damals nicht zeigen konnte“, entschuldigte meine Mutter sich bei den Unbekannten. Ich wusste nach wie vor überhaupt nicht, wovon sie sprachen und stand zunächst, wie bestellt und nicht abgeholt, neben ihr, bis sie mich schließlich doch noch in ihr Gespräch einbanden. Der dunkelhaarige Vampir, der zuletzt gesprochen hatte, reichte mir seine kalte, bleiche Hand zum Gruß. „Hallo Anthony. Ich bin Eleazar und dies sind meine Gefährtin Carmen und unsere engsten Vertrauten Tanya, Kate und Garrett. Wir sind sehr froh, dass sich für deine Familie und dich doch noch einmal alles zum Guten gewandt hat und es tat mir sehr Leid, das mein 3000-jähriges Wissen nicht ausreichte, um dir zu helfen.“ Ich schüttelte seine Hand, verstand aber immer noch nichts und weil ich zu feige war, um direkt zu fragen, aber auch kein blödes Gesicht machen wollte, damit sie mich aufklärten, fuhr ich meinen Schild herunter und richtete meine Frage einfach stumm an Edward. Um was geht es hier eigentlich? Edward lachte verschmitzt und legte Eleazar eine Hand auf die Schulter, kaum das unsere Hände sich voneinander gelöst hatten. „Verzeihung, Eleazar. Mein Enkel kommt sich sicher gerade so vor, als schaute er die Fortsetzung eines Films, den er verpasst hat. Wir haben es bisher leider versäumt, ihm von eurem Besuch zu erzählen.“ „Oh“, sagte Eleazar. „Nun denn.“ Edward nickte ihm zu und der mir fremde Vampir fuhr fort. „Wir sind alte Freunde der Familie und haben unseren Ursprung in Denali. Ich für meinen Teil wurde um das Jahr 1700 verwandelt und habe danach lange Zeit bei den Volturi als Wache gelebt, bis ich Carmen traf. Wir waren derart angetan von den vegetarischen Lebensweisen der Cullens und der Denali-Schwestern, dass wir uns Letzteren anschlossen. Carlisle bat uns um Unterstützung, als eure Familie von den Neugeborenen aus Seattle bedroht wurden. Durch eine falsche Annahme unsererseits, haben wir euch damals unsere Hilfe verwehrt. Dieser Fehler tat uns später unendlich Leid und wir kamen gern, als wir ein zweites Mal um Hilfe gebeten wurden. Und wir würden immer wieder kommen. So kam es, dass wir euch vor einigen Monaten besuchten. Carlisle dachte, dass ich, in den 3000 Jahren meines Lebens, vielleicht irgendetwas über ein Gegengift für Vampirverwandlungen wusste, aber dem war nicht so. Wir waren untröstlich und es freut uns umso mehr, dass dieser Familie ein weiterer Verlust erspart blieb.“ Er endete und wartete offensichtlich auf eine Reaktion meinerseits, aber ich wusste nicht was ich, ob dieser ausführlichen Erläuterung, sagen sollte und lächelte daher nur kurz. Edward erklärte sich bereit, mir erneut aus der Patsche zu helfen. „Wir sollten dann mal Platz nehmen, die Zeremonie fängt gleich an.“ Mein Vater grinste in die Runde und hob meiner Mutter dann den gebeugten Arm hin. „Darf ich bitten, schöne Frau?“ „Aber gern“, antwortete sie und hakte sich bei ihm ein, dann folgten die beiden dem Rest vor den Pavillon. Ich blieb noch einen Moment stehen und begutachtete die fünfstöckige Torte neben mir. Auf der obersten Schicht thronte ein kleines Brautpaar vor einer gezuckerten Dreizehn. Ich seufzte. *** Die letzten Wochen hatte ich mit jener einen Sache verbracht, in der ich wirklich nicht gut war: Nichtstun. Auf Anordnung von Carlisle, meinem Urgroßvater, hatte ich das Haus nur unter Aufsicht verlassen und hauptsächlich das Bett oder Sofa gehütet. Für mich, der die letzten gut dreißig Jahre über regelmäßig einfach mal für drei oder vier Wochen nicht nach Hause gekommen war und stattdessen in irgendeiner Tiergestalt durch die Wildnis spaziert war, war dies eine enorme Herausforderung gewesen. Immerzu hatte ich mich währenddessen damit getröstet, dass wir irgendwann sicher mit der Planung unseres Vergeltungsschlag bei den Volturi beschäftigt sein würden, aber dazu war es bis jetzt nicht mal im geringsten gekommen. Alles war seinen gewohnten Gang gelaufen. Carlisle ging weiter seiner Tätigkeit als Arzt nach, Mariella arbeitete in der Bibliothek, Vater in einer kleinen Autowerkstatt, Esme schmiss den Haushalt, Bella und Edward gingen weiter mit den anderen in Ballinasloe in die High School – und ich lag herum. Und das, wo ich lieber Caius demontiert hätte. Und nun saß ich also hier. Auf der inzwischen dreizehnten Hochzeit von Emmett und Rosalie. Dieses Mal hatten meine Mutter und Edward die Ehre die Trauzeugen und Carlisle den Pastor zu spielen. Das einzig Gute an dieser Veranstaltung war für mich, dass sie mir deutlich machte, dass sie unser einstiges Vorhaben noch nicht vergessen hatten, denn der Grund für diese doch einigermaßen plötzliche Wiederholungshochzeit war ganz einfach Rosalies Angst, keine Chance mehr auf eine Nächste zu haben, sollten wir verlieren. Das war natürlich kein schöner Gedanke und wahrscheinlich auch einer, den wir alle teilten, trotzdem hatte sich nie jemand gegenteilig dazu geäußert. Niemand wollte einen Rückzieher machen. Alle waren sich bewusst, dass es wohl nur eine Frage der Zeit war, bis die Volturi erneut zuschlagen würden und dem wollten wir schlicht zuvorkommen. Kaum, dass wir uns alle im Pavillon eingefunden hatten und Emmett und Rosalie gemeinsam die Hochzeitstorte angeschnitten hatten (die sie sowieso nicht essen würden, aber Tradition war nun mal Tradition und Emmetts Vorschlag stattdessen einen Puma auf den Tisch zu stellen, hatten Alice und Rosalie abgelehnt – warum auch immer, schließlich waren keine Menschen anwesend), richtete sie auch schon einige Worte an uns und erwähnte damit mehr oder weniger die Dinge, die noch kommen würden. „Meine lieben Familienmitglieder, erweiterte Familienmitglieder und Gäste“, begann sie und ließ ihren Blick über die versammelten Vampire, Halbvampire und Werwölfe schweifen. „Ich bin sehr froh, dass ihr diesen besonderen Tag mit uns feiert. Ich weiß, das hier ist ganz sicher nicht meine erste Hochzeit, aber ihr gebt mir immer wieder das Gefühl, sie sei es. Und gerade in diesen schweren Zeiten, ist es doch umso wichtiger, dass wir die schönen Momente in unserem Leben, auch wenn es noch so lange ist, nicht vergessen. Und wo ich hier schon mal stehe und ihr uns allen zuhört, würden Emmett und ich euch gerne noch eine Kleinigkeit verkünden.“ Ich spürte förmlich die plötzliche Neugier im Raum und alle sahen gebannt auf Emmett, dem seine „Braut“ gerade das Wort überlassen hatte. „Nun... also, Rose und ich haben beschlossen, dass wir, wenn das hier alles erst mal geschafft ist, wieder etwas Zeit für uns in Anspruch nehmen werden.“ „Ich hoffe ihr nehmt uns das nicht übel“, warf Rose ein. „Aber nein“, versicherte Esme. „Wo soll die Reise denn hingehen?“ „Das wissen wir noch nicht genau.“ „Hoffentlich dorthin wo der Grizzlybestand Emmetts Hunger standhalten kann“, witzelte Edward und erntete ringsherum einige Lacher. Einige Minuten später saßen wir dann auch schon an den Festtischen, die mit ihren langen, weißen und mit Blumen geschmückten Decken durchgehend an den drei Wänden des Pavillon aufgestellt worden waren. Und das war auch notwendig gewesen, denn auch wenn sie nicht aßen, saßen die umliegenden Vampire – und es waren gar nicht so wenige, denn die Iren waren ebenfalls gekommen, hatten sie doch den kürzesten Weg – doch alle brav am Tisch. Der Großteil der Torte wurde dann, wie nicht anders zu erwarten war, von Seth und meinem Dad verschlungen, aber auch Mariella und meine Mutter hatten sich ein Stückchen genommen und sogar Nahuel stocherte mit einer kleinen Gabel in der Buttercreme herum. „Nessie“, sagte Rosalie zu ihrer Trauzeugin gewandt, die nicht weit von ihr weg saß. „Ich finde es immer noch toll, dass wir ausgerechnet an diesem Tag feiern durften.“ Meine Mutter lächelte sie an und griff nach Dads Hand, die gerade eigentlich damit beschäftigt gewesen war, die Gabel zum Mund zu führen. Etwas perplex sah Jacob, mit dennoch vollem Mund, zu Rose hinüber. „Schon okay“, sagte Renesmee. „Wir betrachten es einfach als tolle Möglichkeit unseren besonderen Tag zu feiern. Wer hat denn schon die Möglichkeit an seinem Hochzeitstag nochmal Hochzeitstorte zu futtern, nicht wahr, Schatz?“ Dad nickte zustimmend. Es war ihm anzusehen, dass seine Aufmerksamkeit momentan eigentlich der Torte galt. Meine richtete ich nun auf die Denalis, die etwas weiter links auf der uns gegenüberliegenden Seite saßen. „Und du warst also Wache bei den Volturi?“, fragte ich Eleazar, um mit ihm ins Gespräch zu kommen. Er nickte. „Wie lange?“, fragte ich weiter. „Viel zu lange“, meinte er. „Wie bist du von ihnen losgekommen?“ „Nun, Aro war natürlich nicht gerade sonderlich euphorisch, aber es gab ansonsten keine weiteren Probleme.“ „Sie haben dich einfach so gehen lassen?“ Eleazar lachte leise. „Es ist verständlich, dass sie auf dich wie Monster wirken müssen, aber normalerweise sind sie sehr darauf bedacht, die Personen, die ihnen auch nur im geringsten irgendwann, irgendwie wertvoll sein könnten oder waren, immer für die Zukunft 'warm' zu halten und es nicht mit ihnen zu verscherzen. Also ja, sie haben mich einfach gehen lassen, in der Hoffnung, dass ich eines Tages von selbst zurückkehren würde. Aber...“, er seufzte. „Da ich mit Carmen absolut glücklicher Vegetarier und Denali bin und angesichts der kürzlichen Ereignisse, bin ich nicht sonderlich erpicht darauf.“ „Dann nehme ich an, dass du eine Gabe hast?“ „Das ist richtig“, er lächelte wieder. „Ich habe die Gabe, Talente anderer Vampire – und Halbvampire, wie ich dank euch feststellen konnte, zu sehen.“ „Oh“, sagte ich. Carmen neben ihm lachte. „Ich weiß zum Beispiel, dass du dich unsichtbar machen kannst und damit praktisch ein ähnliches Schutzschild wie Bella besitzt. Ich habe im Laufe meines Lebens viele Talente gesehen, wie du dir sicher vorstellen kannst. Ich habe mich auch viel damit beschäftigt, zu studieren, wie die Talente eines Vampirs vor der Verwandlung ausgeprägt sind und wie danach. Aber, da Vampire sich 'normalerweise' – er betonte das Wort – nicht fortpflanzen, war es mir nie möglich festzustellen, ob Gaben sich vererben können. Erfahrungsgemäß sind Vampirtalente nicht nur stets auf mentaler Ebene, sondern auch immerzu einmalig. Eben weil jeder Vampir ein bisschen anders denkt. Es wäre möglich gewesen, dass diese Einmaligkeit in Verbindung mit der Genetik aufgehoben wird, aber bis jetzt hat sich diese Vermutung nicht bestätigt.“ „Mhm...“, murmelte ich und sah dann zu meiner Schwester, die neben mir gerade das letzte bisschen von ihrem Kuchen auf ihre Gabel genommen hatte. „Welche Gabe hat Mariella?“ Ich wusste zwar, dass sie mich als Einzige, abgesehen von Bella, sehen konnte, aber es interessierte mich brennend, wie Eleazar sie einschätzte. „Sie ist auch ein Schutzschild.“ „Das weiß ich“, sagte Mariella. „Es wirkt aber nur auf Ani.“ „Vielleicht tut es das“, meldete sich nun eine der anderen Vampirinen vom Denali-Clan zu Wort. „Vielleicht ist es aber auch nur noch nicht richtig ausgereift.“ Mariella sah sie fragend an. „Kate besitzt das Talent sich mit Stromstößen zu schützen“, erklärte Carmen. „Zuerst konnte ich es nur, wenn ich mein Opfer mit den Fingerkuppen berührt habe. Inzwischen kann ich den Strom über meinen kompletten Körper freigeben.“ „Das hört sich schmerzhaft an“, sagte Mariella und sank etwas in ihrem Stuhl zusammen. „Das hört sich stark an“, sagte ich fast im selben Augenblick. Meine Schwester warf mir einen ungläubigen Blick zu. „Darf ich mal etwas probieren?“ , fragte ich Kate. Kate lächelte mich an, als ich aufstand und meine Frage stellte, Mariella jedoch fuhr direkt hysterisch hoch. „Ani!“, zischte sie und wand sich dann hilfesuchend an unsere Eltern. „Mum, Dad, verbietet es ihm doch!“ Ich warf einen abwartenden Blick hinüber zu den beiden, die eben noch mit Rose im Gespräch gewesen waren. „Tut mir Leid, ich hab nicht zugehört, um was geht’s?“, fragte Dad im Gegenzug. Der leere Teller vor ihm verriet, mit was er bis eben beschäftigt gewesen war. Mariella verdrehte die Augen. „Du brauchst mich nicht ständig zu bemuttern, Mariella. Ich kann sehr gut auf mich selbst aufpassen“, sagte ich, während ich zu ihr hinunter sah, die mit verschränkten Armen auf ihrem Stuhl saß. „Oh ja, und wie“, antwortete sie sarkastisch. „Ganz ruhig, Mariella“, meldete sich nun Edward zu Wort. „Lass ihn nur. Kate weiß was sie tut.“ Ich verzog leicht den Mundwinkel. Er hatte den Ball nun also Kate zugespielt und ich stand noch immer als leichtsinniges Kind da. Ich schüttelte den Gedanken ab und konzentrierte mich wieder auf Kate, die mir lächelnd ihre Hand hinstreckte. Eine gewöhnliche, kalte, bleiche Vampirhand. Zart, weil sie eine Frau war und kein bisschen bedrohlich – bis jetzt zumindest. Als ich sie berührte, spürte ich allerdings, abgesehen von dem gewöhnlichen Temperaturunterschied, nichts. „Ganz die Großmutter“, sagte Kate, lächelte mich an und zeigte dabei ihre zwei Reihen strahlend weißer Zähne. „Eigentlich müsstest du jetzt unter dem Tisch liegen.“ Also funktionierte mein Schild auch gegen ihre Gabe tadellos. Ich hätte gerne meine Grenzen ausgetestet, herausgefunden, in wie weit ich ihrem Talent trotzen konnte. Aber wenn Edward meine Gedanken gehört hätte, hätte sich sicherlich sofort Bella eingeschaltet und mich trotzdem abgeschirmt. Außerdem kam mir meine Begegnung mit Catrionas Vater in diesem Zusammenhang in dem Sinn. Da war ich auch relativ schnell auf dem Boden gelegen, aber er war auch kein Vampir gewesen, außerdem war ich da noch nicht so weit genesen wie jetzt. Ich seufzte und setzte mich wieder hin. Auch meine Schwester ließ einen erleichterten Seufzer verlauten. Ich verdrehte die Augen... *** Und dann, wenig später, die Iren und die Denalis waren noch immer da, kam endlich der Tag, auf den ich so lange gewartet hatte. Der Globus stand auf dem Couchtisch und meine Familie und unsere Gäste drumherum. „Sollen wir wieder alle vom letzten Mal fragen?“, wollte Bella wissen. Carlisle schüttelte den Kopf. „Wir sollten das etwas vorausschauender angehen. Erinnert euch daran, wer letztes Mal das Feld verließ, kaum dass er oder sie für Renesmee ausgesagt hatte?“ Edward knirschte mit den Zähnen. „Amun und Kebi... Makenna, Charles.“ „Und wer uns verließ, noch bevor die Volturi eintrafen“, murmelte Rosalie abwertend. „Alistair“, sagte Bella. „Das Monster auf unserem Dachboden.“ Einen Raunen und leichtes Lachen ging durch unsere Reihen, verstummte aber rasch. „Nur den Volturi gegenüber zu stehen, war für sie alle eine unglaublich starke Belastung. Ich denke, wenn sie wissen, dass es dieses Mal gar keine andere Option gibt, als zu kämpfen, werden sie uns die Hilfe ohnehin versagen.“ „Ganz ehrlich“, warf Maggie, das Nesthäkchen des irischen Zirkels ein. Das Mädchen sah aus wie 15, hatte jedoch eigentlich etwa zwei Jahrtausende auf dem Buckel und war zudem in der Lage, eine Lüge sofort als solche zu erkennen, weswegen sie auch keine Scheu hatte, stets zu sagen, was sie dachte. „Ihr könnt nicht erwarten, dass alle für euch in den Krieg ziehen und ihr Leben aufs Spiel setzen.“ „Das erwarten wir gewiss nicht“, versicherte Carlisle. „Was meinst du denn mit 'für euch'?“, fragte Garrett, der nun vom Sofa aufgestanden war. Mit den Händen in den Hosentaschen lief er zu Maggie herüber. Er hatte diese Frage zweifellos gestellt, um eine Diskussion aus ihr herauszukitzeln und wusste genau, was sie damit gemeint hatte. „Na, für die Cullens“, antwortete Maggie. „Für ihre Sache.“ „Was für eine Sache soll das denn sein?“, bohrte er weiter, hörte auf herum zu laufen und blieb direkt neben mir stehen. „Die Volturi töteten einen von ihnen. Ich kann absolut verstehen, dass sie das nicht auf sich sitzen lassen wollen“, sagte das Mädchen. „Wer auch immer Maggie etwas antun würde. Wir würden ihn bis ans Ende der Welt verfolgen.“ Es war die kräftige Stimme von Siobhan, der Anführerin der Iren. Jene Frau, die Maggie verwandelt hatte und nun wahrscheinlich so was wie eine Mutter für sie war. Zumindest nahm ich das an. „Ach du denkst also, es geht hier um Rache“, spekulierte Garrett, weiterhin wissend, dass sie genau das dachte. Maggie antwortete nichts, starrte ihn stumm an, darauf wartend, dass er fortfuhr. „Mag sein, dass das auch ein Grund ist. Einer, den sicher alle Anwesenden nachvollziehen können,“ - er erntete zustimmendes Nicken - „aber meiner Meinung nach, geht es hier um viel mehr. Es ist so, wie ich es das letzte Mal sagte. Direkt auf dem Feld. Vor den Volturi. Sie wollen diese Familie zerstören, weil sie in ihnen eine Gefahr für ihre Macht sehen. Weil sie Angst vor ihnen haben. Sie stellen Regeln und Gesetze auf, geben vor, im Interesse aller Vampire zu handeln. Aber mit dem, was sie dieser Familie angetan haben, haben sie offenbart, wie sie wirklich sind. Machthungrig und gesetzlos. Wenn sie wollen, ignorieren sie ihre eigenen Regeln und um einander zu besänftigen, töteten sie noch mehr,“ - er hielt kurz inne und sah zu Sangreal, Nayeli und Nahuel - „grundlos. Weder waren die Halbvampire eine Gefahr für Aro oder irgendjemanden sonst, noch war William es. Caius wollte schon damals seinen Willen durchsetzen, wie ein bockiges Kind. Damals scheiterte er, heute hat er es geschafft. Was ist, wenn er noch mehr erreicht? Wenn Aro die Kontrolle verliert? Stell dir vor, Caius beginnt seinen Morgen mit dem falschen Fuß und duldet plötzlich keine Vampire mehr, die vor dem siebzehnten Lebensjahr verwandelt wurden. Schon stündest du auf seiner Abschussliste. Es geht hier nicht um Rache, kleine Maggie“ - er beugte sich etwas zu ihr herab und sah ihr tief in die roten Augen - „es geht um uns alle.“ „Garrett hat recht“, stimmte Eleazar zu. „Die Volturi sind von ihrem Weg abgekommen. Sie müssen gestürzt werden, bevor noch mehr, durch ihr Fehlverhalten und ihren Machthunger, ihr Leben lassen müssen.“ „Wie siehst du die Dinge nun, kleine Maggie?“, wollte Garrett abschließend wissen. Ein kurzer Moment der Stille entstand, ehe sie antwortete: „Mit anderen Augen.“ „Augen, die niemals lügen“, sagte Siobhan stolz. Maggie lächelte. „Also, wie geht es nun weiter, Carlisle?“, brachte Edward die Unterhaltung wieder zurück zu ihrem Ursprung. „Ich schlage vor, dass Alice und Jasper sich auf die Suche nach den Nomaden begeben, so wie sie es auf der Suche nach dem Gegengift getan haben. Sie werden sie noch am ehesten finden.“ „Alles klar“, sagte Jasper. „Und vergesst nicht diejenigen, die wir letztes Mal nicht finden konnten.“ Jasper nickte. „Rosalie und Emmett. Ihr geht zu den Amazonen.“ „Oooh jaaa... Leoparden, ich komme!“, sagte Emmett euphorisch und ballte die Hände zu Fäusten. Rose stieß ihrem dreizehnfachen Ehemann mit dem Ellbogen in die Seite. „Wir sind nicht zum Essen da!“ „Edward, Bella, Jacob. Ihr geht zu den Ägyptern und danach begebt ihr euch nach Indien.“ Dad grinste. „Nur wir drei. Wie in alten Zeiten. Sind das nicht herrliche Aussichten?“ Edwards Augen verengten sich zu Schlitzen. „Nimm es ihm nicht übel“, sagte Bella. „Er findet es nur halb so toll, wie er vorgibt. Drei Meter hinter der Haustür, vermisst er Nessie sicher ganz schrecklich.“ Dad grummelte zur Antwort. Sie hatte seinen wunden Punkt erwischt. „Und was ist mit dir Carlisle?“, wollte Edward wissen. Carlisle lächelte sanft. „Ich werde hier bleiben. Seit dem letzten Mal bist du den meisten Vampiren genauso ein guter Freund und Vertrauter wie ich, Edward. Du wirst keine Probleme haben, ohne meine Anwesenheit zu überzeugen. Keiner von euch.“ „Bist du sicher?“, fragte Bella weiter. Carlisle nickte vertrauensvoll. „Ich überlasse das Zepter dieses Mal euch. Ich kann es mit meinem Gewissen nicht vereinbaren, Anthony so lange ohne ärztliche Aufsicht allein zu lassen.“ Jetzt schlug es aber Dreizehn! „Was?“, fuhr ich ihn etwas bissig an. „Das heißt ja dann wohl auch, dass ich mich keiner Reisegruppe anschließen darf!“ Carlisle blieb weiter ruhig. „So ist es.“ „Was?“, protestierte ich. „Das ist nicht fair! Wie lange soll ich hier drin denn noch eingesperrt bleiben? Wenn wir die Volturi angreifen, wollt ihr mich dann vorher in drei Zentner Watte einwickeln?“ „Bis dahin wird es noch eine ganze Weile dauern. Die Heilung schlägt gerade wieder richtig an. Ich kann es nicht riskieren, dich jetzt unbeaufsichtigt zu lassen. Die Suche nach unseren Freunden wird ein paar Wochen in Anspruch nehmen. Es ist besser für dich, hier zu bleiben.“ „Schön! Wunderbar!“, sagte ich sarkastisch, drehte mich um, ließ mich aufs Sofa fallen und blieb mit verschränkten Armen darauf sitzen. Sie sahen mir alle nach, schüttelten teilweise den Kopf oder sahen mich bemitleidend an, ehe sie mit der Verteilung fortfuhren. „Ich werde Emmett und Rosalie nach Südamerika begleiten“, verkündete Nahuel. „Vielleicht kann ich meine Tante ausmachen.“ „Meinst du Huilen lebt noch dort?“, fragte Alice. „Das letzte Mal habe ich sie vor sieben Jahren besucht. Ich kann mir aber vorstellen, dass sie unserer Heimat noch immer treu geblieben ist.“ Er drehte den Kopf und sah nun zu Sangreal, die mit Nayeli im Arm neben ihm stand. Sangi verstand sofort, was er wollte. „Ich werde mit der Kleinen hier bleiben.“ „Huilen würde sich sicher freuen dich kennenzulernen“, versuchte Nahuel sie zu überzeugen, doch Sangreal blieb standhaft. „So eine weite Reise ist nichts für Nayeli und ich kann sie auch nicht alleine lassen. Wir bleiben bei Carlisle und Anthony.“ Nahuel gefiel das nicht. Er war mit mir immer noch nicht warm geworden. „Ich bleibe auch hier“, meldete sich nun meine Schwester zu Wort. Sie wiederum war mit Sangreal noch immer etwas auf Kriegsfuß und ihr missfiel der Gedanke, nicht bei mir zu sein, während sie es war, sicherlich ebenso sehr, wie er Nahuel missfiel. „Ich wusste gar nicht, dass du ein kleines Kind hast“, sagte Seth neckisch. Mariella grummelte. „Ihr beide könnt Alice und Jasper begleiten“, schlug Carlisle vor. „Machen wir doch glatt!“, rief Seth freudig aus. „Hey! Warum darf Seth bei Mariella bleiben und ich nicht bei Nessie!“ „Du wirst es überleben, Hund“, sagte Rose abwertend. Mein Vater warf ihr einen bösen Blick zu. „Du kannst mir ja eine süße Ansichtskarte schicken, Jake“, sagte Mum sanft und umschlang Dads Arm mit ihren beiden Armen. „Könnte schwierig werden, wenn du auch nicht Zuhause bist, Renesmee“, sagte Carlisle spitzbübisch. „Wie bitte?“ Mum war verdutzt. „Ich halte es für sinnvoll, wenn du mal wieder ein bisschen Abstand von alledem bekommst. Diese Reise wird dir gut tun. Bitte begleite doch Rose und Emmett.“ Sie warf einen kurzen besorgten Blick zu mir. „Also ich weiß nicht recht...“ Langsam ging es mir gehörig gegen den Strich, dass sich alle um mich drehten, als wären wir ein Sonnensystem und sie die Planeten. „Schon gut Mum“, sagte ich. „Du kannst mir ja eine Karte schicken. Ich bewege mich ganz sicher nicht vom Fleck. Ich kann dem Briefkasten sogar beim rosten zugucken.“ „Unser Briefkasten ist aus Edelstahl“, sagte Carlisle mit der selben ruhigen Art, die er immer besaß. Er ließ sich nicht im geringsten aus der Fassung bringen, egal wie angesäuert ich war... - Ende Kapitel 13 (Teil 1) - Kapitel 16: Verbündete (Teil 2: [Mariella] Wieder und wieder") -------------------------------------------------------------- Disclaimer: => Ich verdiene kein Geld mit meiner Fanfiction. => Alle Charaktere die schon in den Twilight-Bänden ihren Auftritt hatten, gehören Stephenie Meyer. Alle Anderen, wie etwa Schüler, Lehrer und vor allem Renesmees und Jakes Kinder, habe ich selbst erfunden. Webseite http://www.chaela.info oder... liked mich auf Facebook http://www.facebook.com/chaela.info --------- Kapitel 13 - "Verbündete" (Teil 2: [Mariella] Wieder und wieder) „Kann ich Ihnen noch etwas bringen?“, fragte die freundliche Flugbegleiterin. Ich schüttelte den Kopf, woraufhin sie sich mit einem Lächeln umdrehte und wieder ging. Die langweiligen Magazine, die in einer Halterung an der Seitenwand des Fliegers lagen, hatte ich alle schon gelesen, aber ich hatte keine Lust, mir neue bringen zu lassen und noch mehr unsinniges Zeug zu lesen. Seth war schon vor zwei Stunden eingeschlafen. Alles was ich von ihm hörte, war sein leiser Atem. Alice hatte schlechtes Wetter sowohl an unserem Abflug- als auch an unserem Ankunftsort vorhergesehen und für diese Reise daher keinen Privatflieger gebucht. Und nun saßen wir also hier, umringt von Menschen, in der Business Class. Es war eher selten, dass wir auf diese Weise reisten. Geld war ja, abgesehen von Zeit, jenes Gut, von dem wir garantiert am Meisten besaßen. Gelangweilt stützte ich meinen Kopf mit meinem Arm ab. Ich wäre jetzt viel lieber Zuhause und hätte meinem Bruder ein Tier gejagt. Hoffentlich ließ Sangreal ihn nicht verhungern – oder noch schlimmer: selbst jagen. Er beteuerte zwar immer wieder, dass es ihm gut ginge und auch Carlisle hatte mir versichert, dass er auf dem Weg der Besserung war, doch ich konnte meine Sorge einfach nicht abstellen. Diese zwei schrecklichen Wochen, in denen ich fürchten musste, noch einen Bruder zu verlieren, hatten sich einfach zu sehr in mein Gedächtnis gebrannt. Wir waren nie getrennt gewesen. Es hatte nie einen von uns ohne die anderen Beiden gegeben. Wir gehörten einfach zusammen. Und die Leere, die Will hinterlassen hatte, würde sich niemals wieder füllen. Es war, als hätte ich ein riesiges Loch in meiner Seele davongetragen – und ja, ich war mir sicher, dass wir alle eine hatten, Vampir, Werwolf oder Mensch. Noch ein weiteres Loch, und ich würde auseinander brechen... Ich warf einen kurzen Blick zu den Sitzen, auf der uns gegenüberliegenden Seite des Mittelganges. Alice und Jasper hatten einen Laptop ausgepackt und studierten eine Karte nach der Anderen auf dem kleinen Bildschirm. Ich bereute es noch immer, dass ich mich dazu breitschlagen lassen hatte, die beiden zu begleiten. Wozu war das denn gut? Wir waren ihnen ohnehin keine große Hilfe und die letzten beiden Male, hatten sie die Nomaden auch so gefunden. Wobei konnten ein Halbvampir und ein Werwolf ihnen schon nützlich sein. Im Gegenteil, wahrscheinlich schreckte Alice's und Jaspers Umgang mit Mischwesen wie uns, die anderen Vampire sogar ab. Meines Wissens nach, waren Nomaden die wildeste Lebensform aller Vampire. Sie lebten allein, maximal als Paar, hatten keinen festen Wohnsitz und waren in der Regel auf Menschenblut fixiert. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass sich auch nur einer von ihnen uns tatsächlich anschließen würde, wenn er wüsste, dass es definitiv zum Kampf kommen würde. Als Zeuge daneben stehen war ja eine Sache, in eine Schlacht zu ziehen, war jedoch eine ganz Andere. Ich seufzte. Und im selben Augenblick leuchtete das kleine Lämpchen über unseren Köpfen, welches uns signalisierte, dass wir uns für die Landung anschnallen sollten. Ich sah hinüber zu Seth, der noch immer seelenruhig schlummerte und legte ihm den Gurt um, damit er wenigstens noch ein paar Minuten länger schlafen konnte... *** Die erste Station unserer Reise war Kanada. Alice wollte hier die nordamerikanischen Nomaden aufspüren. Keine leichte Aufgabe, wenn man bedachte, dass Kanada zu den größten Staaten der Erde gehörte. Aber Alice wäre nicht Alice, wenn sie keinen Plan für dieses schier unmögliche Vorhaben hätte. „Es ist Sommer und so unmöglich es auch klingen mag: hier fällt in diesem Monat am meisten Regen. In dieser Zeit halten sich Vampire gerne mal in den Städten auf, anstatt in der Einöde rundherum“, erklärte sie. „Es ist also sehr wahrscheinlich das Mary und Randall sich an ihren Lieblingsorten aufhalten“, fügte Jasper hinzu. „Moment“, warf Seth ein. „Ich dachte sie sind Nomaden?“ „Das Eine schließt das Andere doch nicht aus“, antwortete Alice lächelnd. „Nur weil sie keine feste Bleibe haben, heißt es doch nicht, dass sie keine bevorzugten Orte haben?“ „Mhm...“, murmelte mein Freund und schien offensichtlich überzeugt von dem zu sein, was Jasper und Alice ihm erzählten. „Glücklicherweise...“, fügte Jasper leise hinzu, „Haben sich die beiden kennengelernt, als sie zu uns reisten, um Zeuge für Renesmees Unschuld zu sein und ziehen seitdem gemeinsam durch Kanada. Im Gegensatz zu damals, müssen wir sie also nicht mehr einzeln suchen.“ Ich schluckte. Für mich war das kein wahnsinnig großer Trost. Zwei Vampire hier zu finden schien für mich immer noch utopisch – und wenn dann würde es Monate dauern. Viel zu lang. Als wir es uns wenige Tage später nach einem weiteren Tag des erfolglosen Suchens in unserem inzwischen dritten Hotelzimmer im Bett gemütlich gemacht hatten, teilte ich Seth meine Bedenken mit. „Ach komm schon, Süße“, sagte Seth und strich mir über den Oberarm, „Versuch doch die Reise zu genießen, anstatt dauernd mit dem Kopf wo anders zu sein.“ Ich runzelte die Stirn. „Ich bin im hier und jetzt!“ „Du bist in Acworth“, sagte Seth und traf damit mitten ins Schwarze. Ich seufzte und drehte mich von ihm weg, so dass ich nun auf dem Rücken lag und geradeaus Richtung Fernseher schaute. „Wohin hat sich meine liebe Mariella denn verkrochen, die akzeptierte, dass ihr Bruder ein eigenes Leben führte und gern unabhängig war?“ „Das tue ich“, protestierte ich. „Das tue ich! Mehr noch, ich wünschte es wäre wieder so wie damals. Als er wochenlang nicht nach Hause kam und dann plötzlich wieder da war. Als ich genau wusste, dass er wieder kommen würde, wenn er ging. Und als ich genau wusste, dass Will uns zum nächsten Familienfest besuchen würde und ich Ani noch daran erinnern konnte, pünktlich zu sein, damit Will seine ganze Familie um sich haben konnte, wo er sie doch so selten sah.“ Während ich sprach, füllten meine Augen sich mit Tränen, aber ich konnte trotzdem nicht aufhören. „Jetzt weiß ich nur, dass Will nie wieder zu einem Familienfest kommen wird und dass Ani sich ewig selbst dafür hassen wird. Und ich kann nicht mal richtig schlafen, weil ich Angst habe, dass ihm irgendwas passiert.“ „Scht... scht...“, flüsterte Seth, zog mich an seine Brust und drückte mich. „Was Will angeht, hast du leider Recht. Aber alles Andere wird vergehen. Und wenn wir erst mal das alles hier hinter uns gelassen haben, dann hast du etwas neues wunderbares worüber du dich freuen kannst. In den letzten Monaten ist wirklich viel Scheiße passiert, aber du musst dir immer vor Augen halten, dass es auch immer lichte Momente geben wird.“ Ich sah traurig zu ihm empor und zog die Nase hoch. „Lichte Momente?“ „Na ja, unser kleines Rudel hat ein neues Mitglied und Jake und Anthony stehen nicht mehr auf Kriegsfuß. Das hast du dir doch immer so gewünscht.“ Da hatte er natürlich recht. Aber inzwischen war ich mir nicht mehr sicher, ob die Geschehnisse, die hinter uns lagen und alles was noch kommen würde, das wirklich Wert gewesen waren. Ich konnte nicht sagen, ob ich, würde man mich vor die Wahl stellen, nicht lieber den „Reset“-Knopf drücken und damit in Kauf nehmen würde, dass die Fehde zwischen meinem Bruder und meinem Vater kein Ende fand. Ich nickte Seth zur Antwort nur stumm zu und kuschelte mich wieder an seine Brust. Als er die Arme um mich schlang und seinen Kopf sanft auf meinem bettete, sank ich in einen traumlosen Schlaf... *** Weitere drei Tage später, spürten wir Mary und Randall dann in der kanadischen Provinz Ontario auf. Es war draußen bereits stockfinster, als wir gemeinsam mit ihnen in einem Café saßen und Seth und ich an unseren Strohhalmen im Latte Macciato-Glas nippten, während die Getränke der Anderen unberührt vor ihnen standen. „Es ist schön, dass ihr uns besucht“, sagte Randall. Er lächelte, während er sprach, aber sein Schnauzbart ließ ihn irgendwie ruppig und grob wirken, so als sei der Umgang mit ihm nicht ganz unkompliziert. „Aber auch ohne deine Fähigkeiten“, seine Augen fixierten Alice, „ahnen wir, dass ihr wieder in Schwierigkeiten steckt.“ Jasper nickte kaum merklich. „Die Volturi?“, fragte Randall, wohl wissend, dass es für unsereins kaum etwas bedrohlicheres geben konnte, als im Clinch mit der italienischen Königsfamilie aus Volterra zu sein. Marys Augen wanderten zu mir. „Ihr seid eine besondere Familie, mit äußerst besonderen Mitgliedern. Es wundert uns nicht, dass ihr ein Dorn in deren Augen seid.“ „Wie wir euch ja bei unserem letzten Besuch erzählten, haben wir eines durch sie bereits verloren“, sagte Jasper traurig und seufzte. Randall und Mary warfen sich gegenseitig Blicke zu. „Ja, das tut uns sehr Leid“, sagte Letztere daraufhin, „Und ihr sagtet, dass er keine Tat begangen hatte, die seinen Tod als Strafe rechtfertigen würde.“ „Keine“, beteuerte Seth. „Und das ist auch der Grund, weshalb wir euch um Unterstützung bitten wollen“, sagte Alice. „Die Volturi beginnen willkürlich zu handeln und Caius wurde für seine Tat noch nicht einmal zur Rechenschaft gezogen.“ „Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es auch andere Vampire trifft“, sagte Seth. Nun lächelte sowohl Randall, als auch Mary wieder. „Wir haben uns bereits einmal für euch eingesetzt...“, begann Randall. „... wir würden es jederzeit wieder tun“, endete Mary, „Wieder und wieder.“ „Das hört man gern“, antwortete Jasper und lächelte verschmitzt. Randall und Mary versprachen uns, nach Erledigung einiger wichtiger Angelegenheiten, sofort nach Irland aufzubrechen. Wir hingegen setzten unsere Reise fort. Unsere nächste Station war Mexiko. Der Heimat von Peter und Charlotte. Sie waren langjährige Freunde von Jasper und genau wie er, waren sie einst Mitglieder eines mexikanischen Zirkels gewesen. Das war natürlich sehr lange her, aber die Beziehung zwischen den Vampiren war nie abgebrochen und Jasper und Alice hatten es sich nicht nehmen lassen, sie gelegentlich zu besuchen. Für mich war es ein erleichterndes Gefühl zu wissen, dass wir dieses Mal nicht würden suchen müssen. Wir trafen uns mit ihnen in einer Hotelanlage am Hafen von Acapulco. Wenn man so mochte waren sie ein ziemlich niedliches Paar. Sie hatten beide relativ kurze Haare und trugen momentan offensichtlich Kontaktlinsen um nicht aufzufallen, so dass Peter nun grüne Augen und seine Freundin Braune hatte. Charlotte erinnerte mich sofort an Alice. Sie war klein, trug modische Klamotten, wenn auch etwas 'rockiger' als es Alice tun würde und ihr Haar hatte einen ähnlichen Schnitt. „Und ihr habt dieses Mal wirklich die Absicht, zu kämpfen?“, fragte Peter und sah Jasper eindringlich an. „Wir fürchten, uns bleibt keine andere Möglichkeit. Sie würden niemals aufhören“, antwortete dieser. „Dann kämpfen wir an eurer Seite“, sagte die kleine Charlotte mit solcher Inbrunst in der Stimme, wie ich sie ihr niemals zugetraut hätte. „Danke“, sagte Alice und man sah die Dankbarkeit in ihren Bernstein-Augen. „Wir wissen, was für ein großes Risiko ihr unseretwegen eingeht. *** Auch sie baten wir, so schnell wie möglich unser Anwesen aufzusuchen, ehe wir uns wieder auf den Weg machten, um die letzten beiden Vampire auf unserer Liste aufzusuchen. Unser Flieger brachte uns zurück nach Europa. Unsere erste Station war Frankreich. Genauer gesagt hatten wir unsere Suche nirgendwo anders begonnen, als der Stadt der Liebe selbst: Paris. Und während ich von Tag zu Tag frustrierter wurde, weil wir wieder nach der Nadel im Heuhaufen zu suchen schienen – wenngleich der Haufen diesmal kleiner war – versuchte Seth, jeden Tag zu genießen, den wir hier verbrachten. Ich wusste nicht, ob er es um seinetwillen tat oder ob er es tat, um mich abzulenken, darüber nachzudenken, wie es meinem Bruder ging. Inzwischen waren wir schon einen ganzen Monat unterwegs. Wenn es so weiterging, würden wir Zwei brauchen, um alle Nomaden zu finden. Ich seufzte. „Nun freu dich doch mal. Wenigstens ein ganz kleines bisschen“, bat Seth und formte mit Daumen und Zeigefinger einen kleinen Spalt. Während Alice und Jasper ihre Suche nach der französischen Vampirin fortsetzten, hatte Seth uns beide für einen Ausflug abgekapselt. „Wir können sowieso nichts dazu beitragen“, hatte er argumentiert. Und damit hatte er sogar recht. Er nahm meine Hand und zog mich mehr oder weniger hinter sich her. Erst als wir einen guten Blick auf den Eiffelturm hatten, blieb er fasziniert stehen. „Schön nicht?“, fragte er. Ich nickte nur, obwohl er das nicht sehen konnte, so wie er das Wahrzeichen anstarrte. „Ich finde, jedes Pärchen sollte einmal in seinem Leben zusammen dort oben gewesen sein“, sagte er. „Ist ja nicht so, als hätten wir dafür nicht genug Zeit in unserem Leben“, antwortete ich sarkastisch. Doch mein Freund ließ sich von mir die gute Laune nicht verderben und zog mich beim Aufstieg immer noch begeistert hinter sich her. Als wir dann jedoch oben standen und ich von dort über die Dächer von Paris sehen konnte, verflog meine negative Stimmung. „Wow“, sagte ich leise. Seth stellte sich hinter mich und legte seine starken Arme um mich, während er seinen Kopf sanft auf meine Schulter bettete und uns verträumt hin und her wog. „Ich weiß, dass wir in unserem Leben noch soviel Zeit haben könnten, um die ganze Welt gemeinsam zu bereisen und jede Sehenswürdigkeit in ihr zu sehen. Von den Pyramiden bis hin zum Himalaja. Aber wir sollten trotzdem jeden Tag, den wir gemeinsam verbringen dürfen nutzen und keine Chance auf ein besonderes Erlebnis verstreichen lassen, wenn sie sich uns bietet.“ „Das hast du schön gesagt, Liebling“, flüsterte ich und strich mit der Hand über seine Wange. „Warte, ich bin noch nicht fertig“, sagte er und wartete einen Moment, ehe er fortfuhr. „Das Schicksal meiner Schwester hat mir gezeigt, wie furchtbar es sein kann, jahrelang die Liebe des Lebens zu suchen und sie dann binnen weniger Sekunden wieder zu verlieren. Für immer. Deswegen will ich jeden Moment mit dir auskosten, als wenn es der Letzte wäre. Und wenn wir diesen Kampf, der uns bevorsteht, verlieren sollten, dann will ich sagen können, dass ich nie etwas mit dir verpasst habe, was sich mir geboten hatte.“ Ich schluckte. Meine Augen wurden glasig und noch bevor eine Träne sie verlassen konnte, drehte ich mich um und sah zu Seth hinauf. „Es tut mir Leid, dass ich in den letzten Wochen mit den Gedanken so selten bei dir war“, beteuerte ich und ließ es zu, dass nun doch ein paar Tränen meine Wangen hinab liefen. Seth strich sie mit dem Daumen weg. „Du musst dich nicht entschuldigen, Süße. Du bist nicht auf mich geprägt worden. Mir ist klar, dass es in deinem Leben noch Andere gibt, die dir sehr wichtig sind. Vielleicht sogar genauso wichtig, wie ich es für dich bin – oder sogar mehr. Das ist mir egal, solange du glücklich bist. Aber für mich, Mariella Sarah Black-Cullen, gibt es nur dich.“ Wir versanken in einem leidenschaftlichen Kuss. Wie lange ich seine Lippen auf meinen spürte, wusste ich nicht. Vielleicht waren es nur fünf Minuten gewesen, vielleicht aber auch eine halbe Stunde. Ich kostete den Moment derart aus, dass Zahlen keine Bedeutung mehr hatten. Doch dann wurden wir letztlich von einem dumpfen Gefühl unterbrochen. Dem Gefühl beobachtet zu werden. An sich nichts ungewöhnliches, auf einer stark besuchten Sehenswürdigkeit, doch die Augen, die uns beobachteten, waren nicht menschlich. Als wir uns zeitgleich voneinander lösten und uns in die selbe Richtung drehten, sahen wir in die blutroten Augen eines blonden Mädchens. Der Vampir, den wir gesucht hatten, hatte uns gefunden. Einige wenige Minuten rührten sich weder wir, noch sie, doch dann machte sie unserer Starre ein Ende und ging auf uns zu. „Hallo“, begrüßte sie uns und lächelte nun. „Entschuldigt, aber mein feines Gehör, hat den Namen 'Cullen' vernommen. Mein Name ist Constance.“ „Hi“, sagte Seth. „Das ist Mariella und ich bin Seth und wir hätten da etwas... ähm... mit dir zu besprechen, wenn du verstehst?“ Die Blondine nickte. „Oh ja, natürlich. Folgt mir.“ Constance wählte ein kleines Café mit Blick auf den Eiffelturm und während ich Alice simste, dass wir gefunden hatten, wonach sie suchten, verstand Seth sich sehr gut darin, unsere neue Bekanntschaft trotz der Rassenunterschiede für sich zu gewinnen. Das mochte zu einem ordentlichen Teil daran liegen, dass die Vampirin einen aufgeweckten und trotz ihres relativ hohen Alters, nämlich wie sie uns erzählte hatte immerhin fast 150 Jahre, sehr modernen Eindruck machte, und zum anderen daran, dass Seth einfach ungeheuer viel Charme besaß, dem man sich nur schwer entziehen konnte. „Der Name eures Zirkels ist mir nicht unbekannt“, klärte sie uns auf, weswegen sie speziell auf unser Gespräch aufmerksam geworden war. „Eure Lebensweise und eure Zirkelmitglieder entsprechen ja nun wirklich nicht dem Klischee.“ „Nein, tun sie nicht“, warf Alice ein, die gerade mit Jasper zusammen den Raum betreten hatte und sich direkt zu uns gesellte. „Alice Cullen“, stellte sie sich vor und reichte der Französin die Hand, dann wanderten ihre Augen zu Jasper, der dem Mädchen ebenfalls die Hand gab. „Jasper“, sagte er sanft und lächelte sie an, woraufhin sie zurück lächelte. Ob er sie bereits beeinflusste, um die Wahrscheinlichkeit zu steigern, dass sie uns half? „Constance“, nannte sie nun auch Alice und Jasper ihren wohlklingenden Namen, mit ihrem leichten französischen Akzent. „Ihr habt nach mir gesucht?“, fragte sie, kurz nachdem alle saßen und nahm einen Schluck ihres Kaffees. Für sie schmeckte er wahrscheinlich widerlich, aber sie ließ es sich nicht anmerken. Kein Wunder, dass sie, wie sie uns auf dem Weg hierher erzählt hatte, über hundert Jahre unentdeckt in Paris hatte leben können. „So ist es“, sagte Jasper. Und dann begann unser immer wiederkehrender Dialog von Neuem. Wir erzählten ihr alles möglichst lückenlos, ohne uns dabei jedoch in Details zu verrennen. Von der Liebe zwischen Grandpa Edward und Grandma Bella, über die Geburt meiner Mum bis hin zu meiner Eigenen und ließen dabei natürlich keine Situation aus, in denen die Volturi uns bedroht hatten. Letztlich kam das Gespräch wieder auf Will zu sprechen und den Kampf um Anthonys Leben. Es schauderte mich immer noch, wenn ich an meine Brüder dachte. Ich wusste, dass es notwendig war, ihr alles zu erzählen, damit sie ihre Entscheidung treffen konnte, schließlich baten wir sie im Endeffekt darum, ihr Leben für diese Sache aufs Spiel zu setzen und doch tat es mir weh, alles immer und immer wieder zu hören und immer wieder vor meinem geistigen Auge sehen zu müssen. „Also gut. Ich bin dabei“, sagte Constance schließlich. Über die Hälfte des Gesprächs hatte ich nicht mitbekommen, aber ich war froh über ihre Wahl, schließlich bedeutete sie eine Chance mehr auf den Sieg. *** Noch in der selben Nacht nahmen wir den nächstmöglichen Flieger zu unserer letzten Station. Constance hatte keine weiteren Aufgaben in Frankreich zu erledigen, also begleitete sie uns. Am Morgen checkten wir in ein kleines, jedoch nobles Hotel im Schwarzwald ein. „Wie viele Vampire wollt ihr eigentlich für... eure Sache... gewinnen?“, wollte Constance wissen, als wir uns alle zur Lagebesprechung in Alice' und Jaspers Suite eingefunden hatten. „So viele wie möglich“, antwortete Seth. „Aber das hier ist doch jetzt der Letzte oder?“, fragte ich unsicher. Ich wollte nicht noch länger durch die Weltgeschichte reisen und fremde Vampire aufspüren. „Ja, Mariella“, bestätigte Alice. „Grete ist die Letzte.“ „Grete?“, fragte Seth nun verdutzt. Der Name schien ihn etwas zu amüsieren. „Ein deutscher Vampir“, klärte Jasper ihn auf. „Sie lebt seit zweihundert Jahren in diesen Wäldern und ernährt sich nur von Tierblut.“ Seth zog die Augenbrauen hoch und schürzte die Lippen. „Sympathisch.“ „Okay, wann legen wir los?“ Ich wusste, dass ich die glückliche Atmosphäre gerade zerstörte, aber das Warten machte mich nervös. „Wir sind eben erst angekommen und du hast einen Flug hinter dir. Willst du nicht erst mal schlafen?“, fragte Alice verwundert. „Ich bin topfit“, versicherte ich und grinste gespielt, darauf bedacht, dass sie meine Müdigkeit nicht bemerkten.. „Mariella“, begann Seth auf mich einzureden und hob die Arme in meine Richtung. „Schatz, lass uns ein wenig ausruhen. Wenigstens für eine Stunde oder zwei.“ Ich sah ihn nur grimmig an. „Darf ich einen anderen Vorschlag bringen?“ Als Constances helles Sopran erklang, drehten sich alle zu ihr um. „Die Vampire machen sich auf die Suche. Die Mischwesen machen sich auf ins Bett?“ Seth hob ihr die Hand mit erhobenem Daumen entgegen. Alice sah mich fragend an. „Okay...“, antwortete ich, kapitulierte und begab mich mit Seth in unser eigenes Hotelzimmer... „Nun puste schon, Mariella!“ Die Stimme, die mir die Worte zurief, hallte. Sie erklang wieder und wieder, so als stünde ich in einem fast leeren Raum. Vor mir war eine dreistöckige Torte. Jede Etage hatte ihren eigenen Ring aus Kerzen. Meiner war der in der Mitte. Die untere Etage war bereits aus gepustet, die oberen Kerzen waren noch nicht angezündet worden. „Aber bitte sachte. Nicht wieder so, dass uns die komplette Torte um die Ohren fliegt.“ Ich sah lächelnd hinüber zu meinem Vater. „Dad, da war ich zwei Jahre alt.“ Ja, richtig. Es waren nun achtzehn Kerzen. Keine Zwei. Und in den vergangenen sechzehn Jahren hatte er diesen Satz jedes Jahr gebracht. Jedes Jahr am 21. November. „Pusten! Pusten! Pusten!“, animierte mich Emmett grölend. Dann pustete ich vorsichtig und die kleinen Flämmchen erloschen. Zurück blieb der Geruch von Rauch und achtzehn weitere Kerzen mit schwarzem Docht. „Okay, jetzt kommt das Finale!“, sagte Alice begeistert, stellte sich neben mich und zündete die letzten Kerzen an, die ganz oben thronten. „Auftritt! Klappe die Dritte! Anthony!“, rief Alice freudestrahlend. Alle Augen im Raum sahen nun hinüber zu meinem kleinen Bruder, der drei Meter entfernt gelangweilt in einem Sessel saß. „Ich kann mich nicht erinnern, für diesen Film unterschrieben zu haben“, meckerte er entnervt. „Oh, doch das hast du“, antwortete Emmett. „Du hast vor achtzehn Jahren an einem Wettrennen teilgenommen, schon vergessen?“ „Emmett“, schimpfte Rose sichtlich amüsiert und gab ihrem Emmett einen Stupser mit dem Ellbogen. Mein Bruder verzog daraufhin seine Lippen zu einem etwas gezwungenen Lächeln und pustete die Kerzen aus. Er hatte eine solche Präzession, dass er alle achtzehn löschen konnte ohne sich von seinem Sessel zu erheben oder auch nur im geringsten die Sahne auf der Torte in Bewegung zu versetzen. Mein Blick wanderten indes hinüber zu Dad, dessen dunkle Augen sich zu kleinen Schlitzen verengten. Er war sichtlich sauer, sagte jedoch nichts, um die Stimmung nicht zu ruinieren. Es war zu oft vorgekommen, dass ein Streit sie zerstört hatte und nie hatte sich etwas geändert. Aber auch die Anderen wussten solche Situationen inzwischen gekonnt zu ignorieren. „Geschenke!“, rief Alice und kündigte damit den nächsten Schritt auf ihrem „Geburtstagsparty deluxe“-Programm an. Zu diesem Geburtstag hatte ich meinen violetten BMW bekommen. Doch die größte Überraschung, kam erst nach dem Auspacken. „Ähm... Leute“, begann Will verlegen und erhob sich. Zusammen mit Leah stellte er sich so hin, dass jeder das Paar sehen konnte. „Leah und ich haben euch noch etwas zu sagen.“ Er sah unsicher zu seiner Liebsten und wartete einen Moment. Sie nickte ihm aufmunternd zu. „Bist du schwanger?!“, platzte es aus Dad heraus und Mum funkelte ihn böse an. Leah wurde rot und schüttelte den Kopf. Ihr langes seidig-schwarzes Haar glänzte bei jeder Bewegung. „Nein“, bestätigte Will ihre Körpersprache. „Und genau da liegt im wahrsten Sinne des Wortes der Hund begraben.“ Er machte eine Pause und die komplette Familie sah ihn verdutzt an, weil niemand aus seinen Worten schlau wurde – abgesehen von Edward vielleicht. „Nun... es geht um diese Werwolf-Sache“, begann er den Versuch einer Erklärung. „Solange wir soviel Kontakt mit Vampiren haben, macht sich das Gen immer bemerkbar. Es hindert uns daran ein normales Leben zu führen... und“, er wartete einen Moment, „zu altern.“ Mums Augen wurden größer. Will fuhr fort. „Ich weiß das hört sich vielleicht komisch an, aber wir wollen zusammen alt werden und was noch viel wichtiger ist: wir wollen eine Familie gründen.“ Dad nahm Mum in den Arm, der inzwischen kleine Tränen über die Wangen kullerten. „Ich weiß, dass das hart klingt. Ihr seid unsere Familie und wir lieben euch. Aber bitte versucht zu verstehen, dass unser Wunsch nach einer eigenen Familie inzwischen größer ist. Wir sind ja auch nicht aus der Welt.“ Will ging hinüber zu Mum, kniete sich vor sie und nahm ihre Hände in seine. Mum schluchzte. „Wir kommen euch regelmäßig besuchen. Versprochen.“ Mum begann trotz der Tränen zu lächeln. „Ich kann es kaum erwarten, eure zukünftigen Kinder kennenzulernen, Will.“ Will strahlte. „Das wirst du Mum. Das wirst du...“ „Mariella? Mariella? Schatz?“ Seths sanfte Stimme weckte mich. Ich blinzelte ein paar Mal und sah dann zum Fenster. Es war bereits helllichter Tag. Ich erhob mich müde. „Wie viel Uhr ist es?“ „Gleich zehn. Du warst wirklich müde, Liebling.“ Ich rieb mir die Augen. Ich war verwirrt. Und die Tatsache, dass ich bereits jetzt begann, große Teile meines Traumes zu vergessen, machte es mir nicht leichter. War es denn überhaupt einer gewesen? Wenn ich so an die Schnipsel dachte, die mir jetzt noch im Gedächtnis geblieben waren, würde ich darauf wetten, dass es eher eine Erinnerung gewesen war, die ich im Traum erneut erleben durfte. Ein mollig warmes Gefühl stieg in mir auf. Es war wie damals gewesen. Als wir uns von Will verabschiedet hatten und dabei sicher sein konnten, ihn bald wieder zu sehen. Oh, wenn ich könnte, würde ich jede Nacht eine Erinnerung aus meiner Kindheit träumen, aber leider konnte man es sich nicht wirklich aussuchen. Plötzlich hörte ich eine mir unbekannte weibliche Stimme im Nebenzimmer. „Haben sie sie gefunden?“, fragte ich. Mein Freund nickte. „Deswegen dachte ich, möchtest du vielleicht geweckt werden.“ Ich lächelte kaum merklich zu ihm hoch. Wenn ich so daran dachte, hätte ich doch lieber weiter meine Erinnerung geträumt. Aber nun war der Traum verpufft und ich in der Wirklichkeit. Und die hieß aufstehen, anziehen und zu Alice und Jasper zu gehen. Grete war ein relativ kleines Persönchen mit schulterlangem blondem Haar. Physisch schätzte ich sie auf Anfang zwanzig. Ihre goldenen Augen verrieten direkt ihre Einstellung zum Vampirismus. „Ich würde euch gern helfen, keine Frage“, sagte sie und ich ahnte schon, dass ein Aber folgen musste: „Aber ich habe in meinem ganzen Leben, weder in diesem, noch in dem davor, jemanden getötet. Ich weiß nicht, ob ich das kann.“ „Du hast doch Tiere getötet, oder nicht? Die Volturi sind kaum mehr als das“, sagte Seth. Grete sah ihn unsicher an. „Sie sind Vampire, was bedeutet, dass sie genauso menschlich aussehen, wie du und ich. Ich habe viele Jahre in einem Kloster verbracht. Ich weiß wirklich nicht, ob ich das kann.“ „In einem Kloster?“, fragte Constance. „Das ist ungewöhnlich. Normalerweise bemerken Geistliche immer recht schnell, dass mit uns etwas nicht stimmt und bauen den nächsten Scheiterhaufen auf.“ „Es gab nur eine einzige Nonne, die wusste, was ich war. Sie hat mir geholfen. Ohne sie wäre ich dem Blutdurst verfallen. Sie hat mir beigebracht, auf Menschenblut zu verzichten. Von Anfang an.“ „Mhm...“, murmelte Alice. „Wie wäre es, wenn du erst mal mit uns nach Irland kommst, ohne eine Entscheidung zu treffen? Lern unsere Familie kennen und die anderen Vampire und entscheide dann.“ Grete überlegte kurz. „Abgemacht.“ - Ende Kapitel 13 (Teil 2) - Kapitel 17: Verbündete (Teil 3: [Renesmee] Das Versprechen") ------------------------------------------------------------ Disclaimer: => Ich verdiene kein Geld mit meiner Fanfiction. => Alle Charaktere die schon in den Twilight-Bänden ihren Auftritt hatten, gehören Stephenie Meyer. Alle Anderen, wie etwa Schüler, Lehrer und vor allem Renesmees und Jakes Kinder, habe ich selbst erfunden. Webseite http://www.chaela.info oder... liked mich auf Facebook http://www.facebook.com/chaela.info --------- Kapitel 13 - "Verbündete" (Teil 2: [Renesmee] Das Versprechen) „Weißt du...“, begann Nahuel seinen Satz, nachdem wir eine gefühlte Ewigkeit stumm nebeneinander hergelaufen waren. „Es gab eine Zeit, da hab ich mir wirklich sehr gewünscht, eine gemeinsame Zukunft mit dir zu haben.“ „Wir haben... eine gemeinsame Zukunft“, antwortete ich und blieb kurz stehen. „Nicht so“, sagte er, tat es mir gleich und sah mich missmutig an. „Warum erzählst du mir das jetzt?“, fragte ich etwas genervt. Es war wirklich ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt, schließlich waren wir hier unterwegs um Hilfe für meine Familie zu finden. Da konnte er ja kaum erwarten, dass ich wieder dieses Thema aufgreifen würde, kaum dass ich mal von Jacob getrennt war. Dass uns nun mehrere Tausend Kilometer trennten spielte für mich natürlich keine Rolle. Aber vielleicht war das auch gar nicht so wichtig. Ich hatte nicht vergessen, wie er mich damals in meinem Zimmer überrascht hatte, um mich davon zu überzeugen, mehr auf ihn einzugehen. „Wenn der Wolf in deiner Nähe ist, muss man immer fürchten, demnächst seinen Kopf zu verlieren“, nannte er das Kind direkt beim Namen. Ich schüttelte den Kopf und ging weiter. Wir hatten bereits einen dreistündigen Fußmarsch durch den Urwald hinter uns und marschierten gerade eine Böschung hinauf durchs Dickicht. „Renesmee... es tut mir Leid. Bitte versuch zu verstehen“, bat er und folgte mir. „Nein, Nahuel. Ich verstehe nicht. Ich liebe Jacob und daran wird sich nie etwas ändern.“ „Ich weiß“, antwortete er. Mir lag eine Frage an den Halbvampir auf der Zunge. Ich schürzte die Lippen. „Nahuel, darf ich dich etwas fragen?“ Nahuel nickte. „Natürlich.“ „Warum hast du dir nie eine Gefährtin gesucht? Sie hätte ja nicht so sein müssen wie wir. Das Herz wählt nicht nach der Art aus. Mein Vater hat sich in einen Menschen verliebt und ich liebe einen Werwolf.“ „Daran lag es nicht“, sagte er. „Sondern?“ „Ich wollte diese Sache beenden. Ich konnte meine Schwestern nicht im Stich lassen, aber Aro hatte immer ein Auge auf alles, was wir taten. Ich wollte ihm keinen Nährboden für seinen Wahnsinn bieten, also blieb ich allein.“ „Das hört sich sehr traurig an“, sagte ich. „Das ist es auch.“ „Das tut mir leid.“ Nahuel schüttelte den Kopf. „Das muss es nicht. Vielmehr sollte es dir leid tun, dass mein Opfer am Ende sinnlos war.“ Ich ahnte worauf er anspielte und spürte die Wut langsam in mir hochsteigen. „Was soll das?“, fragte ich ihn empört. „Soll ich jetzt etwa ein schlechtes Gewissen bekommen, weil ich eine Familie gegründet habe und Aro ein Auge auf mein Kind geworfen hat?!“ Mein Gegenüber antwortete nichts. „Weißt du was ich denke?“, zischte ich ihn an. Nahuel wartete darauf, dass ich fortfuhr und musterte mich weiter stumm. „Du kannst Ani nur nicht leiden, weil er in Sangreal das gefunden hat, was du so verzweifelt wolltest. Einen Partner, der von der gleichen Art ist wie du.“ Er blinzelte kurz. Ich drehte mich wütend um und lief weiter. Rose und Emmett waren bereits außer Hör- und Sichtweite. Ich konnte nur noch an ihrem süßlichen Geruch feststellen, dass sie hier vorbeigekommen sein mussten. Und dann hörte ich wieder Schritte hinter mir. „Du irrst dich, Renesmee! Ich habe nur Angst um sie!“ Ich blieb erneut stehen und drehte mich zu ihm um. Er legte seine Hand auf meine Schulter. „Ich habe in den zweihundert Jahren meines Lebens immerzu gelitten, weil ich den Tod meiner eigenen Mutter verschuldet habe. Ich will nicht, dass sie leiden muss. Ich will nicht, dass man ihr weh tut. Sie weiß noch viel zu wenig von der Welt. Nicht mal über sich selbst. Sie war immer Aro's Gefangene. Sein Schatz im goldenen Käfig.“ „Ist sie seine Tochter?“, fragte ich. Was folgte war eine beunruhigende Stille. Ich wusste nicht, was ich tun würde, wenn es so wäre. Der Gedanke, dass mein Sohn sich möglicherweise in das Kind eines Vampirs verliebt haben könnte, der meine Familie und mich selbst auslöschen wollte, versetzte meiner Freude darüber, dass er nach all den Jahren endlich einen Deckel gefunden zu haben schien, einen herben Dämpfer. Es erinnerte mich makaberer Weise irgendwie an die Geschichte von Romeo und Julia. Zwei verfeindete Clans und deren Sprösslinge. Aber Liebe war den Volturi ein Fremdwort und die Beziehung der beiden würde uns nicht versöhnen. Und ich würde niemals zulassen, dass mein Kind daran zerbrach. „Ich weiß es nicht“, beantwortete er dann endlich meine Frage, riss mich im selben Augenblick aus meinen wirren Gedanken und befreite mein Inneres direkt von einer Last. Es war natürlich kein Nein gewesen, allerdings auch kein Ja. „Aro hat uns Halbvampire immer im Dunkeln darüber gelassen, welchen Ursprungs neue Artgenossen waren. Alles was ich weiß ist, dass Sangreal eine Enkelin meiner Schwester ist.“ „Das ist nicht viel“, stellte ich fest. Nahuel nickte. „Aber es reicht aus, um in mir den Wunsch zu wecken, sie zu beschützen.“ Ich nahm Nahuels Hand mit beiden Händen von meiner Schulter und hielt sie kurz fest. Seine Körpertemperatur war mit meiner identisch, sein dunkler Hautton erinnerte mich an Jacob. „Mach dir keine Sorgen. Er wird ihr nicht wehtun“, versuchte ich ihn zu beruhigen. Mein Gegenüber sah traurig zu mir herab. Ich sah in seinen Augen, dass er mir nicht glaubte. „Hey ihr zwei!“ Emmetts Rufen schreckte uns auf. Beide starrten wir in die Richtung, aus der er gekommen war. Emmett flitzte im Nu zu uns herüber. „Wenn ihr so weitermacht, wird der Regenwald abgeholzt sein, ehe wir die Drei gefunden haben.“ Ich lächelte. Nahuel dagegen nahm seine Hand wieder zu sich und sah noch immer bedrückt aus. Senna, Zafrina und Kaichiri zu finden stellte sich dann als einfacher als gedacht heraus. Genauer genommen waren es nicht mal wir, die sie aufgespürt hatten. Sie hatten uns gefunden. Lange bevor wir sie bemerkt hatten, hatten sie uns schon beobachtet. In solchen Momenten wurde uns bewusst, dass unsere menschenähnliche Lebensweise unsere Sinne abstumpfen lies, aber sie war auch der Grund, weswegen wir so friedlich in einer relativ großen Gruppe zusammenleben konnten und niemals würden wir das aufgeben. Die Amazonen sagten ihre Hilfe sofort zu und versprachen uns, dass sie sich so bald wie möglich auf den Weg nach Irland begeben würden. Wir hingegen machten uns auf den Weg ins Mapuche-Gebiet. Dort hoffte Nahuel seine Tante Huilen ausfindig zu machen. Huilen war, so erzählte uns mein Artgenosse, eine äußerst sesshafte Vampirin. Es bereitete ihr Unbehagen, ihre angestammte Heimat zu verlassen. Und er sollte recht behalten: Nahuel begegnete Huilen wenige Tage später in Argentinien. Es war das erste Mal, dass ich sie wieder sah, seit sie mit ihrer und Nahuels Ankunft auf der Wiese vor über vierzig Jahren mein Leben gerettet hatte, indem sie den Volturi bestätigte, dass von mir keine Gefahr ausging. Man sah ihr deutlich an, wie sehr sie sich freute, ihren Neffen wiederzusehen. Nachdem sie ihn lange umarmt hatte, begrüßte sie auch uns mit einem sanften Kopfnicken. Wir taten es ihr gleich, dann sah sie Nahuel fragend an. „Hat es einen Grund, weshalb du mich in Begleitung aufsuchst?“ Nahuel sah zu uns herüber und nickte ihr dann zu. Er schluckte kurz, nahm ihre beiden Hände in seine und drückte sie. Huilen sah nun besorgt aus. „Es ist etwas schreckliches passiert. Die Volturi haben fast alle Halbvampire getötet. Nur noch meine Schwestern und ein paar wenige sind am Leben.“ „Warum?“, fragte sie.. „Wir glauben, dass sie damit lediglich einen der ihren besänftigen wollten“, antwortete er. „Und... und was wirst du nun tun?“ „Die Vorherrschaft der Volturi muss beendet werden“, sagte Emmett. Huilen sah zu Nahuel. Obgleich kein Wort ihre Lippen verließ, sah man ihr deutlich an, was sie sagen wollte: tu es nicht. „Ich muss“, war Nahuels Antwort auf ihre stumme Bitte. „Nicht nur für meine Schwestern. Es gibt da noch jemanden, der mir sehr wichtig ist.“ Huilen musterte ihren Neffen nun erwartungsvoll. Vielleicht vermutete sie im ersten Moment, dass er eine Gefährtin gefunden hatte. „Ihr Name ist Sangreal. Sie ist meine Nichte.“ Huilen lächelte ihn sanft an. Sie schien nicht enttäuscht über seine Antwort zu sein und sich für Nahuel zu freuen. Sie legte eine Hand an Nahuels Wange. „Warum hast du sie nicht mitgebracht? Ich hätte sie gerne kennengelernt.“ Nahuel lachte. „Ich weiß. Das hab ich ihr auch gesagt, aber sie wollte bei den Cullens bleiben. Du musst wissen, dass sie ein Halbvampirkind retten konnte, als wir aus Volterra flohen. Ihr Name ist Nayeli.“ „Ich liebe dich“, übersetzte Huilen. „Ein schöner Name.“ Nahuel nickte. „Sie ist noch sehr klein. Sangreal wollte sie nicht auf so eine weite Reise mitnehmen.“ „Ich verstehe“, sagte Huilen. „Dann versprich mir, dass du die beiden bei deinem nächsten Besuch mitbringen wirst.“ Das Versprechen zerriss mir fast das Herz. Es war ein Versprechen, dessen Einhaltung keiner von uns garantierten konnte. Bisher hatte ich die Tatsache, dass wir alle bei dieser Schlacht sterben konnten, irgendwo in den Untiefen meines Unterbewusstseins weggesperrt. Aber nun, da Huilen zu spüren schien, in welche Gefahr ihr Neffe sich begab, wenn er uns folgte, spürte auch ich den Schmerz. „Ich verspreche es“, sagte Nahuel. - Ende Kapitel 13 (Teil 3) - Kapitel 18: Verbündete (Teil 4: [Jacob] Ewig wie die Sonne") ------------------------------------------------------------ Disclaimer: => Ich verdiene kein Geld mit meiner Fanfiction. => Alle Charaktere die schon in den Twilight-Bänden ihren Auftritt hatten, gehören Stephenie Meyer. Alle Anderen, wie etwa Schüler, Lehrer und vor allem Renesmees und Jakes Kinder, habe ich selbst erfunden. Webseite http://www.chaela.info oder... liked mich auf Facebook http://www.facebook.com/chaela.info --------- Kapitel 13 - "Verbündete" (Teil 4: [Jacob] Ewig wie die Sonne) „Gewürze! Feine Gewürze!“ „Töpfe! Wunderschöne Handarbeit! „Kaufen Sie! Kaufen Sie!“ „Seide! Echte ägyptische Seide!“ Ich kniff die Augen kurz zusammen. Der Lautstärkepegel auf diesem Basar war für meine sensiblen Ohren ein regelrechtes Massaker. Hinzu kam das gigantische Wirrwarr an verschiedenen Gerüchen. Die trockene Erde, der Sand, Katzenkot in den Gassen. Es waren so viele und ich konnte sie alle wahrnehmen und herausfiltern. In solchen Momenten wünschte ich mir meine menschlichen, beschränkten Sinne zurück. Da war es dann nur noch undefinierbarer Gestank und furchtbares Getöse. Momentan war es eher eine Reizüberflutung. Plötzlich packte jemand meinen Oberarm. Ich musste mich in Zaum halten, um die Person nicht reflexartig von mir zu schlagen. „Junger Mann!“, begrüßte mich ein besonders enthusiastischer Verkäufer. „Sie sehen aus wie jemand, der etwas von guter Qualität und Kunst versteht.“ Er grinste mich an und entblößte ein paar relativ mitgenommene Zähne. „Ah ja?“, fragte ich. „Aber natürlich.“ Sein Akzent war weit stärker ausgeprägt als der der ägyptischen Vampire, aber er hatte ja auch keine Jahrhunderte gehabt, um an seiner Aussprache zu feilen. „Schauen Sie hier, mein Herr. Feinste Webkunst“, fuhr er fort und strich mit seinen dunklen Hände über einen dunkelroten Teppich mit Stickereien. „Sie haben doch sicher ein wunderschönes Zimmer in ihrem Zuhause, wo sich dieser Teppich vorzüglich in das Gesamtbild einfügt.“ „Ähm... nein. Tut mir leid, aber ich habs wirklich eilig.“ Ich hob beschwichtigend die Hände und ließ ihn stehen. „Wie Sie wünschen. Kommen Sie wieder, wenn Sie es sich anders überlegen, mein Herr!“, rief er mir noch hinterher. Hier waren die Leute fast noch aufdringlicher, als sie es in Delhi gewesen waren. Ägypten war aber glücklicherweise unsere letzte Station, ehe wir nach Hause zurückkehren würden. Ich hoffte, dass Renesmee schon dort war und ich sie endlich wieder in meine Arme schließen konnte. Ich vermisste sie so sehr, dass es schon fast körperlich weh tat. Und das obwohl wir uns in Indien gar nicht so lange aufgehalten hatten. Denn obwohl die 175 Jahre alte Vampirin, die wir dort aufgesucht hatten, eine Nomadin gewesen war, war sie relativ einfach zu finden gewesen. Sie ernährte sich von Tierblut und die Menschen wussten um das Mädchen mit den goldenen Augen. Abhaya, wie sie sich nannte, hatte sich auch nicht lange überreden lassen, sich nach Irland zu begeben, während wir weiter nach Ägypten gezogen waren. Sie war für ihre vegetarische Ernährungsweise von ihrem Schöpfer verstoßen worden und hatte niemanden mehr in ihrer einstigen Heimat. Wie Edward uns erzählt hatte, war dies aber nicht der einzige Grund gewesen. Abhaya besaß ein Talent, dass das Leben als Blutsauger äußerst beschwerlich machte: sie litt mit, wenn es jemandem schlecht ging. Es war fast ironisch, dass wir Mitleid mit ihr hatten, weil sie Mitleid mit anderen hatte. Unser Wunsch die Volturi zu besiegen, wurde binnen weniger Sekunden auch zu ihrem. Die Sonne war bereits im Begriff unterzugehen und es war Zeit, meinen Ausflug zu beenden. Ich lief eilig weiter durch die Menschenmasse, vorbei an drei Dutzend weiteren Ständen, bis mir im Augenwinkel ein Gegenstand auffiel, der das Sonnenlicht besonders intensiv reflektierte. Es war nur ein kleiner Stand, eingequetscht zwischen einem der vielen Töpferstände zur Linken und einem für Obst und Gemüse auf der Rechten. Hinter dem kleinen Tisch saß eine vermummte Frau, als ich mich ihrem Ständchen näherte, konnte ich sehen, dass sie in etwa meinem optischen Alter entsprach. Ich nahm den Gegenstand, der mir aufgefallen war in die Hand. Es war ein schlichter, silberfarbener Ring in den oben in der Mitte ein einziger hellgelber Edelstein eingelassen war. Bei genauerem Betrachten, sah er aus, wie eine kleine Sonne. „Was ist das für ein Stein?“, fragte ich die Frau. „Ein Citrin“, antwortete sie akzentfrei. „Der Sonnenstein, der ewiges Leben verheißt.“ „Aha...“, murmelte ich und drehte den Ring leicht hin und her, damit sich das Licht an ihm brach. „Aber ich denke, das ist bereits in deinem Besitz“, meinte die Frau anschließend und ließ mich aufhorchen. „Wie bitte?“, fragte ich etwas verwundert. Zur Antwort beugte sie sich etwas hervor, so dass ich ihre Augen besser sehen konnte. Sie hatten die Farbe von Bernstein. Die Tatsache, dass mir gegenüber unerwarteter Weise im sonnigen Kairo am helllichten Tag ein Vampir saß, ließ mich kurz stutzen. Edward und Bella hatten sich um diese Tageszeit zurückgezogen, um nicht weiter aufzufallen, bis wir in den Abendstunden den ägyptischen Zirkel aufsuchen konnten. Und um vor Langeweile nicht einzugehen, hatte ich beschlossen, allein über den Basar zu schlendern. Die einheimischen Blutsauger schienen jedoch recht gut mit ihrem Klima klarzukommen. Obwohl sie komplett in schwarze Stoffe gehüllt war, konnte ich an ihren Augen sehen, dass sie unter ihren Tüchern lächelte. „Benjamin hat mir von diesem Zirkel erzählt, der mit Gestaltwandlern zusammenlebt.“ Der Geräuschpegel um uns herum, erlaubte es uns, offen zu reden. Ringsherum interessierte sich niemand für unser Gespräch. „Mein Name ist Alexandria.“ „Interessant, wo du doch hier in Kairo lebst“, witzelte ich. Sie lächelte weiter und verdrehte zu meiner Verwunderung nicht mal die Augen. „Und du bist?“ „Jacob“, antwortete ich. „Ich würde dir ja jetzt das Händchen schütteln, aber wir wollen ja nicht, dass du deinem Schmuck mit der Glitzerei die Show stiehlst.“ „Sehr rücksichtsvoll von dir“, antwortete sie gelassen, dann warf sie einen Blick zum Himmel. „Die Sonne wird bald hinter den Häusern verschwinden. Wenn du möchtest, kannst du warten, bis ich meinen Stand abgebaut habe, dann können wir gemeinsam zu unserem Anwesen gehen.“ „Alles klar“, sagte ich und legte den Ring zurück zwischen die Anderen. Wenige Minuten später begann Alexandria langsam ihre Schmuckstücke zusammenzupacken und dann machten wir uns gemeinsam auf, um meine Schwiegereltern abzuholen, die sich im Hotel niedergelassen hatten. „Alexandria. Immer wieder für eine Überraschung gut“, begrüßte uns Amun, als wir ihren Palast betraten. Ich konnte deutlich den sarkastischen Unterton heraushören. Er hatte schon reiß aus genommen, als es um Renesmee gegangen war. Er ahnte wahrscheinlich, was wir wollten und hätte uns sicherlich am liebsten vor den Toren stehen gelassen. Dennoch umarmte er Edward scheinheilig und begann erst zu sprechen, nachdem er sich von ihm gelöst hatte. „Mein Freund, es ist mir natürlich nicht entgangen, was deinem Zirkel in den letzten Monaten widerfahren ist. Wir bedauern euren Verlust zutiefst.“ „Danke“, antwortete Edward und lächelte ein äußerst aufgesetztes, kurzes Lächeln. Natürlich wusste er noch sicherer als ich, was als nächstes kam, schließlich konnte er in Amuns Gedanken lesen, wie in einem offenen Buch. „Unseren Neuzugang habt ihr ja bereits kennengelernt. Wir sind froh, dass sie unseren Zirkel mit ihrer Anmut und ihrer freundlichen Art bereichert und sie fühlt sich bei uns sehr wohl. Es wäre bedauerlich, wenn sie ihre neue Familie direkt wieder verlieren würde, oder nicht?“ „Gewiss“, antwortete Edward und hob beschwichtigend die Hand. „Aber man muss ja nicht direkt davon ausgehen, dass wir verlieren.“ „Wir haben starke Verbündete“, fügte Bella hinzu. „Natürlich“, antwortete Amun freundlich. „Ihr habt eure Wolfsfreunde, deinen Schutzschild und ein paar Andere nette Gaben. Dennoch, könnt ihr mir den Sieg garantieren?“ „N-“, begannen Edward und Bella wie aus einem Munde, wurden jedoch unterbrochen. „Amun!“ Benjamin und Tia kamen aus einem der Seiteneingänge zu uns. „Du verlangst das Unmögliche.“ „Ich bin nur um die Sicherheit unserer Familie besorgt“, protestierte Amun. „Mit den Cullens verbindet uns eine sehr tiefe Freundschaft. Ist dir ihre Sicherheit egal?“ „Es ist ihre eigene Entscheidung, die Volturi herauszufordern“, argumentierte Amun mit einem derart arroganten Unterton, dass ich mich gezwungen sah, nun auch etwas dazu zu sagen. „Es war aber sicherlich nicht unsere Entscheidung, dass mein Sohn durch ihre Hand sterben musste!“ Amun war gerade in Begriff etwas zu sagen, doch Benjamin unterbrach ihn mit einer Handbewegung. „Genug.“ Er warf ihm noch einen durchdringenden Blick zu, dann deutete er uns an, ihm zu folgen. Offensichtlich war hier die Rangordnung seit dem letzten Mal geändert worden. Edward, Bella, Tia, Benjamin und ich berieten uns in einem Raum, der ein paar Gehminuten von Amuns Bereich entfernt lag. Als wir ihn betraten ging ohne, dass jemand einen Schalter betätigte, plötzlich das Licht an. Zuerst dachte ich, es seien Sensoren gewesen, doch Benjamin klärte uns auf. „Ich habe meine Fähigkeiten in den letzten vier Jahrzehnten trainiert.“ „Sehr beeindruckend“, sagte Edward. Wir nahmen in einer Sitzecke nahe eines Kamins Platz. Benjamin warf Tia, die neben ihm saß, einen Seitenblick zu, woraufhin diese lächelte. Mit einer kurzen Handbewegung schwebte plötzlich eine weiße, geschlossene Rose aus der Vase empor, die auf dem niedrigen Tischchen vor uns stand. Benjamin ließ die Blume in Bellas Richtung schweben. Es war keine Telekinese, sondern die Manipulation der Luft. Bellas zarte, weiße Finger legten sich um die Pflanze. „Dankeschön“, sagte sie. Nun lächelte Benjamin Bella an und ich war mir ziemlich sicher, dass gleich etwas passieren würde. Der ägyptische Vampir hob seine zu einer Faust geballten Hand und hielt einen Augenblick inne, ehe er die Finger langsam öffnete. Synchron zu seiner Bewegung begann die Rose langsam zu blühen, bis sie ganz geöffnet war. „Wow“, sagte Bella. Besser hätte ich es auch nicht sagen können, aber ich war gerade zu erstaunt, daher sagte ich nichts. „Ich kann die Elemente bis zu einem gewissen Grad mit reiner Gedankenkraft steuern und habe darüber hinaus gelernt, sie in allen erdenklichen Formen zu beherrschen. Das erlaubt es mir, Metall zu kontrollieren, weil sich darin Erde befindet oder Pflanzen zu lenken, weil sie zu einem Großteil aus Wasser bestehen.“ „Was ebenso auch für andere Lebewesen gilt“, fügte Edward hinzu. Benjamin wartete, ehe er antwortete: „Korrekt.“ „Moment“, warf ich ein. „Heißt das, du kannst auch Menschen lenken?“ „Es macht die Jagd überaus einfach“, sagte Benjamin. „Okay, das ist natürlich cool!“ „Du findest es wahrscheinlich nicht mehr so toll, wenn er dich dazu bringt, nackt über den Basar zu springen“, stichelte Edward. „Vielleicht ist es dir entgangen, aber ich bin es inzwischen gewohnt, in den unmöglichsten Situationen irgendwo nackt herumzustehen. Ich kann es mir leisten.“ „Hört auf!“, schrie Bella fast. „Wir haben wichtigeres zu tun!“ Es fühlte sich tatsächlich an, wie in alten Zeiten. „Richtig“, sagte Edward und war mit einem Mal wieder ganz ernst. „Benjamin, ich weiß, dass wir viel von euch verlangen und würden es auch verstehen, wenn ihr ablehnt.“ Benjamin lächelte erneut. „Vor vierzig Jahren standen wir euch als Zeugen zur Seite gestanden. Aber schon damals wäre ich für Recht und Wahrheit in den Kampf gezogen. Dieses Mal ist es genauso.“ „Wir werden euch das nie vergessen“, sagte Bella. „Ich bezweifle, dass irgendjemand den Tag vergessen wird, an dem wir die Volturi vom Thron stürzen“, antwortete der Ägypter. Noch am selben Abend verabschiedeten sich Benjamin und Tia von ihrem Zirkel. Nur sie würden uns nach Irland begleiten. Wie erwartet, blieb Amun mit seiner Gefährtin und ihrem Neuzugang zurück. Letztere verabschiedete sich im Gegensatz zu ihren beiden Zirkelkollegen sogar von mir. Als sie mir die Hand reichte, spürte ich, wie sie mir gleichzeitig etwas hinein legte. Erwartungsvoll warf ich einen Blick auf meine Handfläche. Es war der Ring mit dem Sonnenstein. „Vielleicht brauchst du ihn doch“, sagte sie. Ich konnte meinen Blick kaum von dem Schmuckstück in meiner Hand abwenden. Renesmee hatte mich gern als ihre aufgehende Sonne bezeichnet, was wäre also passender als dieser Stein? Ich sah ihn als Symbol ihrer Liebe zu mir und würde ihn ihr auch als solches schenken, denn ich war mir sicher, dass der Ring nicht nötig war, um uns ewiges Leben zu sichern. Einen weiteren Verlust in unserer Familie würde ich sicher nicht zulassen. Mit oder ohne Citrin. - Ende Kapitel 13 (Teil 4) - Kapitel 19: Verbündete (Teil 5: Überredungskünste) -------------------------------------------------- Disclaimer: => Ich verdiene kein Geld mit meiner Fanfiction. => Alle Charaktere die schon in den Twilight-Bänden ihren Auftritt hatten, gehören Stephenie Meyer. Alle Anderen, wie etwa Schüler, Lehrer und vor allem Renesmees und Jakes Kinder, habe ich selbst erfunden. Webseite http://www.chaela.info oder... liked mich auf Facebook http://www.facebook.com/chaela.info --------- Kapitel 13 - "Verbündete" (Teil 5: Überredungskünste Einige Sonnenstrahlen fielen durch das Fenster in mein Zimmer, im Keller unseres Anwesens. Dort, wo sie von den Bäumen um unser Haus durchbrochen wurden, fielen die Schatten der Blätter auf meinen Fußboden und dem Bettlaken und wogen sich im Wind. Es war früh am Morgen, doch noch waren die langen, hellen Tage des Sommers nicht vorüber gezogen und dem kalten, dunklen Winter, der mir ehrlich gesagt lieber war, gewichen. Ich hob meinen Kopf vom Kissen, um auf die Uhr zu schauen, die auf dem Nachttisch, auf der mir gegenüberliegenden Bettseite stand. Die roten Ziffern zeigten kurz vor Acht. Normalerweise wäre ich jetzt aufgestanden, aber in den letzten Wochen hatte ich mein Bett allem Anderen gern den Vorzug gegeben. Nicht etwa, weil unser Haus inzwischen voller Vampire war, da meine Familie jeden, den sie für unser Vorhaben gewinnen konnten, hier her geschickt hatten, sondern, weil meine Gesellschaft einfach viel zu verlockend gewesen war. Vorsichtig ließ ich meinen Kopf wieder zurück auf das Kissen sinken, darauf bedacht, Sangreal nicht zu wecken, die mir ihren hübschen Rücken zugedreht und meinen linken Arm in Beschlag genommen hatte, durch den wahrscheinlich schon seit Stunden kein Blut mehr zirkulierte und der demnächst sicher abfaulen würde. Aber zu meiner eigenen Verwunderung war mir das vollkommen egal. Solange sie nur so liegen blieb, war ich zufrieden. Ich schloss die Augen. Ich wusste, dass es keine Prägung war, sonst hätte ich vom ersten Sichtkontakt an ihre Nähe gebraucht, wie ein Fisch das Wasser. Das hatte ich über die Jahre bei meinen Vater, Will, Leah und Seth gesehen. Aber was war es dann? Das plötzliche Wimmern eines Babys, riss mich aus aus meinen Gedanken. Dann wurde es zu einem Schreien. Sangreal fuhr herum und saß binnen weniger Sekunden senkrecht im Bett. In dem Moment, in dem sie nach ihrer Bettdecke griff, sie beiseite schieben wollte um aufzustehen, umfasste ich ihr Handgelenk. Sie hielt inne, wand ihr hübsches Gesicht in meine Richtung, senkte den Blick und sah mich fragend an. „Warte“, sagte ich leise, fast flüsternd. „Aber... Nayeli“, erwiderte sie. Ich schüttelte den Kopf und lächelte leicht. Im Hintergrund vernahmen wir das Weinen des Babys im Nebenzimmer. Esme hatte es mit Begeisterung eingerichtet, als Sangreal den Wunsch geäußert hatte, in mein Zimmer umziehen zu dürfen. Sie hatte ja ohnehin kein Gepäck gehabt, als sie hierher gekommen war. „Lass sie doch mal eine Weile schreien“, sagte ich. Sangreal sah mich verwundert an. Fast meinte ich einen Anflug von Empörung in ihrem Gesicht entdecken zu können. „Hältst du das für richtig?“ Ich nahm meine Hand von ihrem Handgelenk und rutschte ein kleines Stück zurück, auf meine Seite des Bettes. „Du verhätschelst sie. Sobald sie ruft, springst du. Wenn du so weiter machst, hast du in ein paar Jahren eine kleine Diva aus ihr gemacht.“ Sie hob eine Augenbraue. „Wie war es denn bei dir? Haben sie dich ignoriert oder sind sie dir hinterher gesprungen?“ „Was denkst du?“, fragte ich und wartete gespannt auf ihre Antwort, als sie daraufhin ein paar Sekunden zu überlegen schien. „Letzteres“, antwortete sie. Ich lächelte, schüttelte wieder den Kopf und drehte mich auf den Rücken. „Nicht?“, fragte Sangreal und sah mir nach. „Ich hab nie geschrien.“ „Nie?“ „Nie.“ Plötzlich verstummte das Geschrei aus dem Nebenzimmer. Einen Augenblick hielten wir beide inne und horchten. „Oh“, kommentierte Sangi. Ich legte meine Hand, mit dem Handrücken nach unten, auf meine Stirn und schloss die Augen. „Ich sollte einen Erziehungsratgeber schreiben.“ Sangreal lachte leise. Vorsichtig rutschte sie die wenigen Zentimeter, die noch zwischen uns lagen, herüber und legte ihren Oberkörper mit verschränkten Armen auf meinen. Wenn ich meinen Kopf heben würde, wäre ihr Gesicht nur noch wenige Millimeter von meinem entfernt. „Was hättest du gemacht, wenn ich wirklich schwanger gewesen wäre?“, wechselte sie dann schlagartig das Thema. Innerlich musste ich schlucken. In meinem Kopf blitzte die Erinnerung von jenem Moment auf, an dem ich der festen Überzeugung gewesen war, dass sie auf Aros Anweisung hin gehandelt hatte. Ich öffnete die Augen, damit sie in meinen Augen sehen konnte, dass das, was ich nun sagte, keine Lüge war. „Dann würden wir sicher genauso da liegen, wie wir es gerade tun, nur dass wir dann zu Dritt in diesem Raum wären.“ Ich nahm meine Hand von der Stirn und strich mit dem Handrücken über ihre Wange. Normalerweise hatten wir dieselbe Körpertemperatur, aber im Moment, fühlte sich ihre Haut etwas wärmer an als sonst. „Dann würde ich dich genauso streicheln, wie ich es gerade tue.“ Sie senkte verlegen den Blick. Langsam spürte ich die Hitze auch in mir aufsteigen. Spürte, wie mein Herz in meiner Brust schneller zu pochen begann. In dreißig Jahren hatte ich noch nie so empfunden. In dreißig Jahren hatte ich noch nie ein Mädchen so berührt. „Dann würde ich dich sicher genauso ansehen, wie ich es gerade tue.“ Noch nie, hatte ich ein Mädchen so angesehen. Ich nahm ihr Gesicht in meine Hände und hob leicht den Kopf. Sie sah mich an. Noch nie, war ich derart in einem Augenpaar versunken. Die Hitze wurde stärker, mein Herzschlag nahm weiter an Tempo zu. Was ich gleich tun würde, hatte ich wirklich noch nie getan. In meinem ganzen Leben nicht. Und ich hatte längst die Hoffnung aufgegeben, dass ich es jemals tun würde. Das Dock am First Beach kam mir in den Sinn. Der Morgen nach der Mondscheinhochzeit. Die Braut, meine Mutter, wie sie sich zu mir hinunter kniete, in ihrem strahlend weißen Kleid. Sie hatte ausgesehen wie ein Engel. Sie hatte ihre Arme ausgebreitet und nach kurzem Zögern, hatte ich mein Gesicht in der weißen Seide vergraben. Ich erinnerte mich daran, wie sie meine Stirn küsste, wie sie mit ihren zarten Fingern durch mein Haar gestrichen war. Ich hatte diesen einen Moment aufgesogen wie ein Schwamm, denn es war dieser eine Moment, an diesem so besonderen Tag gewesen, der nur mir gegolten hatte. Und dann hatte sie es gesagt. „Du findest auch noch deinen Deckel.“ Derselbe Satz war in meinem Kopf widergehallt, als ich nach meiner ersten Nacht mit Sangreal die Augen aufgeschlagen hatte. Damals war es nur eine vage Vermutung gewesen. Jetzt war es Gewissheit. Ich liebte sie. „Dann würde ich genauso den Wunsch haben, in deiner Nähe zu sein und dich zu beschützen, wie ich es nun tue. Und du würdest genauso in meinen Gedanken sein und in meinem Herzen, wie du es nun bist.“ Ich spürte ihren Herzschlag durch den Stoff ihres und meines Shirts hindurch. Sie sah zu mir herab und lächelte mich warm an. Dann schloss sie die Augen und presste ihre Lippen sanft auf meine. Es war nur ein kurzer Kuss. Sie löste sich wieder von mir und lächelte mich erneut an. Ich horchte einen Moment, während ich in ihre silbergrauen Augen sah. Ich konnte aus den anderen Stockwerken keinen Ton hören. Vielleicht waren alle unterwegs. Aber... war das nicht im Grunde vollkommen egal? Ich strich mit beiden Händen über ihren nackten Rücken, folgte mit den Fingern sanft ihrer Silhouette. Ich vernahm das Pochen ihres Herzens in ihrer Brust und spürte ihren heißen Atem auf meiner Haut, als sie leise aufstöhnte. Ich musste lächeln. Ich hatte schon immer Gefallen daran gefunden, das andere Geschlecht auf diese Art glücklich zu machen, aber bei ihr war es anders. Ernster. Wichtiger. Bei den Anderen hatte ich das getan, weil mein eigener Spaß dabei nicht zu kurz kam. Bei ihr aber, war ihr Feuer auch gleichsam meines. Sie stöhnte erneut auf, vergrub ihr Gesicht an meiner Schulter und begann zunächst zaghaft an meinem Hals zu saugen, bis aus ihrem sanften Druck ein Biss wurde. Genau wie meine Mutter und meine Schwester war Sangreal als weiblicher Halbvampir ungiftig und damit für mich ungefährlich. Und ich würde lügen, wenn ich sagte, dass es mir nicht gefiel. Im Gegenteil. Gerade für uns, die wir unsere Zähne mit Genuss in unsere Opfer schlugen, ist es ein elektrisierendes Gefühl, diesen Part einzunehmen, im selben Moment aber zu wissen, dass einem nichts geschehen würde, weil man dem Partner so wichtig war, dass er sich im Zaum halten konnte. Ich sehnte mich danach, ihr ebenfalls diese Erfahrung zu ermöglichen, aber ich war giftig. Ich wusste wie es war, vergiftet zu werden und unter keinen Umständen, wollte ich sie dieser Gefahr aussetzen. Noch ehe sie sich von mir losgelöst hatte, legte ich meine Arme um sie und tauschte in einer einzigen, fließenden Bewegung die Position mit ihr. Als sie unter mir auf dem Rücken lag, ließ sie von mir ab und sah erwartungsvoll zu mir empor. „Was hast du vor?“, sagte sie, nun etwas außer Atem. „Nichts, was du nicht willst“, antwortete ich. Sie lachte zur Antwort, legte ihre Hand an meinen Hals und zog mich zu sich hinunter... *** Am Mittag des selben Tages, saß Nayeli in ihrem Hochstuhl in der Küche und wartete gespannt darauf, dass Sangi, mit dazu passender Geräuschkulisse, den Löffel, mit dem orange-gelben Babybrei, auf ihrer Zunge landen ließ, wie ein kleines Flugzeug auf einer Landebahn. Mit uns am Tisch saß Esme, die sich die kleine Show nie entgehen ließ. Edward hatte uns einmal von Esmes leiblichem Sohn erzählt, der kurz nach dessen Geburt verstorben war und sie dazu veranlasst hatte, von einer Klippe zu springen. Sie hatte an diesem Tag ihr Leben verloren – und ein anderes von Carlisle geschenkt bekommen. Aber ihren Kinderwunsch hatte sie in dieses neue Leben mitgenommen und durch die Adoption Edwards und seiner Adoptivgeschwister einigermaßen gestillt. Ich konnte mir aber vorstellen, dass die Geburt meiner Mutter und später die meiner Geschwister und die meine, für sie noch einmal die Erinnerung an ihre eigene kurze Zeit als Mutter geweckt hatte. Nun, da wir Nayeli hier hatten, die einem menschlichen Baby so unglaublich nah kam, konnte man förmlich sehen, wie ihre Augen leuchteten und ihr nicht mehr schlagendes Herz für dieses kleine Mädchen imaginär schlug. „Wo sind die anderen?“, fragte ich sie, nachdem wir lange Zeit geschwiegen und Nayeli beim Essen zugesehen hatten. Esmes Augen lösten sich nur widerwillig von der Kleinen. „Wen meinst du?“ „Na... Carlisle, Eleazar und die gefühlten anderen 300.“ „Ach so“, antwortete sie und drehte sich nun ganz zu mir. „Carlisle ist im Krankenhaus, der Rest ist in die Stadt gegangen, oder in den Wald.“ „Die jagen doch nicht etwa am helllichten Tag?“ Sangreal sagte die Worte und schob den nächsten Löffel in Nayelis Richtung, ohne genau hinzusehen. „Da wir leider nicht alle Vegetarier sind, ist das ein notwendiges Übel. Aber sie sind erfahren, sie werden keine Spuren hinterlassen, wenn sie es tun sollten.“ Ich nickte. Die Vorstellung gefiel mir genauso wenig wie Sangreal. Aber wir waren auf ihre Unterstützung angewiesen und wir konnten sie schlecht verhungern lassen. Mir kam in den Sinn, dass es da ja noch jemanden gab, dessen Unterstützung uns noch fehlte. Ich warf einen raschen Blick auf die Küchenuhr, dann stand ich auf. „Wo gehst du hin?“, fragte Sangreal. „Ich fahre in die Stadt und seh mich mal um.“ Esme legte ihre Hand an meinen Arm. „Ani, ich kann deine Zweifel nachvollziehen, aber du kannst ihnen vertrauen. Sie wissen was sie tun.“ „Trotzdem“, beharrte ich. „Und wenn es nur für mein Gewissen ist.“ Was für eine Ironie, dass mein Gewissen sich, ob dieser Lüge, just in diesem Moment mit einem unwohlen Bauchgefühl meldete. „Sei vorsichtig“, sagte Sangi. „Ich spiel dann mal hier weiter Pilot.“ Ich lächelte. „Alles klar.“ *** Mein Weg führte mich natürlich nicht bis in die Stadt. Ich parkte abseits davon, auf einem Parkplatz im Wald. Er hatte nur drei Parkflächen, weil der Rest mit abgeholzten Baumstämmen zugestellt war. Den Rest des Weges ging ich zu Fuß. Ich lief hinaus zu den Äckern. Dieses Mal ragte das Getreide goldgelb in die Höhe und wog sich im Wind, der um Catrionas krummes Häuschen pfiff. Ich wollte gerade den ersten Schritt aus dem Schatten der Bäume machen, als ich einen alten Motor aufheulen hörte. Kurz darauf beobachtete ich, wie ein mitgenommener Jeep hinter dem Haus hervor fuhr und sich über die unbefestigte Straße entfernte. Ich blieb im Schatten, bis Catrionas Vater fünf Minuten lang nicht mehr in Sichtweite war, dann näherte ich mich zügig dem Haus. Es war in dieser Sekunde wirklich absolut von Nachteil, dass ich sie nicht riechen konnte, aber nach Stundenplan müsste die Schule bereits aus sein. Ich klingelte, aber niemand öffnete die Tür. Ich schloss die Augen. Wenn ich sie auch nicht riechen konnte, mein Gehör konnte sie nicht täuschen. Im Inneren vernahm ich zumindest schon mal keine Schritte. Entweder hatte sie also nicht die Absicht, zur Tür zu gehen oder sie war nicht da. Ich atmete einmal tief ein und versuchte mein Gehör noch weiter zu sensibilisieren. Und dann hörte ich es: das Plätschern von Wasser aus einem Zimmer im ersten Stock. Kein kleiner Wasserhahn, sondern eine Dusche. Ich sprang über das Holzgeländer zu meiner Linken und lief um das Haus herum. Mein Blick fiel auf ein Fenster im selben Stock, in dem ich auch das Badezimmer vermutete. Ich machte einen einzigen Satz nach oben und kauerte mich aufs Fensterbrett. Wie erwartet, waren die Fenster ebenso alt und morsch, wie der Rest des Hauses. Es war ein leichtes, die Scheibe zusammen mit ihrem hölzernen Rahmen nach oben zu schieben und einzusteigen. Wahrscheinlich kam sich Familie 'O'Grath so übermächtig vor, dass sie Einbrecher nicht zu fürchten brauchten – oder sie hielten es angesichts ihres weniger lukrativen Hausrats nicht für nötig. Zumindest bekam ich diesen Eindruck, als ich mich so in diesem Bügelzimmer umsah. Ich zuckte für mich selbst mit den Schultern. Was soll's. Umso besser für mich. Umso schlechter für Cats Privatsphäre. Natürlich hätte ich mich einfach in den Flur setzen und warten können. Aber da war ja immer noch die Gefahr, dass ihr Vater wieder kam. Ich durfte also keine kostbare Zeit mit Rumsitzen und Nichtstun verschwenden. Also wählte ich den rabiaten Weg. Ich öffnete die Holztür derart schwungvoll, dass sie direkt gegen die nächste Wand schwang. Herausgebrochene Splitter am Türrahmen verrieten mir, dass sie offensichtlich abgeschlossen und ich sie dementsprechend gerade demoliert hatte. Aber das kümmerte Cat im nächsten Moment sicher eher weniger. In Sekundenbruchteilen ließ ich meinen Blick durch das Zimmer schweifen. Die Ausstattung war genauso verbraucht, wie der Rest des Hauses und in einem altmodischen Hellgrün gehalten. Die Badewanne hatten sie zu einer Dusche umfunktioniert. Eher zweckmäßig hatte man, knapp unterhalb der morschen Decke, eine paar Stangen für die Befestigung eines, mit grünen Ranken bedruckten, Plastikduschvorhangs angebracht. Und genau jener Vorhang war es nun, hinter dem Cat mit etwas verstörtem Gesichtsausdruck hervorlugte. „Tony?!“ Wie ich diesen Kosenamen hasste. „Anthony“, korrigierte ich sie. „Ja. Überrascht?“ Sie öffnete empört den Mund, sagte jedoch nichts, schloss ihn wieder und schüttelte den Kopf. „Bist du übergeschnappt?“, fragte sie dann. „Also wenn du mich so fragst, ganz sauber war ich noch nie“, antwortete ich und ließ meinen Blick ein bisschen wandern. „Aber du jetzt offensichtlich schon.“ Sie sah mich fragend an. Kaum, dass sie realisierte, was ich tat, kam ihre Hand hinter dem Vorhang hervor und sie presste den Duschvorhang noch enger an ihren Körper. Wahrscheinlich wollte sie damit verhindern, dass ich etwas sah. Hätte sie aber stattdessen mal an sich herunter geschaut, hätte sie recht schnell festgestellt, dass das eher kontraproduktiv war. Das dünne Plastik schmiegte sich noch enger um ihren nackten Körper. Er klebte förmlich an ihr und ihre zart rosane Haut zeichnete sich unter dem ansonsten weißen Vorhang ab. „Was willst du von mir? Verschwinde!“, schrie sie mich fast an. „Erst wenn du mir deine Unterstützung zusagst!“, gab ich zurück. „Ich habe dir schon gesagt, ich kann dir nicht helfen!“, zischte sie unter zusammengebissenen Zähnen hervor. Ich machte einen Satz nach vorn und stellte mich auf den Rand der Badewanne. Sie wich ruckartig zurück an die Wand und riss dabei den Vorhang von der Stange. Ich ließ mich etwas nach vorn kippen und stemmte meine Hände links und rechts von ihrem Gesicht gegen die Fließen. Unsere Blicke waren uns nun so nah, dass ich ihren zittrigen Atem auf meiner Haut wahrnehmen konnte. Sie war nicht dazu gekommen, das Wasser auszustellen, als ich hereingeplatzt war. Es prasselte aus dem Duschkopf, über uns, auf uns herab und benetzte meine Kleider. „Du hast es sicher noch nicht mal versucht“, flüsterte ich fast. „Das muss ich nicht. Tu nicht so, als wüsstest du irgendetwas über mich“, sagte sie. Sie hatte einen leicht arroganten, unnahbaren Unterton in ihrer Stimme, aber ich würde sie schon noch brechen. „Dann erzähl mir von dir. Lass mich wenigstens verstehen, warum du nicht helfen kannst.“ Ich sah ihr tief in ihre blauen Augen, als ich die Worte sagte. Sie mochte vielleicht kein Mensch sein, aber eine Frau war sie und sie war genauso fasziniert von mir, wie es schon zig andere vor ihr gewesen waren. Wir standen hier, unter dem Wasserstrahl, beide komplett durchnässt und mein schwarzes Haar klebte mir an der Stirn. Ich konnte sie vielleicht nicht riechen, aber die Spannungen zwischen uns entgingen mir nicht. Catriona sah mich an, ohne etwas zu sagen. Ich konnte förmlich in ihren Augen sehen, wie sie mit sich selbst rang. Und dann, ganz plötzlich, schlang sie ihre Arme um meinen Hals und küsste mich stürmisch. Ich rutschte vom Rand der Badewanne und knallte mit dem Rücken gegen das Waschbecken dahinter. Es war nur ein schnell verblassender, kaum merklicher Schmerz. Während ich mich mit den Händen an dem hellgrünen Porzellan abstützte, zog sie den Reißverschluss meiner Jacke auf und streifte mir das nasse Kleidungsstück von den Schultern. Noch bevor Cat sie mir ganz ausgezogen hatte, vergrub sie ihre Hände in meinen nassen Haaren und küsste mich erneut. Währenddessen knöpfte sie mir das Hemd bis zum Bauchnabel auf und strich mit ihren, für mich kühlen, Fingern über meine Haut. Ich seufzte. Sie hielt inne, krallte eine Hand in mein Haar, während die andere auf meiner Brust ruhte und sah zu mir hinauf. „Ist das alles?“, fragte sie fordernd und biss sich auf die Unterlippe. Ich schloss die Augen und atmete tief ein. Was tat ich hier eigentlich? Alles was ich wollte, war sie ein bisschen aus der Fassung zu bringen, um sie dazu zu bewegen, ihre Entscheidung zu überdenken. Nun war sie es, die mich aus der Fassung brachte. Mir schoss in den Kopf, mit wem ich heute morgen im Bett gelegen hatte, wem mein Herz nun gehörte. War es das hier wirklich wert? Ich war mir sicher, wenn ich mich nun einfach nur fallen ließ, wenn ich nachgab und mit Cat schlief, würde sie sich um entscheiden. Sie würde sich uns anschließen und vielleicht auch ihr Vater. Ich hatte seine Kräfte am eigenen Leib gespürt. Die Volturi wussten vielleicht gar nicht von seiner Existenz. Er war praktisch unsere ultimative Geheimwaffe, unser Joker. Wenn er uns half, stieg unsere Chance die Volturi zu zerschlagen um ein vielfaches. War es das also wirklich wert? Ich schlug die Lider auf und erwiderte Cats feurigen Blick. Ja. Das war es. Ich beugte mich zu ihr hinunter und erwiderte ihre Küsse. Meine Hände ließen das Waschbecken los und während sie über ihren Rücken wanderten, strich ich ihr den Duschvorhang vom Körper. Ihre Hände umfassten derweil meine Gürtelschnalle, dann spürte ich, wie der Sitz meiner Hose lockerer wurde und begann an ihrem Hals zu saugen. Sie genoss es und stöhnte leise. Sie öffnete den Reißverschluss meiner Hose. „Tony“, hauchte sie mir ins Ohr, „Du kannst mich ruhig ein bisschen beißen, wenn du möchtest.“ Meine Augen weiteten sich. Ich löste mich von ihr und sah sie fragend an. „Was?!“ Ihr Blick durchbohrte mich förmlich. „Ich bin immun gegen Vampirgift.“ „Bist du dir sicher?“, hakte ich nach. Cats Augen verengten sich zu Schlitzen. „Du wolltest doch mehr über mich erfahren. Also, dann musst du mir aber auch glauben, was ich dir erzähle.“ Ich lächelte leicht. Die kurze Atempause rief mir wieder ins Gedächtnis, dass ich das, was ich gerade tat, nicht tun sollte. Es war schon seltsam. Vor mir stand ein wunderschönes – wohlgemerkt splitterfasernacktes – Mädchen, das zudem auch noch, laut eigener Aussage, etwas war, was die Natur eigentlich dazu erkoren hatte, Wesen wie mich umzulegen, mir stattdessen aber förmlich die Klamotten vom Leib riss und ich - ich Anthony Ephraim Black-Cullen, der in dreißig Jahren nie etwas hatte anbrennen lassen, wenn es um Sex ging – zögerte, sie zu nehmen. Cat schien meine Zweifel zu spüren. Behutsam begann sie meine Brust mit kleinen Küssen zu bedecken und wanderte dabei stetig nach oben, bis hin zu meinem Hals. Ihre Lippen legten sich um mein Ohrläppchen und in meinem Innern legte sich ein Schalter um. Ob sie als natürliches Gegenstück die Reaktionsgeschwindigkeit eines Vampirs besaß, wusste ich nicht, überrascht wirkte sie jedenfalls nicht, als ich im Bruchteil einer Sekunde mit einem mal hinter ihr stand, meine Hände an ihre Taille legte und meine Zähne in ihrem Hals vergrub. Ihre Haut war so zart wie die eines Menschen. Ich kniff die Augen zusammen, als ich ihr Blut auf meiner Zunge schmeckte. Es schmeckte fürchterlich und brannte in meiner Kehle, obwohl es nur eine sehr geringe Menge war. Ich fühlte mich wie ein Kind, das vom Putzmittel getrunken hatte und durch die Bitterstoffe abgeschreckt wurde und ließ von ihr ab. Sie sah mich verwundert an. Wahrscheinlich war sie sich nicht bewusst, wie abschreckend Mutter Natur ihren Lebenssaft für Unsereins gemacht hatte. „Tony?“, fragte sie etwas besorgt. Ich antwortete nicht, stattdessen schob ich sie sanft etwas weg, um an das Waschbecken zu kommen. Ich öffnete den Hahn, gurgelte und spülte mir den Mund aus. Das Brennen ließ nach, aber der Geschmack blieb. „Verdammt“, presste ich hervor. Cat zog ein Handtuch von der Heizung und bedeckte damit ihre Blöße. „Das tut mir Leid.“ Ich wollte gerade etwas erwidern, als uns das Geräusch einer zuknallenden Autotür aufhorchen ließ. „Daddy“, flüsterte Cat. Ich starrte sie an und sie starrte zurück. Cats Vater schritt die wenigen Stufen zur Haustür hinauf. Das Holz quietschte unter den Sohlen seiner alten, mitgenommenen Stiefel. Ohne noch etwas zu sagen, tauschte sie das Handtuch gegen einen Bademantel und und zog ihn bis unters Kinn, um ihre Bisswunde zu verdecken, während ich in aller Eile meinen Gürtel wieder umlegte und die Jacke über mein halb geöffnetes Hemd zog. Cat öffnete das Fenster. Ich wollte gerade darauf zulaufen, da umfassten ihre Finger meinen Oberarm. „Ich lenke ihn ab“, flüsterte sie mir ins Ohr. „Komm nicht mehr hierher. Ich besuche dich bald. Mach dir keine Sorgen.“ Mein Mund formte sich zu einem leichten Lächeln. Cat gab mir einen Kuss auf die Wange, dann verschwand sie zur kaputten Tür hinaus. Wie sie ihrem Vater das erklären würde, hätte ich gern erfahren, aber ich war mir relativ sicher, dass sie eine Ausrede finden würde. *** Ich blieb nicht stehen, bis ich die Tür meines schwarzen BMW Z4 hinter mir zugeknallt hatte. Erst als meine Hände das lederne Lenkrad umfassten, gönnte ich mir eine Atempause und ließ meine Stirn auf das Leder sinken. Okay, das war jetzt wirklich eine ziemliche Achterbahn. Das Gute daran war, dass mein Plan, Cat für unser Vorhaben zu gewinnen, aufgegangen war. Das Schlechte war... der komplette Rest... ob das Gute das Schlechte würde aufwiegen können, konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen. Ich würde es sicher bald herausfinden. Bevor ich den Zündschlüssel drehte, knöpfte ich mein Hemd zu, dann fuhr ich zurück zu unserem Anwesen. Als ich das Wohnzimmer betrat, lag Sangreal in Bauchlage mit Nayeli auf dem weißen Fusselteppich im Wohnzimmer. Sie war so in das Spiel mit der Kleinen vertieft, dass sie mich zunächst nicht bemerkte und so blieben mir ein paar Augenblicke, um in Ruhe zu beobachten, wie Nayeli versuchte, verschieden geformte Bauklötze, in entsprechend dafür vorgesehenen Öffnungen, auf dem Deckel einer kleinen Holzkiste zu versenken. Sie hatte gerade ziemliche Schwierigkeiten, ein rotes Dreieck in ein viereckiges Loch zu stopfen. Plötzlich jedoch griff sie nach dem Deckel, hob ihn hoch und verstaute den Bauklotz in der Kiste, ehe sie die Box wieder verschloss, als wäre nie etwas gewesen. Ich schüttelte den Kopf und ertappte mich beim Lächeln. Nayeli begann ebenfalls loszuprusten und strahlte zu mir hoch. Und jetzt, da der Zwerg mich bemerkt hatte, drehte sich auch Sangi um. „Ani!“, rief sie überrascht. „Da bist du ja wieder!“ Eine kurze Pause trat ein. „Warum bist du so nass?“, fügte sie hinzu. „Nun“, ich begann eine Ausrede in meinem Hirn zusammenzuschustern. „Sagen wir, ich war noch an der Küste.“ Sangreal lachte. „Seth hat mir erzählt, dass du da häufig zum Nachdenken hingehst, aber dass du mit Klamotten planschen gehst, hat er mir verschwiegen.“ „Es gibt so einiges, was du noch nicht über mich weißt“, antwortete ich. Drei Sekunden später, traf mich meine eigene Aussage so hart, als schlüge man einem Menschen mit einer Bratpfanne ins Gesicht. Ich flüchtete nach draußen, auf die Veranda und stützte mich mit verschränkten Armen am Geländer ab. Herzlichen Glückwunsch, Anthony. Du bist ein Arschloch. Und zwar ein richtiges. Du hast das Unmögliche zustande gebracht. Du hast endlich einem wundervollen Mädchen eine Liebeserklärung gemacht und sogar gemeint, was du gesagt hast und keine drei Stunden später hast du dich mit einer Anderen vergnügt. Du hattest vielleicht die Chance auf ein schönes Leben mit ihr, hattest die Möglichkeit etwas zu bekommen, was du dir wohl tief im Innern immer sehnlichst gewünscht hast. Etwas, das deine Geschwister, deine Eltern und alle um dich herum schon längst hatten, dir aber noch fehlte. Du hast es geschafft, alles in kürzester Zeit zu zerstören. Und für was? Für die eventuelle Chance auf einen Sieg gegen eine übermächtige Vampirdynastie, die dich und alle deine Verbündeten gnadenlos zerschlagen wird. Nein, du hast dir diesen Kampf nicht in den Kopf gesetzt, um die Halbvampire zu retten oder irgendjemanden sonst. Nicht einmal so etwas primitives, wie Rache, war es, das dich angetrieben hatte. Du hast es einzig und allein getan, um dein miserables Gewissen zu beruhigen. Um deine Schuld darin zu ersticken. Du hattest die Hoffnung, dass der Schmerz verblasst, wenn du ihre Leichen verbrennst. Aber wenn es niemanden mehr gibt, außer dir, der Mitschuld an seinem Tod hat, verbrennst du dann nicht vielleicht auch? Oder brennst du bereits? Ich krallte meine Hände in mein, noch immer feuchtes, Haar und kniff die Augen zusammen. So intensiv hatte sich mein schlechtes Gewissen schon lange nicht mehr gemeldet. Plötzlich jedoch, riss mich ein vertrauter Geruch aus meinem inneren Monolog. Ich richtete meinen Blick in Richtung Wald und sah, wie eine Gruppe Personen, zwischen den Bäumen und Sträuchern an dessen Rand, hervorkamen und auf unser Anwesen zu schritten: die Quileute aus La Push. Leah lief ganz vorn, Sam und Paul knapp hinter ihr. Embry, Quil, Jared, Collin, Brady. Sie alle waren gekommen. Ihre Haare waren wieder kürzer, ihre Klamotten dürftiger. Viele von ihnen sahen sicher um einige Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte älter aus, als zu der Zeit, als sie meine Großmutter vor der Neugeborenenarmee oder meine Mutter vor den Volturi beschützten. Ich nahm meine Arme vom Verandageländer und beobachtete, wie sie immer näher kamen. Alle, bis auf Leah, blieben vor der untersten Stufe stehen. Mit jedem Schritt, den sie auf mich zuging, ging ich einen zurück, bis ich mit dem Rücken an der Hauswand stand. Nun funkelte sie mich finster an. „Das hattest du wohl nicht erwartet, mh?“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich bin immer noch ein Teil von Jakes Rudel. Seth und er waren naiv genug zu glauben, dass wir von eurem Suizidkommando nichts erfahren würden, aber ich kann es mir unmöglich entgehen lassen, den Vampir zu zerrupfen, der meinen Mann auf dem Gewissen hat.“ Es war, als würde ein winzig kleiner Kieselstein von meinem Herzen fallen, als sie die Worte sagte. Sie sah also Wills Mörder nicht mehr in mir, oder wenigstens nicht mehr nur in mir. Das wusste ich nicht. „Aber“, erwiderte ich etwas zögernd. „Was ist mit deinen Kindern?“ Leah knurrte fast und presste mich mit der Handfläche an meiner Brust gegen die Hauswand. „Lass meine Kinder aus dem Spiel. Sie haben dich auch nicht gekümmert, als du Will dazu gebracht hast, ins offene Messer zu laufen!“ „Lee-Lee!“, brüllte Sam. Leah ließ mich los und hielt sich die Hand an die Stirn. Es wirkte auf mich, als hätte sie gerade etwas getan, was sie eigentlich nicht hatte tun wollen. „Ani?“ Plötzlich stand Sangreal mit Nayeli im Arm ebenfalls hier draußen und ließ ihre Augen über den versammelten Trupp Gestaltwandler schweifen, bis sie bei Leah und mir ankam. Leah sah Sangreal zunächst etwas missmutig an, dann wanderten ihre Augen zu Nayeli und ihr Mund formte sich zu einem leichten Lächeln... - Ende Kapitel 13 - Kapitel 20: [Leah] Erinnerungen ------------------------------- Kapitel 14 - "Erinnerungen" [Leah's Sicht] „Ich bin wieder da!“ rief ich, kaum dass ich die Wohnungstür hinter mir geschlossen hatte. Mein Ruf war nicht mehr so enthusiastisch wie früher. Mit seinem Verschwinden, war eine schreckliche Leere eingekehrt. In dieses Haus, wie auch in unsere Herzen. Ich legte die Autoschlüssel auf die Kommode im Flur, direkt vor das Foto mit dem silberfarbenen Alurahmen. Es war ein Hochzeitsfoto, unser Hochzeitsfoto. Aufgenommen vor zwölf Jahren in La Push, zeigte es mich in einem cremefarbenen Brautkleid und meinen Bräutigam in einem, nicht ganz klassischen, weinroten Anzug. Unsere ganze Hochzeit hatte eigentlich absolut nicht der Norm entsprochen. Im Grunde hatten wir einen Topf gehabt, in den jeder von uns seine Wünsche geworfen hatte und daraus hatten wir uns unsere eigene Traumhochzeit gemixt. Und das war sie auch geworden. Wenn ich das Bild ansah, spürte ich wieder seine Hand, die zärtlich meine hielt, während er mir den goldenen Ring auf den Finger streifte. Wir hatten uns mit Torte gefüttert und zu den rhythmischen Klängen der Quileute getanzt. Wir hatten unseren Treueschwur zweisprachig vorgetragen. Anstelle eines Pastors, hatte das Stammesoberhaupt, Billy Black, uns getraut. Seine Augen hatten gestrahlt, wann immer er von seinen Notizen aufgesehen hatte. Er war so stolz darauf gewesen, dass sein Enkel sich dazu entschlossen hatte, ein richtiger Quileute zu werden. Nie hätte sich Billy nach Jakes Prägung auf Renesmee träumen lassen, einen Nachfolger in seiner direkten Blutlinie zu finden, der auch noch in der Lage war, sich zu verwandeln. Und nun war nicht nur Billy von uns gegangen... Ich wischte mir eine kleine Träne von der Wange, kurz bevor Rain mit der kleinen Billy-Sue auf dem Arm um die Ecke kam und mich freudig begrüßte. „Willkommen zurück, Leah“, rief sie mir zu. „Die Kleine konnte es kaum erwarten, ihre Mommy wieder zu sehen!“ Rachels jüngste Tochter hatte zwar ursprünglich, gemeinsam mit ihrer älteren Schwester, das Quileute Head Start Programm geleitet, eine Organisation für einkommensschwachere Familien unseres Stammes, doch nach Wills Tod hatte sie sich sofort bereit erklärt, mir mit den Kindern unter die Arme zu greifen. Nun konnte ich sie als meine persönliche Nanny bezeichnen, aber sie war viel mehr als das. Sie war auch meine beste Freundin und hatte immer ein offenes Ohr für mich. Ohne sie wäre das schwarze Loch, in das ich kurz nach der Beerdigung gefallen war, sicher bodenlos gewesen, doch sie hatte es geschafft mich irgendwie aufzufangen. Ich konnte die schlaflosen Nächte gar nicht mehr zählen, in denen wir beide im Halbdunkel der Nachttischlampe im Schneidersitz auf meinem Bett gesessen und geredet hatten. „Ich kann nicht mehr“, hatte ich in einer solchen Nacht, etwa zwei Wochen nach seinem Tod, zu ihr gesagt. „Doch, du kannst“, konterte sie. Ich schüttelte den Kopf. „Du musst“, plädierte sie weiter. „Er war alles, was ich immer wollte und jetzt ist er weg“, heulte ich. „Einfach... weg...“ Sie packte mich an den Schultern und schüttelte mich. „Was redest du denn da! Hast du deine Kinder vergessen? Madeleine, Harry, Billy-Sue? Sie sind ein Teil von dir und ein Teil von ihm und sie brauchen dich!“ „Ich weiß aber nicht, ob ich das schaffe.“ „Natürlich schaffst du das. Du bist eine starke Frau mit einem großen Herzen. Und... du bist nicht allein.“ Ich hatte versucht zu lächeln, aber es kamen nur noch mehr Tränen. „Er hätte sicher nicht gewollt, dass du dich aufgibst.“ „Nein“, ich hatte den Kopf geschüttelt und das Portrait meines Mannes von meinem Nachttisch genommen und angeschaut. „Er hätte gewollt, dass ich weitermache.“ Und dann hatte Rain es mir weggenommen. Sie hatte es zur Decke empor gehoben und angegrinst, mit ihrer gelegentlich aufkeimenden, unglaublichen kindlichen Art und Weise. „Allerliebster Cousin Will, ich schwöre, dass ich mich um deine tolle Frau kümmern werde und auf gar keinen Fall zulasse, dass sie sich einigelt!“ Und da hatte sogar ich lachen müssen, trotz all der Tränen, die ich bis dahin vergossen hatte und die noch folgten. Bis heute. „Danke, Rain“, sagte ich und nahm ihr mein Töchterchen ab. „War sie auch schön brav?“ „Aber ja. Traumhaftes Baby. Absolut pflegeleicht.“ Ich lächelte Billy-Sue an und stupste die Spitze ihres Näschens mit meinem Zeigefinger leicht an. „Braves, Mädchen.“ Rain verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Das ist sie.“ „Ach“, fügte sie dann hinzu. „Wenn du gleich einkaufen gehst, könntest du noch ein paar Dosen Futter für Millicent Bulstrode mitbringen? Sie fängt sonst eventuell an, die Schüssel demnächst ohne Inhalt zu verspeisen.“ Ich musste tatsächlich ein klein wenig kichern. Millicent Bulstrode war die dicke, hell- und dunkelbraun gestreife Langhaar-Katze, die uns irgendwann zugelaufen war. Irgendwie fand Will es lustig, als pferdegroßer Wolf eine Katze als Haustier zu haben und bestand darauf, sie zu behalten. Den gewöhnungsbedürftigen Namen hatte er einem Harry Potter-Roman entnommen. Inzwischen war sie schon achtzehn Jahre alt, aber immer noch so gefräßig, wie am ersten Tag. Ich seufzte. „Ja, kein Problem“, sagte ich und notierte das Futter auf meiner Einkaufsliste. Zum Einkaufen begab ich mich mit Billy-Sue nach Port Angeles. Das Meiste, was wir zum Leben brauchten, hatten wir normalerweise im Reservat oder in den kleinen Läden in Forks bekommen, aber seit Wills Tod vermied ich es weitgehend, auf die Straße zu gehen. Die Mitleitbekundungen waren zwar mittlerweile abgeebbt, doch ihre Blicke spürte ich immer noch im Nacken. Früher war ich die arme Leah gewesen, die einfach keinen abkriegt. Nun war ich die arme Leah, die endlich jemanden gefunden und ihn direkt wieder verloren hatte. Die Witwe, mit den drei Kindern. In Port Angeles dagegen, war ich einfach nur eine Frau, die einen Einkaufswagen mit einem Baby durch die Gegend schob. Will hatte sich im Reservat immer sehr wohl gefühlt. Gerade das familiäre Miteinander, das wir untereinander pflegten, hatte ihm sehr gefallen. Ich glaube, ich habe nie einen größeren Familienmenschen gekannt, abgesehen vielleicht von Sam und Emily, mit ihrer Fußballmannschaft. Und doch war er mir zuliebe in das tausende Kilometer entfernte La Push gezogen, hatte seine Familie verlassen, um eine neue, kleine mit mir aufzubauen, hatte für das Kinderlachen Sehnsucht in Kauf genommen und sich nie darüber beschwert. Ich erinnerte mich noch genau an den Tag, an dem ich von meinem Arzt die Bestätigung erhielt, dass ich schwanger war. Will hatte mir meinen allergrößten Wunsch erfüllt. Neun Monate später wurde unsere Tochter geboren. Für mich, die immer davon überzeugt gewesen war unfruchtbar zu sein, war es ein Wunder gewesen und zwar eines, das sich noch zweimal wiederholte... Und nun war ich mit meinen kleinen Wundern allein. Und jeder Tag schien, trotz ihrer Anwesenheit, so trostlos zu sein, wie der vorherige. Ich sah sie aufwachsen und spürte doch keine wirkliche Freude. Wann immer Madeleine eine Note nach Hause brachte, lächelte ich sie an und fragte mich insgeheim, was wohl mein Mann dazu gesagt hätte, wenn sie eine gute oder schlechte Zensur vorzeigte. Wahrscheinlich hätte er sie bei Letzterem behutsam getadelt. Das hörte sich vielleicht komisch an, aber Will war ein toller Daddy gewesen. Er hatte die Waage zwischen ermahnen und fördern nahezu perfekt gemeistert. Ich dagegen fühlte mich nun viel zu oft überfordert. Und das wo es eigentlich mein Beruf war, mit Kindern umzugehen und sie zu schulen. Jeden Morgen fuhr ich mit meinen Sprösslingen zur Schule und während sie dort Vollzeit unterrichtet wurden, ging es für mich am Mittag wieder nach Hause, um Rain mit Billy-Sue abzulösen. Am Nachmittag und Abend dagegen, bereitete ich den Stoff für den kommenden Tag vor, sofern ich nicht für den Nachmittagsunterricht eingeteilt war. Die Donnerstage nutzte ich zum Einkaufen. Ich hatte es mir angewöhnt, meine Tage möglichst geregelt ablaufen zu lassen, damit meine Kinder wenigstens etwas Ordnung im Leben hatten, wenn ihre Mutter schon so häufig zerstreut war. Außerdem blieb mir so weniger Zeit zum Nachdenken. Nachdenken war für mich fatal. Wann immer ich es tat, endete es in einem Fiasko. Ich muss zugeben, ich hatte sogar mal mit dem Gedanken gespielt, mich umzubringen, es aber nie in die Tat umgesetzt. Der Gedanke reichte aus, um mich dazu zu bringen, am nächsten Tag an Sam's und Emily's Esstisch zu sitzen und eine Packung Taschentücher zu verbrauchen. Wenn mir zu der Zeit, in der Jake noch Bella herjagte, jemand gesagt hätte, dass ich ausgerechnet an Sams Tisch hocken und mich mit ihm über Prägung unterhalten würde, hätte ich ihm den Vogel gezeigt. Obwohl er nur vage erahnen konnte, wie es sich anfühlen musste, wenn man die Person verliert, auf die man geprägt ist, war er mir eine unglaubliche Hilfe gewesen. Wir wussten nur wenig über die Prägung, aber man erzählte sich, dass der Tod der Person in den allermeisten Fällen auch gleichsam der Tod des Wolfes bedeutete. Es brach einem sprichwörtlich das Herz. Und genauso fühlte ich mich auch. Es war absolut nichts im Vergleich zu dem Schmerz, den ich gefühlt hatte, als mich Sam verlassen hatte. Und nun war genau er es, der mich in den Arm genommen und mir gesagt hatte, wie stolz er auf mich war, dass ich die Kraft aufbringen wollte, nicht aufzugeben. Für Madeleine. Für Harry. Und für Billy-Sue. Ich hatte mich darauf eingestellt, dass dieser Donnerstag genauso eintönig verlaufen würde, wie die anderen Donnerstage davor. Nach meiner Rückkehr mit einem vollen Einkaufskorb war allerdings das Erste, was mir beim Betreten des Flurs auffiel, dass kleine rot-blinkende Licht des Anrufbeantworters. Ich stellte also erstmal meinen Korb in der Küche ab und befreite mein Töchterlein aus ihrem Baggy, ehe ich ,mit ihr auf dem Arm, das Band abhörte. Allein schon Embry's sanfte Stimme aus den Lautsprechern zu hören, machte mich stutzig: „Hey, Leah. Dein Handy ist ja mal wieder aus, deswegen hab ich es mal hier probiert. Bitte ruf mich doch zurück. Es geht um Seth und Jake.“ Mein Herz begann mit einem Mal in meiner Brust zu rasen. Ich nahm das Telefon aus der Basis und wählte eilig seinen Namen aus der Kontaktliste. Das Freizeichen allein reichte aber nicht, um mich zu beruhigen und selbst als er abnahm, war ich noch total außer mir. „Embry!“, brüllte ich ihn fast an. „Was ist mit Seth? Geht es ihm gut? Ist er verletzt? Was hat er angestellt?!“ Ich konnte nicht mal sagen, warum ich so reagierte. Es war einfach zu viel schlimmes passiert in den letzten Monaten. Nun brachte mich jede Kleinigkeit zum Ausrasten. „Wow, Leah“, antwortete Embry. Er hörte sich etwas überfahren an. „Immer mit der Ruhe. Den beiden geht es gut.“ „Warum sprichst du mir dann auf den Anrufbeantworter?“, fragte ich empört. „Na... weil du auf deinem Handy nicht erreichbar warst. Leah, meinst du nicht, ich wäre persönlich bei dir vorbei gekommen, wenn ich etwas schlimmes zu berichten hätte?“ Ich begann allmählich, mich wieder zu beruhigen und setzte mich mit meinem Kind in die Küche, wo auch mein armes, vergessenes, ausgelaugtes Smartphone auf dem Tisch lag. Ich nahm mir vor, es direkt nach meinem Gespräch mit Embry an die Steckdose zu stecken und fuhr fort: „Also was gibt es?“ „Nun, ich wollte ein bisschen als Wolf die Gegend unsicher machen. Aber kaum, dass ich mich verwandelt hatte, konnte ich gerade noch so ein paar Gesprächsfetzen von einer Unterhaltung zwischen Jake und Seth aufschnappen. Es war irgendwie seltsam. Sie haben sich über die Prägung unterhalten und darüber, dass Jake Nessie vermisst. Also... wenn ich es richtig mitbekommen habe, war Jake zu der Zeit in Ägypten und Seth in Frankreich.“ „Ägypten?“, hakte ich nach. Die Zahnrädchen in meinem Hirn arbeiteten auf Hochtouren. Ägypten, ägyptischer Zirkel, Benjamin, Elemente. Es brauchte nicht viel um eins und eins zusammen zu zählen: sie formierten wieder eine kleine Armee aus Freunden und Bekannten von Carlisle. „Leah?“, riss Embry mich aus meinen Gedanken. „Weißt du, was das zu bedeuten hat?“ „Nicht direkt“, log ich. „Aber ich werd's schon raus finden. Verlass dich drauf. Danke für die Info Embry. Ich weiß nicht, was ich ohne dich machen würde.“ Dann legte ich auf. Mein nächster Weg führte mich ohne Umschweife zu Sam's Haus. Schon als ich mit dem Wagen dort hielt und mein Baby abschnallte, ging die Haustür auf. „Leah!“, begrüßte Sam mich mit einer Mischung aus Freude und bösen Vorahnungen im Gesicht. Er gab Billy-Sue einen flüchtigen Kuss auf die Stirn, als ich an ihm vorbei ins Haus wollte. Emily setzte sofort einen Tee auf und Sam gesellte sich zu mir an den Tisch. „Was führt dich zu uns?“, wollte er sofort wissen. „Embry hat es dir nicht erzählt?“ „Was erzählt?“ Ich nickte. Er war also ahnungslos. Embry hatte Sam's Rudel genauso verlassen wie mein Bruder und ich. Er war lange Zeit ranghöchster nach mir gewesen. Nun, da ich mich seit Jahren nicht mehr verwandelt hatte, war er sicher aufgestiegen. Natürlich war er Loyal seinem Rudel gegenüber und verriet seine Informationen erst mal nur mir, egal wie nah wir Sam's Rudel standen. „Leah?“, fragte Sam besorgt. Ich begann etwas nervös mit einem Knie zu wippen. Mein Baby wurde leicht geschüttelt, störte sich aber nicht daran. Im Gegenteil. Es schien ihr sogar zu gefallen. „Jake ist in Ägypten, Seth in Frankreich.“ Er sah mich entgeistert an. „Du weißt, was das heißt“, flüsterte ich eindringlich. Nun war es Sam, der nickte. „Meinst du, sie werden wieder angegriffen, oder meinst du, sie sind dieses Mal die Angreifer?“, fragte ich. Beides war plausibel, wenn man die Ereignisse in den letzten Monaten betrachtete. „Ich denke, für uns spielt das keine Rolle. Wenn unsere Brüder und Schwestern in Gefahr sind, haben wir keine andere Wahl, als sie so gut es geht zu unterstützen.“ Mir war klar, dass er mit Brüdern und Schwestern Jake, Seth und Anthony und diejenigen, auf die sie geprägt waren, Renesmee und Mariella, meinte. Und als er von 'wir' sprach, ließ er mich insgeheim sicherlich außen vor. „Warum hat Jake uns nichts gesagt?“ Sam zuckte mit den Schultern. „Er hatte sicher gute Gründe uns das zu verheimlichen. Die Meisten von uns haben sich seit Jahren nicht mehr verwandelt und würden eine Familie zurücklassen, wenn sie im Kampf fallen sollten.“ Ich nickte abermals. Da hatte er Recht. Und doch war ich mir absolut sicher, dass das ganze Rudel in den Kampf ziehen würde. „Nun“, setzte Sam wieder an. „Unter diesen Umständen, muss ich wohl meinen Angelausflug kanzeln und unsere Brüder zusammenrufen.“ Ich setzte ein Lächeln auf. Brüder. Natürlich ließ er mich außen vor. Sam begleitete mich noch bis zu meinem Wagen. Kurz bevor ich einsteigen wollte, nahm er mich in den Arm und strich mir über den Rücken. „Keine Angst, Leah. Wir lassen sie nicht im Stich.“ „Wann soll's losgehen?“, fragte ich, nachdem er mich wieder losgelassen hatte. „Am Montagmorgen brechen wir auf“, sagte er. „Ich denke, das sollte reichen, um alle zusammen zu trommeln und noch ein klein wenig zu üben.“ „Okay.“ Mit einem mulmigen Gefühl startete ich den Motor und fuhr wieder zurück nach Hause. Es grämte mich nicht wirklich, dass er mich nicht mitnehmen wollte. Ich hatte drei kleine Kinder und war psychisch labil. Ganz zu schweigen davon, dass ich mich seit über einem Jahrzehnt nicht mehr verwandelt hatte. Ich hatte mir nie gewünscht, ein Werwolf zu werden. Ich wollte immer ein normales Leben. Auf die Verwandlungen zu verzichten fiel mir leicht. Ich verband nicht viel Gutes mit dem Dasein als Wolf. Man hatte wenig Privatsphäre, wenn das ganze Rudel im eigenen Kopf herumschwirrte, die Klamotten litten darunter und meine langen Haare waren mir auch lieb und teuer. Und trotzdem... das Wochenende nach meinem Gespräch mit Sam umfasste wahrscheinlich die zwiespältigsten zwei Tage meines Lebens. Ich liebte meine Kinder. Ich wollte immer in ihrer Nähe sein. Aber der Gedanke, die Anderen allein nach Irland fliegen zu lassen und hier zurück zu bleiben und um sie bangen zu müssen, war noch unerträglicher, als meine Kinder zu verlassen. Und dann war da noch dieses Verlangen in meinem Innern. Es war ein tiefes Verlangen. Es hatte sich an jenem Tag, an dem ich von Wills Tod erfahren hatte, in meine Seele gefressen, wie ätzende Säure: das Verlangen nach Vergeltung. Ich wollte Rache. Ich wollte Caius Kopf zwischen meinen kräftigen Kiefermuskeln zermalmen. Ich wollte den Vampir töten, der mir das Zentrum meines Universums genommen hatte. Aber war Rache wirklich die richtige Intention, um meine Kinder zu verlassen? Zwei Tage haderte ich mit mir. Lies mein Gewissen seinen inneren Kampf austragen, nur um letztlich doch Rain Sonntagnacht um zehn zu mir zu bitten. Sie eilte zu mir, so schnell sie konnte, dachte sie doch, ich sei mal wieder zusammen gebrochen. Umso überraschter hatte sie geschaut, als sie sah, dass ich in meinem Schlafzimmer damit beschäftigt war, die blaue Sporttasche mit ein paar Klamotten zu füllen. Ja, es war genau jene Tasche, die Will immer liebevoll die 'Geburtstasche' genannt hatte. Und nun nahm ich sie mit auf meinen wahrscheinlich letzten großen Kampf, denn selbst wenn wir gewinnen sollten, einen weiteren würde ich in meinem Leben nicht mehr kämpfen. Ich hatte genug Vampirkörper wie Porzellan zerschellen sehen. „Was hast du vor?“, fragte Rachels Tochter besorgt. Ich lächelte sie warm an. „Ich fliege zu meinem Bruder.“ „Du willst nach Irland? Aber... warum?“ „Hör zu“, bat ich. Ich nahm sie an den Schultern und gab leicht Druck, so dass sie sich aufs Bett setzte und mich erwartungsvoll musterte. „Es gibt da noch etwas, was ich tun möchte und es kann sein, dass ich nicht zurückkommen werde.“ „Was?! Aber Leah!“, rief sie entsetzt. Ich nahm ihr Gesicht in meine Hände. „Scht... scht...“, versuchte ich sie zu beruhigen. „Ich werde alles tun, um meine Kinder wiederzusehen, das verspreche ich dir.“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Was kann denn so wichtig sein, dass du so ein Risiko eingehst?“ „Will“, antwortete ich. „Will ist tot, Leah“, wimmerte sie. „Rache bringt ihn nicht zurück.“ Ich lächelte. Sie war eine unglaublich intelligente Frau. Während die Tränen ihr hübsches Gesicht hinunterliefen, beobachtete sie, wie ich nach dem Foto auf Wills Nachttisch griff. Ich strich sanft darüber. Es war ein sehr altes Familienfoto der Cullens. In der hinteren Reihe standen die Jungs, in der vorderen saßen die Mädels auf Stühlen. Als es aufgenommen wurde, waren die Drillinge noch ziemlich klein gewesen. Auf meinem Schoß lag Will. Er war körperlich und geistig der Jüngste und hatte das Shooting verschlafen. Auf dem Stuhl zu meiner Linken saß Esme. Hinter ihr stand Seth, auf dessen Schultern Mariella thronte. Ihre kleinen Finger griffen in sein kurzes schwarze Haar und sie strahlte. Sie alle strahlten. Alle, bis auf das Kind auf Renesmee's Schoß: Ani. Wenn ich so zurückdachte, hatte ich ihn eigentlich selten lachen sehen. Und wenn seine Mundwinkel doch mal nach oben wanderten, dann meistens aus Sarkasmus oder Ironie. Er hatte immer etwas düsteres an sich gehabt. Nie hatte ich seine Gegenwart als sonderlich angenehm empfunden. Weder als er ein Baby war, noch in den Jahren danach. Aber Will hatte ihn geliebt. Er hatte in seinem Bruder etwas gesehen, was mir stets verborgen geblieben war. Ich richtete meinen Blick wieder auf Rain und schüttelte sachte den Kopf. „Es geht mir nicht nur um Rache. Da ist noch etwas anderes.“ *** Am Montagmorgen fuhr ich wieder zu Sam. Es regnete wie so oft. Es war als würde der Himmel mit mir weinen, als ich meine Kinder im Morgengrauen verließ. Ich ging, als sie noch schliefen. Ein Kuss auf die Stirn, ein Strich durch ihre Haare, mehr erlaubte ich mir nicht. Als ich bei Sam ankam, waren die Anderen alle schon da. Sie wuselten wild durcheinander und verstauten die letzten Taschen in den Autos. Sam lächelte mich an, als ich aus meinem Wagen stieg. Als ich aber dann meine Tasche vom Rücksitz zog, entwich ihm das Lächeln prompt. „Was wird das, Leah?“, knurrte er überrumpelt. „Ich komme mit“, antwortete ich entschlossen. „Nein!“, fuhr er mich an. „Ich bin erwachsen, Sam. Ich kann für mich selbst entscheiden.“ „Du bist nicht zurechnungsfähig!“ „Denkst du, ja?“, fragte ich mit leicht bebenden Lippen. Das tat weh. „Ja, Leah. Das hier ist kein Rachefeldzug. Ich versuche nur zu retten, was noch zu retten ist.“ „Aber Seth-“ „-ist ebenfalls erwachsen“, unterbrach er mich. Er legte seine Hände an meine Schultern und sah mich eindringlich an. „Leah, willst du wirklich riskieren, deine Kinder zu Vollwaisen zu machen?“ „Manche Dinge, sind ein Risiko wert“, antwortete ich noch immer zitternd. Der Regen prasselte weiter erbarmungslos auf uns herab, aber es war nicht die Kälte, die meinen Körper schaudern ließ. „Ich würde es mir niemals verzeihen, wenn ich jetzt nicht mitginge.“ Sam schüttelte den Kopf. „Rache ist es nicht wert.“ „Ich würde lügen“, antwortete ich. „Wenn ich sagte, dass ich nicht auch deswegen mitgehe.“ „Aber?“ Nun war ich diejenige, die Sam tief in die Augen sah. „Ich will retten, was noch zu retten ist“, wiederholte ich seine Worte. Sam sah mich fragend an. Ich fuhr fort: „Will hat sein Leben verloren, als er seinen Bruder beschützen wollte. Alles was ich will ist, dass dieses Opfer nicht umsonst gewesen ist. Wenn er in diesem Kampf stirbt, will ich wenigstens sagen können, dass ich alles versucht habe, um das zu verhindern und wenn es bedeutet, mich selbst vor ihn zu werfen.“ Stille trat ein. In Sams Gesicht änderte sich etwas. Seine Kiefermuskel entspannten sich. „Und du meinst, dass das in Will's Sinn wäre?“ „Nein“, sagte ich kopfschüttelnd. „Aber er hätte es so getan. *** Während Sam draußen letzte Anweisungen gab, bat ich Emily, mir die Haare zu schneiden. Wenn ich schon untrainiert war, wollte ich wenigstens nicht über mein langes Fell stolpern. Es war seltsam, nach so vielen Jahren wieder mit einer Kurzhaarfrisur herumzulaufen. Will hatte meine langen ,seidigen ,schwarzen Haare immer so sehr gemocht und nun lag ein Großteil davon auf Emilys Fußboden. Sie sah mich missmutig an, als sie den Besen nahm, um sie zu einem Haufen zusammen zu fegen. Ich zwang mich zu einem optimistischen Lächeln. Als ich Stunden später meine Füße nach Monaten mal wieder auf irländischen Boden setzte, waren die verlorenen Haare wieder nebensächlich. Ein mulmiges Gefühl stieg ihn mir auf. Jenes Gefühl, dass in mir den Gedanken aufkeimen ließ, dass ich nie wieder nach La Push zurückkehren würde. Ich schluckte und folgte den Anderen. Die nahe Umgebung der Cullens roch nun besonders stark nach Vampir. Ich hatte den Geruch bei unseren regelmäßigen Besuchen schon als extrem penetrant empfunden. Ich wusste nicht, ob es daran lag, dass ich es nicht mehr gewöhnt war, oder am hohen Vampiraufkommen an diesem Ort, jedenfalls brannte der süßliche Geruch in meiner Nase. „Weiter“, trieb Sam uns an, nachdem wir angehalten hatten, weil uns der Gestank kurz erschaudern lies. Und dann kam das Anwesen immer näher. So nah, dass schließlich Details sichtbar wurden. Ich weiß nicht, warum ich plötzlich Sam überholte und die Führung übernahm, als ich Anthony auf der Veranda erblickte. Er sah etwas niedergeschlagen aus, was ungewöhnlich war, denn normalerweise zeigte er seine Stimmung nie, aber wahrscheinlich hatte er sich hier draußen unbeobachtet gefühlt. Selbst als er aufblickte und uns, allen voran mich, anstarrte, ging ich weiter. Ich hatte nicht vergessen, was ich Rain und Sam anvertraut hatte und doch, jetzt wo ich ihn wieder vor mir hatte, kehrte die Erinnerung an unser Aufeinandertreffen im Flur zurück. Ich hatte nicht vergessen, wie ich ihn geschlagen, ihn angeschrien hatte. Er hatte es stumm hingenommen. Und auch jetzt sagte er keinen Ton, wich nur zurück. War er wirklich so naiv gewesen, anzunehmen, dass wir nicht davon erfahren würden, was sie vor hatten? Wie konnte er uns, Jakes und Seths Familie und Freunde, einfach so außen vor lassen? Hatten wir nicht auch ein Recht darauf, selbst zu entscheiden, ob wir unser Leben für sie riskierten oder nicht? Warum hatten sie Fremden aus aller Welt diese Möglichkeit gegeben, aber uns nicht? Wir hatten in der Vergangenheit gut gekämpft und waren im Kampf sicherlich nicht weniger wert, als ein Vampir es wäre. Ohne, dass ich es so richtig wollte, drängte ich ihn gegen die Wand. „Lee-Lee!“, brüllte Sam. Ich stoppte meinen wirren Gedanken und sah hoch zu Anthony. Ich sah in seine smaragdgrünen Augen. Es war als würde ich in Wills sehen. Das selbe schöne Grün. Ich ließ ihn los und strich mir über die Stirn. Was tat ich hier überhaupt? War ich nicht mit dem Gedanken hier her gekommen, ihm zu helfen, wie Will es getan hätte? Und nun knallte ich ihn prompt gegen die nächste Hauswand? Ich seufzte. Wenn ich wirklich mein Vorhaben würde umsetzen wollen, musste ich meinen inneren Groll irgendwie überwinden. „Ani?“ Plötzlich stand ein Mädchen mit langem braunem Haar und grauen Augen neben uns. Ich kannte sie nicht, hatte keinen blassen Schimmer wer sie war, aber ihr Geruch verriet mir sofort, was sie war. Wie viele Halbvampire gab es denn noch und was machte dieses Mädchen hier? Und in welcher Beziehung stand sie zu Anthony? Und dann erblickten meine Augen das kleine Kind in ihren Armen. Sie zauberte mit ihrem Strahlen ein Lächeln in mein Gesicht. Sie war kein Mensch und wirkte doch menschlicher, als wir alle. Das kleine Mädchen in den Armen, der mir unbekannten Halbvampirin, erinnerte mich unweigerlich an Will, als er noch ein Baby gewesen war. Und in diesem Moment wurde mir klar, dass meine Entscheidung, hier her zu kommen, vielleicht gar nicht so schlecht war... - Ende Kapitel 14 - Kapitel 21: Gutes Training ist der halbe Sieg --------------------------------------------- „Du kannst mich nicht einfach fortschicken!“, protestierte Leah. Sie stand mitten im Wohnzimmer, während es sich ein paar unserer Gäste auf der Couch bequem gemacht hatten. Wo der Rest gerade war, wusste ich nicht. „Alpha!“, antwortete mein Vater. Er führte nicht weiter aus, was das bedeutete und ließ damit Dreiviertel der Anwesenden unwissend, aber ich wusste es. Er war der Anführer des Rudels. Waren die Mitglieder in Wolfsgestalt, konnte er sie dazu zwingen das zu tun, was er von ihnen verlangte. Nun, da ich mich dem Rudel angeschlossen hatte, konnte er das auch bei mir machen, wenn er es denn wollte. Bisher war es noch nicht dazu gekommen, weil ich mich seit dieser jämmerlichen Verwandlung in ein kleines Karnickel nicht mehr verwandelt hatte, aber ich wartete nur auf den Tag, an dem er seine neu gewonnene Macht gegen mich verwendete. Da Leah aber nun in Menschengestalt vor ihm stand, konnte er sein Privileg nicht nutzen und wenn er sich nicht durchsetzen konnte, wurde er gern immer etwas lauter. Ich kannte das zur genüge. „Ich habe genauso ein Recht hier zu sein, wie alle anderen auch“, sagte Leah. „Die Anderen sind aber nicht so verblendet wie du!“ Leah starrte ihn fassungslos an. „Was soll denn das bitte heißen, Jake?!“ Er trat näher an sie heran und legte eine Hand auf ihre Schulter. „Mir ist klar, warum du mitkämpfen möchtest, Leah. Ich kämpfe wahrscheinlich aus dem selben Grund. Aber Will hätte das nicht gewollt. Er hätte gewollt, dass du dich um eure Kinder kümmerst. Unter keinen Umständen hätte er zugelassen, dass sie allein gelassen werden. Sie haben schon ihren Vater verloren. Lass sie nicht auch noch ihre Mutter verlieren. Bitte.“ Ich sah, wie ihrer beiden Augen glitzerten, als er die Worte aussprach. Leah schürzte die Lippen, dann schob sie mit entschlossenem Blick seine Hand von ihrer Schulter. „Ich weiß, was er gewollt hätte, aber hier geht es darum, was ich will.“ Vater schüttelte den Kopf, dann ließ er seinen Blick hilfesuchend durch den Raum wandern und landete bei Sam. „Sam“, sprach er zu ihm, „sag du doch auch mal was.“ Sam lächelte bitter. „Vergiss es, Jake. Ich hab schon den kompletten Flug versucht, sie zum Umdenken zu bewegen.“ Wieder sah mein Vater Leah an. Man konnte förmlich sehen, wie die Rädchen in seinem Gehirn arbeiteten, aber das absolute Totschlagargument hatte er ja schon gebracht. Wenn sie nicht für ihre Kinder auf das Risiko verzichten wollte, für was dann? „Also gut“, sagte er plötzlich und alle Augenpaare im Raum richteten sich mit einem Mal gespannt auf ihn, auch Leah sah erwartungsvoll zu ihm empor. „Dann kämpfst du eben mit uns. Aber du wirst mich nicht davon abhalten, dass ich dafür sorge, dass du vierfach flankiert wirst.“ Leah lächelte leicht. „Damit kann ich Leben.“ „Oder sterben“, antwortete Vater und ging zur Terrassentür hinaus. Leah blieb stumm zurück. Als ihr Blick anschließend auf mich fiel, stand ich vom Sofa auf und ging ebenfalls nach draußen. Ich konnte ihr immer noch nicht wirklich in die Augen sehen. Ich hatte zwar das Gefühl gehabt, dass sich ihr Groll mir gegenüber etwas gelegt hatte, aber sicher war ich mir nicht, also ging ich ihr lieber aus dem Weg. Die Wiese vor unserem Anwesen war inzwischen zu einem Trainingscamp umfunktioniert worden. Die hohen Mauern um das weite Gelände schützten uns vor neugierigen Blicken, Besucher hatten wir ohnehin nur selten. Ich setzte mich auf die Verandatreppe und sah dem Treiben zu. Die meisten Trainierenden waren heute Wölfe. Sie übten hauptsächlich das möglichst reibungslose Verwandeln in die Wolfsgestalt. Viele von ihnen waren nach der langen Zeit als Mensch etwas eingerostet, was das anging. Ich seufzte. Ob sie es jemals vermisst hatten? Ich tat es. Ich vermisste die Freiheit, die man als Tier spürte. Besonders intensiv hatte ich dieses Gefühl gehabt, wann immer ich als Vogel durch den Himmel geflogen war. Ich sah auf Sams muskulöse Waden, als er neben mir die wenigen Stufen zur Wiese hinunter lief. Er schenkte mir keine weitere Beachtung, sondern lief direkt zu der Traube Wölfe, die einige Meter vom Haus entfernt, teilweise verwandelt und teilweise menschlich, herum standen. Noch während er ging, verwandelte er sich und ging die letzten Schritte auf Pfoten zu ihnen. Er sah die verbliebenen menschlichen Gestaltwandler an, sie nickten, dann verwandelten auch sie sich. Manche brauchten einige Sekunden und teilweise sah ihre Verwandlung leicht verkrampft aus, aber sie schafften es. Nun sahen sie aus, als würden sie sich unterhalten. Plötzlich stiegen wieder zwei Beine eilig die Stufen hinab. Diesmal war es mein Vater. Auch er sah mich nicht weiter an und hatte seinen Blick auf Sams Rudel gerichtet. Wie dieser zuvor, verwandelte mein Vater sich, während er ging. Ich schlang meine Arme um meine Beine, bettete mein Kinn auf meine Knie und beobachtete, wie mein Vater und Sam sich einander näherten. Wenn ich mich recht erinnerte, hatte Will mir mal von der Kommunikation zwischen Alphas erzählt. Man konnte die Gedanken anderer Rudel nicht hören, deren Anführer aber, konnten miteinander mental sprechen, allerdings konnten sie frei entscheiden, was sie mitteilen wollten und was nicht. Es war also bei weitem privater als innerhalb des eigenen Rudels. Ich wünschte, Mutter Natur hätte das bei allen Wölfen so eingerichtet. Mir graute es jetzt schon davor, obwohl ich bisher nur meinen Vater in meinem Kopf gehabt hatte – und Edward, wenn man es genau nahm. Meine Schwester setzte sich neben mich und lächelte mich an. Seth war natürlich nicht weit von ihr entfernt. Er ignorierte die Treppe, sprang über das Geländer und verwandelte sich im Sprint, um sich zu den Anderen zu gesellen. Mariella strich mir über den Arm und lehnte ihren Kopf an meine Schulter. Sie spürte meine Anspannung. Es fühlte sich an, als verspotteten sie mich. Natürlich taten sie das nicht wirklich, aber in diesem Augenblick kam es mir so vor. Es war wie damals, als ich im Auto sitzen bleiben und zusehen musste, wie Will in den Kindergarten gebracht wurde, Tag für Tag. Nicht ganz so schlimm, aber es war ein ähnliches Gefühl. Das Gefühl nicht dazu zu gehören. Zum inzwischen dritten Mal sah ich im Augenwinkel ein paar Beine neben mir und verdrehte die Augen. Ich wartete nur darauf, dass auch Carlisle einfach an mir vorbei lief, doch stattdessen setzte er sich plötzlich neben mich. Meine Schwester und ich sahen ihn etwas verwundert an. Er lächelte sein berühmtes Lächeln. Dieses Lächeln, von dem man nie sicher war, ob es ernst gemeint war oder nicht. Er konnte einem nahezu alles diagnostizieren und dabei immer noch so lächeln. Lernte man so was eigentlich beim Medizinstudium? Ich musste Edward mal fragen, er hatte ja mehr als ein solches hinter sich. „Du kannst dich ihnen anschließen, wenn du möchtest“, sagte er. „Was?!“ Es hörte sich zu schön an, um wahr zu sein. Carlisle nickte noch immer mit einem Lächeln auf den hellen Lippen. Ich wand meinen Kopf auf die andere Seite und sah meine Schwester an. Ihre schokoladenbraunen Augen musterten mich, wie so häufig in letzter Zeit, mit einem Anflug von Besorgnis. Ich drehte mich noch einmal zurück zu Carlisle. „Ist schon in Ordnung“, sagte er. Mariella ließ meinen Arm los und ich stand auf. Ich ging die kleine Holztreppe hinunter, bis meine Schuhsohlen das weiche, grüne Gras berührten. Und plötzlich spürte ich wieder alle Blicke auf mir. Die Vampire hinter mir, die Wölfe vor mir, starrten mich dutzende Augenpaare an. Ich schluckte. Was das Verwandeln anging, hatte ich das Talent meines Vaters geerbt. Trotzdem keimte Nervosität in mir auf, als ich begann, mich wenigstens ein paar Kleidungsstücke zu entledigen. Wenn das hier schief ging, würde es richtig, richtig peinlich werden. Ich durfte gar nicht daran denken, was passieren konnte. Ich hatte es nie, es hatte immer funktioniert. Es war für meinen Bruder und mich immer so selbstverständlich gewesen, wie es für andere das Laufen oder Atmen war. Apropos Atmen. Ich atmete noch einmal tief ein und schloss dabei die Lider. Als ich sie aufschlug, machte ich einen Satz nach vorn und ließ die Hitze in mir aufsteigen. Diese pulsierenden Wellen, die sich von Zehen- bis zu den Haarspitzen zogen und den Körper erzittern ließen, um ihm eine neue Form zu ermöglichen. Es gab ein reißendes Geräusch und der große schwarze Wolf brach aus mir heraus. Nun stand ich auf vier Pfoten auf der Wiese, kaum zwei Meter von der Stelle entfernt, an der mein Kleiderhaufen lag. „Wow. Das war gut. Ani, du bist ein Naturtalent“, hörte ich Embrys Gedankenstimme in meinem Kopf hallen. „Naturtalent? Er ist ein geborener Alpha. Es liegt ihm im Blut“, sagte mein Vater stolz. Wäre ich ein Mensch, hätte ich jetzt gelächelt. Wäre ich ein Hund, hätte ich mit dem Schwanz gewedelt. Aber ich war ein Wolf, stolz und anmutig und so war alles was ich tat, an Ort und Stelle stehen zu bleiben und meinen Vater mit meinen noch immer smaragdgrünen Augen anzusehen. „Er ist ein Wolf?!“ Eine laut ausgesprochene Frage. Alle fuhren herum und musterten die Fragestellerin: Leah lehnte gegen das Geländer und starrte mich an. Ihre Reaktion wunderte mich nicht. Ich hatte mich immerzu geweigert, diese Gestalt anzunehmen, obwohl ich es hätte können. Will war der Wolf gewesen, der Sohn des Alpha, nicht ich. Er hatte mich so oft zum Umdenken bewegen wollen, hatte stundenlang auf mich eingeredet, hatte mir erzählt, wie sehr Vater sich darüber freuen würde. Er hatte immer die Hoffnung gehabt, dass wir dadurch die Distanz zwischen uns würden überwinden können. Dass diese Kluft zwischen uns kleiner werden würde, wenn ich meinem Vater Zugriff auf meine Gedanken und Gefühle gab. Aber ich hatte allein den Gedanken daran, mich derart schutzlos dem Zugriff Anderer auszusetzen, gehasst. Und auch jetzt war es noch seltsam. Ich fragte mich, ob ich mich je daran würde gewöhnen können und erntete im nächsten Moment leises Winseln und traurige Blicke von den anderen Rudelmitgliedern und meinem Vater. „Ich hoffe es“, sagte er leise. „Hey!“ Leah forderte unsere Aufmerksamkeit wieder zurück. Entschlossenen Blickes sprang sie, wie zuvor ihr kleiner Bruder, über das Geländer. Ihren Platz nahm Sangreal ein, die Nayeli im Arm hielt. Genau wie sie, sahen nun auch alle anderen Leah langsamen Schrittes auf uns zugehen. Kurz vor uns blieb sie stehen und verwandelte sich. Wahrscheinlich hatte kein anderer der anwesenden Gestaltwandler eine so lange Zeitspanne seit seiner letzten Verwandlung gehabt, wie Leah, dementsprechend nahm ihr das kurze Zögern niemand übel. Vor mir stand nun der kleine, graue Wolf, den ich zuletzt gesehen hatte, als Will ein Teenager gewesen war. Früher hatte sie sich oft verwandelt, um mit ihm irgendwann gleichauf zu sein, was das Alter anging. „Dann wollen wir doch mal sehen, ob du es wert bist, dass dich alle so fasziniert anstarren.“ Obwohl es nur ihre Gedanken waren, die ich in meinem Kopf hörte, war ihre Arroganz kaum zu überhören. „Leah?!“, fragte mein Vater halb verdutzt, halb mahnend. Sie trat näher an mich heran. Unsere kalten Nasen waren gerade mal eine Pfote breit voneinander entfernt. Ihre dunklen Augen fixierten mich. „Bereit für eine kleine Herausforderung?“, ignorierte sie eiskalt meinen Vater. „Jederzeit“, antwortete ich. Ich hatte zwar keine Ahnung, worauf sie hinaus wollte, da sie den Gedanken daran noch nicht in der Wolfsform gedacht hatte, hatte aber auch keine Lust, ihr zu widersprechen, dafür war meine Schuld an ihrem Verlust einfach zu groß. „Was geht da vor sich, Daddy?“, hörte ich das nervöse Sopran meiner Mutter im Hintergrund. „Leah möchte gern wissen, ob sie nach dem Neuzugang im Rudel immer noch den Status als schnellster Werwolf inne hat“, antwortete Edward. „Ein Rennen?“, fragte ich verdutzt. Leah nickte. „Okay und wo ist die Ziellinie?“ „Brauchen wir nicht. Spätestens an der Küste müssen wir stoppen, aber bis dahin werden wir schon längst wissen, wer wen abhängt.“ „Na dann.“ Plötzlich trat einer der Vampire näher an uns heran. Es war Benjamin aus dem ägyptischen Zirkel. „Ich kann euch den Startschuss vorgeben, wenn ihr möchtet“, bot er uns mit einem leichten Akzent in der Stimme an. Dass wir ihn nicht an knurrten, nahm er offenbar als Zusage. Er nickte und hob seine olivfarbenen Hände in Richtung Himmel. Zwischen seinen beiden Handflächen bildete sich eine Kugel aus Wasser, die aus dem Nirgendwo zu kommen schien. Wahrscheinlich zog er das Element aus der Luft oder den umliegenden Pflanzen. Er lächelte uns an, ohne die Arme runterzunehmen. Die Kugel schwebte schwerelos und man sah, wie das Licht der untergehenden Sonne sich in ihr brach. „Wenn das Wasser den Boden berührt“, erklärte er. Wir hatten verstanden und nickten. „Fertig?“, fragte er. Wir gingen in Stellung. „Leah, ich denke nicht, dass das eine gute Idee ist“, sagte mein Vater. Leah knurrte. „Ach, sei keine Memme, Jake. Er ist nicht aus Glas!“ Mein Vater schnaubte zur Antwort, dann ließ der Ägypter die Kugel fallen. In dem Moment, in dem sie auf dem Boden platzte, fegten wir los, quer über die Wiese und anschließend hinein in den Wald. Eine ganze Zeit lang, waren wir gleichauf, als wir über Stock und Stein rannten. Leah war trotz ihrer langen Pause unglaublich flink. Ich war minimal kleiner, als mein Vater, sie dagegen, war nochmal ein ganzes Stück kleiner, als ich, vielleicht sogar der kleinste Wolf des Rudels. Das kam ihr aber in diesem Moment sicher zu Gute, denn so hatte sie es einfacher, zwischen zwei engen Bäumen durchzuspringen. Im Halbdunkel der letzten Sonnenstrahlen des Tages, verließen wir schließlich den Wald. Wir sprinteten auf weiter Flur und würden uns wahrscheinlich bald der Küste nähern. Leah rannte drei Wolfslängen vor mir und schien überhaupt nicht müde zu werden. Vielleicht überspielte sie ihre Müdigkeit auch nur, aber mir schien es zehn Minuten später fast unmöglich, sie noch zu überholen. „Gibst du auf?“, fragte sie neckisch. „Ja“, gestand ich meine Niederlage ein. „Gut.“ Sie machte natürlich keinen Hehl daraus, dass es ihr gefiel, gewonnen zu haben. Wir stoppten kurz vor dem nahen Strand und ich lies mich sofort auf dem Boden nieder. Normalerweise verausgabte ich mich in einer Tiergestalt nie so sehr, es war ungewöhnlich, vier Beine zu haben, die sich anfühlten als seien sie aus Blei. Ich zog Vögel ohnehin vor. Der Wind nahm einem da das meiste ab. Hier aber war die Schwerkraft erbarmungslos. Leah trat näher an mich heran und sah zu mir hinunter. „Man merkt, dass du wenig Erfahrung als Wolf hast“, merkte sie an. „Sich einfach hinzulegen, wenn man müde ist, kann in einer Notsituation böse ausgehen.“ „Ach?“, fragte ich und setzte mich auf. „Es ist besser man geht langsam weiter und bleibt wachsam. Du bist kein Yorkshire Terrier.“ „Sehr witzig“, sagte ich sarkastisch. „Leah“, schaltete sich mein Vater plötzlich ein. Selbst seine Gedanken klangen wütend. „Genug gespielt. Dreht wieder um.“ Es war noch nicht seine Alphastimme, aber Leah hatte die böse Ahnung, dass sie es bald werden würde. „Habt ihr immer noch überall eure Klamotten-Verstecke verteilt?“, fragte Leah. Sie erinnerte sich wohl an die Zeit, in der sie sich häufig verwandelte, während Will vom Kind zum Teenager heranwuchs. In La Push hatten es sich die Wölfe angewöhnt, ihre Kleidung vor einer Verwandlung ans Bein zu binden. Später waren sie darauf umgestiegen, ihre Klamotten vorher irgendwo zu verstecken. Auch ich hatte diese Methode für meine Streifzüge übernommen und nickte. Die Küste war eins meiner beliebtesten Ausflugsziele, dementsprechend hatte ich hier natürlich auch das eine oder andere Versteck. Ich führte Leah zurück in den, der Küste angrenzenden Wald. Hier hatte ich vorsorglich unter einem Stein, eine Plastiktüte mit einigen Kleidungsstücken verstaut. Es war natürlich kein Kleid darunter, aber Leah scherte sich zum Glück nicht weiter darum. Wenn als zweite Option nur das Nackt herumlaufen zur Wahl stand, schien es für sie auch nicht mehr allzu tragisch zu sein, meine Klamotten zu tragen. „Leah, Anthony! Ihr sollt euch nicht zurückverwandeln, ihr sollt einfach wieder kommen“, kam es von meinem Vater erneut. „Jake, wo ist dein Problem?“, wollte Leah wissen. „Sind die Volturi schon im Anmarsch?“ „Nein. Mir ist einfach nicht wohl dabei.“ „Guck weg“, sagte Leah nun an mich gewandt und ignorierte meinen Vater. Ich drehte mich um und wartete, bis ich sie mit einigen Kleidungsstücken in Menschengestalt fortgehen hörte, dann verwandelte ich mich ebenfalls zurück. Es war das erste Mal, dass ich mit Leah wirklich allein unterwegs war. Wir hatten nie sonderlich viel Kontakt gehabt. Will war Vater gegenüber immer so loyal gewesen, wie kein Anderer. Sie hatten meistens dieselbe Meinung gehabt und sich blendend verstanden. Umso erstaunter war ich nun zu sehen, dass seine Frau meinem Dad nicht aufs Wort zu gehorchen schien. Im Gegenteil, Leah wirkte regelrecht rebellisch ihm gegenüber und obwohl ich mich nun mit meinem Vater besser verstand, gefiel mir das durchaus. Ich war gerade damit beschäftigt, mein dunkelgraues Hemd zuzuknöpfen, da kam Leah zurück. Sie hatte sich einfach eins meiner Hemden genommen und es zu einem schwarzen Minikleid umfunktioniert, indem sie sich einen Gürtel um die Taille gebunden hatte. „Immer noch der alte Schwarzseher“, sagte sie und spielte damit wahrscheinlich auf meine Lieblingsfarbe an, denn auch das Hemd, das sie trug, war schwarz. Ich lächelte und widmete mich dann wieder meinen Knöpfen. Leah nahm die Tüte und schob sie mit den restlichen Klamotten, die sich darin befanden, zurück an ihren ursprünglichen Platz. Drei Knöpfe waren noch übrig, da hielt ich plötzlich inne. Ein süßlicher Geruch, stieg mir in die Nase. Ganz leicht nur, aber er war da. Das Geraschel der Tüte, als sie sie unter den Stein schob, störte mich. „Leah, Stopp!“, sagte ich nur. Sie erstarrte abrupt, dann lies sie das Plastik los und stand langsam auf. „Was ist?“, flüsterte sie. „Riechst du das nicht? Wir sind nicht allein.“ „Anthony, ihr habt zig Vampire nach Irland geholt“, gab sie zurück. „Deren Geruch ist mir bekannt, diesen hier kenne ich nicht.“ „Sicher?“, fragte sie besorgt. Ich nickte. „Zum Anwesen“, sagte ich dann, „LOS!“ Wieder starteten wir gleichzeitig. Dieses Mal in menschlicher Form. Wir rannten den Weg zurück, den wir gekommen waren. Über die Felder ging es in den Wald auf direktem Weg nach Hause. War sie als Wolf noch deutlich schneller als ich gewesen, hatte ich nun die Nase vorn. Das war für mich eigentlich keine Überraschung. Ich war teilweise sogar schneller als die meisten vollwertigen Vampire. Ich hatte die Vermutung, dass ich gegen Neugeborene den Kürzeren ziehen würde, was Schnelligkeit anging, aber ansonsten war dies ein Vorteil, den ich als Hybrid inne hatte. Ich konnte damit ein wenig ausgleichen, dass ich im Zweikampf schwächer war, als sie. Selbst nach zehn Minuten durchgehenden Rennens, hatten wir unsere Verfolger noch nicht zu Gesicht bekommen, aber wir wussten beide, dass sie hinter uns her waren. Vielleicht waren es weitere Abgesandte der Volturi, vielleicht waren es einfach irgendwelche fremden Vampire, die sich über die plötzliche Vampir-Dichte in Irland gewundert hatten, wir wussten es nicht. Wir liefen einfach nur. Der Weg zurück dauerte länger. Leah ließ mehr und mehr nach und ich versuchte mich ihrem Tempo anzupassen. In mir keimte der Verdacht auf, dass es sich nicht nur um einen Vampir, sondern um einen Zirkel aus mehreren handelte. Als wir im Waldgebiet in der Nähe unseres Anwesens ankamen, hallte schließlich ein hohes weibliches Lachen durch die Baumwipfel. Leah sah mich während des Rennens erschrocken an. „Lauf weiter“, sagte ich zu ihr, dann machte ich einen Satz nach oben und landete direkt auf einem Ast über mir. Ich kannte diese Wälder und ihre Bäume und wusste in der Regel, welcher Ast mich trug und welcher nicht. Während ich Leah unten weiter über den Waldboden rennen sah, sprang ich über ihr durch die Kronen. Vielleicht würde ich unsere Verfolger so eher entdecken. In der Tat spürte ich ihre Präsenz hier noch deutlicher und meinte auch einen Schatten zwei Baumkronen weiter gesehen zu haben. In dem Moment, in dem Leah am Waldrand auf die Lichtung rannte, auf der wir unseren Wettkampf gestartet hatten, machte ich einen Satz nach vorn, mit dem ursprünglichen Gedanken, ebenfalls aus dem Wald heraus zu kommen und Deckung durch die restlichen Vampire und Werwölfe zu erhalten. Mein Glück meinte es jedoch, wie so häufig, nicht sonderlich gut mit mir. Ich spürte wie mich etwas nach unten riss, dann knallte ich mit dem Rücken ins Gras. Es war nur ein kurzer, stechender Schmerz, den ich fühlte, ehe wieder verheilt war, was auch immer ich mir durch den Sturz angeknackst oder verstaucht hatte. Ich hätte zufrieden sein können, schließlich war mir nichts weiter passiert, doch noch bevor ich die Augen aufschlagen konnte, landete irgendetwas oder irgendjemand auf mir. Ich öffnete meine Lider und blickte in zwei blutrote Augen. Sie gehörten zum Gesicht einer jungen Dame mit perfekten Gesichtszügen, die von einem langen Vorhang dunkelbrauner, seidener Haare eingerahmt wurden. Erst als ich mich von ihrem Blick gelöst hatte, bemerkte ich den Tumult, der hinter uns losgebrochen war. Ich wollte nachsehen, konnte mich aber kaum rühren. Sie wog wahrscheinlich gerade mal fünfzig Kilo, hatte aber keine Schwierigkeiten, mich am Boden festzunageln. Ihre äußerlich zarten Finger hatten sich in Meine gekrallt, die links und rechts, etwas über meinem Kopf, mit dem Handrücken nach unten, lagen. Ich konnte nur noch meinen Hals leicht bewegen, aber das reichte aus, um wenigstens ein wenig mitzubekommen, was um mich herum geschah. Zwischen meinem Sturz und jetzt waren kaum fünf Sekunden vergangen und schon preschte mein Vater unter wildem Knurren auf uns zu, wurde jedoch von Edward aufgehalten. „Jacob“, rief er, „Nicht!“ Mein Vater stoppte nur wenig vor uns. Ich meinte sogar seinen heißen Atem, den er unter dem immerzu selben tiefen, warnenden, Knurren aus seiner zähnefletschenden Schnauze hervor presste, zu spüren. Den Vampir, der es sich auf mir bequem gemacht hatte, kümmerte seine Gegenwart offensichtlich nicht weiter. Sie schien ihn einfach zu ignorieren, sah die ganze Zeit über nur mich an und machte keine Anstalten, mich loszulassen. Ohne, dass ich es tatsächlich beeinflussen konnte, entfuhr auch mir ein kurzes Knurren. Es war um ein vielfaches leiser, als das meines Vaters und doch zeigte sie ausgerechnet darauf eine Reaktion. Sie lächelte mich mit dunkelroten Lippen an und legte dann ihren hübschen Kopf schief. „Mhm...“, murmelte sie und beugte sich langsam zu mir hinunter. Mit jedem Zentimeter, den sich ihr Gesicht meinem näherte, wurde mein Vater noch lauter. „Siehst aus wie ein Mensch, verhältst dich aber, wie ein Vampir … du musst Anthony sein.“ Dass sie meinen Namen wusste, war für mich nicht gerade beruhigend, im Gegenteil. Hinter uns, setzte sich Edward in Bewegung. „Stefan, Vladimir. Tretet doch aus dem Schatten, wir würden euch gern alle begrüßen“, sagte er und sprach damit zu zwei Vampiren, die sich bisher verdeckt gehalten hatten und nun zwischen den Bäumen und Sträuchern am Waldrand hervortraten. Auf meiner linken Seite war es ein Vampir mit dunkelbraunem Haar, auf meiner Rechten ein weiterer mit aschblondem. Ich kannte sie nicht. Sie gehörten nicht zu den alten Verbündeten, die uns über die Jahre gelegentlich besucht hatten. Ihre Haut war ähnlich papieren, wie die der Volturi. Sie mussten also sehr alt sein. Mit verschränkten Armen standen sie nun da, würdigten mich nur eines kurzen Blickes und ließen ansonsten ihre Blicke über die Reihen befreundeter Zirkel und Rudel schweifen. „Edward Cullen, es ist gar nicht so lange her“, sagte der Rechte und lächelte leicht. „In der Tat“, antwortete mein Großvater. „Für unsereins“, fügte er hinzu. Das Mädchen über mir sah für einen Moment auf und warf einen Blick zu dem, der eben gesprochen hatte. Sie musterten einander für eine Sekunde, dann huschten ihre roten Augen zu meinem Vater, dessen Knurren ein permanentes Hintergrundgeräusch geworden war. Als sie ihn ansah, verengten sich die Augen der Vampirin zu schlitzen, dann lachte sie kurz auf, ehe sie sich wieder zu mir herunter beugte und ihre Lippen auf meine presste. Ich starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Es war mein erster Kuss mit einem vollwertigen Vampir. Es fühlte sich kalt und hart an und abgesehen von ihrem süßlichen Geruch, nahm ich nur den Geschmack ihres Kirschlippenstiftes wahr. Ich hatte ganz sicher schon schlechtere Küsserinnen gehabt, trotzdem war mir noch kein Kuss so unangenehm wie dieser gewesen. Ich kniff die Augen zusammen und wollte mich ihr entziehen, aber der Druck, den sie auf mich ausübte, war zu stark. „Hey!“, hörte ich Sangreal empört rufen und auch meine Mutter meldete sich zu Wort. „Daddy!“, mahnte sie Edward, ebenfalls mit deutlicher Empörung in der Stimme. Wahrscheinlich verstand sie genauso wenig wie ich, warum er meinen Vater zurückgehalten hatte. Dieser knurrte das Mädchen weiterhin an, griff ansonsten aber nicht ein, obwohl ihm das wahrscheinlich ziemlich schwer fiel. „Vladimir, könntest du deinen Neuzugang freundlicherweise bitten meinen Enkel nicht weiter sexuell zu belästigen?“, fragte Edward gespielt höflich. Wäre nicht ich es, um den es hier ging und fühlte ich mich nicht so verdammt hilflos, hätte ich wahrscheinlich sogar gelacht. „Sicher“, antwortete Vladimir erheitert. „Auch wenn ich der Ansicht bin, dass er es als Ehre ansehen und genießen sollte.“ Die Vampirin ließ von mir ab und lächelte mich wieder an, als hätte sie meine Gegenwehr überhaupt nicht wahrgenommen. Ich wollte gar nicht wissen, für wie viele Männer das der Todeskuss gewesen war. Sie mochte schön sein, sie zu küssen jedoch, hatte sich für mich angefühlt, als küsste ich eine Statue. Der heiße Atem meiner Partnerin, den ich sonst immer auf meiner Haut spüren konnte, hatte gefehlt. Ich erinnerte mich an Wills einstigen Vorschlag, das Mädchen, in das ich mich eventuell mal verlieben würde, in einen Vampir zu verwandeln, sollte sie ein Mensch sein, um die Ewigkeit mit ihr verbringen zu können. In diesem Moment wusste ich, dass dies niemals eine Option sein würde. „Du bist süß“, flüsterte sie mir ins Ohr. „Aber wäre ich Caius, wärst du jetzt tot.“ Ich sah sie mit leicht geöffnetem Mund an, dann gab sie meine Hände frei und stand auf. Ich war noch gar nicht richtig auf den Beinen, da packte meine Mutter meinen Arm und zog mich einige Meter weiter nach hinten zu Sangreal. „Alles okay?“, fragte diese und legte ihre Hand auf meine Schulter. „Ja“, sagte ich. „Nur etwas atemlos.“ Sie sah mich ausdruckslos an. „Vom vielen Rennen, nicht wegen dem Kuss!“, fügte ich eilig hinzu. Sie nickte und setzte sich neben mich. Ich schluckte leicht. Wenn sie schon wegen so etwas so drein sah, wie würde sie erst reagieren, wenn ich es je über mich bringen würde, ihr von der Sache mit Cat zu erzählen? „Nun, was führt euch zu uns?“, fragte Edward unsere neuen Besucher. „Wir hörten Gerüchte“, antwortete der, der sich Stefan nannte. „Ihr sollt erneut den italienischen Abschaum herausfordern wollen, sagt man sich“, sagte der Andere. „Nur dieses Mal soll es nicht bei Worten bleiben“, fügte sein Freund wieder hinzu. Es war, als würde nur einer von ihnen sprechen, so sehr ergänzten ihre Sätze sich. *** Wir zogen uns mit unseren neuen und alten Gästen ins Wohnzimmer zurück. Die Vampire verteilten sich im Wohnzimmer und den angrenzenden Bereichen so, dass sie einen guten Blick auf die Neuankömmlinge hatten oder wenigstens dem Gespräch lauschen konnten. Ich hatte mich, Mariella zu meiner Linken, Sangreal mit Nayeli auf dem Schoß zu meiner Rechten, auf dem Sofa niedergelassen. Uns gegenüber saßen die Rumänen. Auch ohne, dass ich genau hinsah, wusste ich, dass die Mädchen an meiner Seite ihr Gegenüber mit bösen Blicken taxierten. Wenn Blicke töten könnten... Der Rest der Anwesenden nahm von meiner kleinen privaten Soap-Opera keine Notiz und fuhren mit den Gesprächen fort. Mein Techtelmechtel auf der Wiese war für sie schon bei den Akten. „Wir sind natürlich über jede Art von Unterstützung erfreut“, erklärte Carlisle sachlich. „Aber bitte seid euch bewusst, dass wir die Volturi nicht angreifen wollen, um euch den Weg zurück zu eurer einstigen Herrschaft zu ebnen.“ Die Rumänen lachten. „Keine Sorge, Carlisle. Wonach es uns verlangt ist nicht Macht, sondern Rache“, antwortete Stefan. „Die Volturi nahmen uns nicht nur unsere Heimat und unseren Status, sondern auch unsere Gefährtinnen“, sagte Wladimir. Ein Augenblick der Stille trat ein. Es war eine drückende Stille. Abgesehen vom Zirpen der Grillen draußen, nahm man nur noch das Schlagen der lebenden Herzen wahr. „Ihr kennt das Gefühl, nicht wahr?“, meldete sich plötzlich ihre weibliche Begleitung zu Wort und zog sogleich alle Blicke auf sich. „Das Gefühl von Verlust. Die Leere die zurück bleibt, wenn man eine wichtige Person für immer verliert.“ Ihr Blick wanderte zu meinen Eltern. „Einen Sohn.“ Zu Mariella. „Einen Bruder.“ Und zuletzt zu Leah. „Einen Mann und Vater.“ Mein Mund stand kurz davor, aufzuklappen. Woher wussten die Rumänen so genau über alles Bescheid? Hatten sie Spitzel? Und wenn sie so gut informiert waren, waren es die Volturi nicht vielleicht auch? Leah schoss aus ihrem Sessel hoch. „Woher weißt du das?!“, fuhr sie die Rumänin an. Sie stellte die Frage, auf deren Antwort wir alle scharf waren. Wladimir und Stefan lachten in sich hinein. „Aurora, unser wunderhübscher Neuzugang, ist ein äußerst talentiertes Mädchen“, sagte Letzterer. „Sie kann die Vergangenheit Anderer sehen.“ Mein Blick wanderte unwillkürlich zu Alice, die das Gegenstück ihrer Gabe erstaunt musterte. „Wie auch immer“, unterbrach Wladimir die Stille. „Wir haben nicht vor, die Herrschaft an uns zu reißen.“ Nun huschten meine Augen hinüber zu Maggie. Andere taten es mir gleich. Maggies Augen ruhten kurz auf dem aschblonden Rumänen, dann nickte sie. Lügen tat er also schon mal nicht. Zumindest noch nicht. Wer vermochte schon zu sagen, ob sie ihre Ziele nicht mitten im Kampf oder kurz danach änderten... *** Ein Schlag. Ein Knacken. Dann schmeckte ich Blut. Ich landete mit dem Rücken auf der Wiese und riss dabei ein gutes Stück Rasen auf. Garrett reichte mir die Hand, ich ergriff sie und ließ mich von ihm hochziehen. „Du bist vielleicht schnell, aber wenn man dich schließlich erwischt, liegst du ziemlich schnell“, sagte er mit einem leichten Lächeln auf den Lippen, während ich mir das Blut vom Kinn wischte. Mein Knochen war schon wieder verheilt. Inzwischen funktionierten meine Heilungsfähigkeiten wieder fast wie früher. Das war auch bitter nötig. In den vergangenen zwei Wochen, hatte ich den einen oder anderen herberen Schlag abbekommen. Das Training mit Vampiren und Werwölfen war hart, aber notwendig und es machte mir Spaß. Nach all den Monaten des Herumsitzens und Wartens, war es eine gelungene Abwechslung. „Bist du dir sicher, dass du nicht lieber in Tiergestalt kämpfen möchtest?“, fragte Seth von der Seite. Ich schüttelte den Kopf. „Ich bin ein Hybrid, also will ich auch flexibel kämpfen können.“ „Zumindest warst du einer.“ Seth und ich wirbelten herum. Auf dem Ast eines nahen Baumes saß Aurora. Sie sprang herunter. „Bevor du von Caius zersägt wurdest.“ Ich funkelte sie finster an und ging auf sie zu. „Diese Ganze Vergangenheits-Scheiße geht mir ziemlich auf die Nüsse.“ Selbst als ich vor ihr Stand, über einen Kopf größer als sie, sah sie, irritierenderweise, überlegen zu mir empor. Garrett legte mir eine Hand auf die Schulter. „Aurora, nu te amesteca“, sagte er gelassen zu ihr. Ihre roten Augen trafen seine Goldenen, dann lächelte sie kurz und ging. Ich sah ihn etwas überrascht an. „Was war denn das?“ Er zuckte mit den Schultern. „Es ist ganz nützlich, wenn man manche Sätze multilingual drauf hat, damit man beim Speisen nicht gestört wird, egal, wo auf der Welt man sich gerade befindet.“ Seth nickte zustimmend. „Leuchtet irgendwie ein.“ Plötzlich schlugen die gelegentlichen Kampfgeräusche in der Nähe in ein synchrones Knurren und Fauchen um. Nun waren es nicht nur Seth und ich, die alarmiert waren, sondern auch Garrett. Wir gingen zügig zurück zum Haus, um herauszufinden, was die anderen so in Aufruhr versetzt hatte. Ich nahm keinen fremden Geruch war, also tippte ich darauf, dass Aurora sich den Nächsten zum provozieren geschnappt hatte, doch ich lag daneben. Der Grund dafür, dass ich den Neuankömmling nicht wahrgenommen hatte, war der, dass er, oder besser sie, keinen Eigengeruch hatte. Als wir am Schauplatz des Geschehens ankamen, stand Catriona mit einer Jeansjacke und einer Caprileggings bekleidet und mit einem Rucksack auf dem Rücken auf dem kleinen Kieselweg, der unsere Einfahrt mit der Wiese hinter dem Haus verband. Es wunderte mich eigentlich nicht, dass sie bis dato niemand bemerkt hatte. Sie mochte ein durchaus lautes Organ haben, wenn es darum ging, dass sie jemandem die Meinung sagte, aber ich war mir ziemlich sicher, dass sie, als angeblich natürliches Gegenstück der Vampire, auch sehr geschickt darin war, neugierigen Vampiraugen und Nasen zu entgehen. Das Dutzend Vampire und Werwölfe, das sich aktuell auf der Wiese befand und sie ertappt anstarrte und teilweise knurrte, schien zu überlegen, ob es sich jetzt noch lohnte, schnell wegzulaufen und zu hoffen, dass sie sich selbst für bescheuert hielt und belämmert kehrt machte oder sie lieber gleich aufzufressen. Ich ließ es lieber nicht darauf ankommen und eilte zu ihr. Catrionas kreidebleiches Gesicht gewann sogleich wieder ein klein wenig an Farbe. Ich nahm sie an den Schultern und schob sie ein paar Schritte zurück. „Du hättest dich auch ruhig vorher kurz ankündigen können, anstatt hier einfach so hereinzuplatzen“, flüsterte ich ihr zu. „Wie denn? Ich hab ja nicht mal deine Handy Nummer“, flüsterte sie zurück. „Oh“, sagte ich dann in normaler Lautstärke. „Ani?“ Die mahnende Stimme Edwards veranlasste mich dazu, mich umzudrehen. Er stand nun vor allen Anderen. Es war keinesfalls Wut, die ich in seinen Zügen sah, es war viel eher Enttäuschung. Wir hatten viel Wert darauf gelegt, die Menschen in unserem Wohnort zu schützen und unseren Besucheransturm geheim zu halten. „Was machst du denn?“, sagte er kopfschüttelnd. Ja, es war eindeutig Enttäuschung. Ich hob beschwichtigend die Hand. „Ich kann das erklären.“ Edward verschränkte die Arme und sah mich misstrauisch an. *** Wir zogen uns mit ein paar wenigen unserer Verbündeten ins Wohnzimmer zurück. Ich wusste, dass ein guter Teil seit zwei Tagen auf Beutefang in Übersee waren – zum Glück. Ich nahm nicht an, dass sie alle die Neuigkeit, dass es noch eine weitere übernatürliche Lebensform auf diesem Planeten gab, so gelassen aufnehmen würden, wie ich. Carlisle und Edward würden schon einen Weg finden, es ihnen beizubringen, aber dafür mussten sie erst mal selbst erfahren, was sich hinter Catrionas Geheimnis verbarg. „Also, wir sind ganz Ohr“, sagte Edward auffordernd, nachdem das blonde Mädchen mit dem momentan noch nervösen Blick auf dem Sofa Platz genommen hatte. Mit uns im Raum befand sich, neben Sam als Vertreter seines Rudels, nur noch meine Familie und unsere 'erweiterte Familie', wie Edward sie gerne nannte, die Denalis. Ich stand auf und wand mich an Carlisle. „Hast du jemals von der Existenz einer Spezies gehört, die als das natürliche Gegenstück der Vampire fungiert?“ Carlisle sah mich etwas überfordert an und schüttelte dann den Kopf. „Das sind wir, Anthony“, warf Sam ein. In seiner Stimme schwang ein Anflug von Stolz mit und es tat mir fast Leid ihm seine Illusionen rauben zu müssen. „Ich rede nicht von Gestaltwandlern.“ „Was dann? Werwölfe? Die Kinder des Mondes?“, fragte Bella. „Nein, die auch nicht.“ Stille trat ein. Wahrscheinlich hielten sie mich für bekloppt. „Es gibt da etwas“, sagte Eleazar und alle Augen richteten sich auf ihn. Er rieb sich das Kinn und ging nachdenklich auf mich zu. „Es sind nur Legenden. Zumindest galten sie als solche. Es heißt die Rumänen hätten bereits zu ihrer Zeit nahezu alle ausgelöscht und die Volturi hätten die Übrigen getötet.“ „Hört sich ein bisschen an, wie die Jagd auf die Werwölfe. Also die richtigen Werwölfe in Sibirien. Diese Geschichte mit Caius meine ich“, kam es von Bella. „Die Volturi waren sehr bedacht darauf, alles was ihnen gefährlich werden könnte, aus der Welt zu schaffen.“ „Und was soll dieses 'Etwas' gewesen sein?“, fragte Vater ungläubig. „Man weiß heutzutage nicht mehr viel über sie. Unsereins hat nicht mal eine Artbezeichnung dafür, so sehr wurden sie aus dem kollektiven Gedächtnis der Vampire gelöscht. Aber man sagte sich, sie seien Menschen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten gewesen.“ „Außergewöhnliche Fähigkeiten? Zum Beispiel?“ Vater schien sich ziemlich daran zu stören, dass den Quileute ihre Rolle als Menschenbeschützer streitig gemacht wurde. „Das kann ich dir leider auch nicht sagen. Wie bereits gesagt, sie existierten für uns nicht mehr. Aber vielleicht kann unser Gast uns aufklären“, er lächelte Cat an, dann wand er sich wieder an mich. „Ich denke doch, du wolltest darauf anspielen, dass sie zu dieser Spezies gehört?“ „Eine Vampirjägerin? Ernsthaft?!“ Vaters Tonfall schwang in Spott um. „Kommt schon, das Mädchen schnipps ich mit dem kleinen Finger um!“ Meine Hände ballten sich zu Fäusten, dann meldete sich plötzlich Cat zu Wort. Ich hatte schon befürchtet, sie sei verletzt und würde aufstehen und gehen, aber dem war nicht so. „Ich kann eure Skepsis nachvollziehen“, sagte sie verständnisvoll. „Ich habe in meinem Leben noch nie einen Vampir – oder wie wir sie nennen 'Seelenlosen' – getötet.“ „Seelenlos?“, fragte Bella etwas empört. „Ja, so nennen wir die, die wir jagen. Mein Vater ist davon überzeugt, dass Vampire keine Seele besitzen. Ich bin im letzten Winter mit ihm nach Irland zurückgekehrt, nachdem wir eine lange Reise hinter uns hatten. Er tötete Se- äh Vampire überall auf der Welt.“ Während Cat erzählte, nahmen alle nach und nach Platz und hörten ihr interessiert zu. „Wie stellt er das an?“, wollte Jasper wissen. „Unsere Kraft wächst mit unserem Alter und unserer Erfahrung. Aber um die entsprechende Erfahrung zu sammeln reicht ein Menschenleben nicht aus.“ „Und das heißt?“, fragte Alice. „Unsere Seelen reinkarnieren. Wir fangen immer wieder ganz von vorn an. Laufen, Sprechen, Lesen. Diese Informationen verschwinden, doch auf manche Dinge der vorherigen Leben können wir irgendwann zugreifen. Es ist als würde jeder von uns eine individuelle Chronik seines Lebens erschaffen, aus der er eines Tages zu lesen lernt und dann erst entfallen wir unsere Fähigkeiten.“ „Hört sich ziemlich nach esoterischem Hokuspokus an“, warf Vater ein, wurde jedoch einfach übergangen, als Eleazar wenige Augenblicke später eine Frage stellte. „Und wie findet ihr euch, nachdem ihr wiedergeboren werdet?“ „Das ist nicht notwendig. Wir können uns aussuchen, wo wir geboren werden möchten und entscheiden uns in der Regel dafür, bei einem Mentor aufzuwachsen.“ „Also ist dein Vater dein Mentor?“, fragte ich, nun mit dem Bewusstsein, dass sie, als sie zu mir sagte, sie sei 'nicht alt genug' keinesfalls ihr physisches Alter meinte. Sie nickte. „Gibt es noch mehr von euch?“, wollte Eleazar wissen. Sie zuckte mit den Achseln. „Wir haben immer wieder nach ihnen gesucht, konnten sie aber nicht finden. Wir wissen nicht wo sie sind, aber mein Vater ist der festen Überzeugung, dass wir nicht die Letzten sind.“ „Moment“, warf Jacob ein. „Müssten die nicht einfach wieder auf die Welt gekommen sein, nachdem die Rumänen sie niedergemetzelt hatten?“ In seiner Stimme schwang noch immer deutlicher Spott mit. Es machte mich wahnsinnig. „Vater“, mahnte ich entnervt. „Was?“, zischte er und hob beschwichtigend die Hände. „Tut mir Leid, aber für mich hört sich alles ziemlich an den Haaren herbeigezogen an.“ „Ich habe ihren Vater getroffen. Ich habe seine Kraft am eigenen Leib gespürt, Dad. Er hat mich einfach umgehauen ohne mich zu berühren!“ „Was?“, entfuhr es Mariella, die die ganze Zeit über skeptisch auf Seth' Schoß gesessen und zugehört hatte. Neben ihr saß Sangreal. In ihrem Gesicht sah ich keinen Spott, nur Ratlosigkeit. „Wann war das? Ohne dir zu nahe zu treten, Ani, aber es gab eine ziemlich lange Zeitspanne, da wäre das für viele kein Problem gewesen. Dazu muss man kein esoterischer Wiedergeburts-Vampirjäger sein.“ Ich verdrehte die Augen. „So war es nicht. Es war anders. Tiefer. Es war... so ähnlich wie Jane. Nur das es sich anfühlte, als würde er einem zusammen mit dem Schmerz die Energie rauben.“ „Ja, ist in Ordnung“, sagte Jacob um dem Fortgang der Diskussion aus dem Weg zu gehen. Ich schnaubte. Für ein paar Sekunden sagte niemand etwas. Die Anspannung im Raum war deutlich zu spüren. Es war als würden sie befürchten, dass ich mich gleich in alter Manier mit meinem Vater stritt. Eleazar ergriff schließlich wieder, von seinem Wissensdrang gepackt, das Wort: „Es tut mir Leid, wie lautet dein Name?“ „Catriona“, antwortete sie. „Catriona O'Grath.“ Ich strich mir die Haare zurück. Ich hatte ganz vergessen, sie namentlich vorzustellen. „Catriona“, fragte Eleazar weiter. „Wie nennt man das, was du bist?“ Sie überlegte kurz. „Nun, das war von Epoche zu Epoche verschieden. Je nachdem, wie die Menschen zu ihrem Glauben standen und als was sie uns ansahen. Es gab Zeiten, da nannte man uns 'Hexen', weil man sich unsere Fähigkeiten nicht anders erklären konnte. Als später der Vatikan auf uns aufmerksam geworden war und sich dessen bewusst wurde, was wir jagten, war man uns sehr viel freundlicher gesinnt. Manche von uns verfügen über sehr starke Heilkräfte, was uns in den Augen einiger sehr gläubiger Menschen zu 'Engeln' machte. Ich denke, es ist denjenigen, die uns begegnen überlassen, wie sie uns nennen möchten. Heutzutage würde man uns wahrscheinlich schlicht Vampirjäger nennen. Wir selbst bezeichnen uns jedoch als 'Kantoren', so wie ihr euch 'Vampire' oder 'Werwölfe' nennt.“ „Du bist also eine Kantorin?“, fragte ich. Cat nickte zur Antwort. Mehr bekam ich nicht heraus. Ich war einfach zu erstaunt. Erstaunt darüber, dass das Käsebrötchen essende Mädchen, das mich zu Anfang einfach nur genervt hatte, es doch noch geschafft hatte, mich zu überraschen und sich als etwas sehr Besonderes herausgestellte. Sie war vielleicht eine der letzten ihrer Art und wahrscheinlich war dies hier das erste Mal in der Geschichte der Welt, dass eine der ihren sich so offen gegenüber ihren natürlichen Feinden zeigte. Sie saß hier, in mitten eines Haufens Vampire und Werwölfe, die sie ohne Probleme töten könnten, und war allerhöchstens so nervös, wie es ein Schüler vor einer neuen Klasse eventuell sein mochte. „Okay“, sagte Vater. „Meldet sich irgendwer freiwillig als Vorführobjekt?“ „Das ist nicht notwendig“, warf Cat ein. „Ich besitze leider noch nicht genug Erfahrung.“ „Soll das heißen, du kannst nichts?“, fragte Vater perplex. Cat nickte zur Antwort und mein Vater wand sich an mich. „Wie hast du dir denn das vorgestellt? Selbst wenn ihre seltsame Geschichte wahr sein sollte, sie nützt uns Absolut. Gar. Nichts. Außer vielleicht als Sandsack!“ „Jake!“, kam es von meiner Mutter. „Vater!“, fuhr ich ihn an und fegte auf ihn zu, wurde aber von Edward festgehalten. Jacob stand etwa einen halben Meter vor mir und funkelte mich an. „Sie ist Vampirfutter für die Volturi. Vorausgesetzt die Rumänen lassen sie am Leben, wenn sie auf sie treffen.“ Wieder Wut ihm gegenüber in mir zu spüren schmerzte. Ich hasste es, mich mit ihm zu streiten. Ich hasste den Drang, ihn anschreien zu wollen. Ich sehnte mich nach seiner Unterstützung und doch, er hatte Recht. Irgendwas in mir verriet mir, dass er Recht hatte. Ich wollte, dass er Unrecht hatte, ich wollte etwas erwidern, ihn davon überzeugen, dass er im Unrecht war. Doch ich konnte nicht. Mir fiel nichts ein, was ich ihm hätte sagen können. Catriona besaß keinerlei übersinnliche Fähigkeiten. Sie unterschied sich in diesem Leben wahrscheinlich kaum von einem Menschen. Sie würde auf dem Schlachtfeld nichts weiter sein, als ein weiteres Opfer. Die Sekunde, die einer der Volturi brauchen würde, um sie zu töten, war eine Sekunde, die er nicht nutzen konnte, um jemand anderes zu töten. Sie war nur ein kleiner Puffer. Und dafür war ihr Leben zu wertvoll. Sie hatte mir schon vor Monaten gesagt, dass sie nicht in der Lage war, mir zu helfen, dass sie zu jung war, dass ich vergebens um ihre Hilfe bat und ich hatte es ignoriert. Warum hatte ich es ignoriert? Hatte ich gehofft, dass sie log? Dass sie mir hier auf dem Sofa offenbaren würde, dass sie doch helfen konnte? Doch das hatte sie nicht. Ich wusste jetzt was sie war und realisierte, dass ich einen schrecklichen Fehler begangen hatte. Noch einen. Plötzlich ging die Terrassentür auf und einige der jagenden Vampire kamen von ihrem Jagdausflug zurück, darunter auch Vladimir und Stefan. In mir kroch Panik hoch, als ihre blutroten Augen den Raum zu scannen schienen. Edward hatte mich längst losgelassen, aber das bemerkte ich erst jetzt, da ich auf dem Absatz kehrt machte und mit einigen wenigen schnellen Schritten zu Cat hinüber ging. Ich griff wortlos nach ihrem Handgelenk, zog sie hoch und dann, unter den verwirrten Blicken aller Anwesenden, hinter mir her. „Tony?!“, fragte sie verwirrt, als ich mit ihr hinunter in den Keller ging. In meinem Zimmer lies ich sie kurz los, um meinen Autoschlüssel aus der Kommode zu kramen. „Ist das dein Zimmer?“ Ich hätte ihr vielleicht mal eine Führung durch unser Anwesen gegeben, wenn wir die Möglichkeit gehabt hätten, uns besser kennenzulernen, aber dafür war es nun leider zu spät. „Ja“, antwortete ich knapp, schloss die Schublade vor mir und nahm sie wieder bei der Hand. In der Tiefgarage blinkte mein schwarzer BMW Z4 zweimal kurz auf, als ich die Zentralverriegelung entsicherte. Ich setzte Cat ins Auto und nahm anschließend selbst auf der Fahrerseite platz. „Tony, was hast du vor?“, fragte sie wieder. Ich antwortete nicht und legte den Rückwärtsgang ein. „Tony?!“ Ich wollte sie einfach nur aus der Schusslinie bringen. Ich wünschte, ich hätte sie niemals dazu überredet oder besser: ich wünschte, ich hätte sie gar nicht erst kennengelernt. Ich hatte sie da schon mit reingezogen, als wir in dieser Seitengasse auf Jane getroffen waren. Hätte ich sie doch einfach nur von Anfang an ignoriert, so wie ich alle vor ihr ignoriert hatte, dann wäre es niemals so weit gekommen. „TONY!“, brüllte sie mich plötzlich an, dann zog sie die Handbremse. Mein Wagen beschwerte sich mit einem hohen Piepton und kam ins Stocken. Ich trat auf die Bremse. Wir befanden uns bereits auf dem Feldweg zu Catrionas Haus. „Warum tust du das?“, fragte sie, nun wieder ruhig. Ich seufzte, ließ dabei jedoch das Lenkrad nicht los und starrte geradeaus aus der Frontscheibe. „Mein Vater hat Recht. Du kannst uns nicht helfen. Es war dumm von mir, dich darum zu bitten.“ „Doch ich kann und ich will“, sagte sie entschlossen. „Wie?“, wollte ich wissen. „Wenn ich mit euch in die Schlacht ziehe, wird mein Vater sich uns sicher irgendwann anschließen. Er will es vielleicht nicht zugeben, aber deine Argumente waren ziemlich gut. Wir haben keine Ahnung ob wir die Letzten sind und Vaters Drang, die Blutsauger zu zerschlagen, die den Menschen gefährlich werden ist groß. Wenn wir uns mit euch zusammentun, können wir wenigstens diesen großen Zirkel in Italien auslöschen und das wäre auch für uns ein großer Erfolg.“ „Wer garantiert mir, dass dein Vater sich nicht umdreht und meine Familie abschlachtet, nachdem die Volturi gefallen sind?“ „Nun“, antwortete sie. „Das ist ein Risiko, das wir wohl in Kauf nehmen müssen. Aber du magst doch riskante Aktionen, oder nicht?“ Ich lächelte leicht. Ich wusste, dass sie auf meinen Einbruch in ihr Haus und Badezimmer anspielte. Gemeinsam fuhren wir wieder zurück zu den Anderen. Als wir ins Wohnzimmer kamen, stellten wir fest, dass sich einige unserer Gäste nun auch dort befanden. Ausnahmslos alle starrten Cat und mich an, als wir den Raum betraten. Argwöhnisch musterte ich Stefan und Vladimir. Auch ohne meine Gedanken lesen zu können, wusste Edward, was in mir vorging. „Mach dir darüber keinen Kopf. Vladimir und Stefan werden niemandem schaden, der ihnen dabei helfen kann, die Volturi zu zerschlagen. Wir haben jetzt ganz andere Probleme.“ „Wieso? Welche?“, fragte ich verwundert über seine Aussage. Er nickte in Alice' Richtung und meine smaragdgrünen Augen schweiften zu ihr herüber. Sie saß auf dem Sofa und fixierte einen Punkt auf dem Teppich unterhalb des Couchtisches. Neben ihr saß Jasper und hielt ihre Hand. In unserem Leben war schon lange nichts mehr passiert, was sie hatte voraus sehen können, daher war es für mich ein eher ungewohntes Bild, jedoch war es deswegen nicht weniger schockierend. „Was hat sie gesehen?“, fragte ich atemlos. „Die Volturi wollen nicht riskieren, dass sie auffliegen, wenn wir in ihrer Heimat einfallen. Sie wollen uns zuvorkommen. In drei Tagen werden sie hier sein.“ Kapitel 22: Ruhe vor dem Sturm ------------------------------ „Alles okay?“, fragte ich Sangreal leise. Sie nickte, sah zu mir empor und lächelte mich an. Ihr Pony klebte in ihrem Gesicht, ich konnte das rasche Schlagen ihres Herzens unter mir hören und mir war auch nicht entgangen, dass sie leicht zitterte. Mir ging es genauso. Es war der Nachmittag des letzten Tages vor dem von Alice vorausgesagten Eintreffen der Volturi auf unserer grünen Insel. Nayeli hielt ihren gewohnten Mittagsschlaf. Sangreal und ich nutzten diese Zeit für etwas Zweisamkeit. Eigentlich hätte man meinen können, wir hätten genug davon in unserem schier ewigen Leben, aber wie so häufig, kam es anders, als man gedacht hatte. Nun herrschte im ganzen Haus Endzeitstimmung. Ich küsste das hübsche Mädchen unter mir noch einmal, dann zog ich mich zurück und legte mich wieder auf meine Seite des Bettes. „Ich werde das vermissen“, sagte Sangreal nach einem kurzen Moment der Stille. Ich drehte mich auf die Seite, stützte mich mit dem Ellbogen ab und sah sie fragend an. „Was?“ „Alles“, sagte sie, ohne mich anzusehen. Stattdessen sah sie nach oben an die Decke. Ich lachte leicht. „Hört sich an, als gingst du davon aus, dass wir alle ins Gras beißen und die Volturi unser Haus abfackeln.“ Sie lachte kurz und drehte sich dann endlich zu mir um. „Nein, das meine ich nicht. Ich meine... es wird nie wieder so sein, wie jetzt. Verstehst du was ich meine?“ Ich zog die Brauen zusammen. Nein, ich verstand nicht. „Dieser Kampf war ein Ziel, das wir uns gesetzt haben. Wie auch immer er ausgehen mag, alles was darauf folgt, wird nicht mehr so sein wie zuvor. Allein schon die Tatsache, dass wir einige Leben auslöschen werden müssen...“ „Du weißt, dass du mit Nayeli von der Schlacht fern bleiben kannst“, erinnerte ich sie. Wir hatten das erst vorgestern besprochen. Leah hatte ihr angeboten, Nayeli in La Push in Sicherheit zu bringen. Sie würde dort von meiner Cousine versorgt werden und mit Will's Kindern spielen können. Ich musste zugeben, der Gedanke machte mich traurig und glücklich zugleich. Sie war nicht meine Tochter, aber da ich Sangreal so nah stand, war ich in irgendeiner Weise eine Bezugsperson für das Kind und ich würde lügen, wenn ich sage, dass sie mir nicht wichtig geworden war. Will hätte es sicher gern gehabt, dass unsere Kinder miteinander spielten. Nun würde er das nicht mehr miterleben können und das machte mich traurig. Andererseits war es irgendwie so, als würde Nayeli Will dadurch kennenlernen, was mich wiederum glücklich stimmte. „Du weißt, wie ich dazu stehe“, riss Sangreal mich aus meinen Gedanken. Ich nickte widerwillig. „Ich muss damit abschließen können“, fuhr sie fort. „Und das kann ich nur, wenn ich dabei bin. Ich bringe Nayeli nach La Push und komme dann sofort wieder zurück.“ „Ich weiß, ich weiß“, gab ich zurück, ehe ich sie zu mir zog und meine Arme um sie legte. Ich hatte natürlich Angst um sie, aber wäre ich an ihrer Stelle, würde ich wahrscheinlich genauso handeln. Ich konnte nicht mehr tun, als ihr ihren Willen zu lassen und dafür zu sorgen, dass ihr nichts passierte. Aber wie sollte ich das im Kampfgetümmel schaffen? Plötzlich klopfte es zweimal kurz hintereinander an der Tür, dann öffnete meine Schwester sie. Weder sah Sangreal auf, noch ließ ich sie los, als ich meinen Oberkörper in Richtung Tür wendete. „Herein?“, erinnerte ich sie an das Wort, auf das sie eigentlich hätte warten müssen. Mariella hatte genau gewusst, dass Sangreal mit mir im Zimmer war. Sie hatte noch immer eine Abneigung gegen sie und war der festen Überzeugung, dass sie mir nicht gut tat und das zeigte sie auch, wann immer es ihr möglich war. „Du sollst in Carlisle's Arbeitszimmer kommen“, ignorierte sie meine Ermahnung und verließ dann wieder den Raum. Ich drehte mich wieder um. „Sieht so aus, als müssten wir aufstehen“, sagte sie. „Ja, auch wenn ich lieber liegen bleiben würde“, erwiderte ich. „Na komm schon. Du weißt, wie wichtig das ist.“ - „Trotzdem.“ Fünf Minuten später, war ich komplett angezogen, als Sangreal, noch im Morgenmantel, mit Nayeli auf dem Arm zurück ins Zimmer kam. „Ich zieh mich dann auch an, mache die Kleine frisch und komme dann nach, ja?“ Ich nickte, gab ihr einen Kuss auf die Lippen und strich dem Zwerg durchs Haar, dann ging ich die zwei Etagen hoch ins Zimmer meines Urgroßvaters, wo ein kleiner Teil meiner Familie auf mich wartete. Meine Mutter umarmte mich zur Begrüßung. „Guten Morgen“, sagte Edward sarkastisch. Ich zuckte mit den Achseln. „Bereit?“, fragte Carlisle. Ich nickte. Es war nun bereits meine zweite Sitzung dieser Art, daher wusste ich, was nun kam. Es war anzunehmen, dass Caius nicht sehr erfreut darüber sein würde, mich quicklebendig zu sehen und dass er diesen Umstand schnell ändern wollen würde. Um also vorzubeugen, dass mir sein Gift oder das irgendeines anderen Vampirs zum Verhängnis werden konnte, hatte Carlisle die Idee gehabt, ein paar Spritzen meines eigenen Vampirgiftes vorzubereiten. Ich mochte das Prozedere nicht. Ich empfand es als unangenehm und anstrengend, mich selbst dazu zu zwingen es in die kleinen reagenzglasgroßen Spritzen abzufüllen. Es floss nicht durch meinen gesamten Blutkreislauf, wie es das bei einem vollwertigen Vampir tat, daher war die Menge auch geringer und Carlisle hatte mir einen Tag Pause gewährt, ehe er nun die letzten drei Spritzen voll machen wollte. Als Sangreal mit Nayeli das Zimmer betrat, lagen dann schließlich insgesamt zehn mit Vampirgift gefüllte Spritzen fein säuberlich aufgereiht auf Carlisle's Schreibtisch. Das hereinfallende Licht der Abendsonne brach sich in ihrem diamantenen Schimmer. Das Gift war wohl das Einzige, was an mir im Sonnenlicht glitzerte – zum Glück. „Das hätten wir“, sagte Carlisle zufrieden. „Ja“, bestätigte ich und setzte mich auf einen der Stühle vor dem Schreibtisch. Sangreal stellte sich hinter mich und legte eine Hand an meine Schulter. Mit der anderen trug sie das Baby. „Und nun?“, fragte mein Vater. „Ich würde vorschlagen, dass irgendjemand sie für Ani aufbewahrt, damit wir schnellen Zugriff darauf haben, sollten sie gebraucht werden“, antwortete Edward. „Das kann Mariella doch machen!“, warf Seth sofort ein und grinste dann. Ich wusste, worauf er abzielte. Wenn sie darauf achten wollte, dass die Spritzen heil blieben, würde sie sich automatisch eher außer Reichweite der Schlacht aufhalten. „Dafür“, stimmte ich zu. Mir gefiel der Gedanke, dass wenigstens meine Schwester sich zurückhielt, wenn Sangi es schon nicht tat. Mariella blickte in die um sie herumstehenden Gesichter. „Also gut“, sagte sie dann und lächelte leicht. Sie war gerade im Begriff, alle Spritzen hochzunehmen, als Carlisle ihr sanft seine bleiche Hand auf den Oberarm legte. „Moment, nicht alle. Ich denke sieben sollten genügen. Die anderen drei bewahre ich hier auf.“ Er nahm drei Spritzen weg und verstaute sie in einer der Schreibtischschubladen. „Nur zur Sicherheit.“ Meine Schwester nahm die restlichen sieben an sich. „Pass bitte gut darauf auf“, bat Sangreal mit etwas besorgtem Unterton. Mariella zwinkerte ihr zu. „Darauf kannst du Gift nehmen.“ Ich verdrehte wegen des gekünstelten Wortspiels die Augen, lächelte aber dabei und meine kleine, große Schwester lächelte zurück. *** Am Abend desselben Tages versammelte sich unsere kleine Armee zum wahrscheinlich letzten Mal in unseren Räumlichkeiten. Draußen begann es bereits zu Dämmern, als schließlich unsere neuste Verbündete das Wohnzimmer durch die Terrassentür betrat. Ich umarmte Cat zur Begrüßung, lies sie dann jedoch direkt wieder los und bot ihr einen Platz auf dem Sofa an, während ich selbst stehen blieb. Sangreal lächelte mich an und wartete wahrscheinlich darauf, dass ich mich auf ihren Platz setzte, damit sie sich auf meinen Schoß setzen konnte, aber ich tat lieber so, als fände ich es angebrachter, neben Edward stehen zu bleiben. Die Enttäuschung stand ihr für einige Sekunden ins Gesicht geschrieben, verblasste aber rasch wieder, nachdem Carlisle zu sprechen begonnen hatte. „Vielen Dank, dass ihr noch einmal so zahlreich erschienen seid. Wir können euch gar nicht genug für alles danken, was ihr für uns aufzunehmen bereit seid. Ich bin mir sicher, ihr alle werdet mir zustimmen, wenn ich sage, dass der kommende Tag unser Leben mehr verändern wird, als jeder Tag zuvor – abgesehen vielleicht vom Tag unserer Verwandlung und für manche auch jener Tag, an dem er oder sie seinen Partner fürs Leben fand“ - er zwinkerte kurz zu Esme herüber - „ganz gleich was geschehen wird, diese Schlacht wird nie vergessen werden.“ „Oh nein“, warf Stefan ein. „Selbst wenn die Volturi siegen sollten, werden sie sich immer daran erinnern, wie sie herausgefordert wurden und den Tag fürchten, an dem es wieder passiert.“ Carlisle nickte, dann wand er sich an Catriona, die zwischen den versammelten Vampiren zum aller ersten Mal schüchtern auf mich wirkte. Sie hatte die Hände zusammengefaltet und zwischen ihre Schenkel gelegt. „Hast du mit deinem Vater reden können?“, fragte er sie. Sie hatte vorgehabt, ihrem Vater von unserem Vorhaben zu erzählen und wir hofften natürlich auf seine Unterstützung. Doch Catriona schüttelte den Kopf und ein leises Raunen ging durch die Räume. „Noch nicht wirklich. Aber ich bin mir sicher, er wird sich uns anschließen, wenn es tatsächlich so weit ist.“ Carlisle lächelte sie an. „Selbst wenn nicht, es bedeutet uns auch viel, dich in unseren Reihen zu wissen.“ Ich sah ihn fast etwas verblüfft an. War das eine Lüge oder meinte er das tatsächlich ernst? Gut, ich hatte nachgegeben und war mit Cat zurück nach Hause gefahren, als ich sie in Sicherheit bringen wollte, aber ich war noch immer skeptisch und musste zugeben, dass ich die Meinung meines Vaters teilte. Cat war in dieser Schlacht so nützlich, wie Nayeli es wäre. Catriona schien die Anerkennung, die sie durch meinen Urgroßvater erfuhr, zu gefallen, nickte sie doch zustimmend in seine Richtung und lächelte dabei ebenfalls. Als Nächster meldete sich Edward zu Wort. „Die meisten von euch wissen bereits um die fähigen Mitglieder, die Aro um sich geschart hat. Jane und Alec haben die Gaben, die für ihn am Nützlichsten sind, wenn wir eine Chance auf den Sieg haben wollen, müssen wir strategisch vorgehen und sie als Erste ausschalten. Renata, Aro's Schutzschild, wird dann unser nächstes Ziel sein. Meine Frau kann ihre Talente unterdrücken. Gegen physische Angriffe jedoch, ist sie machtlos. Es ist unabdingbar, dass wir zusammenhalten, macht also keine Alleingänge.“ Er legte eine kleine Pause ein, um seine Worte in unseren Köpfen sacken zu lassen. Ironischerweise würden, aufgrund der Tatsache, dass sie Vampire waren, über neunzig Prozent der Zuhörer sie garantiert nicht vergessen, doch sie hörten trotzdem aufmerksam zu, während eine aus den restlichen zehn Prozent plötzlich aufstand, um einem, für Vampire nicht mehr notwendigen, Bedürfnis nachzugehen. Catriona wurde von Esme aus dem Raum begleitet, während Edward fortfuhr. „Die Volturi sind sehr mächtig und haben seit Jahrhunderten die Herrschaft über alle Vampire, aber ich bin mir sicher, dass wir eine reelle Chance haben, sie zu bezwingen, wenn wir ihnen morgen gegenüberstehen.“ „Unsere Chancen standen nie besser, Edward“, stimmten die Rumänen zu, während Esme zurückkehrte und neben Carlisle Platz nahm. Auch die Iren und die Nomaden nickten. „Wir stehen zu euch“, sagte Benjamin. Befürwortendes Raunen und eifriges Kopfnicken schlossen sich ihm an. Danach standen fast alle auf und verließen das Haus, um ein letztes Mal auf die Jagd zu gehen oder sich die Beine zu vertreten. Catriona kam ebenfalls zurück und wurde direkt vom neugierigen Eleazar in Beschlag genommen. Als Edward auf mich zukam, sah ich gerade noch im Augenwinkel, wie beide ebenfalls zur Terrasse hinausgingen. „Hast du mit Sangreal gesprochen?“, hakte er nach. „Sie will bleiben“, antwortete ich und sah Sangi hinterher, als sie das Wohnzimmer in Richtung Flur verließ. Wahrscheinlich wollte sie nachsehen, ob Nayeli wach war. „Nayeli?“, fragte Edward weiter, fast so, als könne er meine Gedanken lesen, aber wahrscheinlich sah man mir die Sorgen an. „Sie will Leah's Angebot annehmen und die Kleine nach La Push bringen.“ „Gut“, sagte Edward. Ich nickte. „Ich werd‘ mal nach ihr schaun'.“ „Alles klar.“ Als ich Nayeli's Zimmer betrat, saß die Kleine zu meiner Verwunderung in ihrem Bettchen und sah mich etwas müde an. Für gewöhnlich nahm Sangreal sie immer auf den Arm, wenn sie wach war und sah nach ihrer Windel. Dass sie nicht hier war, obwohl sie vor mir in den Keller gegangen war, machte mich stutzig. Ich horchte einen Moment und vernahm ein leises Schluchzen im Nebenzimmer. Ich vergewisserte mich kurz, dass Nayeli nicht kurz davor war, loszuweinen und verließ dann wieder den Raum. „Sangi?“, fragte ich, als ich die Tür zu meinem Zimmer öffnete. Sie stand auf ihrer Seite des Bettes. Ich konnte nur ihren Rücken sehen und das Salz riechen. Vorsichtig ging ich auf sie zu und legte meine Hand auf ihre Schulter. „Hey“, hauchte ich leise. „Fass mich nicht an“, sagte sie tonlos und darauf bedacht, ihre zittrige Stimme zu unterdrücken. „Was?“, fragte ich perplex und nahm meine Hand wieder weg. Plötzlich drehte sie sich um. Obwohl ihr Gesicht leicht rot schimmerte und ihre Augen glasig waren, sah sie noch immer wunderschön aus – und ziemlich böse. Erst jetzt bemerkte ich, dass sie ein Stück Papier in der Hand hielt, auf dem offensichtlich etwas geschrieben stand. „Das lag auf meinem Kopfkissen“, erklärte sie und hob mir den Brief entgegen. Ohne auch nur einen Buchstaben davon gesehen zu haben, ahnte ich, was hier gerade geschah und nahm das Schriftstück mit einem extrem unguten Gefühl in der Magengegend an mich. Die Buchstaben waren mit gewöhnlichem blauem Kugelschreiber geschrieben worden. Die Handschrift war nicht überirdisch schön, jedoch auch nicht unsauber und ich kannte sie aus der Schule: Lie Hey Hallo T Nun, wie du siehst, weiß ich nicht mal, wie ich anfangen soll. Ich weiß du kennst mich eher mit einer großen Klappe, aber nun fehlen selbst mir die Worte. Aber da man ja nie sagen kann, was der nächste Tag bringt, möchte ich dir unbedingt noch etwas mitteilen und wenn ich es schon nicht aussprechen kann, will ich es dir wenigstens schreiben... Als ich damals nach Irland zurückgekehrt bin, war ich erstmal nur froh, wieder in meine alte Heimat zurück zu können. Hätte ich gewusst, dass ich dich dort kennenlernen würde, hätte es für mich noch einen Grund mehr zur Freude gegeben. Jedenfalls möchte ich, dass du weißt, wie viel du mir inzwischen bedeutest. Ich finde es sehr schade, dass wir nur so wenig Zeit miteinander hatten. Trotzdem werde ich das, was wir gemeinsam hatten, nie vergessen, keinen Kuss, keine Berührung, keine einzige Sekunde. Weder in diesem Leben, noch in jedem weiteren. In Li deine Cat „Was hast du getan?“, fragte Sangreal enttäuscht und mit leicht zittriger Stimme. Sie schien irgendwo zwischen Wut, Trauer und Enttäuschung zu pendeln. Ich für meinen Teil, spürte die zuvor aufgekeimte Nervosität über mich hereinbrechen. Mein Herz begann schneller zu schlagen, meine Fingerspitzen wurden trotzdem kalt. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte und überlegte kurz. „Es ist nicht so, wie du denkst!“, versuchte ich mich zu erklären, aber ich wusste selbst, wie naiv sie sein müsste, um mir das in dieser Situation zu glauben. „Was?“, fragte sie weiter. Ich sah sie nur fragend an. Mein Wortschatz schien mir vollkommen entfallen zu sein. „WAS ist nicht so, wie ich denke“, wurde sie dann präziser. Ich schluckte, dann nahm ich ihr Gesicht in meine Hände und sah ihr eindringlich in ihre grauen Augen. „Ich habe NICHT mit ihr geschlafen.“ Ihre Unterlippe bebte. „Das liest sich aber anders.“ Ich nickte. „Ich weiß, aber ich sage die Wahrheit. Bitte glaub mir.“ Ihre Fassade begann zu bröckeln. War sie wirklich in der Lage mir zu glauben? Vertraute sie mir bereits so sehr, dass Catriona's geschriebene Worte meine nicht überwogen? Sie sagte nichts weiter und schien auf weitere Erklärungen von mir zu warten. Okay, es war sehr riskant, mit der ganzen Wahrheit rauszurücken, aber welche Wahl hatte ich denn? „Ja, ich habe mit ihr geflirtet und ja, ich habe sie auch geküsst“, gab ich zu. Sangi's Lippen begangen stärker zu zittern. „Aber nicht, um dich zu verletzen oder zu hintergehen.“ Bis hier hin war alles vollkommen im Einklang mit meinem Gewissen. „Ich hab es nicht getan, weil ich mich zu ihr hingezogen fühlte.“ Und da war nun die erste Lüge, gefolgt von dem nächsten Quäntchen Wahrheit. „Sondern weil ich sie für unser Vorhaben gewinnen wollte. Und der einfachste und schnellste Weg war es für mich, mir zunutze zu machen, dass sie etwas von mir wollte.“ Was darauf folgte war Stille. Ich sah Sangreal an, sie sah mich an. Ihr Gesicht lag noch immer zwischen meinen Händen. Und dann wanderten ihre Augen weg von meinen und fixierten etwas hinter mir. Ich brauchte mich nichtmal umzudrehen, um zu wissen, wer es war. Soviel Pech auf einem Haufen, konnte nur ich haben. Ich kniff kurz die Augen zusammen und drehte mich dann langsam um. Cat stand noch im Türrahmen. Sie sah uns unverwandt an, ohne dass ich eine Gefühlsregung in ihrem Gesicht feststellen konnte. Wie viel sie mitbekommen hatte, vermochte ich nicht zu sagen, aber offensichtlich genug, um im nächsten Moment plötzlich auf dem Absatz kehrt zu machen. Ohne lang nachzudenken, fegte ich ihr hinterher. Zum ersten Mal, bemerkte ich, dass sie, wenn sie es wollte, eindeutig schneller zu Fuß sein konnte, als ein Mensch. Im Wohnzimmer bekam ich sie dann schließlich am Handgelenk zu fassen. „Warte“, flehte ich sie fast an. „Lass mich!“, brüllte sie. „Was ist denn hier los?“, fragte Esme entsetzt, kaum, dass sie zusammen mit Mutter und Bella das Zimmer betreten hatte. Cat versuchte indes sich loszureißen, war aber zu schwach dazu. „Mein Vater hatte Recht!“, schrie sie mich an, während einige Tränen langsam aus ihren blauen Augen hervorquollen und sich einen Weg über ihr Gesicht bahnten. „Du bist ein seelenloses Monster, genau wie alle anderen Blutsauger auch!“ „Was ich getan habe, war falsch“, gab ich zu. „Aber ich habe einfach keine andere Möglichkeit gesehen! Ich mag dich wirklich, aber mein Herz gehört nun mal ihr!“ „Du hast weder eine Seele, noch ein Herz! Und ich war dumm genug zu glauben, du hättest eins!“ „Wenn ich so herzlos wäre, hätte ich dich vor drei Tagen nicht in Sicherheit bringen wollen!“, versuchte ich, mich zu rechtfertigen. „Alles nur Fassade!“, schrie sie. „Du hast gewusst, dass ich darauf reinfallen und trotzdem mitmachen wollen würde! Und jetzt lass mich los!“ Ich hielt sie weiter in meinem Griff. „Wenn ich könnte, würde ich es rückgängig machen!“ „Oh ja!“, gab sie zurück. „Das würde ich auch!“ „Cat, bitte!“, schrie ich nun auch und zog sie näher zu mir. „LASS. MICH. LOS!“ Kaum hatte das letzte Wort ihre Lippen verlassen, durchfuhr mich ein derart heftiger Schmerz, dass ich sofort rücklings auf die Fließen knallte. Kaum, dass ich sie losgelassen hatte, verschwand er wieder. Zurück blieb nur die Müdigkeit. Ich fühlte mich so schlapp, als hätte ich gefastet oder nicht geschlafen und ich kannte dieses Gefühl – von ihrem Vater. Ich öffnete die Augen und versuchte wenigstens den Oberkörper zu heben. Cat stand noch immer an derselben Stelle und starrte mich an. Sie wirkte mindestens so überrascht wie ich. Ohne ein weiteres Leben durchleben zu müssen, war sie nun also doch in der Lage, sich gegen Vampire zur Wehr zu setzen. „Ani!“ Die besorgte Stimme meiner Mutter brach die Stille. Sie setzte sich neben mich und wollte mir aufhelfen, aber ich konnte nur daliegen und Cat ungläubig anstarren. Die wiederum sah mich noch einen Moment traurig an, dann drehte sie sich um und verließ das Wohnzimmer durch die Terrassentür. Irgendetwas tief in mir sagte mir, dass ich sie nicht mehr sehen würde... „Alles in Ordnung?“, wollte Renesmee wissen. Ich schob ihre Hände weg und nickte. Gleichzeitig standen wir wieder auf und die schokoladenbraunen Augen meiner Mutter sahen traurig zu mir hoch. Dann machte es auf einmal Klick in meinem Kopf. Ich hatte Sangi ganz vergessen! „Scheiße“, zischte ich zu mir selbst und lies meine Mutter, Esme und Bella einfach stehen. Fast alle Stufen der Kellertreppe auf einmal nehmend, hastete ich zurück in mein Zimmer und riss die Tür auf. Sangreal war noch immer dort, schloss aber just in dem Moment, in dem ich den Raum betrat, den Reißverschluss einer großen schwarzen Sporttasche. Ohne mich eines Blickes zu würdigen, umschlossen ihre zarten Finger die beiden Griffe der Tasche, dann lief sie damit einfach an mir vorbei. „Sangi“, sagte ich leise, wurde aber mit Ignoranz bestraft. Sie ging wortlos ins Nebenzimmer, wo sie Nayeli aus dem Bettchen hob. Als sie sich anschickte, diesen Raum ebenfalls wieder zu verlassen, schloss ich dessen Tür hinter mir und lehnte mich mit dem Rücken dagegen. Sie blieb, Nayeli links, die Tasche rechts, etwa einen Meter vor mir stehen und sah mich ausdruckslos an. „Sei nicht albern.“ „Was hast du vor?“, fragte ich. Diese Seite von ihr kannte ich kaum. Als ich sie damals beschuldigt hatte, mit Aro unter einer Decke gesteckt zu haben, hatte ich einen kleinen Vorgeschmack davon bekommen, aber das hier war um ein vielfaches schlimmer und es machte mir Angst. „Ich bringe Nayeli nach La Push, wie wir es besprochen haben und komme zurück, bevor sie kommen“, erklärte sie. Prompt spürte ich, wie eine Last von mir abfiel und ich atmete, fast hörbar, kräftig aus – allerdings nur, bis sie wieder den Mund aufmachte: „Wenn sie erstmal weg sind, kann ich mit Nahuel und Nayeli irgendwo ein neues Leben anfangen.“ „Was?!“ Zum allerersten Mal in meinem Leben, spürte ich, wie irgendetwas in mir zerbrach, das zuvor nicht zerbrechlich gewesen war. Es war als hätte ich es dreißig Jahre lang aus Kunststoff in mir herumgetragen. Unzerbrechlich, aber dafür weder so wertvoll, noch so schön, wie es aus Glas gewesen wäre. Kaum, dass es schließlich doch diesen gläsernen Zustand erreicht hatte, hatte ich es verschenkt und nun hatte sie es zerbrochen. Aber ich gab ihr keine Schuld. Ich hatte es selbst zu verantworten. Genau wie alles andere in meinem Leben. Sangreal machte zwei Schritte nach vorn, griff nach der Türklinke und öffnete die Tür. Benebelt wie ich mich fühlte, ließ ich sie einfach gewähren. Erst das sich öffnende Garagentor nebenan rüttelte mich aus meiner Trance. Ich brauchte allerdings noch ein, zwei Atemzüge um zu begreifen, was da gerade passierte: Ich war im Begriff, sie zu verlieren. Während jemand Edward's Volvo in den Hof fuhr, ging ich wieder die Stufen hinauf ins Erdgeschoss, zunächst langsam, dann immer schneller. Oben angekommen sah ich gerade, wie Sangreal das Haus verließ. Ich rannte los, um ihr zu folgen, mit der Absicht, sie aufzuhalten, da umschlossen mich zwei Arme und hielten mich gewaltsam davon ab. Nahuel. „Lass mich!“, zischte ich ihn an. „Lass sie!“, giftete er zurück. Es folgte ein kurzes Handgemenge, dass aber jäh von Dad unterbrochen wurde. „Nahuel, lass ihn los!“, befahl er, woraufhin Nahuel tatsächlich seinen Griff lockerte. Er fixierte zunächst finster meinen Vater, sprach aber dann zu meiner Mutter: „Ich hab es dir gesagt.“ Ich verstand seine Worte nicht, hatte keine Ahnung, wovon er sprach, doch der erneut aufheulende Motor von Edward's Fahrzeug lies mich aufhorchen. Ich ließ Nahuel und meine Eltern stehen, raste nach draußen und postierte mich zwischen Sangreal, die Nayeli auf dem Arm trug, und dem schwarzen Wagen, in dem Alice wartete, um die beiden zum Flughafen zu fahren. „Bitte lass mich erklären“, bat ich. „Hast du bereits“, antwortete sie. „Ja, schon... aber...“, stotterte ich. Was wollte ich eigentlich noch gleich sagen? „Aber was?“, fragte sie. „Ich weiß, ich habe nicht ganz die Reaktion gezeigt, die du dir gewünscht hast.“ „Doch“, antwortete ich. „Ich verstehe, dass du wütend bist. Ich verstehe, dass du enttäuscht bist. Aber willst du wirklich jetzt einfach so gehen und mich hier so stehen lassen, so kurz vor der Schlacht?“ „Wann gedachtest du, mir zu erzählen, dass du mit ihr rumgemacht hast?“ Gute Frage, hatte ich das überhaupt vorgehabt? Wenn ja, dann definitiv nicht jetzt. „Danach?“, antwortete ich unsicher, hätte mich aber kurz darauf gern selbst geohrfeigt. „Und in der Zwischenzeit hättest du ihr weiter Gefühle vorgespielt, damit sie ihr Leben für dich riskiert?“ „Nein“, gab ich zurück. „Ich hatte ihr doch sogar gesagt, dass sie sich lieber raushalten sollte. Ich wollte sie nach Hause bringen.“ „Ja“, sagte Sangreal. „Weil du gemerkt hast, dass sie dir nicht von Nutzen ist.“ Ich antwortete nichts, wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Nach einer kurzen Pause, fuhr sie fort: „Jetzt wo du weißt, dass sie doch kämpfen kann, kannst du ihr ja nachrennen und sie weiter bezirzen. Ich stehe dir jedenfalls nicht mehr im Weg.“ Ihre Worte waren wie Ohrfeigen. Jedes einzelne ein Schlag ins Gesicht. „Spinnst du?!“ Mehr fiel mir beim besten Willen nicht ein. Sie antwortete nicht mehr darauf und setzte sich wieder in Bewegung. Ich stellte mich ihr erneut in den Weg. „Das kannst du nicht machen.“ „Oh doch, ich kann“, sagte sie. „Nein!“, fuhr ich sie an. „Lass mich einfach gehen, Anthony!“ „Nein!“ Und dann geschah etwas, womit ich nicht gerechnet hatte. Etwas, dass mir in meinem ganzen Leben so selten passiert war, dass ich solche Situationen an einer Hand abzählen konnte. Ich weiß nicht, ob es Gleichgültigkeit oder Gefühlskälte gewesen war, die mich stets daran gehindert hatte und ob ich die Tatsache, dass ich mich nun aus Wut über mich selbst und Verzweiflung über die Situationen verwandelte, als etwas Positives ansehen sollte, zeigte sie doch, dass ich tatsächlich zu echten Gefühlen in der Lage war. Ich stand keine drei Meter von Sangreal und dem Kind auf ihrem Arm entfernt, als der pferdegroße Wolf aus mir herausbrach und Fetzen meiner Kleidung durch die Luft wirbelten. Sangreal machte einen Schritt zurück und Alice stieg aus dem Auto, bereit einzugreifen. Es war aber schließlich Nayeli, die mich wach rüttelte. Nun in Tiergestalt, spürte ich ihre Angst umso mehr. Natürlich hatte sie die großen Wölfe von weitem gesehen. So richtig nah, war ihr aber nie einer gekommen. Wahrscheinlich war sie auch noch nicht in der Lage zu begreifen, dass wir eigentlich keine Wölfe waren und uns nur verwandelten. In jedem Fall jedoch, machte ihr das große, schwarze Tier, dass ihre Adoptivmutter mit seinen grünen Augen fixierte, Angst. Als das Kind leise zu weinen begann, legte Sangreal schützend den Arm um sie und drückte sie vorsichtig an sich, ohne mich jedoch aus den Augen zu lassen. Ohne dass ich es wirklich beeinflussen konnte, entfuhr mir ein leises Winseln, dann machte ich erst ein paar Schritte zurück, drehte mich schließlich gänzlich um und lief davon. Im ersten Moment wollten meine Pfoten mich weit weg Richtung Meer tragen, dorthin, wo ich immer hingeflüchtet war, aber ich zwang mich, meinem Instinkt nicht zu folgen, schließlich konnte ich meine Familie so kurz vor dem Eintreffen der Volturi nicht verlassen. Stattdessen lief ich zur Rückseite des Hauses, ließ mich vor der kleinen Klappe zu meinem Zimmer nieder und versuchte, mich so weit zu beruhigen, dass ich mich zurückverwandeln konnte. Noch bevor mein Puls sich verlangsamt hatte, ließ der Motor des Volvos ihn erneut etwas hochschnellen. Mein feines Gehör hörte den Wagen noch fast bis er die Stadt verlassen hatte... *** Die nächsten zwei Stunden verbrachte ich damit, auf meiner Bettkante zu sitzen und nachzudenken. Ein Wirrwarr aus Erinnerungen, Zukunftsängsten und Fragen rauschten durch meinen Kopf. Sogar Banalitäten wie die Schulpausen mit Cat und ihrem penetrant riechenden Brötchen kamen mir immer wieder ins Gedächtnis. Ich hatte durch eine falsche Entscheidung sowohl Sangreal, als auch Cat verloren. Momentan hatte ich verdammt große Lust, meinen Kopf kontinuierlich gegen die nächste Wand zu schlagen, aber am Ende würde ja ohnehin nur die Wand Spuren davon tragen. Wie konnte ich nur so blöd sein? Hätte ich nicht so sehr darauf beharrt, Cat's Unterstützung zu bekommen, hätte ich sie niemals in diese Situation gebracht und Sangi wäre noch bei mir, wahrscheinlich genau hier, auf dieser Seite des Bettes. Ich ließ mich nach hinten in die Laken fallen und sog ihren Duft ein. Ich fragte mich, wie lange ich ihn noch würde riechen können, bevor er verblasste. Er war einen Hauch süßer als der anderer Halbvampire, jedoch nicht so penetrant süß, wie es der eines vollwertigen Vampirs war. Ich schloss die Augen und sah ihr hübsches Gesicht vor mir. Wahrscheinlich flog sie gerade über den Atlantik. Plötzlich klopfte jemand an. Zuerst dachte ich, Nahuel hätte sich dazu entschlossen, dort weiterzumachen, wo wir vorhin aufgehört hatten, doch zu meiner Überraschung, öffnete Leah etwas zögerlich die Tür, nachdem sie einen Moment vergeblich auf eine Reaktion gewartet hatte. Ich setzte mich etwas überrumpelt auf. „Störe ich?“, fragte sie. Ich schüttelte nur hastig den Kopf. „Okay“, sagte sie dann und schloss flüsterleise die Tür hinter sich. Sie ging unsicher ein paar langsame Schritte auf mich zu und rieb dabei die Handflächen leicht aneinander, ganz so, als wäre sie nervös und hätte schwitzige Hände. „Nun... da gibt es etwas, was ich dich gerne fragen würde.“ Ich ließ meine Augen blitzschnell durch den Raum huschen, dann bot ich ihr mit einem stummen Kopfnicken den dunkelgrünen Sessel an. Ironischerweise genau das Möbelstück, auf das zu setzen Will mich immer angewiesen hatte, wenn er mit mir hatte reden wollen. Sie setzte sich hin und ergriff nach einer erneuten Pause wieder das Wort: „Ich wollte dir diese Frage schon so lange stellen, aber ich... ich...“ „Schon okay“, unterbrach ich sie. Ihre Gründe waren mir mehr als bewusst. Wäre ich in ihrer Situation gewesen, ich hätte auch nicht mit mir reden wollen. Sie schluckte kurz. „Na ja, jedenfalls....“ Wieder eine Pause. Ich nahm an, dass es sie nervös machte, dass ich sie ansah, nahm meinen Blick von ihr und ließ ihn langsam Richtung Fußboden schweifen. „Jedenfalls“, fuhr sie dann fort. „Wäre es mir sehr wichtig zu erfahren, was... was Will's letzte Worte waren bevor er...“, sie zögerte erneut, „starb.“ Ich konnte gar nicht anders, als sie wieder anzusehen. Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Eigentlich... hatte ich überhaupt nicht mehr damit gerechnet, dass sie jemals wieder normal mit mir reden würde. Natürlich erinnerte ich mich an seine letzten Worte. Jede Silbe hatte sich in mein Gehirn gebrannt, genau wie die Bilder dazu. Ich hatte wohl versucht, alles zu verdrängen, aber sie würden doch immer da sein. Dazu war mein halb menschliches, halb übernatürliches Gehirn zu perfekt. Vampire vergaßen nicht. Ich ebenso wenig. Leah schien mir anzusehen, dass sie mich damit gewissermaßen überfahren hatte. „Es tut mir Leid, wenn ich-“ „Nein“, unterbrach ich sie. „Du hast ein Recht, das zu wissen.“ Ja, das hatte sie. Aber sollte ich ihr wirklich die Wahrheit sagen? Gewiss erwartete sie, dass er in seinen letzten Atemzügen an sie gedacht hatte. Vielleicht hatte er das auch, aber über sie gesprochen hatte er nicht. Er hatte nur von mir geredet und davon, dass ich wieder nach Hause gehen sollte. 'Versprich mir, dass du dir keine Schuld gibst' und 'Bitte, geh zurück nach Hause', hatte er gesagt. Kein Wort über Leah, kein Wort über seine Kinder oder Mariella oder unsere Eltern. Wahrscheinlich würde ich ihr wehtun, wenn ich ihr wahrheitsgetreu wiedergab, was mein Bruder mir gesagt hatte, kurz bevor sein Herz aufgehört hatte zu schlagen, aber Lügen hatten mir schon genug Verluste und Sorgen bereitet und Leah verdiente die Wahrheit. „Versprich mir, dass du dir keine Schuld gibst“, wiederholte ich Will's Worte, ohne Leah anzusehen. „Bitte, geh zurück nach Hause.“ Im Augenwinkel sah ich, dass sie den Kopf etwas sinken ließ. Erneut trat Stille ein. „Es tut mir Leid“, sagte ich dann schließlich zu ihr gewandt. „Ich hätte mir gewünscht, dass er seine letzte Kraft nicht für mich verschwendet und mir eine Botschaft für dich mit auf den Weg gegeben hätte.“ „Nein, schon gut“, winkte sie ab. Der Klang ihrer Stimme verriet, dass es ihr schwer fiel, sich zusammenzureißen. „Im Grunde ist es ja unnötig. Ich weiß, dass er mich unendlich geliebt hat. Ich meine, er ist auf mich geprägt gewesen. Wie hätte er unsere Kinder und mich nicht lieben können?“ Eine einzelne Träne quoll aus ihrem linken Auge hervor. „Eigentlich ist es unnötig“, wiederholte sie. „Leah“, sagte ich leise und wollte gerade aufstehen, da schnellte sie aus dem Sessel und gestikulierte mit den Handflächen in meine Richtung. „Nein, schon gut. Danke, dass du es mir erzählt hast, das war mir wirklich sehr wichtig.“ Ich sah ihr niedergeschlagen nach, als sie zur Tür ging. Für was ich eben hatte aufstehen wollen, war mir selbst schleierhaft. Hatte ich sie etwa trösten wollen? Wie denn? In den Arm nehmen? Einen Kuss auf die Stirn geben? Ich war verwirrt über mich selbst. Leah öffnete die Tür eilig, verharrte dann jedoch plötzlich und drehte ihren Kopf noch einmal zu mir. „Nayeli wird in La Push sicher sein“, sagte sie dann. Es passte nicht zum Thema, aber es war auf irgendeine Weise ein wohltuendes Gefühl zu wissen, dass sie sich dessen bewusst zu sein schien, dass ich mir aufrichtig Sorgen um das Kind machte. Bisher hatte ich immer die Vermutung gehabt, dass Leah mich für ein gefühlskaltes Wesen gehalten hatte. Schon als ich noch klein gewesen war, war sie mir gegenüber eher distanziert. Nachdem sie den Raum verlassen hatte, legte ich mich wieder aufs Bett und schloss die Augen. Dieses Gespräch hätte ich vor ein paar Wochen niemals für möglich gehalten. Dementsprechend fiel mir nun ein Stein vom Herzen. Leider fühlte ich mich trotzdem kein Gramm leichter. Die restlichen Steine wogen zu schwer... Erneut ging die Tür auf und ich schreckte hoch. „Hast du was verg-“ Ich hielt inne. Statt wie von mir vermutet Leah, betrat meine Schwester das Zimmer. „Leah?!“, fragte sie neugierig und schien ebenso verwundert über Leah's Besuch bei mir, wie ich es war. Ich winkte ab, meine Schwester nickte nur verhalten. „Du hast das Anklopfen wohl wirklich verlernt“, sagte ich dann, schließlich war es bereits das zweite Mal an nur einem Tag, dass sie unangekündigt mein Zimmer betrat. Meine Schwester sah betroffen drein. „Das mit Sangreal tut mir Leid.“ Ich lachte bitter: „Mariella, ich kenne dich buchstäblich schon mein ganzes Leben, mir ist nicht entgangen, dass du sie nicht mochtest.“ „Mir tut es ja nicht um sie leid, sondern um dich. Ich wusste, dass sie dir nicht gut tun würde, aber ich hatte mir gewünscht, ich würde falsch liegen.“ „Dann kannst du ja nach oben gehen und Nahuel die Hand reichen. Er hat wohl auch gewusst, dass ich ihr nicht gut tun würde.“ Mariella antwortete nichts. Ich schüttelte den Kopf. „Warum bist du wirklich hier?“ „Mum und Dad wollen dich sehen.“ Zur Antwort zog ich eine Augenbraue hoch. *** In der Suite meiner Eltern stach mir direkt nach betreten ihrer Räumlichkeiten die goldene Champagnerflasche ins Auge. Neben meinen Eltern waren nur noch meine Großeltern im Raum. „Was wird das?“, fragte ich leicht verstimmt. Drehten sie jetzt komplett am Rad? Oder war es ein ungeschriebenes Gesetz, dass andere immer dann glücklich waren oder etwas zu feiern fanden, wenn ich nur noch schwarz sah? „Feiern wir unseren tosenden Untergang?“ „Aber nicht doch“, beteuerte meine Mutter sogleich, nahm mich am Oberarm und führte mich zur Couch, wo Mariella bereits Platz genommen hatte. Edward öffnete indes die Flasche und füllte sogar sein und Bella's Glas beim Einschenken gleichzeitig. „Ich weiß, dass wir eine große Familie sind“, fuhr Renesmee fort. „Aber innerhalb dieser großen Familie, gibt es unabhängig davon, auch noch uns und es war uns, also Mum und Dad, deiner Schwester, Jake und mir wichtig, dass wir noch etwas Zeit nur für uns haben.“ „Und für Edward ist es eine tolle Gelegenheit die letzte Flasche Armand de Brignac aufzubrauchen“, fügte Vater hinzu und lächelte Edward verschmitzt an. „So ist es“, stimmte Edward hinzu und hob sein Glas. „Auf den morgigen Tag und darauf, dass sich alles ändern wird, so oder so.“ Die Anderen taten es ihm gleich und hoben ihre, nun gold-sprudelnden, Champagnergläser hoch, dann hielten sie inne und sahen mich erwartungsvoll an. Ich seufzte und nahm mein Glas. „Auf Morgen“, sagte ich, den Blicken, die ich erntete, nach zu urteilen, etwas zu motivationslos. Ich hob es ebenfalls empor und alle tranken. Nach dem ich einen Schluck genommen hatte, sah ich Mariella, die neben mir saß, bei ihrem letzten Zug zu. „Wo ist denn Seth?“, fragte ich dann, Meine große Schwester stellte ihr Glas auf den gläsernen Couch-Tisch. „Bei Leah“, sagte sie kurz. „Du hast mir immer noch nicht gesagt, was Leah von dir wollte“, kam sie davon auf vorhin zu sprechen. Ich lächelte sie leicht an. „Sie hat mir nur eine Frage gestellt, nicht mehr. Sie hat mir nicht den Kopf abgerissen.“ Mariella sah mich schuldbewusst an. „Es tut mir leid, ich mache mir nur Sorgen. Ich kann das so schwer abstellen.“ „Ich weiß“, antwortete ich. Ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln, doch dann sah ich sie eindringlich an und ihr Lächeln verschwand, als ich weitersprach. „Aber morgen möchte ich, dass du dich zurück hältst, ganz gleich was passiert.“ „Aber-“, wollte sie gerade erwidern, doch ich unterbrach sie. „Nein“, sagte ich und schüttelte den Kopf, dann wand ich mich meiner Mutter zu. „Dasselbe gilt übrigens auch für dich.“ Renesmee antwortete nichts und sah mich, das Champagnerglas, noch zu einem Drittel gefüllt, in der Hand, einfach nur an. Vater legte seine rostrote Hand auf ihr Handgelenk und nahm ihr das Glas mit der anderen Hand ab. „Er hat Recht, Schatz.“ „Jake“, hauchte sie. „Du weißt, wenn es nach mir ginge, würde ich dich sofort in den Privatjet setzen und auf die Malediven schicken, damit sie dich niemals finden und die Sonne dich schützen kann. Und Mariella und Ani würde ich direkt mitschicken.“ Mum nahm Dad das Glas ab und stellte es auf den Tisch, dann nahm sie sein, nun trauriges, Gesicht in ihre bleichen Hände. „Du bist meine Sonne, Jake und ich werde nicht von deiner Seite weichen.“ „Ich weiß“, sagte er und legte seine Hand auf ihren Handrücken. „Jake“, meldete sich nun Bella zu Wort. „Du bist nicht der Einzige, der Nessie um jeden Preis schützen will“, sagte sie und zwinkerte ihm zu. Dad nickte. „Ich verlass mich auf deine Jedi-Tricks, Bella.“ *** Am nächsten Tag war es dann natürlich nicht nur mein Vater, der große Hoffnungen in die Fähigkeiten meiner Großmutter setzte. Ich war mir wohl bewusst, dass ich ihre Gabe zu einem gewissen Teil geerbt hatte, hätte mir nun jedoch gewünscht, dass ich damit noch anderen würde helfen können, außer nur mir selbst. Auf Alice' Anraten hin, bauten wir uns eine Art kleine Basis in Küstennähe auf. Wir hofften so, die Volturi vor dem Eindringen ins Landesinnere weitgehend hindern und dadurch die Menschen, die hier lebten, beschützen zu können. Das starke Gewitter, dass sie vorausgesagt hatte und das sich bereits durch dunkle Wolken am Himmel und tosende Wellen im Meer ankündigte, kam uns daher gerade gelegen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich bei diesem Unwetter jemand an der Küste aufhielt, war gering. Wir schlugen Zelte auf und Benjamin zündete ein Lagerfeuer an, um die Wartezeit erträglicher zu gestalten. Die Nacht brach bereits an, als Edward schließlich aufhorchte, nachdem er die Gedanken Aro's lokalisiert hatte. Und tatsächlich: von der Küste aus, näherten sich uns über zwei Dutzend in schwarz gehüllte Vampire. Ihre Mäntel erinnerten mich an einen Farbfächer. Das Schwarz der Äußersten wirkte verwaschen, es hätte fast als Grau bezeichnet werden können, während der Ton nach Innen hin immer dunkler wurde. Sie kamen als eine Einheit, prunkvoll wie eh und je. Aro wurde von Marcus und Caius flankiert. Unweit von ihnen befanden sich Renata, das Schutzschild, und natürlich Jane und Alec, die Hexen-Zwillinge. Mit jedem Schritt, den sie auf uns zugingen – obgleich sie sich für vampirische Verhältnisse verdammt langsam fortbewegten – stieg meine Anspannung. In diesen Sekunden begann ich es als Segen zu betrachten, dass ich sowohl Sangreal, als auch Cat von mir fort getrieben hatte. Immerhin waren sie nun beide nicht auf dem Schlachtfeld. Ich hoffte, dass Sangi sich kurzfristig dazu entschlossen hatte, bei Nayeli zu bleiben. Wahrscheinlich würde ich sie nun nie wieder sehen, aber das war es mir wert. Kapitel 23: Um Leben und Tod (Teil 1) ------------------------------------- Wir reihten uns – die Volturi auf der einen, meine Familie und unsere Verbündeten auf der anderen Seite – einander gegenüber auf. Alle Gestaltwandler hatten die Wolfsgestalt angenommen. Ich bildete die einzige Ausnahme. Sie fühlten sich in dieser Form natürlich weniger angreifbar und konnten leichter miteinander kommunizieren. Ich, für meinen Teil, hatte die Möglichkeit in jeder Form zu kämpfen, bevorzugte jedoch die menschliche. Carlisle und Edward postierten sich zusammen mit Emmett und Zafrina ganz vorne, meine Mutter und meine Schwester bildeten das Schlusslicht, der Rest verteilte sich in der Mitte, in der auch ich mich befand. Ich hatte eigentlich erwartet, dass die Volturi eine ähnliche Struktur aufweisen würden, um ihre Frauen zu schützen, doch ich konnte Aros und Caius Gefährtinnen nicht unter ihnen ausmachen. Corin schien ebenfalls, wie gewohnt, bei ihnen zu sein. Es machte mich stutzig. Entweder gingen sie davon aus, bald wieder die Heimreise antreten zu können und hielten es deswegen für unnötig ihre Frauen mitzunehmen oder aber sie hatten ernsthafte Zweifel an ihrer Überlegenheit und wollten sie auf diese Art und Weise schützen. Nach ein paar Minuten der Stille, in denen wir einander nur stumm gemustert hatten, trat schließlich Aro, dicht gefolgt von Renata, vor. „Carlisle, mein lieber Freund, wie konnte es nur so weit kommen?“ Aros Stimme war gespielt freundlich wie eh und je. „Ich denke, das fragen wir uns alle“, antwortete Carlisle. Obwohl zwischen ihm und seinem Gesprächspartner einige Meter Luftlinie lagen, sprachen sie, Vampirgehör sei Dank, miteinander, als säßen sie sich direkt gegenüber. „Unsere Freundschaft allerdings, scheint hinfällig geworden zu sein.“ Aro setzte ein trauriges Gesicht auf. „Oh, wie bedauerlich. Mir war sie immer sehr teuer. Ich kann natürlich verstehen, dass die Verluste, die ihr erleiden musstet, euch hart getroffen haben. Man sagt sich ja, die vegetarische Lebensweise würde bei Unsereins menschliche Gefühle hervorrufen. Wenn dem so ist, ist es natürlich verständlich, dass der Tod eures Zirkelmitgliedes euch derart trifft.“ Von Aros Worten tatsächlich getroffen, trat Edward einen Schritt hervor. „Er war kein 'Zirkelmitglied', Aro, er war mein Enkel, er war Teil unserer Familie. Er war ein Bruder, ein Sohn, ein Vater. Aber er ist nicht allein der Grund weshalb wir heute hier stehen.“ Die roten Augen des Volturioberhauptes huschten kurz zu mir, fixierten jedoch schnell wieder Edward, als dieser erneut das Wort ergriff. „Und Anthony ist es genau so wenig.“ Aro sah ihn fragend an. „Ihr habt eure Macht zu lange missbraucht, Aro. Eure Aufgabe war es, unser Geheimnis zu bewahren und Vergehen zu bestrafen. Ihr habt dafür einige Privilegien genossen und wurdet von vielen gefürchtet und verehrt. Das kreidet euch niemand an. Es war in Ordnung, so lange ihr euren Pflichten nachkamt und eure Dienste getan habt. Nun aber, sehen wir deutlich Willkür in euren Handlungen. William wurde ohne ersichtlichen Grund von Caius getötet und anstatt ihn für sein Handeln zu bestrafen, wird er belohnt, indem weitere Leben um seinetwillen geopfert werden. Heute war es William, der sterben musste, morgen kann es jeder von uns sein, ganz wie es euch beliebt. Ja, unser Geheimnis muss bewahrt werden. Ja, Vampire brauchen Regeln. Ja, sie müssen auch gerichtet werden, wenn sie dagegen verstoßen. Aber diese Regeln gelten für uns alle. Ihr seid keine Ausnahme. Und wir glauben nicht mehr länger, dass ihr geeignet dafür seid, über unsere Welt zu herrschen. Nur aus diesem Grund stehen wir heute hier.“ Nachdem Edward seine Rede beendet hatte, sagte niemand etwas. Das Grollen der Gewitterwolken, deren Regen sich bald über uns ergießen würde und die alles um uns herum in Dämmerlicht hüllten, war alles, was wir in diesen Minuten vernahmen, ehe Aro plötzlich zu lachen begann. Sein spitzes Lachen wurde vom falschen Gelächter seiner Mitstreiter begleitet, bis alle Volturi uns verspotteten. Als Aro plötzlich aufhörte zu lachen, verstummte auch der Rest schlagartig. „Zu schade“, sagte er dann. „In euren Reihen befand sich das eine oder andere Talent, aber eurem Betteln um den Tod wollen wir gern nachgeben, nicht wahr, meine Lieben?“ Er drehte sich zu seinem Gefolge um, Caius und Marcus taten es ihm gleich. Direkt hinter ihnen öffnete sich ein Spalt in der Reihe, als einige der Volturi beiseite traten, um ihre Meister passieren zu lassen. In jenem Moment, in dem sie hinter den übrigen Volturi verschwunden waren und sie die Reihe wieder verschlossen hatten, fegten alle, abgesehen von den Ältesten, schlagartig auf uns los. Die aufeinanderprallenden Vampirkörper waren kaum von den Donnerschlägen über uns zu unterscheiden. Überall um mich herum vernahm ich sie zusammen mit dem Geräusch von zerberstendem Porzellan und aufsteigenden Flammen, wann immer einer von ihnen sein Leben ließ. Für gewöhnlich hielt man sich bekanntlich das Beste bis zum Schluss auf. In diesem Fall jedoch, war Aro, obgleich er nicht mein primäres Ziel war, der Erste, den wir ins Visier nahmen. Jeder von uns hatte seine Beweggründe für die Teilnahme an diesem Kampf. Die Individuen der Volturi jedoch, hatten eigentlich keine. Sie ließen ihr Leben für Aro. Er war ihr Wille, ihr Kopf. Wir mussten ihnen diesen Kopf abreißen, um ihre Einheit zu zerschlagen und ihren Willen zu brechen. Stefan und Vladimir preschten nach vorn, wollten sie sich doch die Chance nicht nehmen lassen, das Oberhaupt der Volturi zu erledigen. Doch plötzlich knickte einer von ihnen ein, während der Andere ins Leere starrte. Erst als Bella sie unter ihren Schutz nahm, um Janes und Alecs Fähigkeiten zu blockieren, konnten sie sich wieder rühren. Nun nahm Zafrina ihnen mit ihrer Gabe die Sicht, so dass die Hexenzwillinge nun ihrerseits ins Nichts starrten. Stefan rappelte sich auf und riss Alec den Kopf ab. Jane fixierte den rollenden Kopf ihres Bruders, ehe er in Flammen aufging. Beinahe wäre sie von Vladimir erwischt worden, da sprang Felix dazwischen, packte den Rumänen und riss ihm beide Arme und anschließend den Kopf ab. Nachdem er Vladimirs Überreste in Brand gesteckt hatte, taxierte er als nächsten Stefan, doch Aurora sprang ihm in den Nacken und packte seinen Kopf. An seinem Hals waren kaum mehr als ein paar kleinere Risse zu sehen, da griff er mit beiden Armen nach der Vampirin auf seinen Schultern und warf sie über sich hinweg. Aurora knallte auf den Boden und hinterließ nun ihrerseits ein paar ordentliche Risse in der Erde. Sie wich zurück, als Felix weiter auf sie zu schritt. Mit einem Mal jedoch, wurden die Risse größer und größer. Just in jenem Moment, in dem Felix mit den Füßen dazwischen rutschte, schlossen sie sich wieder und der stämmige Vampir steckte in der Erde fest. Dankbar nickte Aurora Benjamin zu, dann zerstückelte sie, gemeinsam mit Stefan, Felix. Doch Vladimir war nur das erste unserer Opfer gewesen. In der Ferne sah ich, wie ein mir unbekannter Volturi Kachiri tötete, ein weiterer bezwang Liam und wurde anschließend von Siobhan und Maggie überwältigt und verbrannt. Ich drehte mich ein drittes Mal um und erwartete bereits den nächsten Verbündeten sterben zu sehen, da durchfuhr mich das Adrenalin wie ein Blitz: in etwa fünfzig Metern Entfernung sah ich, wie meine Mutter sich verängstigt gegen die Überreste eines alten Gemäuers presste. Es war wahrscheinlich das einzige Stück Mauer in der ganzen Gegend, aber sie glaubte sich wohl dort zumindest einigermaßen in Sicherheit. Ich jedoch, sah dank meines Schutzschildes genau, wie sich Afton ihr hinterrücks in unsichtbarem Zustand näherte. Ohne eine weitere kostbare Sekunde verstreichen zu lassen, sprang ich nach vorn, überquerte die fünfzig Meter in Bruchteilen einer Sekunde und machte mich dabei ebenfalls unsichtbar. Nicht einmal einen halben Meter neben meiner Mutter schlug ich den Volturi mit voller Wucht ins Gemäuer. Sie wurde nicht gänzlich durchschlagen, bekam jedoch ein riesiges Loch, in dem Afton – nun wieder sichtbar – versank. Er war es wohl nicht gewohnt, wenn jemand immun gegen seine Gabe war und ihn dabei auch noch mit seinen eigenen Waffen schlug. „Du bist nicht der Einzige, der sich unsichtbar machen kann“, zischte ich ihm zu. Seine roten Augen weiteten sich, dann brach ich ihm das Genick und entledigte ihn seines Kopfes. Meine Mutter stand, noch immer zitternd, neben mir. Ich sah sie eindringlich an. „Alles okay, Mum?“ Sie nickte hastig. Ich wusste, dass dem nicht so war. Mein Blick wanderte zu Aftons Einzelteilen. Ich nahm ein Feuerzeug und zündete sie an. Kaum, dass ich es fallen gelassen hatte, schrie meine Mutter plötzlich auf: „Pass auf!“ Meine Unachtsamkeit zunutze machen wollend, sprang Chelsea, Afton's Gefährtin, auf uns zu. Instinktiv stellte ich mich direkt vor meine Mutter und schirmte sie ab, doch Chelsea hatte uns noch gar nicht berührt, da kam der sandfarbene Wolf in unser Blickfeld und riss Chelsea mit sich. Seth zerriss die Volturi mit einigen wenigen Bissen. Auf seinem Rücken saß Mariella. Ein paar Sekunden verharrte ich mit ausgebreiteten Armen vor meiner Mutter, dann ließ ich sie sinken, atmete einmal tief durch und nahm dann ihre Hand. Ich zog sie hinter mir her und ging mit ihr zu Seth hinüber. „Danke“, sagte ich. Aus seinem Inneren kam ein wohlwollendes Schnauben. Natürlich war es für ihn ganz selbstverständlich gewesen. Meine Hand löste sich von der meiner Mutter, ich hob sie hoch und setzte sie mit einer einzigen fließenden Bewegung auf Seths Rücken, direkt hinter Mariella. „Ani!“, protestierte meine Mum, doch ich ignorierte sie und sah Seth an, der seinen großen Kopf aufmerksam zu mir drehte und mich mit seinen dunklen, treuen Augen musterte. „Seth, bitte bring meine Mutter und meine Schwester von hier fort, so weit wie du kannst.“ „Was?!“, meckerte nun auch meine Schwester. „Nein! Ich will dir helfen!“ Ich sah zu ihr hoch und lächelte sie an. „Ich weiß.“ Ihr Gesicht wurde traurig. „Und du weißt, wie du mir helfen kannst.“ Sie sah mich kurz an, dann wanderten sowohl ihr Blick, als auch ihre Hand zu ihrer Hosentasche, jenem Ort, an dem sie die sieben Spritzen für mich aufbewahren sollte. „Pass gut auf die Beiden auf, Seth.“ Seth nickte, dann drehte er sich um und rannte davon. Ich sah ihnen nach, genauso wie sich Mariella und Renesmee umdrehten und mir nachsahen. Bitte, bleibt unverletzt... Wenig später richtete ich mein Augenmerk wieder auf das Kampfgeschehen um mich herum. Aro und Jane waren auf der Flucht, doch während Letzterer diese gelang, schnitt Edward ihrem Meister zusammen mit Alice, Bella, Eleazar und Emmett den Weg ab. In seinem Todeskampf schlug er Emmett zwar noch ein kleines Loch ins Gesicht und riss Eleazar den Arm ab, doch schließlich, wurde er von Edward und Bella im Teamwork enthauptet. Er hielt ihn fest und sie zog, dann verbrannte auch der Kopf des Volturi zu nichts weiter, als einem Häufchen Asche. Eigentlich sollte ich Erleichterung fühlen, doch dem war nicht so. Aro hatte viele schlimme Dinge getan, insbesondere was Sangreal und die Halbvampire anging, doch war es Caius, den ich in Flammen aufgehen sehen wollte. Er war es, denn ich zerreißen wollte. Sein Tod war es, der mich befriedigen würde. Carlisle kam mit seinem Köfferchen auf uns zu gerannt, um Eleazar dabei zu helfen, seinen fehlenden Arm wieder anzubringen. Das Vampire sich wieder zusammenflicken konnten, solange man sie nicht verbrannte, war in diesen Stunden Glück und Segen zugleich. „Einer ist hinüber, fehlen noch zwei“, sagte Emmett siegessicher. „Ich hätte eigentlich erwartet, Aro wäre etwas widerstandsfähiger“, kommentierte ich. Carlisle sah von seiner Flickerei auf und runzelte die Stirn. „Wo ist Renata?“ „Zusammen mit Jane geflüchtet, weil Bella sie blockierte“, sagte Edward und nahm Bella stolz in den Arm. „Sieht nicht so aus, als hätte man ihnen das Kämpfen beigebracht“, sagte ich. „Wozu?“, meinte Eleazar, der auf dem Boden saß und nun wieder mit beiden Armen seine Jacke anzog. „Sie hatten es nie nötig. Außer euch gab es nie jemanden, der gegen ihre Gaben immun war.“ „Vielleicht“, sagte ich. „Aber ich wünschte, ich könnte mehr tun.“ Edward legte seine Hand auf meine Schulter. „Du tust genug, indem du atmest.“ „Wo ist Renesmee?“, wollte Bella wissen. „Ich hab sie zusammen mit Seth und Mariella fortgeschickt. Sie gehört nicht auf ein Schlachtfeld.“ „Gut gemacht“, lobte Edward. „Hoffen wir, dass sie sich fernhält.“ „HILFE!“ Ein Schrei schreckte uns alle auf. Wir starrten in die Richtung, aus der er gekommen war. Die Stimme war mir nicht gänzlich unbekannt, jedoch auch nicht sonderlich vertraut. „Das war Constance“, sagte Edward. Und dann rannten wir los. Zwischen den zerklüfteten Felsen der Küste, rannte Constance, verfolgt von Santiago und Alerio um ihr Leben. Ihr fehlte bereits ein Arm und ein Teil ihres Gesichtes war weg gesplittert. Edward sprang den Hang hinunter, um ihr zu helfen. Als ihre Verfolger ihn sahen, ließen sie von der Französin ab und rannten davon. Neben mir sprang nun auch Bella hinunter, um ihrem Mann zu helfen. Ich wollte es ihr gerade gleich tun, da vernahm ich ein schreckliches Jaulen hinter mir. Zwei Wölfe hatten sich mit Demetri angelegt. Er hatte keinerlei Probleme, mit ihnen fertig zu werden. Den Rotbraunen mit den dunkleren Zeichnungen an Pfoten und Gesicht, Collin, erledigte er mit einem gezielten Nackenbruch. Dem anderen, der ihm zu Hilfe eilte, Brady, zerquetschte er den Brustkorb. Als die beiden leblosen Wolfskörper vor ihm lagen, hob er den Blick in meine Richtung und lächelte leicht. Mir entfuhr unwillkürlich ein tiefes Knurren. Wenige Augenblicke später sprangen plötzlich fünf Wölfe aus dem nahen Wald: Leah, Sam, Paul und Embry hatten den Verlust ihrer Mitglieder gespürt und rächten sich. Gemeinsam bezwangen sie den Volturi und zerstückelten ihn. Sam warf eine abgetrennte Hand auf den Haufen von Demetris Gliedmaßen und sah mich anschließend mit seinen dunklen Augen an. Ich ging auf Demetris Überreste zu und zündete sie an. Nun setzte das Rudel sich wieder in Bewegung, doch eine von ihnen brauchte ich noch. „Leah!“, rief ich. Der kleine graue Wolf blieb stehen und sah mich an. „Wo ist Seth? Geht es ihm gut?“ Sie nickte. Erleichterung überkam mich. Wenigstens das. Ich kehrte zum Ausgangspunkt zurück, wo noch immer erbittert gekämpft wurde, doch die meisten Volturi, die sich hier mit unseren Verbündeten schlugen, kannte ich nicht. Sie waren Aros Lakaien und besaßen keinerlei besondere Fähigkeiten, was zur Folge hatte, dass es in unseren Reihen kaum noch Verluste gab. Den einen oder anderen erledigte auch ich. Es war nun derart einfach, dass ich ernsthafte Hoffnungen in mir aufkeimen spürte, dass wir diesen Kampf gewinnen würden. Doch meistens kam es anders, als man dachte und mein Pech ließ es sich nicht nehmen, mich wieder einzuholen... Es war etwa eine Stunde, nachdem ich Leah getroffen hatte. Es regnete bereits aus Kübeln, der Boden war schlammig und der Mond die einzige Lichtquelle, abgesehen von den vereinzelten Stichflammen verbrannter Vampire. Ich ging gerade einen kleinen Hügel hinauf, da sah ich die Silhouette eines Wolfes an dessen höchstem Punkt. „Seth!“, rief ich erschrocken, fast schon zornig über die Tatsache, dass er hier war. Ich krallte meine Hände in sein Fell. „Was machst du hier?!“ Er verwandelte sich zurück, wodurch meine Hände nun auf seinen Schultern lagen. Er atmete ziemlich schnell, schien aber nicht verletzt zu sein. „Ganz ruhig!“, sagte er und schob meine Hände weg. „Mariella und Nessie sind in Sicherheit. Ich hab es nicht ausgehalten, tatenlos rumzusitzen!“ „Tatenlos? Du solltest auf meine Schwester und auf meine Mutter aufpassen!“ Er rollte die Augen. „Wie war das noch gleich mit dieser verdammten Prägung? Sollte dir Mariellas Sicherheit nicht mehr als alles andere am Herzen liegen?“ Jetzt funkelte er mich böse an. „Sie ist sicher. Wenn du dir solche Sorgen machst, geh und vergewissere dich selbst. Der Kampf findet hier statt. Alle sind hier. Die beiden befinden sich in einem Wald fünfzig Kilometer nördlich von hier. Niemand kommt auf die Idee, sie dort zu suchen, wenn hier die ganze Action ist, Ani.“ Ich nickte ihm zu, er tat es mir gleich, dann verwandelte er sich wieder in den sandfarbenen Wolf und rannte zum Schlachtfeld. Ich überlegte kurz, ihm zu folgen, schließlich waren seine Worte nicht ganz falsch gewesen, entschied mich jedoch dagegen. Ich wollte erst nach den beiden sehen, ehe ich mich wieder auf den Kampf konzentrieren konnte. Ich vergewisserte mich kurz, dass mir niemand folgte, dann rannte ich los. Ich bevorzugte für meinen Sprint geschützte Wege. Wann immer es möglich war, nutzte ich die Deckung von Wäldern und Büschen. Glücklicherweise kannte ich dieses Land, wie meine Westentasche. Ich war keine zehn Minuten gelaufen, da vernahm ich ein schwaches Stöhnen in der Nähe und hielt inne. Ich ging direkt, hinter einigen Sträuchern, in Deckung und bewegte mich langsam in jene Richtung, aus der ich das Geräusch ausgemacht hatte. Meine Augen weiteten sich vor Entsetzen über das, was sie dann sahen: wenige Meter vor mir, lag Nahuel auf dem Waldboden. Über ihm stand Caius und lächelte. Nahuel zitterte am ganzen Körper, war schweißgebadet, aus seiner Kehle lief Blut. Plötzlich langte Caius nach ihm, seine dünnen bleichen Finger packten Nahuels blutgetränktes Hemd und zogen ihn zu sich nach oben. Sein Gesicht war nun kaum mehr als eine Handbreit von Nahuels entfernt. „Dachtest du, Aros Tod sei eure Rettung? Niemand wird gerettet sein, solange es mich gibt, du Narr. Ich werde alles haben, was mein Bruder hatte und dazu zählt sie auch. Sie wird es nur nicht annähernd so schön haben, wie zu seinen Lebzeiten, aber wen kümmert das? Dich ganz sicher nicht mehr.“ „Du Monster“, röchelte Nahuel und griff nach Caius Handgelenk, woraufhin dieser zurückwich. Nahuel knallte auf den Boden und blieb reglos liegen. Caius schnaubte kurz überlegen, dann machte er auf dem Absatz kehrt und ging davon. Ich wartete noch eine Minute, um sicher zu gehen, das Caius nicht von meiner Anwesenheit erfahren würde, dann ging ich zu Nahuel. Ich befürchtete schon, ich hätte zu lange gewartet und er wäre bereits tot, doch plötzlich schlug er die Augen auf. Ich kniete mich neben ihn. Wieder kniete ich neben jemandem, der in seinem eigenen Lebenssaft im Sterben lag. Ich wurde unweigerlich an Will's Tod erinnert. Mit einem Mal griff Nahuel nach meinem Shirt und zog mich zu sich. Er öffnete den Mund, aber heraus quoll nur noch mehr Blut. Ich wusste nicht, was ich sagen oder tun sollte und starrte ihn entsetzt an. „Wenn...“, aus seinem Gurgeln und Röcheln bildeten sich schließlich doch noch Worte. „Wenn...“ „Nahuel“, sagte ich, doch er schüttelte den Kopf. „Wenn dir auch nur irgendetwas an ihr liegt“, presste er hervor, dann ließ er mich los, ließ den Kopf zurück auf die Erde sinken und fuhr dann fort. „Dann halte sie auf. Er darf sie nicht kriegen.“ Sein Körper verlor jegliche Spannung. Das Leben hatte ihn verlassen. Nahuel war tot. Ich wusste, von wem er geredet hatte. Natürlich lag mir etwas an ihr, mehr als das. Ich ballte die Hände zu Fäusten und machte mich auf den Weg. Zuerst würde ich nach meiner Mutter und meiner Schwester sehen und dann würde ich mich schnellstmöglich auf den Weg nach La Push machen. Der Kampf spielte für mich keine Rolle mehr. Ich ging weiter in die Richtung, die Seth mir beschrieben hatte. In einem etwas größeren Wald überkam mich dann jedoch ein merkwürdiges Gefühl. Hier war es seltsam still, fast zu still. Ich vernahm keine Tiere, kein Rascheln. Vorsichtig ging ich weiter, tiefer ins Waldesinnere – und dann vernahm ich Stimmen. Ich konnte neben Caius auch Jane und Heidi ausmachen und zu meinem großen Entsetzen auch die meiner Mutter. Schlagartig rannte ich los, wohl wissend, dass es eine Falle war. Als meine grünen Augen Caius schließlich, umringt von seinen Schergen, erblickten, blieb ich stehen. Caius machte eine einladende Geste mit seiner Hand. „Sieh an, wen haben wir denn da?“, sagte er hochnäsig. Es waren nicht viele Volturi hier, höchstens zehn Stück, die meisten kannte ich nur flüchtig. Sie hatten sich kreisförmig um ihren Anführer postiert. Zwei der Vampire, die den Kreis bildeten, hatten jeweils meine Mutter und meine Schwester in ihrer Gewalt. Bei Mariella war es Heidi, den Typen, der meine Mutter festhielt, kannte ich nicht. „Nein!“ , brüllte Letztere. „Anthony, lauf! Bitte!“ „Och“ , sagte Caius und faltete die Hände. „Bleib doch noch ein bisschen. Keine Sorge, dank Renata, wird uns niemand stören. Jeder der auf ihre Barriere trifft, wird plötzlich besseres zu tun haben.“ Mein Blick fiel auf Aros einstiges Schutzschild. Nun sah sie müde aus. Sie hatte ihren Meister nicht retten können, sie hatte versagt. Eleazar hatte uns von ihrer Gabe erzählt. Sie war in der Lage, Angreifern einen Gedanken einzupflanzen, der ihn von ihr fernhielt. Sofort kam mir Seth in den Sinn. War es wirklich seine Entscheidung gewesen, Mariella allein zu lassen oder war dies auf Renatas Gabe zurückzuführen? Zwei der Volturi packten mich jeweils am Oberarm, zogen mich in die Mitte des Kreises und zwangen mich auf die Knie. Ich knurrte und funkelte Caius an. „So, ich glaube, jetzt haben wir doch ein nettes Grüppchen beisammen oder nicht?“ Er lächelte gespielt und drehte den Kopf links hinter sich. Ich folgte seinem Blick – und mein Herz schlug schlagartig um einiges schneller noch, als es dies ohnehin schon tat. Auf dem Waldboden, zwischen den Frauen der Ältesten, Athenodora und Sulpicia und ihrer Begleiterin Corin, saß Sangreal. Zusammengesunken zu einem Häufchen Elend, hatte sie ihre Arme um sich selbst geschlungen und stille Tränen kullerten über ihr hübsches Gesicht hinab. Sie sah mich nur ganz kurz an, dann starrte sie wieder auf den Boden. „Ja ja“, säuselte Caius. „Du bist überrascht, sie hier zu sehen, ich bin überrascht, dich hier zu sehen.“ Er beugte sich leicht zu mir herab. „Müsstest du nicht längst ins Gras gebissen haben?“ „Offensichtlich nicht“, antwortete ich knapp. „Plötzliche Wunderheilung?“, fragte er. Ich antwortete nicht. „Wie auch immer“, fuhr er fort. „Wenn du meine Neugier nicht zu stillen gewillt bist, muss ich das eben anderweitig herausfinden.“ Im Hintergrund begannen meine Mutter und meine Schwester wild zu zappeln, als Caius einmal um mich herum lief und schließlich hinter mir stehen blieb. Er kniete sich hinter mich, die zwei Wachen, die mich festhielten, festigten ihren Griff um meine Arme. Caius papierene, kalte Haut berührte die meine, als seine Hand meinen Hals umfasste. „Nein! Nein! Caius! Bitte! Nein!“, riefen Mariella und Mum abwechselnd, doch er ignorierte ihr Flehen. Ich für meinen Teil wehrte mich nicht, als seine Zähne sich zum zweiten Mal in meinen Hals bohrten. Wozu sollte ich mich wehren? Gegen diese Übermacht kam ich ohnehin nicht an. Sofort spürte ich, wie sein Gift begann, sich durch meine Blutbahn zu fressen. Es war ein unangenehmes Brennen und Pochen. Caius ließ von mir ab, er zog seine Zähne aus meiner Haut und die, die mich festhielten, ließen meine Arme los. Ich kippte leicht vorn über, stützte mich aber noch mit den Armen ab. Ich kniff die Augen kurz zusammen, als ich sie wieder öffnete, sah ich, wie ein paar Tropfen Blut den Boden benetzten. Blut, das aus meiner Kehle tropfte. Zu meiner Linken vernahm ich das leise Schluchzen meiner Mutter und Schwester und warf kurz einen Seitenblick zu ihnen. Mariellas freie Hand näherte sich unwillkürlich direkt der Tasche mit den Spritzen. „Nun“, begann Caius wieder zu sprechen, schnell wandten wir alle Drei unsere Blicke ihm zu. „Wollen wir doch mal sehen, was mein Gift in deinem Blutkreislauf Nettes anstellt. Weißt du, das erinnert mich an das Mittelalter. Damals, als man es noch genoss andere sterben zu sehen. Was war das doch für ein Großereignis, wenn jemand hingerichtet wurde. Herrlich!“ „Du fieser Drecksack!“, brüllte meine Schwester ihn an. Caius machte eine Handbewegung, woraufhin Heidi ihr den Mund zu hielt. „Aber Moment, wie war das noch gleich damals?“ Er kratzte sich an der Stirn, so als müsse er tatsächlich überlegen, dann strahlte er. „Ah, ich weiß, damals fragte man die Hingerichteten noch nach einem letzten Wunsch. Ich denke, wir sollten diese Tradition wahren.“ Ich sah erwartungsvoll zu ihm hoch. War das sein Ernst? „Schau mich nicht so an“, sagte er dann. „Natürlich ist es dein Wunsch alle drei zu retten, aber das wäre dann wohl doch etwas zu viel des Guten. Anthony … “, sagte er und beugte sich erneut zu mir herab. „Ich lasse dir die Wahl. Nenne mir einen Namen und ich lasse diese Person gehen.“ „Was?“, flüsterte ich ungläubig. „Du hast mich schon verstanden“, sagte er und lief erneut um mich herum. „Du hast die Wahl. Wen lässt du sterben und wem schenkst du das Leben?“ Er ging zu Mariella, die noch immer von Heidi geknebelt wurde. „Deine liebe Schwester vielleicht, mit der du dein ganzes Leben verbracht hast?“ Anschließend ging er zwei Schritte weiter zu meiner Mutter. „Oder deine Mutter, die alles geopfert hätte, um euch diese Leben zu schenken?“ Und dann ging er zu Sangreal. „Oder ist es doch eher das Mädchen, mit dem du offensichtlich in den letzten Monaten ein Bett geteilt hast?“ Ich knurrte ihn an. „Entscheide dich. Ich gebe dir drei Minuten dafür, wenn du mir dann keinen Namen genannt hast, hast du deine Chance vertan.“ In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Welchen Namen sollte ich nennen? Hatte ich wirklich das Recht, über Leben und Tod zu entscheiden? Was würde mit jenen passieren, deren Namen ich nicht nannte? Würde er sie gleich töten? Oder gäbe es noch die etwaige Chance, dass irgendjemand aus meiner Familie sie nachträglich würde retten können? Ich musterte Sangreal. Caius hatte gesagt, er wolle sie haben. Der Gedanke war für sie wahrscheinlich noch schlimmer, als der Tod es hätte sein können, aber er würde sie zumindest nicht töten. Vielleicht hatte sie genug Zeit, um eines Tages gerettet werden zu können. Ganz anders, sah es da für meine Schwester und meine Mutter aus. Caius hatte für sie keinen Nutzen. „Rette deine Schwester!“, wimmerte Mum. Mariella protestierte nicht einmal, was wahrscheinlich nicht daran lag, dass sie nicht sprechen konnte, sondern an der Tatsache, dass sie damit beabsichtigte, Hilfe holen und Caius Gift mit meinem neutralisieren zu können. „Zwanzig Sekunden“, erinnerte Caius mich an meine Restzeit. Wenn ich jetzt nichts sagte, wäre es das gewesen. „Mariella!“, schoss es dann aus mir heraus. „Bravo, die Schwester also“, feierte Caius. Heidi ließ Mariella los, diese ließ ihren Blick zu Mum, dann zu Sangi und schließlich zu mir schweifen. Instinktiv krallte sie ihre zarten Finger in den Stoff ihrer Hose, direkt über dem Punkt, an dem sich die Spritzen befanden. „Geh“, flüsterte Mutter ihr zu. Mariella nickte und ging vorsichtig an der Reihe aus Vampiren vorbei. Sie war gerade in Begriff loszustürmen, da brüllte Caius auf einmal: „STOP!“ Meine Schwester erstarrte. Einer der Kerle, die mich vorher festgehalten hatten, packte Mariella an den Schultern und drehte sie in Caius Richtung. „Du wolltest mich gehen lassen!“, erinnerte sie ihn. „Natürlich, sobald du deine Taschen geleert hast.“ „Was?“ Das Wort war kaum mehr als ein Hauch, ehe ihre Stimme versagte. Der Volturi hinter ihr, griff in ihre Taschen, zog die Spritzen heraus und warf sie zwischen ihr und Caius auf den Boden. Meine Augen weiteten sich, als sie über den Waldboden rollten. Nicht etwa, weil sie Schaden bekommen hatten, nein, der Grund war ein gänzlich anderer. Vor Caius Schuhen lagen nun insgesamt zehn Spritzen. „Mariella!“, brüllte meine Mutter und begann bitterlich zu weinen. „Warum sind es zehn?! Was hast du getan?!“ Mariellas Augen wurden feucht, dann quollen Tränen hervor und sie ging vor mir auf die Knie. Nun saßen wir auf Augenhöhe. „Ani, es tut mir so leid. Ich... ich hab die Notration aus Carlisles Schublade genommen. Ich hatte Angst sieben wären nicht genug. Ich... ich habe dich getötet. Es tut mir so leid...“ Meine kleine große Schwester brach vor mir in Tränen aus und sank in sich zusammen. „Würde mich mal jemand aufklären?“, beschwerte sich Caius. „Wozu tragt ihr Vampirgift mit euch herum. Wohl kaum, um während der Schlacht noch ein paar Neugeborene zu eurer Unterstützung zu kreieren!“ Als niemand von uns antwortete, gestikulierte er kurz, dann wurde Mariella von einem Kerl auf die Beine gezogen. „Sprecht oder er bricht ihr das Genick!“ „Das ist mein Gift. Es dient als Antiserum gegen Vampirgifte für mich. Es neutralisiert sie und kann mich heilen. Auf die Art, habe ich deinen Angriff beim ersten Mal überlebt.“ Die Worte sprudelten aus mir heraus. Ich wollte einfach nur, dass er wenigstens sie gehen ließ. „Diese zehn Spritzen sind alles was wir davon hatten. Da du sie nun hast, ist das mein Todesurteil und nun lass meine Schwester gehen!“ Caius lachte auf. „So war das also. Nun denn“, sagte er und hob die Spritzen auf. Angespannt sahen wir ihm zu, wie er sie hinüber zu Sangreal trug und sie direkt vor ihr auf dem Boden aufreihte. „Im Theater bin ich auch immer eher in die Dramen gegangen“, erzählte er. Sangreal starrte ihn mit tränennassem Gesicht an. „Das ist dein Part“, sagte er zu ihr. „Zerstöre sie.“ Ungläubig starrte die Halbvampirin auf die zehn Spritzen vor ihr. „Tust du das nicht, stirbt Renesmee.“ Langsam hob sie den Kopf und sah mich an. In ihren Augen sah ich Schmerzen, so groß wie nie zuvor, dann schloss sie sie, stand auf und zertrat die Spritzen, ehe sie wieder in sich zusammensackte. Vor ihr, sickerte mein Gift zwischen den Glasscherben in den Waldboden. Es war vorbei... zumindest für mich... Kapitel 24: [Renesmee] Um Leben und Tod (Teil 2) ------------------------------------------------ Ungläubig starrte ich auf die Scherben zu Sangreals Füßen und als sie wieder zusammenklappte, wäre es mir sicher ähnlich ergangen, hätte man mich nicht festgehalten. Ich wünschte, ich könnte wenigstens eine Hand bewegen, um mich zu kneifen. Oh, was gäbe ich nur darum, jetzt mit rasendem Herzen neben Jake aufzuwachen und festzustellen, dass ich das alles nur geträumt hatte. Ich wollte die Augen aufschlagen und meine Kinder schlummernd neben mir liegen sehen. Gesund, mit kleinen schlagenden Herzen, mit Träumen und Wünschen und einer Zukunft voller endloser Möglichkeiten. Es fühlte sich so an, als hätte es die letzten dreißig Jahre nie gegeben, als wäre die Zeit viel zu schnell verstrichen. Für Sterbliche war es gut ein Drittel des Lebens, warum also fühlte es sich für mich so schrecklich kurz an? Waren wirklich drei Jahrzehnte vergangen, seit ich mit der fliederfarbenen Decke in Carlisles Zimmer gelegen und meinen Kindern ihre Namen gegeben hatte? Ich wollte die Zeit zurückdrehen. Ich wollte aufwachen aus diesem schrecklichen Albtraum, doch ich stand hier. Es war kein Traum. Mein Schmerz war real, meine Angst war es und mein Verlust würde es ebenso sein, wenn ich meine beiden Kinder auch noch verlieren würde, nachdem ich bereits eins durch Caius' Hand verloren hatte. Momentan sah es zumindest so aus, als hätte wenigstens meine Tochter eine reelle Chance, diese Nacht zu überleben und ich wollte, dass sie sie nicht verschwendete. „Mariella, geh“, sagte ich erneut zu ihr, doch mein Kind kniete noch immer vor ihrem Bruder, starrte auf den Waldboden, die Scherben fixierend, und rührte sich nicht. „Hör auf Mum, Mariella, geh“, pflichtete mein Sohn mir bei. Als sie seine Stimme hörte, obgleich er sehr leise gesprochen hatte, wanderten ihre Augen langsam zu ihm, dann schüttelte sie den Kopf und weinte. „Wie kann ich jetzt noch gehen? Wie kann ich weiterleben, mit dem Wissen, dass ich dich umgebracht habe? Wie?!“ Anthonys Augen weiteten sich. Er rutschte etwas näher an seine Schwester heran und nahm ihr Gesicht in seine mit Spuren von Blut und Schlamm beschmutzten Hände. „Mariella, was redest du denn da? Das stimmt nicht und das weißt du genau. Du hast mir nichts getan. Im Gegenteil, du wolltest mir helfen.“ Sie nickte zaghaft und schluckte. „Ja, das wollte ich.“ Aus ihrer Stimme konnte ich deutlich heraushören, wie sehr sie von ihrer eigenen Tat enttäuscht war. „Und das kannst du“, fuhr er fort und sah ihr tief in die Augen. „Indem du jetzt gehst.“ „Aber-“ „Kein Aber“, unterbrach er sie. „Ich möchte, dass du jetzt aufstehst, diesen Ort verlässt und dich nicht mehr umdrehst.“ Mariella sah ihn traurig an, während sich ihre Tränen mit dem herabfallenden Regenwasser vermischten. „Hast du mich verstanden?“ Sie nickte erst zaghaft, dann bestimmter. „Gut“, sagte er und gab ihr einen sanften Kuss auf die Stirn. Anthony nahm seine Hände langsam von ihr, dann nickte er ihr zu. „Geh.“ Meine Tochter stand zögernd und mit zittrigen Beinen vom schlammigen Boden auf und ließ ihren Bruder dabei keine Sekunde aus den Augen. Wahrscheinlich war ihr noch nie in ihrem Leben ein Schritt so schwer gefallen wie dieser eine, den sie sich jetzt von ihm entfernte. Die schokoladenbraunen Augen, die sie über mich von meiner Mutter geerbt hatte, überflogen die Volturi um uns herum argwöhnisch, während sie weiter voranging. Erst als sie ein paar Meter Abstand zwischen sich und sie gebracht hatte, rannte Mariella plötzlich los. Wenig später war sie außer Sichtweite und ein flüchtiges Gefühl von Erleichterung glimmte kurz in meinem Innern, war doch nun wenigstens eines meiner verbliebenen zwei Kinder wieder frei. Doch dieses Glimmen wurde jäh dadurch erstickt, dass Caius wieder zu sprechen begann und mir erneut vollkommen bewusst wurde, was für eine grausame Kreatur er war. „Da geht sie hin“, sagte er. „Mal sehen, wie weit sie kommt.“ Ein fieses Grinsen huschte über seine Lippen. Der Gedanke, dass dieses falsche Gesicht eines der Letzten gewesen war, das Will vor seinem Tod gesehen hatte, trieb mir die Magensäure in den Rachen. Und jetzt sah er Ani und mich auf dieselbe Art und Weise an. Caius hatte schon vor Jahren meinen Tod gewollt. Damals auf der Wiese, als sie mich für ein unsterbliches Kind hielten, hatte er selbst dann noch dafür plädiert, als das Missverständnis längst aufgeklärt war. Jahre später, als die Volturi mich für eine Nacht in ihrer Gewalt gehabt hatten, während ich schwanger gewesen war, hatte er ebenfalls alles daran gesetzt, mich umbringen zu lassen. Hätte Nahuel mich nicht gewarnt, hätte er mich vielleicht noch mitsamt den Kindern in meinem Bauch ermordet. Er hatte jahrelang auf diesen Moment gewartet, in dem er endlich seinen Willen würde durchsetzen können. Diesen Moment, in dem die Mischwesen, deren Leben er nicht für berechtigt hielt, endlich starben. Und jetzt kostete er ihn in aller Vollkommenheit aus und zog ihn unerträglich in die Länge. Anthony saß noch immer in der Mitte des Kreises, bestehend aus Volturi, auf dem Boden. Die Wunde an seinem Hals hatte sich bereits komplett geschlossen. Äußerlich erinnerte nur noch das Blut, das an ihm klebte, an Caius‘ Biss. Innerlich begann sein Gift jedoch wieder Ani zu zerfressen. Mein Sohn gab sich alle Mühe, es sich nicht anmerken zu lassen. Er kniete aufrecht und ließ Caius nicht aus den Augen. Nur das kontinuierlich schnellere Schlagen seines Herzens verriet seinen inneren Kampf. Beim ersten Mal hatte es etwa einen Tag gedauert, ehe er im Flur der oberen Etage zusammengebrochen war. Bis dahin hatte niemand, nicht mal Carlisle, bemerkt, dass er Caius' Attacke nicht wirklich weggesteckt, sondern deren Folgen nur vorläufig unterdrückt hatte. Ging es dieses Mal etwa so viel schneller? Lag es vielleicht daran, dass er bereits einmal infiziert wurde und dadurch vorgeschädigt war? Oder waren es der Druck und die Nervosität, die das Gift schneller durch seine Blutbahn trieben? Caius schien sich jedenfalls daran zu stören, dass Ani sich keine Schwäche anmerken ließ. Er beugte sich etwas zu meinem Sohn herunter und die zwei Volturi links und rechts von Ani hielten ihn wieder fest, wahrscheinlich aus Angst, dass er ihrem Oberhaupt womöglich doch noch ins Gesicht sprang. „Ihr dachtet, ihr wärt einen großen Schritt voran gekommen, als ihr Aro in Flammen aufgehen saht, aber dem ist nicht so“, sagte Caius. „Mein Bruder war, verglichen mit mir, ein zartes Lamm. Und weißt du auch warum? Weil Gnade ihm ein Begriff war.“ Er ließ seine Worte wirken, dann sprach er weiter. „Ja richtig, die Volturi gaben niemals zweite Chancen, aber Aro hatte Gnade gezeigt, indem er seine Feinde und Opfer schnell tötete. Er ließ sie zerstückeln und verbrannte sie. Ich fand das immer schon bedauerlich. Gerade die, die es gewagt hatten, gegen unsere wenigen, simplen Regeln zu verstoßen, hatten Bestrafung verdient. Bestrafung, die mehr war als nur der Tod.“ Er war bereits einmal um Ani herum gelaufen, dessen Augen ihm stets folgten. Er ließ sich nicht davon beirren, schien sogar froh darüber zu sein, aufmerksame Zuhörer zu haben. „Meiner Meinung nach verdienen Verbrecher Leid und Qualen, bis sie um den Tod betteln oder er sie ereilt, weil sie den Schmerz nicht mehr ertragen. Das ist Gerechtigkeit. Und weißt du was?“ Er machte wieder eine kurze Pause, eher er nun seinerseits Ani ansah. „Du bist auch einer von ihnen. Dein Vergehen ist es, dass du existierst. Menschen und Vampire sollten sich nicht kreuzen. Es ist wider die Natur. Aber Vampire und Werwölfe, das betrachte ich als Perversion.“ Ich starrte den Vampir ungläubig an. Ich wollte ihm sämtliche Schimpfworte an den Kopf werfen, die je jemand ausgesprochen hatte, aber es kam kein Ton über meine Lippen. Ich war zu geschockt über das, was er da von sich gab. Doch all das war nichts im Vergleich zu dem, was noch kommen sollte. Caius stellte sich wieder aufrecht hin. „Mhm...“, murmelte er. „Ich frage mich nur, wer hier nun das schlimmere Verbrechen begangen hat. Edwards und Bellas Balg, weil sie es wagten, dich zu erschaffen oder du, weil du es wagtest, zu entstehen.“ Anthony schüttelte den Kopf, als belächelte er Caius für dessen Worte. „Du solltest dich mal hören“, spottete er. „Nein“, erwiderte dieser und hob den Zeigefinger. „Du solltest mir genau zuhören, denn wir spielen jetzt ein ganz einfaches, kleines Spiel. Du tust, was ich sage“, erklärte Caius und warf dann einen Blick auf mich. „Und dafür werden wir ihr kein Haar krümmen.“ Anthony sah Caius durchdringend an. Wenn Blicke töten könnten, hätten seine smaragdgrünen Augen längst Caius' Tod bedeutet. „Fein“, sagte Caius und nahm sein Schweigen wohl als Zustimmung. „Jane sieht etwas gelangweilt aus. Zaubern wir ihr doch ein kleines Lächeln auf die Lippen, nach den großen Verlusten, die wir heute durch euren erbärmlichen Zirkel – oder wie ihr es nennt 'Familie' – erleiden mussten.“ Über das Gesicht des optisch jungen Vampirmädchens huschte ein fieses Grinsen. Meine Alarmglocken läuteten. „Nein!“, kreischte ich unwillkürlich, dann wurde mir der Mund zugehalten. Ani fuhr herum und sah erst mich, dann Caius an. „Entweder sie oder du. Such es dir aus“, gab dieser zu verstehen. Mein Sohn warf noch einmal einen Blick auf mich. Ich begann verzweifelt mit dem Kopf zu schütteln. Ich wollte nicht, dass er seinen Schutzschild herunterfuhr, um mich zu schützen. Es war meine Aufgabe ihn zu schützen, nicht umgekehrt. Er war doch mein Kind. Aber er sah das offensichtlich anders. Sein Blick traf Janes, die gierig darauf wartete, dass er Caius' Willen gehorchte. Und dann geschah es. In jenem Moment, in dem erneut ein sadistisches Lächeln, sowohl über Janes, als auch über Caius‘ Lippen huschte, brach Anthony in der Mitte des Kreises unter Schmerzen zusammen. Wie üblich, schrie er nicht. Das hatte er nie. Vor meinem geistigen Auge sah ich das neugeborene Baby, mit den sonderbaren, roten Augen, das niemals geweint hatte. Ich sah das hübsche Kind, das selten gesprochen und nie viel verlangt hatte. Vor meinem tatsächlichen Auge aber sah ich den jungen Mann, der sich vor Schmerzen auf dem Boden krümmte und die Qualen stumm ertrug, um mich zu schützen. Aber ich musste keine Schreie hören, um den Schmerz zu fühlen. Es brannte förmlich im Innern meines Herzens, jetzt da ich mein Kind leiden sah, es war also vollkommen gleich, ob Jane ihn folterte oder mich. Ich wusste gar nicht, wie lange er das ertrug. Es kam mir so vor, als massakrierte Jane ihn stundenlang, dabei waren es tatsächlich vielleicht nur wenige Minuten. Ich wollte, dass sie aufhörte. Ich wollte, dass im nächsten Augenblick meine Familie aus den Büschen schnellte und ihnen allen die Köpfe vom Körper riss. Aber niemand kam. Wir waren allein. Ich fühlte mich verlassen und hilflos, aber vor allem fühlte ich mich entsetzlich elend und unfähig. Unfähig, mein Kind zu schützen. Warum war ich nur ein schwacher, halber Vampir? Und warum war meine Gabe so schrecklich nutzlos? Warum? Warum? Warum?! In meiner Verzweiflung, begann mein Körper entsetzlich zu zittern. Wenn ich nicht wüsste, dass ich tatsächlich nur ein Halbvampir war, hätte ich mich im nächsten Moment nicht gewundert, wenn irgendein wildes Tier aus mir herausgeplatzt wäre, wie bei meinem Jacob. Es war schließlich das Blut, das Anthony zu spucken begann, und das kleine Rinnsal roten Lebenssafts, das sich einen Weg über den nassen, dreckigen Boden bis hin zu meinen Füßen bahnte, das mich realisieren ließ, dass tatsächlich etwas aus mir herausbrach - Wut, Hass, und vor allem eines: Mutterinstinkt. Ein Paket, geschnürt mit Adrenalin, derart kraftvoll, dass es mir das schier Unmögliche möglich machte. Es gelang mir, mich aus dem Griff des Volturi zu befreien, der mich bis dato fixiert hatte. Binnen Bruchteilen von Sekunden packte ich seine Gliedmaßen und riss ihn förmlich auseinander. Ich hatte noch nie zuvor gekämpft, geschweige denn jemanden getötet, aber jetzt fühlte es sich für mich ganz natürlich an. Ich wollte auf keinen Fall auch nur eine Sekunde meines Adrenalinschubes vergeuden und so war mein nächstes Ziel direkt Jane. Ich taxierte das kleine, sadistische Monster und sah mich sie bereits zerstückeln. Erschrocken stoppte Jane ihre Attacke auf meinen Sohn und machte einen Schritt zurück, dann wurde ich von den beiden Wächtern, die zuvor Ani festhielten, zurückgezogen und ebenfalls auf die Knie gezwungen. Jetzt, da ich mich nicht mehr rühren konnte, ging Jane wieder einen Schritt nach vorn und lächelte mich an. Ich kniff die Augen zu und machte mich bereits auf den Schmerz gefasst. „Nicht doch, Jane“, rief Caius relativ gelassen dazwischen und ich lugte vorsichtig aus einem geöffneten Lid hervor. Jane sah ihn perplex an, kam seinem Wunsch jedoch nach und sah davon ab, mich mental anzugreifen. Anschließend nickte er den beiden Typen zu, die mich festhielten, woraufhin diese mich losließen. Es war seltsam, nicht mehr festgehalten zu werden. Es fühlte sich an, als würde ich in einer Sphäre schweben, unwirklich, vergänglich, temporär. Die Stille um mich herum war erdrückend, ich wagte kaum mich zu bewegen. Was sollte das? Warum hielten sie mich nicht fest? Ich warf einen prüfenden Blick auf Caius, der mich ausdruckslos musterte, dann überwog mein Mutterinstinkt erneut jeglicher Angst und ich stürmte zu Anthony hinüber. Er lag seitlich zusammen gekauert auf dem Boden und rührte sich nicht. Auf Höhe seines Kopfes sah ich eine Pfütze dunkelroten Blutes. Vorsichtig kniete ich mich vor ihn, schob meine Hand unter seine Wange, dann weiter an seinen Hinterkopf, legte die andere an seine Schulter und hob seinen Oberkörper auf meinen Schoß. Ich begann leise zu schluchzen, während Tränen aus meinen schokoladenbraunen Augen hervortraten und über meine Wangen liefen, dann presste ich mein Kind näher an mich, schlang meine Arme um ihn, legte meine Wange auf sein schwarzes Haar, schloss die Augen und lauschte dem schnellen Schlagen seines Herzens. Dass dutzend Vampire um uns herum waren, war mir egal. Für mich gab es jetzt nur noch uns. Sollten sie doch tun, was sie wollten, um nichts in der Welt, würde ich ihn jetzt wieder loslassen. Ich hatte natürlich nicht vergessen, dass zwischen diesen ganzen grausamen Kreaturen noch Sangreal saß. Ich wusste, dass sie wahrscheinlich genauso litt, ihn so zu sehen, wie ich es tat. Ich wusste auch, dass er sie geliebt hatte und sie ihn. Aber ich konnte in diesen Sekunden trotzdem nicht anders, als sie mit auszublenden. Ich legte eine meiner Hände an sein Gesicht und projizierte ein paar Bilder in seinen Kopf, in der Hoffnung, dass er sie auch dann sah, wenn er nicht bei Bewusstsein war. Hauptsächlich waren es dreißig Jahre alte Erinnerungen. Beispielsweise jener Moment, in dem Jacob mir das blutverschmierte kleine Baby in den Arm gelegt hatte. Der, in dem ich ihm seinen Namen gegeben und Jacobs stolzes Lächeln gesehen hatte, weil sein Zweitname der seines Urgroßvaters war: Ephraim Black, ehemaliger Häuptling und Anführer des Rudels. Ich zeigte ihm auch, wie ich mich kurz vor meinen Flitterwochen zu ihm hinab gekniet und ihn mit meinem weißen Kleid in den Arm genommen hatte. Damals hatte ich mir so sehr gewünscht, dass er sein Glück finden würde. Seinen Deckel, so hatte ich es genannt. Wenn ich die Zeit zurückdrehen und nochmal mit ihm würde reden können, damals auf dem Bootsdeck, würde ich heute auch genauso gut sagen können 'Eines Tages findest du Sangreal'. „Ja, das könntest du.“ Seine Worte waren erneut kaum mehr als ein Hauch. Erschrocken darüber seine Stimme zu hören, schlug ich die Augen auf und sah ihn an. „Ani“, flüsterte ich traurig und strich ihm das schwarze Haar aus dem Gesicht, das dort klebte. Seine Mundwinkel verzogen sich kaum merklich zu einem leichten Lächeln. „Wunderbar, wunderbar“, frohlockte plötzlich Caius und erinnerte mich damit irgendwie auf groteske Weise an Aro. „Das ist wirklich erstklassiges Drama, das ihr uns hier bietet.“ Ich hob den Blick und knurrte den Volturi an. „Wirklich herzzerreißend“, fuhr er unbeeindruckt fort. „Aber den tragischsten Aspekt der Geschichte kennt ihr ja noch gar nicht.“ Sowohl mein Sohn, als auch ich funkelten Caius fragend an. Was konnte denn jetzt noch kommen? Der Volturi ging ein paar Schritte auf uns zu. Instinktiv presste ich Anthony enger an mich, obwohl ich wusste, dass mir das nichts nützen würde, wenn Caius den Befehl zum Angriff gab. Sie würden uns einfach wieder auseinander reißen. Er beugte sich erneut zu uns herab und flüsterte uns zu: „Noch tragischer als die Tatsache, dass du nicht in der Schlacht fielst, wie es sich gehört hätte, sondern hier in den Armen deiner jammernden Mutter krepierst, finde ich es ja, dass die letzte Entscheidung deines Lebens die Falsche war.“ Anthony entfuhr ein Zischen. In mir brodelte es erneut. „Unsinn!“, gab ich zurück. „Diese Wahl war grausam. Ganz gleich, welchen Namen er genannt hätte, er hätte sich für jeden von uns Dreien das Leben gewünscht. Es gab kein Richtig oder Falsch.“ „Oh, doch“, versicherte Caius. „Nämlich dann, wenn man zwei Leben anstelle von einem Einzigen zu retten vermag.“ Mir entfuhr ein verächtliches Schnauben. „Leere Worte. Ihm wurde gesagt, er dürfe nur einen Namen nennen. Hätte er zwei genannt, hättet ihr doch niemals zwei von uns gehen lassen!“ „Nein“, flüsterte Anthony in meinen Armen. Ich meinte aus seiner Stimme etwas Flehendes herauszuhören, doch ich verstand nicht warum. „Du irrst dich, kleine Cullen. Wenn sich hinter einem Namen zwei Leben verbergen, wenn in einem Körper zwei Herzen schlagen, dann genügt die Nennung eines Namens durchaus. Ich hätte sie gehen lassen, wenn er ihren Namen genannt hätte, aber zog es vor, seine Schwester zu retten.“ In Caius‘ Gesicht strahlte ein triumphierendes Lächeln. Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag und ich schüttelte unwillkürlich den Kopf. „Nein“, flüsterte Anthony erneut verzweifelt. Er hatte längst mehr verstanden als ich. Er schob mich sanft weg und schob seinen Oberkörper mühsam in Sangreals Richtung. Das Mädchen saß noch immer zusammengekauert zwischen den Volturifrauen. Sie hatte, die Knie angewinkelt, ihre Arme um die Beine geschlungen und ihr Gesicht gegen ihre Oberschenkel gepresst. „Sangi...“ Als er ihren Namen sagte, sah sie mit hochrotem, verweintem Gesicht auf. „Ist das wahr?“, fragte er zittrig. Sangreal schien einen Moment zu überlegen, schüttelte dann jedoch hastig den Kopf. „Er lügt“, wimmerte sie. „Bitte bleib ruhig.“ Ich wusste, warum sie ihn darum bat. Sie wollte, dass er sich nicht überanstrengte, aber dafür war es wahrscheinlich längst zu spät. „Ich lüge?!“, fauchte Caius. „ICH lüge?“ Ganz so, als sei das ihr Stichwort gewesen, stand plötzlich Heidi hinter Sangreal, zog sie auf die Beine und schob ihr Shirt nach oben. Jetzt erst wurde mir klar, warum sie die ganze Zeit so zusammengekauert dagesessen hatte. Sie wollte ihr Bäuchlein verbergen. Wenn man es nicht als solches betrachtete, wenn man unwissend war und nicht damit rechnete, hätte man es leicht übersehen können. Nun aber, da Caius es uns erzählt hatte, gab es für uns keine Zweifel mehr: Sangreal war schwanger. Und es war unwahrscheinlich, dass der Vater jemand anderes als Anthony war. In meinem Inneren kroch erneut die blanke Panik hoch. Was würde nun passieren? Würde ich nun zusehen müssen, wie sie als nächstes mein Kind zerrissen, wenn er sie in seiner Raserei angriff? Eben noch kaum in der Lage zu sprechen, versuchte Ani sich nun aufzusetzen. Er zitterte am ganzen Körper und ich realisierte zu langsam, dass dies nicht an seinen Schmerzen lag. Erst als er mich noch einmal ansah, mir ein sanftes „Es tut mir Leid“ zuflüsterte und mich gar anlächelte, schaltete ich. Es waren nur vier Worte, doch ich wusste, was er eigentlich hatte sagen wollen: 'Es tut mir Leid, dass ich jetzt etwas tun muss, was mein eigenes Leben kostet. Es tut mir Leid, dass du noch ein Kind verlierst und ich nicht weiter mit dir gehen kann. Es tut mir Leid, dass ich dich allein lassen muss. Aber du verstehst mich bestimmt. Du bist doch selbst Mutter.' Ja, ich verstand. Und wäre ich an seiner Stelle, ich hätte genau dasselbe getan. Trotzdem entfuhr mir ein entsetzlich verzweifeltes „NEIN!“, als er seinen geschwächten, demolierten Körper zu einer Verwandlung zwang und der gigantische Vogel aus ihm herausbrach. Seine Federn waren pechschwarz, seine Flügelspannweite lag schätzungsweise bei fast sieben Metern. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass er jemals eine flugfähige Tiergestalt dieser Größe gewählt hatte, was wahrscheinlich darauf zurückzuführen war, dass er sie bisher nur zum schnellen vorankommen und unentdeckt bleiben genutzt hatte. Der schwarze Vogel stieß einen lauten Schrei aus, ähnlich dem eines Adlers, ehe er plötzlich auf die Vampire um ihn herum losging. Caius starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an, als er einige seiner Wachen mit seinen Krallen und seinem kräftigen Schnabel zerlegte, dann ergriff er, gemeinsam mit Jane und Renata die Flucht. Die übrigen Vampire jedoch, blieben standhaft und versuchten sich gegen ihn zu wehren. Einer biss ihm in die Seite und spuckte anschließend einen ganzen Haufen blutiger Federn aus. Mir entfuhr ein spitzer Schrei, dann packte mein Sohn mich plötzlich mit seiner Kralle und hob mich in die Luft. Er kreiste einmal um das Lager der Volturi, dann glitt er nochmal hinab und schnappte sich Sangreal mit der anderen Kralle. Die Vampire, die uns vor wenigen Sekunden noch festgehalten hatten, wurden nun immer kleiner. Zusammen mit den Bäumen und Sträuchern schrumpften sie auf Ameisengröße zusammen, bis wir über einige Baumwipfel und Hügel hinweg flogen und ich sie nicht mehr sah. Ich war so erschrocken über das rasante Aufsteigen in die Lüfte, dass ich ganz vergessen hatte, dass ich hier oben ja nicht allein war. Erst ihr Wimmern und Schluchzen ließ mich den Kopf zu ihr drehen. „Keine Angst, er wird uns nicht fallen lassen“, versuchte ich sie zu beruhigen. „Das ist es ja“, antwortete sie und weinte nur noch mehr. Wie dumm von mir. Ich hatte zwar nicht sonderlich viel Zeit mit Sangreal verbracht, aber sie dafür mit meinem Sohn. Natürlich kannte sie seinen Charakter. Sie wusste genauso wie ich, dass ihm sein eigenes Wohl in dieser Situation vollkommen gleichgültig war. Umso wichtiger war es also, dass wir ihn daran erinnerten. Ich sah noch einmal zurück, konnte aber unten niemanden mehr ausmachen. „Ani, bitte lande, sie verfolgen uns nicht!“, brüllte ich nach oben, doch weder reduzierte er sein Tempo, noch seine Flughöhe. „Ani!“, schrie ich nochmal. „Schau!“, meldete sich plötzlich Sangreal zu Wort. Ich sah perplex zu ihr, dann in die Richtung, in die sie zeigte. Mein Herz machte einen hoffnungsvollen Hüpfer. Unten auf der Erde sah ich, wie zwei Personen in unsere Richtung rannten. Es hätte schon Nebelschwaden um uns herum gebraucht, derart dick, dass man sie mit dem Messer würde durchschneiden können, damit ich sie nicht erkannte: Mum und Dad. „Mommy, Daddy!“, rief ich nach unten. Ich hatte gar nicht über meine Wortwahl nachgedacht. Ich war längst kein Kind mehr, aber derart hilflos, wie ich mich gerade fühlte, sehnte ich mich wohl unbewusst nach meiner größtenteils sorglosen Kindheit und in dieser hatte ich meine Eltern eben so genannt. Was dann folgte, geschah im Bruchteil weniger Sekunden. Ob er an Höhe verlor, weil er wusste, dass meine Eltern hier waren und uns auffangen würden oder weil er einfach nicht mehr konnte, wusste ich nicht. Wir sanken jedenfalls rapide ab. Unter uns sah ich, wie mein Vater und meine Mutter einander zunickten. Er zeigte noch kurz auf uns, dann zog sie das Tempo an und kam uns ein ganzes Stück näher, während mein Vater abdrehte und in eine andere Richtung rannte. Zuerst dachte ich, er würde Hilfe holen, doch dann lockerte sich plötzlich Anis Griff um Sangreal und mich. Wir waren nur wenige Sekunden in der Luft, dann sprang meine Mutter zu uns empor und fing uns auf. Auf dem kurzen Weg zurück zur Erde sah ich gerade noch, wie der große schwarze Vogel gen Boden stürzte, schlussendlich in Dads Laufrichtung in einige Bäume knallte und dahinter verschwand. Unten angekommen, schnappten Sangreal und ich erst mal nach Luft. Meine Mutter strich mir durchs Haar, als wir zu dritt auf dem Boden kauerten. „Alles okay? Seid ihr verletzt?“ Ich schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte ich noch etwas atemlos, dann rappelte ich mich wieder hoch. Meine Mutter streckte die Hand nach mir aus. „Nessie!“, rief sie mir zu. „Warte!“ Doch ich konnte nicht anders und stürmte in die Richtung, in die mein Vater gerannt und mein Sohn gefallen war. Keine Minute war ich gelaufen, da stolperte ich durch ein paar Büsche und blieb am Fuß eines Hügels stehen, an dessen oberstem Punkt ich meinen Vater erblickte. Er kniete im Gras und hielt seinen Enkel im Arm – wieder in menschlicher Gestalt, jedoch leblos... Ich spürte wie meine Knie zu zittern begannen und dann – weich wie Pudding – mein Körpergewicht nicht mehr zu tragen vermochten. Nervlich am Ende ging ich zu Boden und spürte, wie meine Knie ein wenig im weichen Boden versanken. Es hatte aufgehört zu regnen. „Renesmee!“ Meine Mutter stand mit einem Mal hinter mir. Zuerst rannen mir noch leise, verzweifelte Tränen übers Gesicht, dann ließ ich den Kopf hängen und vergrub meine Hände im Matsch, während ich wimmerte. Mum kniete sich hinter mich und legte ihre Arme schützend um meinen Körper. Ich setzte mich wieder aufrecht hin und drückte mein Gesicht gegen ihre Jacke, während sie mir behutsam über den Rücken strich und ihr Kinn auf meinen Kopf legte. „Scht... scht...“, versuchte sie mich zu beruhigen. „Er ist nicht tot, Renesmee. Hör doch...“ Ich löste mich etwas von ihr. Sie streichelte mich weiter, während ich lauschte. Abgesehen von meinem eigenen Herzen und dem von Sangreal, die sich im Schritttempo müde näherte, konnte ich noch ein Drittes wahrnehmen. Ich wusste, dass seines schon immer schneller geschlagen hatte, als meines, nun aber flatterte es regelrecht, aber wenigstens, schlug es überhaupt noch. Ich versuchte aufzustehen, Mum half mir auf die Beine. Gemeinsam ging ich mit ihr den kleinen Hügel hinauf. Jeder Schritt war für mich ein wahrer Kraftakt. Einerseits wollte ich zu meinem Kind, andererseits fiel es mir unglaublich schwer, ihn so zu sehen. Dad sah von Ani auf. „Bella, Liebste. Siehst du das kleine Wäldchen südöstlich von hier? Dort muss unter einem recht großen moosbedeckten Stein eine von Anthonys Kleidertüten liegen. Würdest du...?“ Mum nickte und flitzte davon. Mein Vater sah ihr kurz hinterher, dann lächelte er mich an und deutete mir mit einer Kopfbewegung an, dass ich mich setzen solle. Noch immer mit zittrigen Gliedmaßen ließ ich mich vor Dad und meinem Kind nieder. Ich schluchzte und strich ihm durch sein schwarzes Haar. Er war von oben bis unten mit Blut und Dreck, Schrammen, Kratzern und Schürfwunden übersät und an seiner Taille, dort wo der Volturi ihn erwischt hatte, klaffte eine große Wunde, dessen Blutung mein Vater mit seiner Jacke einzudämmen versuchte. Vom baldigen Einsetzen seiner Heilungsfähigkeiten war keine Spur. Vor ein paar Monaten noch, hatte ich gedacht, ich würde nie ein schlimmeres Bild vor Augen sehen, als Williams toten Körper auf Carlisles OP-Tisch. Danach hatte Anthonys zehntägiges Koma das noch getoppt. Mitansehen zu müssen, wie das eigene Kind starb, war für mich noch viel heftiger gewesen, als mein bereits verstorbenes Kind sehen zu müssen. Ich hatte mich damals so hilflos gefühlt, so nutzlos. Es hatte nichts gegeben, was ich hätte tun können außer Hoffen und Bangen. Aber wenigstens hatte es Hoffnung gegeben. Und das Bangen hatte sein Ende gefunden. Wir hatten ein Heilmittel für ihn entdeckt. Und nun? Nun hatten wir keine zehn Tage, keinen gut ausgerüsteten OP und vor allem: kein Heilmittel mehr. Vor meinem inneren Auge blitzten kurz die Scherben und das im Boden versickernde Vampirgift auf. Als mein Vater meine Gedanken las, weiteten sich seine Augen kurz. Ich sah ihn traurig an. „Wie habt ihr uns gefunden?“, wechselte ich das Thema rasch. Warum ich das tat wusste ich nicht, vielleicht hatte ich Angst, dass er aussprach, was ich leise befürchtete. Solange es nur in meinen Gedanken war, war es weniger real. „Seth kam etwas verwirrt ins Basislager. Nachdem ich seine Gedanken gelesen hatte, nahm ich an, dass Caius sich mit der Hilfe von Renata irgendwo versteckte. Deine Mutter und ich gingen los, um ihr Versteck ausfindig zu machen. Wir wollten es eigentlich nur ausspionieren und seinen Standort den Anderen mitteilen, doch wir haben Mariella unterwegs gefunden. Sie war ebenfalls ziemlich verwirrt. Wir befürchteten, es würde zu lange dauern, wenn wir zurück zum Lager gingen, um die Anderen zu holen, also sind wir zu zweit weitergezogen.“ Natürlich. Um Caius Versteck zu verlassen, hatte sie Renatas Schutzschild auch passieren müssen. Renata hatte wohl auch sie erwischt, kaum, dass die den inneren Ring, hinter ihrem Wall, verlassen hatte. „Ja, aber nicht wirklich“, sagte Dad. Ich sah ihn fragend an. „Was Mariella passiert war und was sie gesehen hatte, konnte Renata nicht durch einen wirren Gedanken fort wischen. Dafür war ihr Erlebnis zu traumatisch und die Bindung zu Ani zu stark. Wir haben sie ins Basislager geschickt und uns sofort auf den Weg gemacht.“ „Ihr wolltet uns zu zweit retten?!“, fragte ich. Dad lächelte mich erneut warm an. „Wie ich schon sagte. Wir hatten zu viel Angst, um abzuwarten oder Hilfe zu holen. Außerdem unterschätzt du deine Mutter und mich.“ Als sei das ihr Stichwort gewesen, stand Mum plötzlich wieder neben uns. Das Wäldchen, in das sie gegangen war, war von hier aus gerade so auszumachen, doch für sie war es ein Katzensprung gewesen. Ich dagegen hatte Glück, wenn ich es nachher schaffen würde, allein aufzustehen. Meine müden Augen konnten den schnellen Vampirbewegungen meines Vaters kaum folgen, als er Ani in Bruchteilen von Sekunden ankleidete. Ein paar Wimpernschläge später, stopfte er sich nur noch mit einer Hand die leere Plastiktüte in die Tasche, während er mit der anderen Anis Oberkörper stützte. Kurz warf er meiner Mutter einen Blick zu, dann sank sein Blick wieder in Richtung meines Sohnes. „Er wacht auf.“ Mein Herz machte einen Hüpfer. Und tatsächlich begannen Anthonys Augenlider zu flattern, ehe er sie langsam zu öffnen begann. Auf halber Höhe blieben sie jedoch stehen. Ganz schien er sie nicht mehr aufzubekommen. Ich zögerte einen Moment, ehe ich etwas sagen konnte. Vielleicht hatte ich Angst, er hätte zu großen Schaden genommen und würde mich nicht mehr erkennen. Doch schließlich nahm ich all meinen Mut zusammen. „Ani?“, sprach ich ihn vorsichtig an. Jetzt da er bei Bewusstsein war, atmete er schwerer. Er wand seinen Kopf langsam in meine Richtung, schien aber ein paar Atemzüge zu brauchen, ehe er mir antworten konnte. „Mum...“ Tränen quollen erneut aus meinen Augäpfeln, rannen mir übers Gesicht und landeten sonst wo. Mir war es egal. Ich konnte nicht mal sagen, ob es nun bis zu einem gewissen Punkt Freudentränen waren, weil er mich erkannte und ich mit ihm sprechen konnte, oder Tränen der Trauer, weil ich die Situation kaum aushielt und die Gedanken an das Kommende mich zu erdrücken drohten. Vor meinem inneren Auge sah ich, wie sich ein gigantisches, schwarzes Loch einige Meter vor mir auftat. Aussichtslos, leer und dunkel. „Sorry...“, krächzte Ani dann mühsam. Ich sah ihn mit meinem verweinten Gesicht verwundert an. Mein Sohn verzog seinen Mund mühsam zu einem leichten Lächeln. „Normalerweise... lande ich... etwas...“, er machte eine längere Atempause, „eleganter...“ Nun musste auch ich lachen. Es war ein bittersüßes, verzweifeltes Lachen. Während ich lachte, bahnten sich weitere Tränen ihren Weg über meine Wangen. Ich sah kurz weg, in dem verzweifelten Versuch, sie in Zaum zu halten, versagte jedoch. Als ich dann wieder Ani ansah, waren seine Augen geschlossen und er wieder weggetreten. „ … Ani?“, fragte ich zögerlich. Keine Reaktion. „Ani?“, fragte ich erneut. Wieder nichts. „ANI!“, kreischte ich dann plötzlich voller Verzweiflung. Meine Mutter setzte sich sofort hinter mich, zog mich wie ein kleines Kind auf ihren Schoß und ich presste mein Gesicht weinend an ihre Brust. „Scht... scht...“, versuchte sie mich abermals zu besänftigen. „Beruhige dich, mein Schatz.“ Sie strich mir durch mein langes Haar und wog mich hin und her, während ich in ihre Jacke schluchzte. „Er muss sich ausruhen“, sagte sie. „Das stimmt“, pflichtete Dad ihr bei, dann stand er mit meinem Jüngsten im Arm auf. „Bringen wir ihn zu Carlisle.“ Mum nickte und hob mich ebenfalls hoch. Hinter ihr stand Sangreal zittrig auf. Sie hatte die ganze Zeit über keinen Ton gesagt und wirkte apathisch, was sicherlich niemanden verwunderte, nach allem was sie heute hatte tun und mit ansehen müssen. Mit einem Mal kam mir wieder ins Gedächtnis, was Caius gesagt und Anthony erst dazu bewegt hatte, sein Leben derart aufs Spiel zu setzen. „Warte“, sagte ich dann zu Mum gewandt und gab ihr zu verstehen, dass sie mich absetzen sollte. „Mommy, bitte lass mich runter und trag' lieber Sangreal.“ Mum sah mich fragend an. „Bitte“, wiederholte ich. Sie setzte mich ab und wand sich immer noch fragenden Blickes an Dad, dessen Mundwinkel sich trotz allem leicht hoben. „Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel oder fühlst dich alt oder unattraktiv, wenn ich dir dazu gratuliere, dass du bald zum vierten Mal Uroma wirst, Liebste.“ „Was?“, hauchte Mum ungläubig und drehte ihren Kopf zu Sangreal, die ebenfalls mühselig die Mundwinkel hob, deren Lippen aber gleichzeitig zu zittern begannen. Wie schwer musste es ihr in diesen Minuten fallen, sich darüber zu freuen, jetzt da es um meinen Sohn so schlecht stand? Sicherlich befürchtete sie, dass sie das Kind allein würde groß ziehen müssen. Ob ihr Nahuel geblieben war? Die Erinnerungen an den letzten Augenblick an dem ich ihn gesehen hatte, waren derart verblasst, dass es mir vorkam, als sei es ewig her gewesen, seit er versucht hatte, uns aus Caius‘ Fängen zu befreien. Seth hatte uns in einem kleinen Wald abgesetzt und bald darauf war Nahuel dort aufgetaucht. Er bot uns an, ihn zum Flughafen zu begleiten und so dem Schlachtfeld zu entkommen. Er hatte einen seltsamen Anruf von Sangreal erhalten, nachdem diese wieder in Irland gelandet war. Doch bis zum Flughafen kamen wir gar nicht. Einige Volturi hatten Sangreal wohl irgendwo abgefangen und wollten dasselbe mit uns tun. Im Versuch uns zu beschützen, war Nahuel schwer verwundet worden, aber Sangreal hatte gehofft, ihm helfen zu können. Sie hatte darum gefleht, man möge ihn am Leben lassen. Im Gegenzug hatte sie angeboten, Caius anstandslos zurück nach Volterra zu begleiten. Dass sie ein Kind erwartete, hatte sie in unserem Beisein nicht erwähnt. Sie hatte lediglich immer wieder betont, dass sie für Caius doch mehr wert sei als wir und er deswegen auf uns verzichten könnte. Rückblickend fühlte ich mich, als sei ich taub gewesen, hatte ich doch den seltsamen Unterton nicht bemerkt, den Sangreal dabei gehabt hatte. Sie hatte den Volturi in ihrer Verzweiflung wahrscheinlich auf dem Weg vom Flughafen nach Ballinasloe bereits offenbart, dass sie schwanger war, in der Hoffnung, uns damit retten zu können. Aber die Volturi haben sich noch nie mit der Hälfte zufrieden gegeben... Ob Nahuel noch lebte? Ich warf einen Blick zu Dad, aber auch er schien keine Antwort darauf zu haben. „Renesmee?“ Mums Worte schreckten mich aus meinen Gedanken. Ich drehte mich verdutzt zu ihr um. Sie hatte Sangreal bereits auf dem Arm. „Ich hatte dich gefragt, ob du aufsteigen möchtest, damit wir los können, Schatz.“ „Uhm“, murmelte ich, nickte und krabbelte dann wie einst in Kindertagen auf ihren Rücken, wo ich mich festklammerte. Daddy warf ihr einen Blick zu, dann rannten beide gleichzeitig los. Der Wind blies durch mein Haar und die Bäume rauschten an uns vorbei. Es war lange her, seit ich mich auf diese Art fortbewegt hatte. Sie waren schneller als ich, jedoch etwas langsamer als Jacob. Oh, Jacob. Was sollte ich ihm sagen? Wie würde er reagieren? Ging es ihm überhaupt gut? - Nein, daran durfte ich gar nicht denken. Wenn ihm etwas passiert wäre, hätten Mum und Dad es mir längst gesagt. „Hätten wir“, kommentierte Daddy sogleich meine sorgenvollen Gedanken und drehte seinen Kopf dabei leicht nach hinten. Ich weiß nicht, wie lange wir gelaufen waren. Mein Zeitgefühl war mir abhandengekommen. Es hätten zehn Minuten sein können oder eine halbe Stunde. Doch schließlich wurden wir langsamer. Ich hob meinen Kopf, um über Mums braune Haare hinweg sehen zu können und erblickte in einiger Distanz unser Basislager im Schein des Mondes. Feuer hatten sie keines angezündet, lediglich ein etwas größeres Zelt aufgebaut. Drumherum sah ich verstreut einzelne Personengruppen stehen. Dass wir hohe Verluste erlitten hatten, blieb mir nicht verborgen und der Kloß in meinem Hals begann zu wachsen. Und dann sah ich ihn: Jacob. Meine Sonne. Er stand da, nur in Shorts bekleidet und gestikulierte wild mit Eleazar und Carlisle. Ich kannte ihn lang genug, um zu erkennen, dass er aufgebracht war. „Ihr und eure Strategien!“, hörte ich ihn aus der Ferne sagen. „Während ihr hier herumsteht und Pläne schmiedet, haben sie die drei wahrscheinlich schon umgebracht!“ Meine Augen scannten rasch den Platz, bis sie meine Tochter fanden. Sie saß zusammengekauert und an einem Baum lehnend neben Seth, der sie im Arm hielt. Sie hatte es also geschafft, heil zu entkommen. Oder zumindest, war sie körperlich unversehrt... „Jacob, bitte“, sagte Carlisle. Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal über einen Vampir sagen würde, aber wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, er hörte sich doch tatsächlich erschöpft an. Eleazar klinkte sich wohl als erster aus der Konversation aus und bemerkte uns. Er tippte Carlisle kurz an, welcher daraufhin ebenfalls den Kopf wand. Jacob tat es ihm gleich. Seine Augen trafen meine, dann stürmte er plötzlich los. „Nessie, Nessie, Nessie!“, rief er aufgebracht, eilte zu mir und nahm mich von Mums Rücken, ohne irgendetwas anderes um sich herum zu beachten. „Jake“, murmelte ich gerade noch so, als er mich fest umarmte und mich an seine nackte Brust drückte. „Ich bin so froh“, sagte er und zitterte dabei leicht. „Ich dachte schon, du wärst tot.“ „Mir geht es gut“, antwortete ich. „Aber...“ Ich hielt inne. Jacob löste sich von mir und sah zu mir herab. „Er stirbt, Jake. Ich kann es fühlen“, beendete ich den Satz daraufhin mit noch immer glasigen Augen. Er schien einen Moment nicht zu wissen, was er sagen sollte, dann schüttelte er den Kopf. „Nein, Nessie. Wird er nicht.“ Er klang nervös. „K-kann er nicht.“ Jake griff nach meiner Hand. „Komm.“ Er zog mich hinter sich her und ging mit mir zu Carlisle, wo Dad Anthony bereits auf eine Wolldecke im Gras gelegt hatte. „Wir haben hier einen Arzt mit jahrhunderter langer Berufserfahrung, wer hat so was schon“, murmelte Jake verzweifelt, während wir uns ihnen näherten. „I-ich meine, er kriegt das sicher hin.“ Und dann standen wir schließlich neben Carlisle. „Nicht wahr, Doc?“, fragte Jake unsicher nach. Meine Mutter stellte sich zu mir, legte ihre Hände an meine Schultern und warf einen skeptischen Blick zu meinem Vater, der Jacobs Worten ausdruckslos lauschte. Carlisle hatte indes aufgehört, Anthony zu untersuchen. „Das Gift hat sich schon sehr stark ausgebreitet. Ich brauche die Spritzen.“ „Die Spritzen“, wiederholte Jacob. „Oh ja, natürlich.“ Er drehte sich suchend herum. „Mariella?“ „Caius hat Mariella die Spritzen abgenommen“, erklärte Dad. Der Klang seines Tenors wirkte monoton, aber ich wusste, dass ihm in diesem Moment Mariellas, Sangreals und meine Erinnerungen durch den Kopf schossen und es ihm schwer fiel, die Aussichtslosigkeit, in der wir uns befanden, beim Wort zu nennen. Und auch ich merkte, wie mir nach und nach immer kälter wurde. Doch noch lies Jake sich davon nicht beirren. „Kein Problem. Die Reserve“, sagte er abgehackt. „Ähm, Leah... Leah ist die Schnellste! Leah!“, rief er die Quileute zu sich, woraufhin Leah sofort zu ihm kam „Lauf schnell los und hol die Spritzen aus Carlisles Arbeitszimmer. Sie befinden sich in-“ „Die hat Caius ebenfalls vernichtet“, unterbrach Edward ihn noch immer tonlos. Leah und Jake sahen ihn beide mit offenem Mund an. Dann schloss Jacob ihn wieder und trat näher an Dad heran. „Sag das nochmal.“ „Caius. Er hat... alle zerstört, Jacob“, wiederholte mein Vater. Die Hoffnungslosigkeit in seiner Stimme war kaum zu überhören. „Wie ist das möglich, Edward?“, fragte Carlisle verwirrt, hatte er doch ein paar Reservespritzen extra beiseitegelegt. Dad sah kurz zu meiner Tochter, die ihr Gesicht an Seths Brust drückte und bitterlich weinte. „Mariella hatte die Befürchtung gehabt, wir könnten nicht genug Spritzen auf dem Schlachtfeld haben und dass es zu lange brauchen würde, die Restlichen von Zuhause zu holen, daher hat sie heimlich alle eingesteckt.“ Jacob ballte die Hände zu Fäusten und begann leicht zu zittern. Er sah zu Mariella und dann wieder auf den Boden. Man sah ihm an, dass er enttäuscht von unserer Tochter war. Doch es war nicht die nahende Verwandlung in einen Wolf, die ihn zittern ließ. Es war pure Verzweiflung. Er verzichtete darauf, zu Mariella zu gehen, wohl wissend, dass sie alles mit besten Absichten getan hatte und wand sich stattdessen wieder an meinen Großvater, setzte sich neben ihn und legte die Hand an seine Schulter. „Du kriegst das trotzdem hin, nicht wahr?“, fragte er zitternd. Carlisle antwortete nichts und starrte Ani an. Jake rüttelte leicht an Carlisles Schulter. „Nicht wahr?“, wiederholte er. Carlisle rührte sich noch immer nicht. Es war das erste Mal, dass ich ihn so sah. Noch nie zuvor, hatte ihn irgendetwas derart mitgenommen. Jacob rüttelte etwas stärker an ihm. „Nun sag schon!“ „Jacob“, mahnte Dad leise. „Was ist mit dem restlichen Gift?“, fragte Leah nun, die die ganze Zeit über stumm da gestanden hatte. Dad drehte seinen Kopf in ihre Richtung. „Er produziert es doch selbst, oder? Das machen doch alle Vampire“, fragte sie ihn. „Das wird nicht funktionieren. Er produziert es langsamer und in geringeren Mengen, als ein vollwertiger Vampir. Carlisle hat es ihm gestern erst abgenommen. Das Bisschen, das er jetzt vielleicht noch hat, ist ein Tropfen auf dem heißen Stein.“ „Probier‘ es trotzdem“, forderte Jake und festigte seinen Griff um Carlisles Schulter. Schließlich hob Großvater den Kopf und sah sich langsam um. Ich tat es ihm gleich. Nun erst fiel mir auf, dass uns alle anstarrten. Rose, Emmett, Alice und Jasper standen uns am Nächsten. Die Denalis waren knapp hinter ihnen. Benjamin und Tia saßen in Seths und Mariellas Nähe, die Quileute hatten sich bis auf Sam und Leah in Wolfsgestalt auf den Boden gelegt. Aurora saß auf einem kleinen Felsen, Stefan stand neben ihr und Esme hatte sich neben Sangreal gesetzt und ihr eine blaue Decke um die Schultern gelegt. „Es tut mir Leid, Jacob“, flüsterte Carlisle und sah meinen Jacob dabei traurig an. Dieser schüttelte ungläubig den Kopf. „Es tut mir so unendlich leid“, betonte Carlisle. Jacob schluckte schwer und begann regungslos ins Nichts zu starren. Carlisle sah wieder zu Anthony, seufzte und legte seine Hand kurz an dessen Stirn, dann stand er auf und wand sich an Emmett: „Bitte bring ihn ins Zelt.“ Anschließend sah er zu mir. „Geh mit ihm, Renesmee.“ Plötzlich wurden meine Beine entsetzlich schwer. Es fühlte sich an, als hätte Carlisle sie mit seinen schlichten Worten in Zement gehüllt. Ich konnte mich nicht rühren. Ich konnte nicht mal ohnmächtig werden. Ich stand einfach nur da und starrte auf meinen Großvater. „Schatz?“, fragte Mum besorgt. Sie stand hinter mir und streichelte behutsam meine Oberarme, aber obwohl sie mir so nah war, fühlte ich mich als sei um mich herum nur erdrückende Finsternis. Meine Augen folgten jeder einzelnen von Emmetts Bewegungen, als er an mir vorbeischritt. Alles um mich herum wirkte nun auf mich, als würde es sich in Zeitlupe abspielen. Quälend langsam. Er näherte sich meinem Sohn bis auf etwa einen Meter, dann stellte sich Jacob dazwischen. „Fass ihn an und du bist tot“, knurrte er. Emmett antwortete nichts und warf einen prüfenden Blick auf Carlisle und anschließend auf Edward. „Tu das nicht, Jacob“, bat Dad daraufhin. Er klang gleichermaßen verständnisvoll und doch erzürnt. Jake antwortete nichts, funkelte weiterhin Emmett an. Ich zweifelte nicht daran, dass er in diesem Moment tun würde, was er zu tun drohte. „Du wirst es eines Tages bereuen, Jacob“, fuhr Dad fort. „Du wirst es bereuen, dass du Renesmee diese kostbaren Minuten genommen hast. Und dir selbst.“ „Ja“, antwortete Jake bitter. „Diese Minuten...“, sagte er und deutete dann auf Carlisle. „In denen du etwas hättest unternehmen können!“ Carlisle senkte traurig den Blick. „Das ist nicht dein Ernst“, sagte Edward bitter. „Du hast keine Ahnung!“, brüllte Jake ihn verzweifelt an. „Ich weiß, wie es ist geliebte Personen zu verlieren“, antwortete er auf Jakes Gedanken, in denen diese 'Ahnung', von der er gesprochen hatte, wohl detaillierter beschrieben war. „Ich war für vierundzwanzig Stunden in dem festen Glauben, dass Bella sich meinetwegen von einer Klippe gestürzt hat!“ „Du musstest aber nicht mit ansehen, wie sie gestorben ist! Du hast es über drei Ecken erfahren und am Ende war es gar nicht so! Aber das hier!“, sagte er und deutete hinter sich, ohne hinzuschauen. „Das hier ist real, Edward!“ Edward schloss kurz müde die goldenen Augen und senkte den Blick. „So, jetzt reicht es mir!“, sagte Jacob schließlich und stampfte wutentbrannt sowohl an Emmett als auch an Dad vorbei. „Was hast du vor?“, fragte Letzterer. „Caius den verdammten Kopf abreißen!“ „Was?“, fragte er. „Jacob!“, brüllte er ihm hinterher, als dieser nicht reagierte. Er wand sich Jake zu, drehte sich dann aber noch einmal zu Emmett um. „Emmett, Nessie, bringt ihn ins Zelt.“ Emmett nickte und hob meinen Sohn vorsichtig hoch. Ich vernahm seinen inzwischen unregelmäßigen, schwachen Herzschlag, konnte mich aber noch immer nicht rühren. Hilfesuchend drehte ich mich zu Jake um, der in diesem Augenblick von Edward festgehalten wurde. „Das bringt doch nichts, Jake. Du riskierst nur dein Leben! Vergiss nicht, dass du noch Nessie und Mariella hast, die dich brauchen!“ Jacobs Gegenwehr wurde auf Dads Zureden hin schwächer. Er lockerte seinen Griff etwas und sah Jake mit seinen goldenen Augen an, dann nickte er und ließ ihn los. „Nessie“, flüsterte Mum mir zu. Ich wand meinen Blick von Jake und Dad ab. Sie stand hinter mir und drückte meine Schultern leicht, um meine Aufmerksamkeit zu bekommen. „Emmett“, antwortete sie auf meinen fragenden Blick hin. Langsam wand ich meinen Kopf meinem Onkel zu, der mit meinem Kind auf dem Arm stehen geblieben war und auf mich wartete. Mein Kopf wollte ihm folgen, doch mein Herz ließ es nicht zu. Meine Beine waren noch immer so schrecklich schwer und weigerten sich, auch nur einen Schritt zu machen. Dieser Erste jener letzten Schritte, die ich mit meinem Kind gehen würde. Ich wollte sie nicht gehen. Ich wollte es nicht wahrhaben. Ich erinnerte mich noch genau an diese eine Nacht, etwa zwei Wochen nach der Geburt meiner Drillinge. Wir hatten so wenig über ihre Eigenschaften gewusst, dass ich aus Sorge, meine Kinder zu überleben, geweint hatte. Ich hatte nie eines meiner Kinder zu Grabe tragen wollen und nun sollte ich das ein zweites Mal tun müssen? Das durfte so nicht sein. Das war falsch und ungerecht. Meine Unterlippe begann zu zittern, als ich versuchte Mum zu antworten und traurig den Kopf schüttelte. „Ich... kann nicht.“ Meine Mutter erwiderte meinen Blick. Tränen konnte sie nicht weinen, dennoch sah ich ihr ihre Trauer an. Sie nahm mich behutsam in den Arm und drückte mich. Im Hintergrund horchte ich leise Anthonys Herzschlag zu, immerzu mit der Befürchtung im Hinterkopf, dass jeder einzelne davon der Letzte sein könnte. „Geh mit Emmett, mein Schatz“, redete Mum mir gut zu, während sie mich umarmte. Natürlich hatten sie Recht. Wenn ich jetzt nicht mit ihm ging und nicht dabei sein würde, wenn mein Sohn seinen letzten Atemzug tat, würde ich das auf ewig bereuen, dennoch zitterte ich am ganzen Körper und war nicht in der Lage, auch nur einen Schritt zu gehen. „Du weißt, dass es falsch wäre, Caius allein anzugreifen“, hörte ich Dad zu Jake sagen. Ich lugte vorsichtig aus Mums Umarmung hervor und sah, wie mein Mann meinen Vater anfunkelte. „Und wenn schon. Hier läuft doch gerade alles falsch...“, zischte er. Daddy schnaubte bitter und sah auf den Boden, dann hob er jedoch plötzlich wieder den Kopf und richtete sein Augenmerk auf etwas, das sich hinter Jake und sogar weit hinter meiner Mutter und mir befand. „Vielleicht auch nicht“, sagte er dann. Ich meinte einen kleinen Hauch Hoffnung in seiner Stimme zu vernehmen. Müde folgte ich seinem Blick und sah, wie Catriona das Lager betrat – gefolgt von einem mir unbekannten Mann. Er war muskulös gebaut, fast etwas hünenhaft, mit rotblondem, schulterlangem Haar und einem Drei-Tage-Bart. Hatte sie es schließlich doch geschafft, ihren Vater von unserem Vorhaben zu überzeugen? Nahezu gleichzeitig blieben beide stehen und sahen sich um. Catrionas Gesicht nahm einen verzweifelten Ausdruck an, nun da ihr die Verluste bewusst wurden. Als ihre Augen jedoch letztendlich auf Ani fielen, faltete sie erschrocken ihre Hände über dem Mund, ohne einen Ton von sich zu geben. Sie warf noch einen kurzen Blick hinter sich, dann ging sie schließlich schnellen Schrittes, nicht rennend, jedoch bestimmt, die wenigen Meter auf Ani zu, der in Emmetts Armen lag. Etwa einen Meter vor Emmett blieb das Mädchen stehen. Mein Onkel sah sie ausdruckslos an, als sie mit verzweifeltem Blick zu ihm hoch sah. „Bitte setz ihn ab“, richtete sie ihr Wort an ihn. Hinter ihr trat der, von dem ich annahm, dass er ihr Vater war, näher an sie heran und legte seine große Hand auf ihre zierliche Schulter. „Bist du dir sicher?“, fragte er und sah sie dabei durchdringend an. „Du weißt, wenn du das tust, wird er auf ewig immun gegen unsere Kräfte sein.“ Cat sah ihren Vater etwas traurig an. „Absolut sicher, Dad“, antwortete sie bestimmt. Er schien einen Moment zu überlegen, dann nahm er seine Hand von ihrer Schulter und nickte ihr zu. Ich wusste nicht, wovon sie sprachen, aber nach allem, was ich so über ihren Vater am Rande erfahren hatte, schien das wohl ein gewaltiger Schatten zu sein, über den er in diesem Moment für seine Tochter sprang. Diese nickte ihrem Vater ebenfalls zu, dann wand sie sich wieder um und sah erneut zu Emmett empor. „Bitte lass ihn runter“, bat sie erneut. Emmett starrte sie etwas ratlos an. „Bitte!“ Ihre Stimmlage wurde flehender. „Ich kann ihm nicht mehr helfen, wenn sein Herz aufhört zu schlagen!“ Emmett wand seinen Blick in Richtung Edward, wohl aufgrund der Tatsache, dass er Gedanken lesen konnte und wahrscheinlich am ehesten sagen konnte, ob es angebracht war, ihrer Bitte nachzukommen oder nicht. Dad nickte befürwortend, woraufhin Emmett Ani vorsichtig vor sich ins nasse Gras legte. „Danke“, flüsterte Cat und setzte sich neben mein Kind. Nun waren unser aller Augen auf dieses blonde Mädchen gerichtet. Im Gegenzug jedoch, schien sie uns alle auszublenden. Sie sah Anthony mitfühlend an und strich ihm durch sein schwarzes Haar. „Alles wird gut“, hauchte sie ihm zu. Ich bezweifelte, dass er sie jetzt noch würde hören können und obwohl sie es eindeutig zu ihm gesagt hatte, wirkte es gleichzeitig so, als würde sie sich selbst gut zu reden wollen. Ihre Hand wanderte über seine Haare, zu seiner Wange und schließlich zu seiner Brust. Zwei Knöpfe seines Hemds hatte Dad schon zuvor nicht geschlossen gehabt. Cat knöpfte nun vorsichtig noch ein paar mehr auf und legte ihre Hand auf seine nackte Brust, genau auf jene Stelle, unter der sein Herz schwach pochte. Ich gestattete mir für einen kurzen Moment meinen Blick abzuwenden und warf ein Auge auf Sangreal, die in ihre Decke gehüllt von Esme im Arm gehalten wurde und genauso gebannt auf Cat starrte wie alle anderen. In ihren Augen sah ich nur Schmerz und Trauer. Keinerlei Anzeichen mehr von Eifersucht. Ich wand mich wieder Cat zu. Wahrscheinlich erwartete jeder hier, dass jetzt irgendetwas geschah. Tatsächlich geschah jedoch gar nichts. Sie saß da, über meinen Sohn gebeugt und weinte. „Catriona“, begann ihr Vater und näherte sich ihr. Als sie sich plötzlich mit verweintem Gesicht zu ihm drehte, blieb er schlagartig stehen. „Ich kriege das hin!“, sagte sie weinend. „Bitte geh, du machst mich nervös!“ Er hob beschwichtigend die Hände und machte einige Schritte rückwärts. Cat hingegen drehte sich wieder zu Ani um. „Ich kriege das hin“, wiederholte sie leise, dann schloss sie langsam die Augen und atmete einmal tief durch. In jenem Augenblick, in dem die Luft ihren Körper verließ, tat sich schließlich etwas. Es mochten meine müden Augen gewesen sein, die mir etwas vorgaukelten, oder das Licht des Mondes, der nun, da sich die Wolken verzogen hatten, hell am Himmel schien, aber ich meinte ein Glühen um sie herum zu sehen. Ein zarter Schimmer, nicht wie das Glitzern eines Vampirs im Sonnenlicht, sondern eher... wie eine Art Aura. Die dezente Sphäre, farblos und keine fünf Zentimeter dick, ging von ihr auf Anthony über. Und dann geschah das Unglaublichste, das ich in meinem Leben jemals gesehen hatte – selbst in unserer Welt: die blutigen Schrammen und Wunden auf Anthonys Haut begannen zu verheilen, ehe sie verblassten und schließlich verschwanden. Manche von uns verfügen über sehr starke Heilkräfte, was uns in den Augen einiger sehr gläubiger Menschen zu 'Engeln' machte, kamen mir Catrionas Worte wieder in den Sinn. Sie hatte uns so vieles über diese neue, uns bis dahin unbekannte Spezies gesagt, zu der sie gehörte, dass ich diesem Aspekt ihrer Fähigkeiten gar keine weitere Beachtung geschenkt hatte – und nun sah ich mit eigenen Augen, warum die Menschen sie früher, berechtigterweise, auch als Engel bezeichnet hatten. Ein paar Minuten später, öffnete das Mädchen ihre Augen wieder und legte leicht zitternd ihre Hände in den Schoß. Niemand von uns rührte sich oder sagte etwas. Anthony lag ganz ruhig da, sein Herz schlug wieder in seinem gewöhnlichen Rhythmus. Es sah aus, als würde er nur schlafen. Dad war der Erste, der sich wieder bewegte. Er ging langsam auf Cat zu und setzte sich neben sie, dann warf er ihr einen fragenden Blick zu. Cat nickte, dann legte Dad zwei Finger an Anis Halsschlagader und begutachtete dann behutsam die Stelle, an der er in Tiergestalt von den Volturi bei unserer Flucht gebissen worden war. Die Wunde war, genau wie alle anderen, einfach verschwunden. „Du hast ihn komplett geheilt“, stellte Daddy fest. Catriona nickte zustimmend. „Körperlich gesehen, ist er jetzt praktisch wie neugeboren. Er ist sogar gesünder, als er es vor der Schlacht war.“ „Warum kann ich dann seine Gedanken nicht lesen?“, fragte er und sah zu Mum, die mit dem Kopf schüttelte. Es lag also wohl nicht an seinem Schutzschild. Cat seufzte traurig. „Körperlich“, wiederholte sie. „Du meinst... sein Geist... seine Seele?“ Ich wusste, wie Dad zu dem Thema stand. Für ihn hatten Vampire keine Seele. Cat nickte erneut. „Wenn wir schlafen, geht unsere Seele auf eine Reise, nur durch die Silberschnur mit unserem Körper verbunden. Sie kann dünner werden und reißt, wenn wir sterben.“ Sie sah Ani gedankenverloren an, während sie sprach. „Er ist schon sehr weit gereist.“ „Wenn du 'wir' sagst...“, begann Dad seine nächste Frage. „... rede ich von allen Lebewesen, die eine Seele besitzen“, sagte sie. Nun fand auch ich wieder zu meiner Stimme zurück: „Sagtest du nicht, er hätte keine Seele?“ Ich erinnerte mich noch genau an ihren Streit. Es war gar nicht allzu lange her. „Ich weiß, was ich gesagt habe“, antwortete sie und sah mich dabei an. Sie wusste genau, worauf ich anspielte. „Ich war wütend auf ihn. Ich weiß, dass er eine hat. Ich wusste es schon vorher, aber jetzt bin ich mir ganz sicher.“ „Warum?“, fragte Dad. Das Thema interessierte ihn brennend. „Weil ich spüre, dass sie fehlt. Hätte er keine, wäre er sicher sofort aufgewacht, aber er hat eine und es ist ein ganz natürlicher Vorgang, dass sie beim herannahenden Tod entschwindet.“ „Was heißt das?“, fragte ich mit zittriger Stimme. Ich ahnte schon, worauf sie hinaus wollte. Sie wand sich mir erneut zu. „Es ist jetzt an ihm allein zu entscheiden, ob er zurückkehren will oder nicht.“ „Aber-“, mir stockte der Atem. Jacob trat neben mich und nahm mich in den Arm. „Er hat genug Gründe zurückzukommen“, beendete er meinen Satz. „Seine Schwester, seine Eltern, seine Familie“, zählte er auf. „Sein ungeborenes Kind“, fügte ich hinzu. „Was?!“, warf mein Jacob perplex ein und starrte mich entgeistert an. Cat sah traurig zu uns hoch, dann musterte sie für einen Moment Sangreal, ehe sie sich wieder uns zuwand. „Sicher hat er seine Gründe, aber niemand kann sagen, was ihn auf der anderen Seite erwartet. Oder wer... “ Kapitel 25: Niemandsland ------------------------ Es war das übliche Motorengeräusch eines Sportwagens zu hören, als mein schwarzer BMW über den Asphalt rauschte. Weder wusste ich, woher ich kam, noch wohin ich fuhr. Es war, als zappte man durch sämtliche TV-Kanäle und stieg in einen Film ein, ohne dessen Anfang, geschweige denn dessen Handlung, zu kennen. Gleichzeitig war ich jedoch von solcher Gleichgültigkeit erfasst, dass mich beides nicht interessierte. Ich fuhr einfach weiter... Links und rechts tauchten die Bäume in meinem Sichtfeld auf und verschwanden wieder. Ich befand mich auf einer Straße, die durch einen Wald zu führen schien. Außer mir fuhr kein anderes Auto auf dieser Straße. Keines vor mir, keines hinter mir und es kam mir auch keines entgegen. Zwar hatte ich keine Ahnung, wohin ich fuhr, fühlte mich dabei allerdings kein bisschen hilflos oder verirrt. Im Gegenteil, tief in meinem Innern war ich unglaublich ruhig und schien meinen Weg zu kennen, ohne dabei in der Lage zu sein, ihn jemandem zu beschreiben, wenn man mich danach fragen würde. Ich bog ab, wann immer ich das Gefühl hatte, abbiegen zu müssen und fuhr gerade aus, wenn ich das Gefühl hatte, geradeaus fahren zu müssen. Wie lange ich schon fuhr oder wie lange ich noch fahren würde, wusste ich auch nicht. Es war ziemlich dunkel, also schaltete ich meine Scheinwerfer an. Normalerweise eine überflüssige Handlung, die wir nur unserer Tarnung wegen erledigten. Selbst in der finstersten Nacht sahen Vampiraugen noch sehr gut, aber da wir vorgaben Menschen zu sein, mussten wir uns eben wie solche verhalten. Dazu zählte auch, das Licht einzuschalten, wenn man nachts Auto fuhr. Diesmal jedoch sah ich wirklich sehr wenig. Ich kniff bereits die Augen zusammen, da erschwerten mir zusätzlich plötzlich dichter werdende Nebelschwaden die Sicht. Zuerst nur, subtil am Rand, bildete sich bald eine Nebelwand. Es war das erste Mal während dieser Fahrt, dass ich mich über irgendwas zu wundern begann. Kurz darauf überkam mich ein vertrautes Gefühl, als ich erneut instinktiv abbog und dabei in eine Einfahrt fuhr. Die penibel gerade geschnittenen Hecken und der saubere Asphalt kamen mir bekannt vor... und wenige Augenblicke später sah ich unser Anwesen in all dem Nebel auftauchen. Mein Gefühl sagte mir noch immer, dass ich hier richtig war, also fuhr ich weiter. Ich hielt erst vor der großen Garage an. Das Tor war geschlossen, trotz Finsternis brannte nirgendwo im Haus das Licht. Ich schaltete den Motor aus und lehnte mich seufzend in meinem schwarzen Sitz zurück. Ich hatte zwar keine Ahnung, was hier vor sich ging und so langsam begann ich zu begreifen, dass hier irgendetwas faul war, aber die Tatsache, dass ich mich vor unserem Zuhause befand, beruhigte mich ungemein. Dann erkannte ich plötzlich eine dunkle Silhouette im Rückspiegel. Ich drehte mich langsam um und sah aus dem Heckfenster, um mich zu vergewissern, dass der Spiegel mich nicht täuschte – was natürlich Unsinn war, schließlich täuschten Spiegelbilder in aller Regel nicht. Die dunklen Umrisse einer Person, die einige Meter entfernt in unserem Hof stand, blieben, also stieg ich aus meinem Wagen aus. Die Person bewegte sich nicht. „Hallo?“, fragte ich vorsichtig. Mein Hals war seltsam trocken, meine Stimme etwas brüchig. Vergleichbar mit der eines Menschen, der zum ersten Mal am Tag etwas sagt. Normalerweise kam dies bei uns nicht vor. Dafür waren unsere Stimmbänder zu perfekt. Trotzdem wunderte ich mich nicht weiter darüber. Viel verwunderlicher war es für mich, dass mein Gegenüber nicht reagierte. Ich schloss also meine Autotür und näherte mich langsam. Mit jedem Schritt änderte sich das Bild etwas. Der Nebel lichtete sich. Aus den schemenhaften Umrissen wurde nach und nach eine deutlich sichtbare Person. Die Jeanshose bekam ein Profil, das Hemd ein Muster, die helle Haut kam zum Vorschein und schließlich auch das bronzefarbene Haar... Ich traute meinen Augen kaum und blieb abrupt stehen: vier Meter vor mir stand mein älterer Bruder. Er hatte die Ärmel seines dunkelrot karierten Hemdes bis zu den Ellbogen umgeschlagen und die Hände in die Taschen gesteckt. Er lächelte sein übliches sanftes Lächeln und die Augen, die dieselbe Farbe wie die meinen hatten, sahen mich erwartungsvoll an. „Will...“, hauchte ich ungläubig, verharrte einen Augenblick mit offenem Mund, dann rannte ich auf ihn zu und umarmte ihn überschwänglich. Sonst war ich nie sonderlich erpicht auf diese Form der Begrüßung gewesen. Umarmungen gingen in aller Regel von den anderen aus, ich erwiderte sie nur, wenn mir jemand entsprechend nahe stand, umarmte aber selten jemanden aus eigenem Antrieb. Nun aber hatte ich das dringende Verlangen danach, meinen älteren Bruder an mich zu drücken, zu spüren, dass er wirklich war und dass es ihm gut ging. Ich ließ ihn nur kurz los, seufzte ein atemloses „Ich dachte du wärst tot“ und umarmte ihn erneut. Er lächelte mich weiterhin an, zeigte jedoch ansonsten keine Reaktion auf meine Worte und strich mir über den Rücken. Es war, als wäre alles zuvor ein schrecklicher Albtraum gewesen. Einer, der sich verdammt real angefühlt hatte, aus dem ich nun aber glücklicherweise erwacht war. Ein unglaubliches Gefühl von Erleichterung überkam mich. Will war hier, ich war hier. Weder er, noch ich waren verletzt oder gar tot. Alles war gut. Als ich mich erneut von Will löste und die Lider öffnete, erkannte ich, dass es um uns herum heller geworden war. Der Nebel nahm ab und die Sonne ging allmählich auf. Bereits die ersten ihrer Strahlen waren ungewöhnlich warm. Es war ein sehr angenehmes Gefühl. So hatte ich mich schon lange nicht mehr gefühlt. Genau genommen hatte ich mich so wahrscheinlich tatsächlich noch nie gefühlt. Immerzu war irgendetwas wie ein dunkler Schatten über meinem Kopf geschwebt. Zuerst der Clinch mit meinem Vater, dann die Schuld an Wills Tod. Aber er war ja gar nicht tot, oder? Ich wollte, dass mich mein erstes Gefühl nach dieser Begegnung nicht getäuscht hatte, dennoch war ich verunsichert. Angestrengt versuchte ich mich an die letzten Details meiner mysteriösen Autofahrt zu erinnern. Wann und wo war ich eingestiegen? Wie lang war ich gefahren? Und warum? Ich hatte auf keine dieser Fragen eine Antwort. Es war, als gäbe es nur die Fahrt. Fragmente der Erinnerungen meines Albtraumes jedoch, konnte ich mir ins Gedächtnis rufen. Will, wie er blutüberströmt in meinen Armen lag und mir seine letzten Worte zu flüsterte, wie er zu röcheln und husten begann und sein Herz schließlich aufhörte zu schlagen, war wohl jene Erinnerung, die sich mir am meisten ins Gehirn gebrannt hatte. Aber da war noch etwas... Reflexartig fasste ich mir an die Seite, hob dann meine Jacke und mein Shirt kurz an und vergewisserte mich, dass der fehlende Schmerz von einer in der Tat nicht vorhandenen Wunde herrührte. „Alles ist gut“, wiederholte mein Bruder meine Worte. Ich nahm meinen Blick von meiner Taille und musterte Will. So langsam wurde ich mir meiner Verwirrung vollkommen bewusst. Irgendetwas stimmte hier nicht. „Sagst du das, weil ich will, dass du es sagst? Wiederholst du meine Worte, weil du nur einer meiner Gedanken bist?“ Will lächelte mich weiterhin an und schüttelte den Kopf. „Das fragst du mich? Wann, das frage ich dich, hast du jemals auf das gehört, was ich dir gesagt habe?“ Ich senkte traurig den Blick. „Nicht sonderlich oft... leider.“ „Nicht doch“, sagte mein Bruder und legte seine Hand auf meine Schulter. „Ich sagte dir doch, du sollst dir keine Schuld geben.“ Meine Augen weiteten sich. Also war es doch kein Albtraum gewesen?! Ich fand keine Worte und starrte meinen älteren Bruder stumm an. Er lächelte mich weiterhin sanft an, nahm mein Gesicht in seine Hände und gab mir einen Kuss auf die Stirn. Er war immer noch etwas größer als ich. Als er anschließend seine Stirn gegen meine legte, schlossen wir beide die Lider. Ich sog diesen Moment ein wie ein Schwamm das Wasser. Sein Geruch, seine Wärme... alles war so vertraut, so... wie immer. „Ich hab dich vermisst“, flüsterte ich. „Ich habe dich auch vermisst, Kleiner. Euch alle.“ Langsam öffnete ich die Augen wieder und wir ließen einander los. „Warum hast du mir keine letzten Worte für Leah mitgegeben? Warum hast du sie für mich verschwendet?!“ Es klang wie ein Vorwurf und eigentlich war streiten das Letzte, was ich jetzt mit ihm wollte, aber als er die Anderen erwähnte, fiel mir nun mal als Erste seine Frau ein. Nun, da mir bewusst wurde, dass ich leider nicht nur geträumt hatte, wurden meine zunächst bruchstückhaften Erinnerungen detaillierter. Ich erinnerte mich wieder daran, wie Leah mich nach seinen letzten Worten gefragt hatte. „Ich war deinetwegen nach Volterra gekommen“, antwortete er knapp. Ich senkte den Blick. Obwohl er jetzt vor mir stand und vorhin seine Bitte wiederholt hatte, konnte ich meine Schuldgefühle einfach nicht abstellen. „Mach dir darüber bitte keine Gedanken, Kleiner. Keine Worte der Welt hätten Leah sagen können, was ich für sie empfinde und wie sehr ich es bedauere, sie allein lassen zu müssen. Aber sie kannte mein Herz so gut, wie sonst niemand auf der Welt. Wir teilten uns praktisch eines. Alles, was sie sich wünschte, das ich ihr gesagt hätte, hätte ich ihr genauso gesagt.“ „Du hast eine kleine Tochter“, sagte ich vorsichtig. „Ich weiß und darüber freue ich mich sehr, auch wenn sie ihren Daddy leider nicht kennenlernen kann. Leah wird sie zu einer starken, selbstbewussten, hübschen, jungen Frau erziehen, da bin ich mir sicher.“ „Das hoffe ich...“ Er legte seine Hände an meine Schultern und sah mich eindringlich an. „Du. Hast. Mich. Nicht. Umgebracht.“ Meine Augen wurden glasig. Es war als versuchte er, eine Mauer in mir einzureißen, während ich aus irgendeinem mir unerfindlichen Grund mit dem Spatel versuchte, die kleinen Risse zu reparieren und sie intakt zu halten. Ich hatte die Schuld jetzt so lange mit mir herumgetragen, ich konnte sie nicht so einfach ablegen. „Es gibt jetzt wichtigere Dinge in deinem Leben, als Schuldgefühle oder Hass. Du wirst deine Chance kriegen, Caius büßen zu lassen, wenn du denn unbedingt willst, aber danach musst du dich von alledem befreien. Das ist mein Wunsch an dich, kleiner Bruder.“ Nach und nach sickerten seine Worte in mein Innerstes. Ob er nun real war oder nicht. Nur ein Gedanke oder tatsächlich ein Geist. Es war egal. Diese Worte kamen entweder von ihm oder wären eindeutig von ihm gekommen. Es fühlte sich so wirklich an... so richtig... so Will. Ich sah in seine smaragdgrünen Augen und irgendetwas in mir schien sich zu lösen. Es war der sprichwörtliche Stein, der mir vom Herzen fiel. Meine über die Schicksalsschläge hinweg stetig aufgebaute Mauer begann zu bröckeln. Den Spatel hatte ich beiseitegelegt. Ich war frei. Frei von meiner Schuld. Endlich. Die Sonnenstrahlen schienen noch wärmer geworden zu sein. Oder war es vielleicht gar nicht die Sonne? Es fühlte sich fast so an, als sei alles um uns herum plötzlich freundlicher und wärmer geworden. Es war ein sehr angenehmes Gefühl und ich sehnte mich danach, es auf ewig zu fühlen. Ich schloss die Augen und genoss den Frieden. „Ist das wirklich das, was du willst?“, fragte Will. Ich öffnete meine Lider wieder und sah ihn fragend an. Konnte er Gedanken lesen? „Hier zu bleiben?“, präzisierte er seine Frage. „Warum nicht?“, fragte ich verwundert. „Es ist so friedlich hier und wir haben uns so lange nicht gesehen.“ Er lächelte mich erneut an. „Das stimmt, aber da draußen wartet eine ganze Welt auf dich und ein langes Leben. Versuch dich daran zu erinnern, was geschehen ist, bevor wir uns getroffen haben.“ Ich überlegte. „Ich bin Auto gefahren“, sagte ich dann. Will schüttelte den Kopf. „Davor.“ „Davor ist nichts. Es gibt kein 'Davor'.“ „Doch das gibt es“, antwortete er. „Denk nach.“ Ich kramte erneut in meinen Erinnerungen. Ich sah immer wieder den Asphalt vor mir und die Bäume um uns herum, aber nichts, was zeitnah darüber hinausging. Die restlichen Erinnerungen wirkten hier... wie... aus einem anderen Leben. Die Erkenntnis traf mich wie ein Blitz. Ich wusste, dass ich eine ziemlich tiefe Wunde gehabt hatte, die jetzt nicht mehr da war. Es musste also einen Kampf zuvor gegeben haben. Ja, richtig. Ich erinnerte mich an Caius' Genugtuung und die Schmerzen, die mir Janes Gabe bereitet hatte. Ich hatte mich verwandelt und als ich davon fliegen wollte, hatte mich irgendetwas gebissen. Das Letzte, woran ich mich erinnerte, war das traurige Gesicht meiner Mutter. Danach kam nur Finsternis. Bis... ja, bis ich in meinem Wagen gefahren war. Ich ließ meinen Blick ungläubig um mich herum schweifen. Das war eindeutig unser Haus, aber es war niemand darin und außer uns zweien war auch niemand hier draußen. Eine ungewöhnliche Ruhe lag über diesem Ort, wie ich sie hier zuvor noch nie wahrgenommen hatte. War das hier vielleicht das Leben nach dem Tod? Hatte Caius mich schließlich doch umgebracht? Konnte ich deswegen meinen Bruder sehen und mit ihm sprechen? „Ich bin tot, nicht wahr?“, fragte ich, ohne Hoffnung darauf, dass er es verneinen würde. Sein Lächeln schien unerschütterlich. Selbst auf diese Frage hin blieb es bestehen. „Sag du es mir“, antwortete er. Ich nickte stumm vor mich hin und betrachtete das als ein 'Ja'. „Erinnerst du dich jetzt an dein 'Davor'?“, stellte er die Gegenfrage. „Da war ein Kampf“, begann ich zu erzählen. „Ich wollte davon fliegen, wurde dabei jedoch erwischt und bin anschließend abgestürzt.“ „Aber du warst nicht allein.“ Mein älterer Bruder versuchte mir auf die Sprünge zu helfen. „Nein“, bestätigte ich. Da war tatsächlich noch jemand gewesen. „Ich wollte Mum beschützen... und... ich wollte...“ Erneut arbeiteten die Rädchen in meinem Kopf auf Hochtouren und rekonstruierten ein weiteres Fragment meiner Erinnerungen. „Ich wollte Sangreal beschützen.“ Und mit ihrem Namen kamen mit einem Mal die restlichen Details zu mir zurück. „Oh nein...“, hauchte ich, dann sah ich meinen Bruder mit großen Augen an. „Ich... ich muss zurück, Will. Ich kann nicht hier sein... ich... ich kann nicht tot sein!“ Ich hatte doch eben erst erfahren, dass ich bald Vater werden würde. Ich konnte sie jetzt nicht allein lassen. Sie brauchte mich, das Kind brauchte mich, Nayeli brauchte mich. Mutter, Mariella, Vater... ich würde sie alle zurück lassen. Plötzlich ließ die Wärme nach. Als ich einen Blick auf unser Anwesen warf, sah ich, wie die Hauswand sich nach und nach aufzulösen schien. Obwohl es windstill war, wehte sie als feiner, schimmernder Sand davon und verschwand im Nirgendwo. Es war grotesk und gleichermaßen schön. Ich bekam es jedoch ebenso mit der Angst zu tun. Was würde passieren, wenn alles fort war? Würde ich auch im Nichts verschwinden? „Richtest du meiner Leah einen Gruß aus?“ Auf seine Frage hin, löste ich meine Augen von der Landschaft und musterte meinen Bruder. Mit erschrecken stellte ich fest, dass auch er sich, die Beine zuerst, aufzulösen begann. „Will!“, rief ich und wollte ihn festhalten, doch er löste meine Finger von seinem Hemd. „Schon in Ordnung, Kleiner. Du hast deine Entscheidung getroffen. Bitte genieße dein Leben von jetzt an. Es kann so schnell vorbei sein.“ Er war bereits bis zu den Schultern verschwunden. Ich starrte ihn mit offenem Mund an, dann schloss er die Augen und verharrte still und sanft lächelnd bis er schließlich gänzlich verschwunden war. Genau wie alles andere. Ich befand mich an einem Ort vollkommener Dunkelheit und ging auf die Knie. Ich kniff die Augen zusammen und unterdrückte meine Tränen. Würde ich jetzt hier bis in alle Ewigkeit in der Finsternis verbringen? „Will“, presste ich hervor. …. …........ …............. „Ani...“ Ich hatte mangels Zeitgefühl keine Ahnung, wie lange ich dort gesessen hatte, ehe ich aus der Dunkelheit ein leises Wispern vernahm. Es klang wie aus weiter Ferne. „Ani...“ Nach und nach kam es näher, wurde lauter. „Ani!“ Nun war es schon kein Flüstern mehr. „ANI BITTE!“ In der Tat, hörte es sich jetzt eher so an, als brüllte man mich an. „ANTHONY BITTE!“ Unter mir begann der Boden sich zu bewegen. Meine Augen hielt ich nach wie vor fest verschlossen. Es gab in der Finsternis absolut nichts, woran ich mich hätte festhalten können und so spürte ich als nächstes das typische Gefühl des Fallens. Ich wollte sehen, wohin ich fiel, mich vielleicht noch vor dem Aufprall bewahren und so versuchte ich angestrengt, die Augen zu öffnen, was mir jedoch nicht so recht gelang. Es fühlte sich gar an, als hätte sie mir jemand zusammengeklebt. „Mariella...“, hörte ich dann eine zweite Stimme. Ich kannte sie. Vielleicht Seth? „BITTE MACH DIE AUGEN AUF! ANI BITTE, BITTE!“ Im selben Moment, in dem meine Schwester mich erneut verzweifelt anschrie, riss ich die Augen schlagartig auf. Nun sah ich Schokobraun. Mariella verstummte und sah mich ungläubig an. Ihr Gesicht war vom vielen Weinen ganz nass und ihre Unterlippe zitterte leicht. Ich spürte ihre warme Hand an meinem Hinterkopf. Ich lag auf dem feuchten Gras, meinen Oberkörper hatte sie jedoch angehoben. „Mariella“, sagte ich dann leise zu ihr. „Bitte hör auf, mich anzuschreien.“ Ihre Unterlippe begann noch stärker zu zittern, dann wimmerte sie und brach erneut in Tränen aus. Meine Schwester presste mich an sich und weinte. Die Anspannungen der letzten Stunden schienen sich gelöst zu haben und alles brach über sie herein. „Du lebst“, flüsterte sie erleichtert. „Ich dachte schon...“ Sie beendete ihren Satz nicht, aber ich wusste genau, was sie hatte sagen wollen. Ich strich ihr über den Rücken, in dem Versuch, sie zu beruhigen. Wir waren Drillinge. Ohne den anderen zu existieren war für uns unvorstellbar. Wir fühlten was der andere fühlte und um einander zu verstehen, bedurfte es meistens keinerlei Worte. So auch jetzt. Mein Blick fiel auf Seth, der ein paar Zentimeter hinter ihr kniete. Es war also wohl tatsächlich seine Stimme gewesen, die ich vorhin gehört hatte. „Mariella, du erwürgst ihn noch“, sagte Seth und zog meine Schwester sanft zu sich, so dass sie sich – wenn auch nur etwas widerwillig – von mir löste. Sie zog die Nase hoch und wusch sich die Tränen mit dem Handrücken weg. Jetzt erst fiel mir auf, dass neben den beiden noch Edward saß... und... Catriona? „Cat?“, fragte ich verwundert. „Was machst du hier?“ Sie lächelte mich an. „Glücklicherweise, dasselbe wie du: atmen.“ Ich runzelte die Stirn und begann, meinen Blick schweifen zu lassen. Die Ägypter waren vollständig, die Denalis ebenso. Bei den Rumänen waren noch Aurora und Stefan übrig geblieben, bei den Amazonen Senna und Zafrina. Die Iren hatten Liam verloren, die Quileute Collin und Brady. Constance sah ich etwas weiter hinten stehen. Grete und Abhaya hingegen schienen es nicht geschafft zu haben. Plötzlich fiel mir Nahuel ein und meine Augen begannen, nach Sangi zu suchen. Sie saß mit Esme im Gras. Als sich unsere Blicke trafen, versank sie noch etwas mehr in ihrer blauen Decke. Meine Urgroßmutter strich ihr aufmunternd über den Rücken. Sie sahen einander kurz an, dann nickte Esme ihr zu, woraufhin Sangi langsam aufstand. Sie machte zaghaft einen Schritt nach vorn – und dann rannte sie plötzlich strahlend auf mich zu. Ich hatte mich kaum aufgerappelt, da war sie mir schon in die Arme gesprungen. Ich legte meine Arme um sie und drückte sie an mich. Sie löste sich etwas von mir und sah zu mir hinauf. „Ich liebe dich“, flüsterte sie dann. Ich nahm ihr hübsches Gesicht in meine Hände und küsste sie. Es war wahrscheinlich das erste Mal, dass ich vor den Augen anderer jemanden küsste – erst recht vor meiner Familie. Aber ich hatte in den letzten Stunden so vieles erlebt und getan, dass mir auch das jetzt vollkommen egal war. Ich konnte förmlich spüren, wie sich die Atmosphäre um uns herum veränderte. Als wir uns voneinander losgelöst hatten, warf ich einen flüchtigen Blick zu meiner Mutter, die ihre Hände vor dem Mund gefaltet hatte und ein paar Tränen – wohl eher aus Freude, denn aus Trauer – vergoss. Sangreal wand sich, ohne mich loszulassen, an Cat. „Danke“, flüsterte sie ihr zu und ich konnte am Klang ihrer Stimme hören, dass ihre Geste aufrichtig war. Was hatte Cat getan? Wofür dankte Sangi ihr? „Gern geschehen“, antwortete Catriona und lächelte noch immer, wenn auch etwas zaghafter, als noch vor wenigen Minuten. Sie sank kurz den Blick, dann richtete sie ihre Augen wieder auf mich und hob kurz die Mundwinkel. Es war als teilte sie mir stumm mit, dass sie meine Entscheidung zur Kenntnis genommen und akzeptiert hatte. Plötzlich jedoch, rollten sich ihre Augäpfel nach innen, dann schloss sie die Lider und klappte schlagartig zusammen. Um uns vernahm ich erschrockenes Raunen und ein paar erstickte Schreie. Ich ließ Sangreal los und fing Cat auf, bevor sie den Boden berührt hatte, dann richtete ich mich mit ihr auf dem Arm wieder auf. Sofort erschien ihr Vater auf der Bildfläche. Noch eine Person, mit deren Erscheinen ich nicht gerechnet hatte und die mir bis eben auch irgendwie entgangen war. „Gib mir meine Tochter“, sagte er schroff und hob die Arme. Ich legte sie vorsichtig hinein. Er drehte sich sofort um und wollte gerade weggehen, da wand sich Sangreal an ihn. „Was hat sie?“, fragte sie verunsichert. „Sie wird doch nicht...?“ „Wenn du darauf anspielen möchtest, dass sie ihm ihre Lebensenergie geschenkt hat“, sagte er, blieb stehen und sah auf sie herab. „So funktioniert es nicht.“ Dann hob er den Blick wieder und sah mich an. Wir waren nahezu auf Augenhöhe. „Es ist nur sehr Kräfte zehrend, jemanden zu heilen, der bereits mehr tot als lebendig ist.“ Meine Augen verengten sich leicht zu Schlitzen. Jemanden heilen? Wovon genau sprach er da? Hatte sie mich etwa geheilt? Lebte ich deswegen noch? Nein, mehr noch: ich fühlte mich so gut, wie seit langem nicht mehr. Verdankte ich das Cat? Hatte sie mir das Leben gerettet? Was immer sie getan hatte, ihrem Vater schien es ein Dorn im Auge zu sein. Er warf mir einen abwertenden Blick zu, dann drehte er sich ein zweites Mal zum Gehen um. „Moment bitte“, sagte Carlisle dann und hielt ihn erneut auf. Er drehte sich missmutig zu meinem Urgroßvater um. „Bitte kommt mit uns. Sie kann sich auf unserem Anwesen ausruhen. Wir haben mehr als genug Platz.“ Er sah Carlisle an, als habe er ihn eben gefragt, ob er bitte mal eben den Mond vom Himmel holen könne. „Außerdem gibt es noch so manches zu bereden“, schaltete sich Edward ein. Das schien für Cats Vater schon eher ein einigermaßen annehmbarer Grund zu sein, uns zu begleiten. *** „Keinerlei innere oder äußere Verletzungen, keine Anzeichen einer Vergiftung und Blutwerte so perfekt und rein, wie sie es kurz nach deiner Geburt waren.“ Carlisles Diagnose bestätigte, was ich zuvor gespürt hatte: ich fühlte mich gesund wie nie zuvor. Er nickte mir zu und deutete mir so an, dass ich mich wieder anziehen könne. Ich rutschte vom OP-Tisch und zog mein Shirt wieder an. „Catriona hat ganze Arbeit geleistet, wie es aussieht“, sagte Dad, der mit verschränkten Armen am Schreibtisch lehnte. „So viel zum esoterischen Hokuspokus“, neckte Mum ihn. Er verdrehte die Augen, lächelte sie dann aber an. Wir hatten unser Lager am Meer aufgegeben und waren in Gruppen zu unserem Zuhause aufgebrochen. Inzwischen war es wieder hell geworden und wir mussten aufpassen, um nicht gesehen zu werden. Alle Überlebenden versammelten sich in unseren Räumen und begannen zu beratschlagen, wie es nun weiterging. Finn, wie Catrionas Vater sich nach einer gefühlten Ewigkeit endlich vorgestellt hatte, hatte seine Tochter auf unser Sofa gelegt, bis Esme mit dem Herrichten des Gästezimmers fertig sein würde. Er saß wachsam auf der Sofalehne und lauschte den Diskussionen, der sich im Wohnzimmer beratschlagenden Vampire. Als ich mit meinem Vater und meiner Mutter das Zimmer betrat, standen gerade alle um Sam, Paul und Quil herum. „Was gibt es?“, wollte Vater wissen. „Sie sind noch auf der Insel“, antwortete Sam. Er hatte mit einem kleinen Teil seines Rudels die Umgebung ausgekundschaftet. „Wie viele sind es?“ „Nicht mehr sonderlich viele“, antwortete Paul. „Ein Bruchteil ist übrig geblieben“, sagte Sam. „Caius haben wir gesehen“, präzisierte Quil. Beim Klang seines Namens knurrte und fauchte es im Raum leicht. „Und Jane. Dann noch diese Frau.“ „Heidi“, erinnerte sich Mum an das Biest, das sie festgehalten hatte. Quil nickte. „Renata müsste auch noch leben“, meinte Edward dann. „Und noch einer der Anführer“, sagte Aurora. „Marcus, das stimmt. Und die Frauen natürlich.“ „Ein paar einfache Wachen haben wir auch noch gesehen“, erzählte Quil. „Zwei hat Ani getötet, als wir geflohen sind“, sagte Mum. „Wir sollten sie angreifen!“, brüllte Stefan. „Jetzt ist unsere Chance!“ „Immer mit der Ruhe“, beschwichtigte Edward. Hinter uns betrat Leah den Raum. Niemand außer mir achtete auf sie. Sie packte gerade ihr Smartphone weg. Sangreal war schneller bei ihr, als das Display erlosch. „Wie geht es Nayeli?“, fragte sie besorgt. Leah lächelte sie an. „Den Kindern geht es gut. Sie sind in den besten Händen. Sie vermissen natürlich ihre Mamas.“ Mit einem Mal, kam mir wieder in den Sinn, was ich vor kurzem erlebt hatte. Ich schritt eilig auf meine verwitwete Schwägerin zu und nahm ihren Unterarm und zog sie davon. „Komm“, sagte ich, auf ihren fragenden Blick hin und ging mit ihr in die Küche. „Was ist los?“, fragte sie perplex. „Ich hab ihn gesehen“, antwortete ich. Sie runzelte die Stirn. „Will“, sagte ich. „Ich hab mit ihm gesprochen.“ Jetzt wurde ihr Blick noch ungläubiger. „Was?“, hauchte sie. „Wie? I-Ich ich meine: Wo?“, stammelte sie dann. „Das weiß ich nicht.“ „Bist du dir sicher? Vielleicht hast du nur geträumt oder fantasiert? Du wärst vorhin fast gestorben, Ani.“ „Ich weiß... aber“, ich suchte kurz nach den passenden Worten. „Ich war mir ja selbst als er vor mir stand nicht sicher, ob er ein Traum war oder ein Geist, aber dann ist mir klar geworden, dass das egal ist.“ „Warum?“ „Wegen seiner Worte. Alles was er mir erzählt hat, waren seine Worte. Er hätte sie garantiert genau so gesagt. Es ist nicht wichtig, was er war, solange wir uns in Erinnerung rufen, wie er war.“ Leah sah hinab zu den Fliesen. Mir entging nicht, dass sie mit den aufkeimenden Tränen zu kämpfen hatte. „Was hat er denn gesagt?“ „Dass keine Worte der Welt dir hätten sagen können, was er für dich empfindet und wie sehr er es bedauert, dich allein lassen zu müssen. Dass du sein Herz kanntest, wie sonst niemand auf der Welt. Und ihr euch praktisch eines geteilt habt. Welche letzten Worte du dir von ihm auch immer gewünscht hättest, wäre er in der Lage gewesen, sie dir mitzuteilen, er hätte sie genau so gesagt.“ „Das stimmt“, sagte sie. „Das hätte er.“ Ich nickte. „Und dann hab ich ihm von Billy-Sue erzählt. Er meinte er wüsste über ihre Geburt Bescheid und dass er sich sicher ist, dass du sie zu einer starken, selbstbewussten, hübschen, jungen Frau erziehen wirst.“ Leah lachte und vergoss dabei nun schließlich doch ein paar Tränen. Und dann geschah etwas, womit ich niemals gerechnet hätte: sie machte einen Schritt auf mich zu und nahm mich unvermittelt in den Arm. „Danke“, flüsterte sie mir zu, ehe sie mich wieder losließ. Ich lächelte sie leicht an. Ich wusste ihre Annäherung zu schätzen, trotzdem war es ein komisches Gefühl gewesen. Wir waren zueinander immer ganz besonders distanziert gewesen. Sie schien meine Unsicherheit zu spüren und sah mich etwas verlegen an. „Wir sollten zu den Anderen zurück.“ Im Wohnzimmer waren die Diskussionen noch immer in vollem Gange. „Lee-Lee“, begrüßte Sam Leah, nahm ihre Hand und drückte sie. „Alles okay?“ Sie nickte ihm zu. „Ich denke, es ist ausgeschlossen, dass du hier bleibst, wenn wir jetzt da rausgehen und den Rest unserer Feinde kalt machen?“, fragte Dad. „So ist es“, bestätigte ihm die Quileute. Er verdrehte die Augen. Die meisten unserer Verbündeten brachen nun auf, um hoffentlich zum letzten Mal gegen die Volturi anzutreten. Als schließlich Leah und Seth, direkt nach Sam, an meinem Vater, der neben der Tür stand, vorbei nach draußen schritten, folgte ich ihnen. Ich wollte gerade an ihm vorbei gehen, da legte er mir die Hand auf die Brust und schob mich sanft ein Stück zurück. Ich sah ihn verdutzt an. „Du nicht“, sagte er dann in einem Tonfall, der keinerlei Widerwort zuließ. „Was?“, fragte ich empört. „Dad, das ist nicht fair!“ „Das ist vernünftig“, wollte er mir weiß machen. „Mir geht es gut!“, erwiderte ich. „Ich kann kämpfen, genau wie alle anderen auch!“ „Das weiß ich“, sagte er. „Aber ich kann es nicht, wenn ich dich nicht in Sicherheit weiß. Ich möchte, dass du mit deiner Schwester und deiner Mutter hier bleibst.“ „Dad, lass mich Caius' Kopf abhacken!“, knurrte ich. „Er wird seinen Kopf heute verlieren, Ani, aber nicht durch dich.“ „Nein!“, protestierte ich. „Bitte hör auf deinen Vater, wenigstens dieses eine Mal“, schaltete sich nun Mum ein. „Wenn du es nicht für mich tun willst“, sagte Dad. „Und auch nicht für deine Mutter oder deine Schwester, dann tu es wenigstens für Sangreal.“ Ich funkelte ihn finster an. Die Schiene, die er nun fuhr, war ganz und gar nicht mehr fair, aber er setzte noch einen drauf. „Und wenn du es selbst für sie nicht tust, dann wenigstens für dein ungeborenes Kind.“ Ich knirschte mit den Zähnen und ballte die Hände zu Fäusten. „Wenn du an meiner Stelle wärst“, konterte ich dann. „Würdest du dann hier sitzen bleiben, während andere in die Schlacht ziehen?“ Ich war zwar nicht dabei gewesen, als meine Familie gegen die Neugeborenenarmee von Seattle angetreten war, aber sie hatten mir davon erzählt. Damals hatte Dad es sich nicht nehmen lassen, mitzukämpfen, obwohl Bella ihn darum gebeten hatte, es nicht zu tun. Das Ende vom Lied war, dass er sich sämtliche Knochen gebrochen hatte und um eine Erfahrung reicher geworden war. Ich wollte meine Erfahrungen nicht missen. Dad antwortete nichts auf meine Frage hin. Er musterte mich stumm, wohl wissend, dass ich Recht hatte. „Du würdest gehen“, schlussfolgerte ich. „Und Mum würde es nicht toll finden, aber sie würde es hinnehmen. Genau wie sie es gerade tut. Sangreal kennt mich genauso.“ „Würdest du?“ Einige Meter hinter mir vernahm ich Sangreals leisen Sopran. Als ich mich langsam umdrehte sah ich, wie sie auf mich zuschritt. „Würdest du es tun? Hier bleiben, wenn ich dich darum bitte?“ Kurz vor mir blieb sie stehen und sah mit ihren silbergrauen Augen zu mir empor. Ich sah Unsicherheit in ihnen und Angst. Ich kniff die Augen zusammen, seufzte und presste die Stirn gegen den Türrahmen, in dem ich stand. Ich würde es mir nie verzeihen, wenn ihr während meiner Abwesenheit etwas passierte. Es musste ja schon reichen, dass sie sich aufregte und aus Sorge ihr Kind verlor oder dergleichen. Nein, das konnte ich mit meinem Gewissen auf gar keinen Fall vereinbaren. Warum musste mein Vater nur zu so fiesen Mitteln greifen? Ich löste mich von dem Holz und warf einen Blick zu ihm. „Danke“, sagte ich sarkastisch, dann machte ich auf dem Absatz kehrt und ging in mein Zimmer in den Keller... Kapitel 26: Für die Ewigkeit ---------------------------- Angesäuert ließ ich mich mit dem Gesicht voraus auf mein Bett fallen. Ohne aufzusehen, griff ich nach dem nächstbesten Kissen, kniff die Augen zusammen, legte mir den Stoff, gefüllt mit Daunenfedern, gegen den Hinterkopf und presste die Enden des Kissens dann gegen die Ohren. Aber es wäre naiv von mir, zu glauben, dass es die Geräusche würde schlucken können. Ich hörte noch immer ganz genau, was ich zu ersticken versuchte, was ich nicht hören wollte: meine Familie und unsere Verbündeten bei ihrem Aufbruch in Richtung unserer Feinde. Ich vernahm jeden einzelnen ihrer Schritte, obwohl ich es nicht wollte – oder gerade deswegen. Es war als wolle man an nichts denken. Man dachte doch immer etwas. Ich wollte sie nicht hören und konzentrierte mich dadurch umso mehr auf sie. Die Vampire waren am leisesten. Cats Vater konnte ich unter ihnen nicht wirklich einzeln ausmachen. Vielleicht war er einer von jenen, die minimal lauter waren, als der große Rest, vielleicht war es aber auch einfach nur Rosalie, die nicht so kampferprobt wie beispielsweise Jasper war. Die Wölfe hingegen hörte ich ziemlich gut. Ich war selbst einer von ihnen. Ich kannte das Geräusch auf dem Waldboden kratzender Krallen und Pfoten. Kurze Zeit später teilten sie sich alle in mehrere kleine Gruppen, gemischt aus Vampiren und Gestaltwandlern, auf. Und dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, war auch der letzte von ihnen aus meinem Radius verschwunden und ich atmete aus irgendeinem, mir unerfindlichen Grund erleichtert auf. Seufzend lockerte ich den Druck auf mein Kissen, drehte mich auf den Rücken und schob es mir unter den Kopf. Einige Minuten starrte ich zur Decke, betrachtete den Putz und die zarten Risse darin. Für menschliche Augen waren sie wahrscheinlich unsichtbar. Nicht mal ein kleiner Käfer würde sich durch sie quetschen können, so winzig waren sie. Irgendwie fühlte ich mich gerade selbst ziemlich winzig, wenn ich so darüber nachdachte. Obwohl ich kämpfen konnte und es auch wollte, hatten sie mich hier mit den Mädchen zurückgelassen. Natürlich hatten sie es so hingedreht, als müsse ich hier bleiben, um das schwache Geschlecht zu beschützen, aber erstens war ich relativ sicher, dass die Gefahr nun eher da draußen war als hier drinnen und zweitens war ich dem Alter, in dem man mir auf diese Art Honig um den Mund schmieren konnte, längst entwachsen. Es war wie beim Untergang der Titanic: Frauen und Kinder zuerst. Mich hatten sie mit ins Rettungsboot gesetzt. Lächerlich. Als ich hörte, dass jemand die Treppe hinab in den Keller nahm, schloss ich erneut die Augen und versuchte mich zu beruhigen. Ich wusste genau, wer sich da meinem Zimmer näherte. Ich wusste, wessen wunderschönen Körper diese Füße trugen. Ich kannte den Grauton ihrer Augen. Ich wusste, wie es sich anfühlte, ihre seidenen braunen Haare durch meine Finger gleiten zu lassen. Sie salzte menschliche Nahrung in aller Regel nach und trank, wie auch meine Mutter, am liebsten Blutorangensaft. Sie las gern und mochte keine Horrorfilme. Ihre Lieblingsfarbe war Rot. Sangreal öffnete vorsichtig die Tür, trat flüsterleise ein und schloss sie hinter sich. Sie lief um das Bett herum und krabbelte auf meiner rechten Seite darauf. Ihr Gewicht ließ die Matratze auf einer Seite leicht absinken. Dann spürte ich, wie ihre Finger mein Gesicht streichelten. Ich öffnete langsam meine Augen und musterte sie, ohne etwas zu sagen. Sie schenkte mir ein warmes Lächeln. „Es tut mir Leid, dass ich die geweckt habe. Schlaf ruhig weiter.“ Ich schüttelte den Kopf, legte meine Hand an ihre. „Es ist komisch. Körperlich fühlt es sich so an, als hätte ich die letzten Monate geschlafen und sei endlich aufgewacht. Geistig ist es, als hätte jemand mit einem Kochlöffel in meinen Gedanken und Erinnerungen herum gerührt.“ Ihre Augen wurden mit einem Mal glasig. „Ich dachte, ich hätte dich verloren“, flüsterte sie. Ein paar Tränen quollen aus ihren Augen hervor und rannen über ihre zarte Haut. Ich setzte mich auf, nahm ihr Gesicht in meine Hände und wusch sie mit den Daumen weg. „Hast du nicht.“ Doch sie ließ sich nicht wirklich davon beruhigen. „Wenn Catriona nicht... wenn sie... ich meine... ich weiß nicht, was ich getan hätte...“ „Scht... scht...“, redete ich weiter auf sie ein. „Ich bin hier. Und ich werde bei dir bleiben, wenn du mich noch haben willst.“ Ihr Schluchzen verstummte plötzlich. „Was?“, fragte sie. „Warum sollte ich das nicht wollen?“ Sie zog die Nase hoch und sah mich verwundert an. Ich ließ sie los, stützte mich mit den Unterarmen auf der Matratze ab und hob den Oberkörper. „Nun, bevor das alles passiert ist, wolltest du mich verlassen, erinnerst du dich nicht?“ „Doch“, antwortete sie. „Aber... aber das war weil ich wütend war und enttäuscht.“ Sie wand den Blick von mir ab und musterte stattdessen das Bettlaken. In mir kroch ein unwohles Gefühl empor. Hatte ich jetzt alte Wunden aufgerissen, die besser hätten verschlossen bleiben sollen? Erwartungsvoll fixierte ich das Mädchen vor mir. Ich konnte gar nicht anders, als sie anzusehen, während mein Herz schneller zu schlagen begann. „Okay“, ergriff sie dann wieder das Wort und sah mich an. „Ich kann dir verzeihen, was du getan hast, aber ich kann die Bilder nicht vergessen, die ich vor meinem inneren Auge gesehen hatte, als ich den Brief las. Ich glaube, ich habe nur eine Wahl, um sie loszuwerden.“ „Und die wäre?“, fragte ich. „Ich muss sie mit der Wahrheit überschreiben.“ „Was?“ „Ja“ betonte sie. „Ich möchte, dass du mir – bis ins Detail – erzählst, was du mit ihr gemacht hast.“ Jetzt war ich es, der schluckte. War sie masochistisch veranlagt? War das wirklich ihr voller Ernst? „Bist du dir sicher?“, hakte ich vorsichtig nach. „Ja“, versicherte Sangi mir. Ich schluckte nochmal leise. Jetzt war ich es, der das Laken anstarrte. „Okay... wo fange ich an...?“, fragte ich eher mich selbst als sie, doch sie antwortete darauf, als hätte ich die Frage an sie gerichtet. „Am besten vorne.“ „A- also... das war an dem Tag, an dem ich behauptet hatte, in die Stadt zu fahren, um nachzusehen, ob unsere Gäste auch ja abseits jagten.“ Während ich sprach, sah ich genau, dass die aufgedeckte Lüge sie traf, doch sie hörte tapfer zu und schwieg. „Ich bin stattdessen zu Cat gegangen, weil ich sie um Unterstützung bitten wollte. Sie und ihren Vater. Ich wusste, dass er dazu fähig war, Vampire zur Strecke zu bringen und deswegen wollte ich sie beide für unser Vorhaben gewinnen. Als ich bei ihr ankam, war ihr Vater zum Glück gerade weggefahren. Ich wollte also mit ihr allein sprechen und bin über das Fenster in ihr Haus eingestiegen. Sie...“, ich unterbrach kurz. „Sie war gerade unter der Dusche.“ Sangreal sah kurz verstört weg, nickte mir dann aber zu und deutete mir damit an, dass ich weitererzählen solle. „Wir hatten einander kaum gekannt, da hatte sie mich schon küssen wollen, daher wusste ich, dass sie etwas von mir wollte und es war für mich der einfachste und schnellste Weg, sie davon zu überzeugen, mir zu helfen, also... also hab ich es auf der Schiene probiert und bin ganz gut damit gefahren. Sie ist ziemlich schnell darauf angesprungen. Wir haben uns geküsst und sie fing an mich auszuziehen.“ Sangi sah erneut weg. „Als ich merkte, was ich da tat, habe ich gezögert, aber Cat hat sich nicht beirren lassen.“ Ich hielt inne. Nun war er also da, der Moment der Wahrheit, aber da musste ich wohl durch. In vollem Bewusstsein, das meine nächsten Worte das Aus für ein Leben mit Sangreal bedeuten konnten, fuhr ich fort. „Ich wusste, dass es falsch war, was ich tat. Dass es dir gegenüber nicht fair war und das ich alles aufs Spiel setzte, was mir etwas bedeutet, aber die Volturi haben mir auch vieles genommen, was mir etwas bedeutet hatte und sie fallen zu sehen, war mir in diesem Moment wichtiger als alles andere. Dafür wäre mir fast jedes Mittel recht gewesen und wäre ihr Vater dann nicht aufgekreuzt...“ - ich hielt erneut inne, jetzt gab es kein zurück mehr - „wäre ihr Vater nicht aufgekreuzt, hätte ich wahrscheinlich sogar mit ihr geschlafen.“ Ich wusste nicht, warum ich auch noch einen drauf setzte und ihr statt dem tatsächlich Geschehenen auch noch erzählte, was hätte passieren können. Vielleicht war ich es ja, der masochistisch veranlagt war. Vielleicht war ich aber auch einfach nur dumm. Sangreal hatte mich die ganze Zeit über nicht mehr angesehen. Sie schloss die Lider und vergoss abermals einige dicke Tränen, doch ich wagte es nicht, mich zu bewegen, um sie wegzuwischen. „Es tut mir Leid“, war alles, was ich noch sagen konnte, dann schwiegen wir einander an. Zuerst nur ein paar Sekunden, aus denen dann Minuten wurden. Minuten die mir wie Stunden oder gar Tage vorkamen. „Ich weiß“, sagte sie schließlich. Ihre Worte waren zeitlich derart versetzt zu meinen, dass ich einen Moment brauchte, um sie zuzuordnen. Meine Mundwinkel hoben sich zögernd zu einem unsicheren, leichten Lächeln, sanken dann aber wieder rasch, als Sangi wieder nach unten sah. Zwei ihrer Finger griffen nach einem Zipfel meiner Jacke, dann sah sie mich wieder an. „Empfindest du etwas für sie?“ Ich haderte einen Moment mit mir selbst. Sollte ich wirklich noch ein weiteres Mal die volle Wahrheit sagen oder sie mit einer Lüge schonen? „Da gab es...“, die Worte fielen mir schwer, hatte ich doch das Gefühl, dass sie mich weiter von ihr entfernten. Andererseits jedoch musste ich sie aussprechen, sonst würde immer etwas zwischen uns stehen, „eine gewisse Anziehung, zwischen ihr... und mir.“ Ihre Finger lösten sich von mir, doch es waren kaum zwei Zentimeter zwischen ihrer Haut und dem Stoff gekommen, da griff ich nach ihrer Hand. „Aber das ist gar nichts, im Vergleich zu dem, was ich für dich empfinde.“ Sie starrte mich an und warf einen flüchtigen Blick auf meine Hand, die ihre festhielt. „Was ist es?“ Ich ließ ihre Hand los, rückte vorsichtig noch etwas näher an sie heran und nahm ihr Gesicht wieder in meine Hände, dann sah ich sie eindringlich an. „Ich liebe dich.“ Diese drei Worte. Die magischen drei Worte. Die Worte, die ich nie zuvor zu jemandem gesagt hatte. Meine Eltern sagten sie einander tagtäglich. Meine Schwester und Seth ebenso. Carlisle und Esme, Alice und Jasper, Rose und Emmett, meine Großeltern. Ich hörte sie andauernd. Aber ich selbst hatte nie das Bedürfnis gehabt, sie auszusprechen. Es hatte in meinem Leben nie jemanden gegeben, dem ich sie hätte sagen können. Es hatte nie jemandem gegeben, für den ich so empfunden hatte. Dreißig Jahre lang nicht, trotz all der Menschen, denen ich begegnet war und nun saß sie da, auf meinem Bett und starrte mich an. Ich war mir nicht ganz sicher, ob sie wusste, was das bedeutete. Ob sie wusste, dass sie die Einzige war in dreißig Jahren. Plötzlich zog sie meine Hände von ihrem Gesicht, legte sie stattdessen an ihre Taille, umschlang mit ihren Armen meinen Hals und küsste mich derart stürmisch, dass ich nach hinten kippte und mit ihr auf mir zurück auf die Kissen sank. Das Gefühl ihrer Lippen auf meinen, war in diesem Moment weit schöner noch als der Genuss menschlichen Blutes. Ich legte meine Hände an ihren Rücken und tauschte dann in einer einzigen fließenden Bewegung die Position mit ihr, ohne dass wir uns dazu voneinander lösen mussten. Anschließend ließ ich von ihren Lippen ab und küsste stattdessen zunächst ihren Hals, dann ihr Schlüsselbein, während ich mit den Händen unter ihren Pullover fuhr. Durch meine Berührung von einer Gänsehaut erfasst, krümmte sie kurz den Rücken und meine Finger nutzten, mehr instinktiv denn gezielt, die Chance und öffneten die kleinen Häkchen ihres BHs, den ich daraufhin unter ihrem Pullover hervor zog und zur Seite legte. Warum ich ausgerechnet jetzt so eine Lust nach ihr verspürte, wusste ich nicht. Vielleicht war es allein dem befreienden Gefühl geschuldet, dass sich in mir ausgebreitet hatte, nun da ich wieder eine gemeinsame Zukunft mit ihr vor mir sah. Vielleicht war es aber auch das dringende Bedürfnis zu vergessen, dass ich eigentlich zu meinem Vater auf das Schlachtfeld wollte. Sangreal jedenfalls, schien es ähnlich zu gehen. Bereitwillig strich sie sich die Hausschuhe von den Füßen, als ich ihr die Hose auszog und ihre Beine streichelte. Ich beugte mich noch einmal zu ihr herab und küsste ihren Hals, dann wanderte ich langsam immer tiefer, bis hin zu ihrem Bauchnabel. Mit einem Mal überkam mich währenddessen ein seltsames Gefühl. Ursprünglich hatte ich natürlich im Sinn gehabt, noch tiefer zu wandern, aber aus irgendeinem Grund, hielt ich nun inne. War es wirklich ein kleiner, flatternder Herzschlag, den mein feines Gehör da wahrnahm? Mein Herz begann bei dem Geräusch selbst etwas zu rasen und dann erstarrte ich plötzlich. „Ani?“, fragte Sangreal besorgt und hob den Kopf etwas, um nach mir zu schauen. „Ist alles okay?“ Ich antwortete nicht und horchte stattdessen. Es war aber nicht der Herzschlag meines Kindes, der mich nun so fesselte, sondern das kaum hörbare Quietschen des Scharniers eines Fensters im ersten Stock. Das Gästezimmer befand sich zwar ebenfalls dort, doch konnte ich durch die Schritte, Herzschläge und Stimmen der Personen, die mit mir hier geblieben waren, deren Standort ausmachen. Zum jetzigen Zeitpunkt befanden sie sich alle im Erdgeschoss. Ein Geruch, den ich vage zu kennen glaubte, der jedoch keinesfalls auf eines meiner Familienmitglieder passte, bestätigte meinen Verdacht. „Ani?“, fragte Sangreal erneut und hatte sich inzwischen aufgesetzt. „Da ist jemand im Haus“, antwortete ich leise. „Was?“, fragte sie verwundert. Ich gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn. „Warte hier.“ „Ani warte!“, rief sie mir nach, als ich aus dem Zimmer fegte. Die Eindringlinge waren inzwischen im Erdgeschoss und in jenem Augenblick, in dem sie das Wohnzimmer betraten und Mariella, Esme und meine Mutter sie entsetzt anstarrten, raste ich auf eine der beiden zu und presste sie knurrend gegen die gegenüberliegende Wand. „Athenodora!“, brüllte die zweite Vampirin sogleich. In der Tat, vor mir versuchte Caius Gefährtin vergebens sich aus meinem Griff zu befreien. „Sulpicia“, röchelte diese zur Antwort ihrer Freundin zu. „Wer ist das?“, fragte meine Mutter. „Die Ehefrauen der Volturi-Oberhäupter“, antwortete Esme. Athenodoras Augen starrten mich angsterfüllt an, während ihre Hände weiterhin an meinem Arm zerrten. „Na, wie ist das?“, zischte ich unter zusammengebissenen Zähnen wütend hervor. „Dieses Gefühl von Hilflosigkeit, das man verspürt, wenn man auf die Gnade anderer angewiesen ist, während diese es regelrecht genießen, dich leiden zu sehen?“ „Bitte lass sie los!“, schrie die Zweite mich an. Sie schienen alles andere als Kampferprobt zu sein. Wie sonst war es zu erklären, dass sie keine Anstalten machte, mich mit Gewalt von Athenodora wegzuzerren? Dann hörte ich schnelle Schritte. Sangreal rannte die Kellertreppe hinauf, blieb kurz im Türrahmen stehen und eilte dann zu mir. Zu meiner Verwunderung griff nun auch sie nach meinem Arm. „Ani, bitte lass sie los!“ Ich starrte sie mit großen Augen an. Sie atmete hastig und trug meinen schwarzen Morgenmantel. Wahrscheinlich hatte sie sich das erstbeste übergezogen. „Warum?“, fragte ich ungläubig. „Hast du vergessen, was sie getan hat?!“ „Das war doch nicht sie! Das war Caius!“ „Es tut mir aufrichtig leid“, presste Athenodora nun hervor. „Was mein Gefährte dir antat, ist mit Worten keinesfalls zu entschuldigen. Ich kann dir aber versichern, dass es nicht seine sadistische Ader ist, die ich an ihm schätze. Hätte ich die Möglichkeit gehabt, hätte ich ihn aufgehalten.“ Aus meiner Kehle kam unwillkürlich ein erneutes Knurren. „Ani, bitte!“, bat Sangi erneut. Widerwillig löste ich meinen Griff um Athenodoras Hals und machte einen Schritt zurück. Sangreal stellte sich direkt vor mich, legte ihre Hände auf meine Brust und ihren Kopf seitlich auf ihre Handrücken. Caius Gefährtin rieb sich erleichtert den Hals. „Danke“, flüsterte sie. „Dank nicht mir“, antwortete ich und drückte meine Freundin beschützend an mich. Sulpicia näherte sich zaghaft und umarmte ihre Athenodora, bevor sie das Wort an mich richtete: „Wir hatten nicht damit gerechnet, dass hier noch jemand ist, nachdem wir gesehen hatten, wie alle das Haus verließen.“ Zweifellos hatte das behütete Leben in Volterra ihren Tribut gefordert. Jeder normale Vampir hätte gehört und gerochen, dass sich Personen im Haus befanden, egal wie leise diese waren. „Wie auch immer“, sagte ich. „Ich würde euch raten, jetzt ganz schnell das Weite zu suchen.“ Die Vampirfrauen nickten und verließen dann eilig das Haus durch die Terrassentür, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ich seufzte, als sie außer Hörweite gelaufen waren. „Sie waren allein. Das bedeutet wohl, das Corin tot sein muss“, mutmaßte Sangreal. „Möglicherweise“, antwortete ich. „Sie werden bald alle tot sein“, sagte Mariella. „Möglicherweise“, wiederholte ich mich. Hinter uns vernahm ich ein leises Stöhnen. „Sie kommt zu sich“, rief Esme und ging hinüber zum Sofa, auf dem Catriona, eingewickelt in eine dunkelblaue Decke aus Angorawolle lag. Meine einstige Schulkameradin hielt sich müde die Hand an ihren, offensichtlich brummenden Kopf und setzte sich langsam auf. „Wie fühlst du dich?“ Esme hatte sich an die Kante gesetzt und reichte ihr ein Glas mit klarem stillem Wasser. „Wie nach einer durchzechten Nacht“, antwortete Cat und nahm das Glas entgegen. Ich lachte kurz auf. Ihre Schlagfertigkeit war schon immer einer jener Charakterzüge gewesen, die mich am meisten fasziniert hatten. Als ich mich ihr näherte, sah sie auf. „Du bist ja noch da.“ Ich nickte. „Dank dir.“ „Das meine ich nicht“, korrigierte sie mich. „Soll ich dich in dein Zimmer bringen?“, fragte ich, nur um dem leidigen Thema zu entgehen, dass sich da anbahnte. Ich war mir ziemlich sicher, dass sie es nicht verstand, dass ich nicht mitkämpfte. Wie sollte sie, ich verstand es ja selbst nicht? „Schon in Ordnung“, meldete sich Esme. „Ich mache das.“ Sie half Cat auf, welche ihren Arm um Esmes Hals legte, dann gingen beide in den ersten Stock. Als ich aufgehört hatte, ihnen hinterher zu gucken, sah ich gerade noch, wie Sangreal sich aufs Sofa setzte und die Arme um die Beine schlang. Ich setzte mich neben sie. „Bist du nicht müde?“ „Doch“, antwortete sie. „Aber ich kann nicht schlafen, wenn ich weiß, dass deine Familie da draußen ist und ihr Leben riskiert.“ Ich nickte. Sie ließ sich leicht zur Seite kippen und lehnte sich an mich. „Darf ich dir jetzt mal eine Frage stellen?“, fragte ich sie nun. Sie hob den Kopf und sah mich verwundert an. „Was ist passiert, nach dem du nach La Push geflogen warst?“ Sie überlegte kurz. „Nun... mir war schon im Flugzeug ziemlich schlecht, aber ich hab es auf die Nervosität geschoben. Jedenfalls hab ich Nayeli wie besprochen bei Leahs Babysitterin abgeliefert. Und dann, im Bad, da war dieser Schwangerschaftstest.“ Sie gestikulierte mit den Händen. „Mir war langweilig und er war auch schon etwas älter. Ich dachte zuerst er sei kaputt, als ich das Plus sah und dann bin ich zum Spiegel gegangen. Da war diese Wölbung und auf einmal ergab alles einen Sinn und meine Wut auf dich war wie weggeblasen. Ich wollte nur noch zurück. Also bin ich in den Flieger nach Irland gestiegen.“ Sie nahm einen Augenblick Luft. „Auf der Taxifahrt fingen sie mich dann ab. Sie standen plötzlich auf der Straße. Dann töteten sie den Fahrer und zerrten mich aus dem Wagen. Sie zwangen mich dazu, Nahuel zum Flughafen zu lotsen. Ich hab sie angefleht, ihn und dich da rauszuhalten. Naiv wie ich war, glaubte ich, dass ich euch schützen könnte, wenn ich ihnen anbot, sie nach Volterra zu begleiten. Ich war bereit, das Leben meines Kindes und mein eigenes Leben dafür zu opfern, aber es war ihnen egal.“ Erneut begann Sangreal zu weinen. „Im Wald fingen sie dann Nahuel ab. Zu allem Übel, war er in Begleitung deiner Mutter und deiner Schwester. Für die Volturi war das ein Glücksgriff. Sie töteten Nahuel und nahmen uns alle als Köder für dich.“ Meine Augen weiteten sich. „Du weißt, dass Nahuel tot ist?“ Sie nickte zaghaft und strich sich eine Träne vom Gesicht. „Er war wie ein großer Bruder für mich. Ich spüre, dass er nicht mehr da ist.“ Ich nickte abermals. Ich wusste genau, wovon sie sprach. Dieses Gefühl von Leere, wenn eine wichtige Person ging. Es gab nichts auf der Welt, das dieses Loch jemals gänzlich würde füllen können. Mein Bruder hatte ein solches in meinem und den Herzen meiner Familie hinterlassen. Und in diesen Sekunden war stets die Angst davor in mir präsent, dass es noch mehr werden könnten. Ich war mir sicher, dass wir, die wir hier zurückgelassen wurden, alle diese Angst gerade spürten und doch saßen wir nur stumm da oder unterhielten uns, als warteten wir darauf, dass unsere Familienmitglieder vom Einkaufen zurückkamen. Es machte mich wahnsinnig. Ruckartig erhob ich mich. Sangreal sah verwundert zu mir hinauf. „Ich gehe“, sagte ich zu meiner Mutter und meiner Schwester gerichtet, die sich derart langsam umdrehten, als hätten sie einen Geist gesehen. Mariella ging energisch auf mich zu. „Nein!“, presste sie unter zusammengebissenen Zähnen hervor. Ich ignorierte sie und sah stattdessen weiter unsere Mutter an. „Ich muss.“ Renesmee schritt stumm an mir vorbei und setzte sich neben Sangreal auf das Sofa. „Mum“, schimpfte Mariella, doch sagte diese nach wie vor kein Wort und starrte ins Leere. Ich trat vor sie, kniete mich auf den Fußboden und sah zu ihr hinauf. „Ich fühle, dass sie Probleme haben und ich weiß, dass du es auch fühlen kannst, Mutter.“ Sie hob ganz langsam den Blick. Ihre schokoladenbraunen Augen blickten traurig in die meinen, als sie ihre zarte Hand an meine Wange legte. Die Bilder schossen mir sofort in den Kopf und nahmen vor meinem inneren Auge Gestalt an. Innerhalb weniger Sekundenbruchteile sah ich mich mehrfach bewusstlos irgendwo liegen. Ich sah beide Male, in denen Caius mich biss und ebenso sah ich mich deswegen zwei Mal zusammenbrechen. Ich sah mich selbst in meiner Tierform. Zunächst als Wolf, dann als Vogel. Ich sah wie die Wälder immer kleiner wurden, je höher der Vogel stieg und dann sah ich, wie die Erde wieder näher kam. Es war seltsam alles aus der Perspektive eines anderen zu sehen. Als ich dann sah, wie Mariella verzweifelt an meinem leblosen Körper rüttelte, nahm ich ihre Hand aus meinem Gesicht, hielt sie fest und legte meine zweite Hand schützend darüber. „Es wird kein drittes Mal geben, Mutter. Ich werde ihm dazu keine Chance geben.“ Sie begann zu schluchzen, als ich sie ansah. „Ich verspreche es“, versicherte ich ihr, doch sie hörte nicht auf zu weinen. Schweren Herzens ließ ich meine Mutter los und stand auf. Als ich mich zum Gehen umdrehte, griff Mariella nach meinem Unterarm. „Nein!“, sagte sie bestimmt. Unbeeindruckt von ihrem Befehlston drehte ich mich um und sah sie ausdruckslos an. Sie ließ sich davon jedoch nicht beirren. „Du kannst nicht gehen. Du bist Sangreal zu liebe hier geblieben also zieh das auch bis zum Ende durch!“ „Seit wann scherst du dich um Sangreal, Mariella?“ Sie öffnete den Mund, schloss ihn wieder und begann dann, unsicher zu stammeln. „Ich... seit... ähm... ich. Schon immer.“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich habe dir immer schon gesagt, dass ich sie schätze, weil du sie schätzt. Ich weiß wir hatten unsere Differenzen, aber angesichts der aktuellen Situation-“ „Die aktuelle Situation?“, hakte ich nach und betonte dabei ihre Worte. „Redest du davon, dass dein Seth gerade da draußen ist und sein Leben riskiert und unser Vater ebenso?“ „Mir ist auch nicht wohl bei dem Gedanken, aber was kann ich tun? Ich bin nur ein Halbvampir der keinerlei Kampferfahrung hat. Ich wäre nur im weg und ich wollte Seth nicht dazu zwingen hier zu bleiben, während sein Rudel da draußen kämpft.“ „Ach, so ist das“, sagte ich. „Aber bei mir geht das in Ordnung?“ „Das ist etwas anderes!“, protestierte meine kleine große Schwester energisch. „Du bist erst seit kurzem im Rudel.“ „Mein Vater ist Teil dieses Rudels, Mariella“, erinnerte ich sie. „Du wärst im letzten Jahr zweimal durch Caius' Biss fast gestorben!“ „Aber ich bin es nicht. Ich stehe immer noch hier.“ „Ja“, bestätigte sie. „Weil du verdammt viel Glück hattest, dass Cat solche Fähigkeiten hat.“ Langsam trieb sie mich zur Weißglut. Ich erinnerte mich nicht an all zu viele Konfliktsituationen mit meiner Schwester, traten sie dann aber doch ein, konnten sie durchaus ausschweifender werden. „Hättest du getan, was man dir gesagt hat und statt aller zehn nur sieben Spritzen mitgenommen, hätte ich weder das Glück noch Cats Fähigkeiten gebraucht!“ Und da hatte ich ihn prompt erwischt. Mariellas wunden Punkt. Es war nicht so, als hätte ich es gezielt darauf abgesehen gehabt, es war mir mehr einfach so heraus gerutscht. Dementsprechend tat es mir auch direkt wieder Leid, was ich soeben gesagt hatte, nun da auch meine Schwester bitterlich zu weinen begann. Mit zittrigen Lippen drehte sie sich um, hielt sich dann eine Hand vor den Mund und lief davon. Einen Augenblick lang spielte ich mit dem Gedanken, ihr hinterher zu laufen, ließ es dann jedoch sein. Vielleicht war es besser so. Niedergeschlagen wand ich mich erneut zum Gehen um. „Warte“, sagte meine Mutter und stand vom Sofa auf. Im ersten Moment dachte ich, sie wolle mich wegen meiner Worte tadeln oder gar aufhalten. „Ich komme mit.“ Mir klappte der Mund auf. „Was?“ Sie nickte als hätte sie mir etwas Nichtiges bestätigt. „Du hast recht. Irgendetwas stimmt nicht und die Ungewissheit ist kaum erträglich.“ „Also gut“, sagte ich und ging anschließend zu Sangreal zurück, die inzwischen aufgestanden war. „Kannst du bitte nach Mariella schauen?“ „Natürlich“, sagte sie. „Es tut mir Leid“, gab ich zu. „Ich hatte mir wirklich vorgenommen deinetwegen hier zu bleiben.“ Sie schüttelte den Kopf, stand auf die Zehenspitzen und strich mir dann eine Haarsträhne meines Ponys zur Seite. „Schon in Ordnung. Das ist eben deine Natur. Bitte komm einfach nur heil wieder.“ Ich nahm ihr Gesicht in meine Hände, beugte mich zu ihr hinab und küsste sie zum Abschied. „Ich gebe mein Bestes.“ *** Auf der Wiese vor dem Haus standen wir dann gemeinsam in dem kleinen Lichtkegel, den das Wohnzimmerlicht nach draußen warf. Ich gab meiner Mutter wortlos einen Teil meiner Kleidung, damit er meiner Verwandlung nicht zum Opfer fallen musste. Sie nahm ihn ebenso stumm entgegen und verstaute alles sorgsam in ihrem Rucksack. „Bereit?“, fragte ich zur Sicherheit ein letztes Mal. Sie nickte, zog den Reißverschluss zu und schlüpfte in die Trageriemen des Rucksacks. Ich verwandelte mich fast aus dem Stand heraus. Um es ihr leichter zu machen, aufzusteigen, kauerte ich mich auf den Boden und stand mit meiner Mutter auf dem Rücken wieder auf. Mit meinem Vater war sie auf diese Weise unzählige Male unterwegs gewesen, aber ich war nicht er und so fühlte es sich für mich ein wenig seltsam an. Sie dagegen schien etwas Vertrautes darin zu sehen. Ich spürte es deutlich, als sie ihre Hände in meinem Nackenfell vergrub. Sie wusste genau, an welcher Stelle etwas mehr davon war, sodass sie sich problemlos festhalten konnte. Als ich mich kurz darauf in Bewegung setzte, zuckte sie weder zusammen, noch war sie unsicher. Für sie war diese Art der Fortbewegung offensichtlich das Natürlichste auf der Welt – und genau das stand mir bei meinem Vorhaben ein wenig im Weg. Ich würde wohl improvisieren müssen. Zunächst galt es, die anderen ausfindig zu machen. Der Tumult in meinem Kopf war, kaum dass ich versuchte, mich auf deren Standort zu konzentrierten, fast nicht auszuhalten. Die Gedanken des Rudels, obgleich es kleiner als Sams war, irrten durch mein Hirn, wie ein Haufen aufgeschreckter Hühner. Ich hörte viele verzweifelte Rufe, unter anderem auch von Leah und als ich sie dann den Namen meines Vaters rufen hörte, entfuhr mir unwillkürlich ein leises Winseln. Mutters Finger gruben sich sogleich tiefer in mein Fell. Sie war ohne Zweifel angespannt und ich konnte es ihr nicht verdenken. Trotzdem wäre es mir lieber gewesen, sie wäre bei Sangreal geblieben. Aber daran konnte ich jetzt nichts mehr ändern. Ich musste das Beste aus der Situation machen und das bestand für mich darin, sie aus der Gefahrenzone zu bringen. Ob sie nun wollte oder nicht, war mir gleich. Ich hoffte inständig, dass mein Großvater meine Stimme in diesem Chaos würde heraushören können. 'Edward' dachte ich angestrengt, als wir nur noch etwa einen halben Kilometer von ihnen entfernt waren. 'Bitte, kümmert euch um Mum.' Wenig später konnte ich sie in der Ferne ausmachen. Dieser Anblick passte durchaus zu dem, was ich zuvor wahrgenommen hatte. Überall rannten Vampire und Werwölfe durch die Gegend. Bella stand mit Rose etwas außerhalb, wahrscheinlich um die Fähigkeiten der Volturi zu blockieren. 'JACOB!' brüllte Leah dann lauthals in meinem Kopf. Ich legte noch einen Zahn zu, trieb meine vier Pfoten an, noch schneller zu laufen. In den wenigen Sekunden, in denen ich an Bella vorbei lief, nahm diese mir geistesgegenwärtig ihre Tochter vom Rücken und hielt sich auch dann tapfer fest, als sie sich wehrte und ihren Arm nach mir ausstreckte. „Nein! Ani, was tust du?!“, hörte ich sie mir nachrufen. Doch ich hatte keine Wahl. Ich musste weiterlaufen. Ich musste meinem Vater helfen. Ich verließ den großen Tumult, sah noch im Augenwinkel, wie Cats Vater Jane zu Boden zwang. Die Nächste, die meine Augen erblickten, war Leah. Sie wirbelte aufgeschreckt herum, als ich an ihr vorbei preschte. 'Was machst du hier?!', fragte sie perplex. 'Unwichtig', wimmelte ich sie ab. Und dann war da mein Vater. Ich sah ihn in ein paar Metern Entfernung auf dem Boden liegen. Er schien verletzt zu sein und da Caius direkt vor ihm stand, konnte ich nur beten, dass er ihn nicht gebissen hatte. Vom Zorn auf diesen einen sadistischen Vampir getrieben, sprang ich Caius an, vergrub meine Reißzähne in seinem linken Arm und schleuderte ihn weg, dann stellte ich mich zwischen ihn und meinen Vater und knurrte. Keuchend rappelte Caius sich auf und funkelte mich mit seinem lasch herunterbaumelnden Arm an. Zu meinem Bedauern war er noch dran, aber ich sehnte mich danach, ihn zu zerfetzen, spürte wie die Hitze in mir empor kroch und mein Körper zu beben begann. Ich wollte ihn töten. Mit. Jeder. Einzelnen. Faser. 'Anthony, ich hatte dich doch darum gebeten, zuhause zu bleiben!', mahnte Vater. 'Hat er dich gebissen?', ignorierte ich sein Tadeln. 'Nein'. Die Erleichterung kühlte mein erhitztes Gemüt ein wenig ab. Zumindest so weit, dass ich wieder klar denken konnte. Noch immer stand er vor mir, rührte sich kaum. Ich sah wie sich die klare Flüssigkeit in seinem Mund ansammelte und sogar ein wenig aus dessen Winkeln heraus quoll. Ohne Zweifel, er wusste ganz genau, wer ich war. Hinter mir hörte ich Schritte. Meine Familie und unsere Verbündeten kamen auf uns zu und versammelten sich einige Meter hinter meinem Vater. Von den Volturi schien keiner mehr übrig zu sein, zumindest konnte ich keinen unter ihnen ausmachen. Mit dem monotonen Knurren der Wölfe als einziges Hintergrundgeräusch, rührte sich für ein paar Minuten niemand mehr, bis mein Vater sich aufrappelte und einen Schritt auf mich zuging. „Jacob“, sagte Edward dann in normalem Tonfall. Als dieser sich zu ihm umdrehte, schüttelte Edward den Kopf. „Nicht.“ Dad schnaubte kurz, blieb ansonsten aber stehen. „Ich... habe dich getötet.“ Caius Worte ließen alle aufhorchen und auch ich wand mich wieder meinem Gegenüber zu. Er hob zwei Finger. „Zweimal.“ Aus seiner Stimme hörte ich Verzweiflung und Wut. 'Es wird kein drittes Mal geben', dachte ich und knurrte, um meine Gedanken zu unterstreichen. Das Knurren war selbstverständlich alles, was Caius hörte. Nur Edward und das Rudel hörten tatsächlich meine Gedanken. „Es wird kein drittes Mal geben“, übersetzte Edward, sodass alle sie hören konnten. Caius sah ihn finster an, dann verstand er und fixierte mich erneut. „Bastard“, presste er heraus und spukte sein Gift in den Matsch. 'Im Gegensatz zu dir, habe ich wenigstens eine Zukunft.' „Im Gegensatz zu dir, habe ich wenigstens eine Zukunft“, wiederholte Edward mich erneut. „Wir werden sehen“, provozierte Caius, dann hechtete er frontal auf mich zu, machte einen schnellen Satz nach oben, sprang auf meinen Rücken und griff nach meiner Schnauze. Offensichtlich hatte er die Absicht, mir den Kiefer zu brechen, damit ich ihn nicht mehr beißen konnte. Ich spürte, wie er daran zog und rüttelte und stemmte mich dagegen, indem ich zubiss. Wenige Sekunden später hatte ich seine Hand zwischen meinen Zähnen. Er schrie kurz auf, dann drehte ich mich einmal um mich selbst und kugelte ihm dabei den Arm aus. Als er schließlich vor mir auf dem Boden lag, seine Hand noch immer zwischen den Zähnen, biss ich gänzlich zu und riss sie ab. Sie splitterte ab wie Marmor. Ich spuckte das widerliche Stück Vampirfleisch aus und hörte den dumpfen Schlag, als es in der Erde landete, auf der ihr Besitzer just vor mir kauerte und ängstlich auf allen Vieren zurückwich. Aber das war nur der Anfang. Ich wollte noch so viel mehr... Ich trat drei Schritte nach vorn. Zwischen meinen Vorderpfoten sah ich das im Mondlicht schimmernde Vampirgift, das er zuvor verächtlich dorthin gespuckt hatte. Ich sog dessen Duft ein und erinnerte mich dabei an den Schmerz, den es mir verursacht hatte. An die Pein und das Feuer. An sein hämisch grinsendes Gesicht. Und dann sah ich die Hallen der Volturi vor mir. Ich sah Wills Blut auf dem Boden und an meiner Hand. Ich sah wie das letzte Licht aus seinen Augen wich. Und dann wurde mir bewusst, dass nicht ich es war, der unter Caius am meisten gelitten hatte. Ja, er hatte mich gequält, mehr als einmal, aber letztlich war ich hier. Ich hatte eine Zukunft. Aber Will hatte keine und seine Kinder hatten eine ohne ihren Vater, Leah eine ohne ihren Mann. Sie hatte den für sie wichtigsten Menschen auf der Welt verloren. Caius' Tod würde ihn nicht wieder ins Leben holen, aber wenigstens konnte sie sich dessen gewiss sein, dass er für den Mord an Will gerichtet wurde. Dass er nicht weiterlebte und mordete und andere Familien in zwei riss. Ich machte langsam einige Schritte zurück, bis auch ich in den Reihen meiner Familie stand. Caius sah mir mit großen Augen nach. Vielleicht dachte er für einen Augenblick, ich würde ihn verschonen wollen. Ich wand meinen Blick von ihm ab und sah stattdessen hinüber zu Leah. Sie zögerte zunächst, doch dann verstand sie. „Caius“, begann Edward dann mit dem Versuch, meine Gedanken, Empfindungen und Erinnerungen in Worte zu packen. „Du magst Anthony in der Vergangenheit viel Schmerz zugefügt haben... aber kein Schmerz war so groß, wie die Trauer um seinen Bruder, meinen Enkel, ihren Ehemann.“ Er zeigte auf mich, sich und schließlich auf Leah. „Du nahmst Geschwistern den Bruder, Eltern den Sohn und schlimmer noch, Kindern den Vater. Wir können nur ahnen, wie groß dieser Verlust für Leah gewesen sein muss und noch immer ist.“ Der Volturi schüttelte den Kopf. Plötzlich versuchte er eilig sich aufzurappeln und zu flüchten. Ich machte einen Satz nach vorn und presste ihn mit meinen Pfoten im Rücken zu Boden. Leah schritt auf ihn zu, ihre Pfoten sanken in der weichen Erde leicht ein, als diese nachgab. Sie sah Caius eindringlich an. Ihr Gesicht hatte einen fast friedlichen Ausdruck, doch dann zeigte sie plötzlich ihre gewaltigen Zähne. Sie waren das Letzte, was Caius sah, bevor sie ihm den Kopf vom Körper riss und diesen anschließend ähnlich angewidert fallen ließ, wie ich es zuvor mit seiner Hand getan hatte. „Benjamin“, sagte Edward dann, woraufhin dieser das einstige Volturi Gründungsmitglied in Brand steckte. Und so wie der schwarze Qualm von Caius Überresten in den Himmel stieg, breitete sich die Erleichterung in mir aus. Der Hass war verschwunden. Es war vorbei. Ich war wieder frei. *** Eine Weile hatten wir dort gestanden und gemeinsam ins Feuer gesehen. Erst als sein Leichnam so weit heruntergebrannt war, dass er sich nicht mehr zusammensetzen konnte, hatte Benjamin das Feuer gelöscht. Danach war er losgezogen, um auch die übrigen, noch brennenden Körper zu löschen. Leider befanden sich darunter auch einer unserer Verbündeten. Niemand wusste, ob es der blinde Wahn gewesen war, der Stefan dazu angetrieben hatte, Jane blindlings anzugreifen oder doch die Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod, nun da er einer Zukunft ohne seinen engsten Freund entgegen gesehen hatte. Der Weg zurück zum Haus fühlte sich seltsam an. Einerseits war es wie ein wahrlicher Triumphmarsch, schließlich hatten wir gesiegt. Andererseits war das, was hinter uns lag, noch zu unwirklich, sodass wir selbst mit vampirischer Auffassungsgabe nicht in der Lage waren, es in all seiner Gänze zu begreifen. Wir hatten einen der größten und gefährlichsten Vampirclans von ihrem Thron gestoßen. Die Ära der Volturi war vorüber und eine Neue lag vor uns. Es war selten, dass Vampire von einem Umschwung wirklich mitgenommen wurden. Jahrzehnte, Jahrhunderte, gar Jahrtausende zogen an ihnen vorüber. Manche von ihnen hatten den Aufstieg und Fall mehrerer Dynastien erlebt, hatten Epochen kommen und gehen sehen. Veränderungen beeindruckten sie selten, Jubiläen feierten sie nicht. Es wären zu viele. Aber diese eine Situation war so bedeutend für die Vampirwelt, dass auch sie davon erfasst wurden, wie es ein Mensch sein mochte, der gerade seinen 100. Geburtstag feiert oder den Korken einer Sektflasche knallen lässt, um ein neues Millennium zu begrüßen. 'Was du getan hast, war ziemlich leichtsinnig', meinte mein Vater, auf dem Heimweg. Wir liefen Seite an Seite in Wolfsform. Die Finger in seinem Fell vergraben, die Augen geschlossen, lag Mutter auf seinem Rücken und schien längst eingeschlafen zu sein. Ich konnte es ihr nicht verdenken. Ich antwortete nicht auf seinen Tadel. 'Aber ich danke dir dafür', fügte er hinzu. Verwundert hob ich den Blick und sah ihn an. 'Ohne dich, wäre ich wahrscheinlich tot', mutmaßte er. Irgendetwas hatte ich dann erwidern wollen. Vielleicht 'Gern geschehen'. Aber es war mir entglitten, als Sam, der vor uns hergelaufen war, plötzlich stehen geblieben war und ein Gebüsch anknurrte, aus dem wenige Sekunden später Marcus mit den Ehefrauen heraustrat. 'Ihr habt ihn nicht getötet?', fragte ich überrascht. 'Er war weg', antwortete Seth. 'Hat sich wahrscheinlich irgendwo verkrochen', knurrte Sam. „Wartet“, sagte Edward und hob den Arm waagrecht, um zu symbolisieren, dass niemand die Drei angreifen sollte. Er ging ein paar Schritte auf sie zu. „Du hast dich versteckt?“ Marcus schüttelte kaum merklich den Kopf. Er sah wie immer ziemlich müde aus. „Bitte versteht mich nicht falsch. Ich bin dem Tod keinesfalls abgeneigt. Im Gegenteil, manchmal, sehne ich mich nach ihm. Das Leben ist aussichtslos, trostlos, ohne sie.“ „Didyme“, hauchte Athenodora hinter ihm. „Ihr wisst... wovon ich spreche... nicht wahr?“ Marcus Blick schweifte von Edward zu Bella, von Rosalie zu Emmett, von Alice zu Jasper, Benjamin zu Tia, Garrett zu Kate, Eleazar zu Carmen und schließlich zu meinen Eltern. Er sah deutlich die geknüpften Bande zwischen ihnen. Das Brummen von Cats Vater war aus einer der hinteren Reihen zu hören. „Dann tun wir ihm doch den Gefallen“, sagte er mürrisch und trat hervor. „Nein, bitte. Einen Augenblick, Fionn“, gebot Edward ihm Einhalt. Der Kantor blieb etwas widerwillig stehen und nickte. Mein Großvater wand sich wieder dem Volturi zu. „Ist das wirklich dein Wunsch, Marcus?“ „Was sonst, könnte ich mir wünschen, Edward Cullen?“ „Vielleicht... etwas Gutes zu tun?“, entgegnete er. „Für sie?“ Marcus Blick wurde fragend. „Ihr wart mit Aros und Caius Taten uneins. Das war es doch, was deine Gefährtin und dich dazu veranlasste, die Volturi verlassen zu wollen, oder nicht?“ Marcus nickte. „Sie hatte eine Gabe“, sagte Edward. Es war eine Feststellung, keine Frage. Marcus antwortete dennoch. „Sie machte die Personen um sich herum glücklich.“ „Jemand mit einer solchen Fähigkeit, kann unmöglich böser Natur sein. Sie wollte das alles nicht und musste dafür sterben. Aber wo liegt der Sinn darin, wenn du auch dafür stirbst? Hätte deine Liebste das wirklich so gewollt? Hätte sie sich nicht vielleicht gefreut, wenn du stattdessen ihrem Vermächtnis treu bliebst und hilfst, Andere glücklich zu machen?“ „Wie?“, wollte Marcus wissen. „Die Volturi sind weg. Der Clan existiert nur noch in unserer Erinnerung. Aber diese Erinnerung wird eines Tages verblassen und es wird andere Vampire geben, die es ausnutzen werden, dass niemand mehr da ist, um sie zu kontrollieren. Nicht alles an den Volturi war schlecht. Ihr ursprünglicher Zweck war es, die Vampire zu kontrollieren und damit zu schützen. Nun da sie fort sind, sind ihre Gräueltaten vorbei, aber auch ihr Schutz ist verschwunden. Die Vampirwelt braucht diesen Schutz. Hilf mit, ihn wieder aufzubauen. Dieses mal richtig.“ Im Nachhinein, war mir bewusst geworden, dass ich durch einen einzigen Spaziergang – damals mit Cat, als mir in einer Gasse Jane und Felix begegneten – alles verändert hatte. Nicht nur mein eigenes Leben, sondern ebenso das Tausender Vampire. Es war wie eine Lawine über uns alle hereingebrochen und ließ sich nicht aufhalten. Selbst nun da die Volturi besiegt waren nicht. Interessanterweise wurde mir dies ganz besonders klar, als ich wenige Minuten nach dem Gespräch zwischen Marcus und Edward, mit meinen Eltern und Seth vor unserer Veranda stand und Mariella auf Letzteren zugerannt kam, um ihr Gesicht in sein sandfarbenes Fell zu drücken. In den letzten 30 Jahren war ich immerzu passiv daneben gestanden, doch dieses Mal war es anders. Hinter meiner Schwester trat Sangreal langsam aus der Tür. Sie war weniger schwungvoll als Mariella, doch ich konnte in ihren Augen dasselbe Strahlen sehen und das war mehr, als ich mir je erhofft hatte. Sie ging auf mich zu und legte ihre Hand vorsichtig auf meine Schnauze. Ich war nicht mehr allein. Es war dieser Moment, in dem Sangreal sich auf meinen Rücken setzte, in dem ich mich meinem Vater so nah wie noch nie zuvor gefühlt hatte. Er sah mich warm an und obgleich er als Wolf nicht lächeln konnte, sah ich doch ganz genau sein verschmitztes Lächeln vor meinem inneren Auge. Nun wusste ich, wie es war, die Person, die einem am wichtigsten war, beschützen zu wollen. Eine Person, in deren Adern nicht dasselbe Blut floss und für die man dennoch alles tun würde. Ich war nicht auf sie geprägt worden, nein, aber es fühlte sich dennoch richtig an. Epilog: --------   Seit Stunden beobachtete ich nun, wie die kleine Nadel die Farbe unter meine Haut injizierte. Kohlrabenschwarz war sie und stand damit in Kontrast zu meinem hellen Teint. Viel fehlte nicht mehr, noch ein paar geschickte Handgriffe Embrys und das Tattoo der Quileute-Wölfe würde an meiner rechten Schulter prangen. Dann war auch ich ein vollwertiges Mitglied ihres Stammes. Es mochte ein kleines Detail sein, jedoch eines, das eben gefehlt hatte und das ich hatte dringend nachholen wollen.   „Sehr schön“, sagte Embry, legte sein Werkzeug weg und wusch noch einmal obligatorisch mit einem getränkten Tuch über das Tattoo. Schon jetzt sah es aus, als hätte ich es mir vor einer Ewigkeit stechen lassen. Ein weiterer Vorteil den das Leben als Gestaltwandler mit sich brachte: man konnte sich Tattoos stechen lassen, ohne sie wochenlang zupflastern oder Angst vor Entzündungen haben zu müssen. Die Wunde verschloss sich Sekunden nach dem Stich, die Farbe jedoch blieb unter der Haut.   Ich betrachtete das kleine Kunstwerk im Spiegel. „Danke, Embry.“ „Gern geschehen, Ani“, antwortete er, stand auf und begann, seine Tattoomaschine zu säubern. „Ist Dr. Carlisle eigentlich noch in Italien?“ Ich schüttelte den Kopf. „Er ist Anfang der Woche nach Irland geflogen, wegen der Entbindung.“   „Achso. Und was ist mit dir?“   „Mein Flug geht heute Abend.“   Embry nickte. „Muss seltsam sein.“   Ich sah ihn fragend an. „Bald Vater zu werden?“   Nun war er es, der den Kopf schüttelte und dabei lachte. „Nein, nein. Ich meinte eher, dass ihr zuvor ein so volles Haus hattet und jetzt... na ja... nicht mehr.“   „Ich habe die Einsamkeit ohnehin immer vorgezogen. Aber selbst wenn nicht, so schlimm, wie es sich anhört, ist es nicht.“   Embry lächelte mich warm an.       Seit wir die Volturi zerschlagen hatten, fühlte es sich an, als hätte sich die ganze Welt gedreht. Es war zur gleichen Zeit erleichternd und beschwerend. Letzteres war der großen Verantwortung geschuldet, die wir uns in jenem Augenblick aufgebunden hatten, in dem wir uns dazu entschlossen, ihre Aufgaben zu übernehmen. Nun war ein Großteil meiner Familie sehr oft in Italien. Es war, als hätten wir einen Zweitwohnsitz. Ich war kaum dort. Die meiste Zeit hielt ich mich in Sangreals Nähe auf und nach Volterra zurückzukehren war das Letzte, was sie wollte. Carlisle hingegen war ziemlich häufig dort, um Marcus zu unterstützen. Da sie keinen Zirkel mehr hatten, war Aurora nun fester Bestandteil der neuen Garde. Ihre Gabe half ihnen, die Vergangenheit eventueller Straftäter und Besucher herauszufinden. Für ihre Zukunft hingegen, war Alice zuständig. Wann immer sie dort war, half Jasper ihr, aufgebrachte Gemüter zu beruhigen. Bisher hatte sich niemand getraut, 'den neuen Wächtern', wie sie allerorts umgangssprachlich genannt wurden, nicht zu gehorchen. Das war aber sicherlich auch Benjamins Hilfe zu verdanken, der sich gemeinsam mit Tia und Alexandria seinem ursprünglichen Zirkel endgültig losgesagt hatte und Carlisle in Italien zur Seite stand.       Es war nicht mehr so wie früher, ja, aber es war nicht schlechter, nur anders. Wir würden immer die Cullens bleiben und wir besuchten einander, sooft es eben ging.       Das galt auch für Rosalie und Emmett, die die Ankündigung, die sie auf ihrer Hochzeit machten, in die Tat umgesetzt hatten und zu einer Weltreise aufgebrochen waren. Wann immer sie anriefen, befanden sie sich nie am selben Ort, an dem sie beim letzten Telefonat gewesen waren.   Ihr nächster Besuch würde aber wahrscheinlich nicht mehr allzu lange auf sich warten lassen. Rose ließ es sich nicht nehmen, das Baby zu sehen. Das war nämlich inzwischen über sieben Monate im Bauch und laut Carlisle würde es nicht mehr allzu lange auf sich warten lassen. Einen genauen Zeitpunkt konnte er aber, genau wie zuvor bei der Schwangerschaft meiner Großmutter und später meiner Mutter, nicht nennen.       „Anthony!“   Die Glockenstimme Bellas riss mich aus meinen Gedanken. Ich hob den Blick und sah sie im Türrahmen stehen. „Seid ihr fertig?“, fragte sie und trat näher. Sie beugte sich zu mir herab und betrachtete meine Schulter. „Hübsch.“   „Hübsch?!“ Wir wirbelten herum. Sam trat ein und klopfte Embry auf die Schulter. „Das ist mehr, als hübsch. Embry, nach all den Jahren hast du das immer noch drauf. Alle Achtung.“   Embry sah verlegen drein. „Stimmt schon. Das letzte Tattoo hatte ich für Will gemacht.“   Ich griff währenddessen nach meinem Shirt, um es wieder anzuziehen und musste beim Klang seines Namens lächeln.   „Er wäre stolz auf dich“, sagte Sam zu mir gewandt. „Und Jacob ist es sicher auch.“   „Ich weiß“, antwortete ich und meinte es auch so.   „Wollen wir dann?“, drängte Bella zum Aufbruch.       Warum mich so kurz vor der Entbindung noch der Drang, mir das Stammeswappen tätowieren zu lassen erfasst hatte, wusste ich nicht. Vielleicht war es ein seltsames, bisher unbekanntes Bedürfnis, dass sich im Inneren eines Werwolfes regte, wenn er Nachwuchs bekam: die Kleinen in einem festen Rudelverband zu wissen, wenn sie zur Welt kamen. So ähnlich wie manche Paare vor der Geburt ihres Kindes unbedingt noch heiraten wollten.   In diesem Punkt waren wir übrigens nicht so eilig. Warum auch? Wir hatten noch unser ganzes Leben lang Zeit. Und wenn es nach mir ging, würde das ein verdammt langes Leben werden.       „Macht‘s gut“, verabschiedete sich Embry von uns.   „Und schickt uns ein Foto!“, fügte Sam hinzu. „Oder noch besser: Kommt mal wieder vorbei.“       Gemeinsam mit Bella fuhr ich zum Haus ihres Vaters. Charlie war inzwischen über 80, aber trotzdem noch ziemlich fit. Sowohl geistig, als auch körperlich. Das war sicher weniger seinem Bierkonsum zu verdanken.   „Dad!“, rief Bella freudig, als sie eintrat und ihrem Vater um den Hals fiel.   „Bells“, antwortete Charlie Swan und strich seiner Tochter über den Rücken. Als er ihr über die Schulter sah, erblickte er mich und lächelte. „Anthony, schön dich zu sehen. Mensch, bist du groß geworden.“   Wir traten ein und ich schloss die Haustür hinter mir. „Charlie, ich habe mich seit mindestens zehn Jahren nicht mehr verändert.“   Bella sah mich etwas missmutig an. Nach all den Jahren, hatte Charlie längst mitbekommen, dass wir keine Menschen waren, dennoch hatte sie das Wort 'Vampir' in seiner Gegenwart nie in den Mund genommen und würde es ganz sicher auch nicht mehr tun. Vielleicht, weil der Begriff zu sehr negativ behaftet war, vielleicht, weil es Charlie sowieso nicht zu interessieren schien.   „Ach wirklich?“, antwortete er auf meinen Kommentar hin und ging zum Kühlschrank. „Ich leider nicht.“ Er öffnete die Tür und kramte eine Bierdose seiner Lieblingsmarke heraus.   „Dad, meinst du nicht, du solltest in deinem Alter deinen Bierkonsum etwas reduzieren?“ Bellas Tonfall war besorgt, aber auch etwas empört.   „Bells, nun komm schon“, zeterte Charlie und wand sich mir zu. „Auch eine?“ Ich winkte ab. „Nein, danke. Ich will nüchtern bleiben. Für den Fall, dass sich Sangreal meldet.“   „Ach so. Klar, natürlich.“ Charlie setzte sich in seinen Sessel, öffnete seine Dose geräuschvoll und nahm einen genüsslichen Schluck Bier. „Kaum zu glauben, dass ich bald Ur-Ur-Opa werde. Siehst du, Bells, so fit bin ich noch.“   Bella hob eine Augenbraue. „So fit, dass du die Geburt deines Ur-Ur-Enkels vergisst?“   „Dass das Kleine unterwegs ist, habe ich nicht vergessen. Nur das Ur-Ur vor dem Enkel“, antwortete er. „Ich meine, wie viele können so was schon von sich behaupten. Ur-Ur-Opa zu sein?“   „Nicht viele“, sagte Bella und lächelte ihn warm an.       Vielleicht hatte ich es gespürt, als ich das Bier ablehnte. Vielleicht handelte es sich um eine Art selbst erfüllende Prophezeiung. Vielleicht war es beides oder keines von beidem. In jedem Fall klingelte plötzlich mein Smartphone. Bella und Charlie drehten ihre Köpfe in meine Richtung und beobachteten, wie ich es mit plötzlich schneller schlagendem Puls aus der Jackentasche zog. Auf dem Display stand in leuchtenden Lettern 'Carlisle'. Ich tippte mit dem Finger auf das grüne Abnehmen-Symbol und schluckte.   „Carlisle?“, fragte ich nervös.   „Hallo, Anthony“, begrüßte er mich mit ruhiger Stimme. „Ich nehme an, bei euch dürfte es gerade Mittag sein.“   „Nachmittag, ja“, antwortete ich mit kurzem Blick auf Charlies große Wanduhr.   „Ah, in Ordnung. Hör zu, bei uns ist es mitten in der Nacht. Sangreal ist vorhin aufgewacht und klagte über Schmerzen. Sie meinte zu mir, es handelte sich zunächst nur um ein kleineres Ziehen, das aber nun etwas zugenommen hat. Ich nehme an, dass wir es mit Eröffnungswehen zu tun haben. Aber-“   „Was?!“, fiel ich ihm ins Wort. Bella und Charlie starrten mich mit großen Augen an.   „Beruhige dich, bitte“, sagte Carlisle weiterhin sehr sanft. „Es kann Stunden oder Tage dauern, bis es soweit ist. Du hast also genug Zeit, um her zu kommen.“   „Sag Sangi ich bin unterwegs“, bat ich, legte auf und erhob mich. „Bella, wir müssen los. Charlie, es tut mir wirklich leid.“   Charlie hob beschwichtigend die Hände. „Kein Problem.“ Dann sagte er zu seiner Tochter: „Bells, ich weiß noch genau, wie das damals bei dir war. Ich war ein nervliches Wrack.“   „Tolle Aussichten“, sagte ich sarkastisch.   „Ja, ja“, bestätigte Charlie und legte dann eine Hand auf meine Schulter. „Aber glaub mir, wenn du dein Kind dann im Arm hast, ist alles vergessen. Dieser Moment, wenn du ihm in die Augen siehst und dich selbst darin erkennst. Das ist magisch. Du wirst es nie mehr vergessen.   Und ich möchte nicht der Grund dafür sein, dass du zu spät zur Geburt deines eigenen Kindes kommst, also auf jetzt.“ Mit diesen Worten schob er uns praktisch zur Haustür heraus.   „Danke, Charlie.“   „Auf Wiedersehen, Dad“, verabschiedete sich Bella.   „Ich bin doch bestimmt der Erste, der ein Bild von dem Kleinen kriegt, oder?“   „Ganz bestimmt, Dad“, versicherte sie ihm und strich ihm über den Rücken.„Ich hab dich lieb.“       Anschließend gingen Bella und ich zügig, jedoch aus Rücksicht auf die Nachbarn, noch immer in menschlichem Tempo zum Auto.   „Bella“, begann ich. „Du fährst zum Flughafen. Ich fliege direkt nach Loughrea.“   „Wie bitte? Sie blieb abrupt stehen. „Oh nein, mein Lieber. Ich lasse nicht zu, dass du mehrere Tausend Kilometer über den Nord-Atlantik fliegst.“ Sie packte mich grob am Oberarm, zog mich zum Wagen und setzte mich auf die Beifahrertür, wo sie mir, wie bei einem Grundschüler, den Gurt anlegte. „Ich habe Carlisle genauso gut gehört wie du. Er sagte ausdrücklich, dass er dich so frühzeitig angerufen hat, dass du ohne Probleme rechtzeitig nach Irland fliegen kannst. Auf dem herkömmlichen Weg!“       Ich verdrehte die Augen und sie warf mir einen Blick zu, der keine Widerworte duldete, also ließ ich mich von ihr anstandslos zum Flughafen kutschieren. Nach einem knapp neunstündigen Flug in unserem Privatjet landeten Bella und ich schließlich wieder auf irländischem Boden. Während Bella uns eilig vom Flughafen nach Hause fuhr, starrte ich auf den Bildschirm meines Smartphones.   „Wenn es Probleme geben würde, würde sicher jemand anrufen“, versuchte Bella mich zu beruhigen.   Ich antwortete nicht darauf, sondern ließ mein Handy stattdessen wortlos wieder zurück in meine Jackentasche gleiten.       Plötzlich drückte Bella auf die Bremse. Die Schwerkraft hob uns fast aus unseren Sitzen, die Gurte zogen uns wieder zurück.   „Wow“, hauchte Bella und starrte mit offenem Mund auf die Heckscheibe des Wagens vor ihr, der die Warnblinkanlage eingeschaltet hatte, um uns auf das Ende eines Staus hin zu weisen.   „Na, super.“ War alles was mir dazu einfiel.   Ich öffnete meinen Gurt.   „Was wird das?“, erkundigte sich meine Großmutter.   „Nach was sieht es denn aus?“, fragte ich und öffnete die Beifahrertür. „Ich steige aus.“   „Ani!“, zischte sie, als ich aus dem Wagen trat. Als ich nicht reagierte, wurde sie lauter. „ANTHONY!“   Ich beugte mich noch einmal zu ihr herab. „Bella, ich weiß, dir ist dieses Gefühl ziemlich unbekannt. Du warst bei der Geburt deiner eigenen Tochter definitiv anwesend.“   „Schon gut, schon gut“, sagte sie. „Bitte sei vorsichtig und lass dich nicht erwischen.“   „Unsichtbar?“, erinnerte ich sie.   Sie verdrehte die Augen. Ich warf ihr noch ein Zwinkern zu, dann schloss ich die Autotür hinter mir, entfernte mich vom Wagen und stieg über die Absperrung am Straßenrand. Erst in einigen Metern Entfernung zur Autobahn, verwandelte ich mich hinter einem großen Baum.       Fliegen fühlte sich nun etwas ungewohnt an. Seit dem Kampf gegen die Volturi hatte ich mich nur noch in einen Wolf verwandelt. Aber auf Schwingen war ich nun mal eben noch einen ganzen Ticken schneller als auf Pfoten. Eigentlich hatte ich gehofft, in der Tiergestalt jemanden in meinen Gedanken anzutreffen, aber es schien sich gerade niemand sonst aus dem Rudel verwandelt zu haben.   Erst nach einer gefühlten Ewigkeit vernahm ich mit einem Mal Seth' Stimme in meinem Kopf.   Anthony, da bist du ja!, begrüßte er mich freudig.   - Ich bin gleich da. Wie geht es Sangi?   Och, dem Lautstärkepegel nach zu urteilen, ziemlich gut.   - Wie bitte?!   Sie hält uns alle ziemlich auf Trab, gesellte sich plötzlich mein Vater dazu. Aber Carlisle sagt, sie macht sich gut.       Was sie damit meinten, erfuhr ich nur wenige Minuten später. Bereits als ich mich der Klappe zu meinem Zimmer näherte, hörte ich ihre Schreie. Einer davon war derart laut und heftig, dass ich kurz erschauderte. Doch dann sammelte ich mich wieder, verwandelte mich zurück in meine menschliche Gestalt und begab mich in meine eigenen vier Wände.   Im Haus war sie nun aber noch deutlicher zu hören. Mit zittrigen Händen öffnete ich die Schubladen meiner Kommode und zog wahllos irgendeine schwarze Jeans und ein graues T-Shirt heraus, die ich mir schnell überstreifte, ehe ich die Treppen ins Erdgeschoss emporschoss.       „Anthony, da bist du ja!“ Meine Schwester nutzte exakt dieselben Worte, die Seth zuvor gesagt hatte, um mich zu begrüßen.   „Mariella“, antwortete ich und ließ mich kurz von ihr umarmen, dann ging ich weiter hinauf in den ersten Stock.   Just in jenem Moment, in dem ich die letzte Stufe nahm, kam Esme mit einer Schüssel frischem Wasser und einem Lappen aus dem Badezimmer. Sie begrüßte mich mit einem Lächeln und schien die Ruhe weg zu haben. „Hier entlang“, sagte sie freundlich und wies mich an ihr zu folgen.   Im Flur vor Carlisles Arbeitszimmer sah ich nun meinen Vater und Seth, noch immer in Wolfsgestalt, auf dem Boden liegen. Sie begrüßten mich kurz mit warmen Blicken und legten dann wieder die großen Köpfe auf ihre Vorderpfoten. Offensichtlich war der Tumult für sie als Wölfe besser zu ertragen oder aber, sie wollten Kontakt mit La Push halten.   Nayeli saß auf Seth' Rücken und hatte ihre kleinen Fingerchen in seinem sandfarbenen Pelz vergraben. Sie schien gut beschäftigt zu sein, ließ sich aber vom Trubel um sie herum nicht aus der Ruhe bringen. Wenn ich so darüber nachdachte, war hier auch gar kein Trubel, der sie hätte aus der Ruhe bringen können. War ich etwa der Einzige, dessen Herz raste?   Esme öffnete die Tür und ich folgte ihr in Carlisles Arbeitszimmer. Ich hatte hier schon so viel Zeit verbracht. Die meiste davon allerdings bewusstlos. Nun war das Zimmer hell und freundlich und sah in keinster Weise wie ein OP-Saal aus. Die weißen Bücherregale waren welchen aus Buche gewichen, der Boden war mit grauem neuem Teppich verlegt worden. An den Wänden hingen teils Landschaftsaufnahmen, teils Familienbilder. Die Vorhänge waren Fliederfarben und ließen das Sonnenlicht durchscheinen. Meine Mutter saß in einem weißen Sessel und beobachtete Carlisle argwöhnisch. Hatten sie das etwa alles in den letzten drei Tagen gemacht?   Das Bett, in dem Sangreal lag, befand sich so ziemlich in der Mitte des Raumes an der hinteren Wand. Sie war mit einer ebenfalls fliederfarbenen Decke zugedeckt worden. Ihren Unterleib sah ich gar nicht, weil Carlisle ein großes Tuch darüber gespannt hatte und mit dem Kopf darunter hing. Sie sah erschöpft aus, doch hielten sich die Schweißtropfen auf ihrer Stirn noch in Grenzen. Inzwischen lag sie seit zehn Stunden hier und kämpfte mit den Schmerzen. Ich kannte Schmerzen, sehr gut sogar. Und ich war mir auch sicher, dass ihr Schmerz ein anderer war, als meiner. Zumindest diente er einem guten Zweck. Trotzdem zollte ich ihr meinen größten Respekt.   Als sich unsere Blicke trafen, hoben sich sogleich ihre Mundwinkel und sie streckte ihre zarte Hand nach mir aus. „Ani...“, hauchte sie, als ich näher trat und sie in meine nahm und mich neben sie kniete. Sie sah zu mir herab: „Du bist hier.“   „Ja“, antwortete ich. „Ich bin hier.“       Weitere zwei Stunden vergingen, in denen Sangreal nichts weiter tun durfte, als ihre Wehen quasi 'wegzuatmen'. So richtig hatte ich keine Ahnung davon. Einen Geburtsvorbereitungskurs hatten wir jedenfalls nicht besucht in Anbetracht der Tatsache, dass wir nie hätten vorhersehen können, wie natürlich oder unnatürlich diese Geburt verlaufen würde. Ich begann jedoch, mich zu fragen, wie die Volturi das gehandhabt hatten. Geburten waren dort ja weitaus häufiger vorgekommen, als bei uns. Zum Glück hatte das aber nun ein Ende. Aro würde nie wieder derart Gott spielen können. Bei dem Gedanken daran, dass er sich dieses Kind – unser Kind – hatte zu eigen machen wollen, in der Hoffnung, dass es eine besondere Begabung haben würde, wurde mir ganz schlecht.       Ein heftiger Schrei riss mich aus meinen Gedanken und mir blieb keinerlei Zeit mehr, weiter über Aros Gräueltaten nachzudenken.   „Jetzt aber“, kommentierte Carlisle und verschwand mit dem Kopf wieder unter dem Tuch.   Ich stand besorgt auf und streckte den Hals etwas, konnte aber nichts erkennen. „Was ist?“   Carlisle kam gar nicht dazu, zu antworten, denn Sangreal schrie erneut auf und krallte ihre Finger in die Matratze unter ihr, dann spürte ich ihre Finger wieder an meiner Hand und drehte mich um.   „Bitte geh nicht weg“, sagte sie mit glasigen Augen, als ich zu ihr hinunter sah.   Ich schüttelte den Kopf und kniete mich wieder hin, um mit ihr auf Augenhöhe zu sein. „Ich gehe nicht weg, keine Angst.“ Ich strich ihr mit der Hand ein paar Haare aus ihrem Gesicht, dann setzte ich mich hinter sie, damit sie sich anlehnen konnte und keine Angst mehr zu haben brauchte, dass ich irgendwo hin ging.       Von da an ging alles ziemlich schnell. Schwer zu sagen, ob es nun zehn oder dreißig Minuten gewesen waren, ehe ich den ersten Schrei unseres neugeborenen Kindes hören konnte. In jedem Fall würde ich ihn nie wieder vergessen. Es war, genau wie Charlie es voraus gesagt hatte, ein magischer Moment.   „Willkommen auf der Welt“, flüsterte Carlisle mit einem Lächeln auf den Lippen, dann legte er es Sangreal auf den Bauch. Unter all dem Blut schien es, in etwa denselben Hautton zu haben wie sie. Sie streichelte sein kleines Köpfchen. Die Haare hatte es auch von ihr.   Sangreal strahlte über das ganze Gesicht. Die letzten zwölf Stunden schienen wie weggeblasen. „Mein Baby“, flüsterte sie.   Meine Mutter kam näher, um ebenfalls ihr Enkelchen zu bestaunen.   Ich saß noch immer hinter Sangreal und küsste ihr Haar. Bisher hatte ich es noch nicht gewagt mich zu rühren. Meine Augen jedoch, konnte ich nicht von meinem Kind abwenden. Kaum, dass es ihren Herzschlag gehört und ihre Körperwärme gespürt hatte, hatte es aufgehört zu schreien. Jetzt schien es, auf ihrem Bauch zu schlummern.   „Anthony.“ Carlisle musste mich direkt mit meinem Namen ansprechen, um meine Aufmerksamkeit zu bekommen. Zögerlich sah ich auf. Ich musterte zuerst ihn, dann fiel mein Blick auf seine Hände. Er hielt eine sterile Verpackung in der Hand, die er mit geübtem Griff öffnete. Heraus kam eine Schere. Ich wusste genau, was er mir damit versuchte zu sagen.   Esme trat an ihn heran und reichte ihm zwei Klammern, mit denen er die Nabelschnur, nun da sie aufgehört hatte zu pulsieren, doppelt abklemmte. Meine Mutter brachte vorsorglich ein Kissen, das sie Sangi unter schob, nun da ich sie nicht mehr stützte.   Carlisle reichte mir die Schere. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. „Keine Angst“, redete er mir gut zu. „Du wirst weder ihr, noch dem Kind schaden.“   Ich nickte ihm zu, dann legte ich die Schere vorsichtig an und ZACK – da war sie durch und unser Baby damit endgültig geboren.   Wenige Augenblicke später nahm Carlisle das Neugeborene dann kurz mit sich. Ich kniete mich wieder neben Sangreal und streichelte ihr Haar. Sie lächelte mich zufrieden an, dann wurden ihre Lider schwerer und fielen schließlich zu. Ich küsste ihre Stirn erneut und erhob mich wieder. Im selben Moment kam Esme mit unserem Baby zurück. Sie hatte es in ein frisches Handtuch gewickelt und gesäubert, nachdem Carlisle es kurz untersucht zu haben schien.   Es gab ein paar typische, leise Baby-Laute von sich, während es in Esmes Armen lag. „Na?“, fragte sie sanft mit leicht erhöhter Stimmlage. „Jetzt kommst du erst mal zu Papa, nicht wahr?“   Wieder ein Laut.   Papa, dachte ich. Daran würde ich mich wohl noch gewöhnen müssen. Und dennoch... als sie mir mein Kind reichte, als ich sein kaum merkliches Gewicht in meinen Armen spürte und seinen dezent süßlichen Geruch einatmete, breitete sich ein wohliges Gefühl in meinem ganzen Körper aus. Es fühlte sich an, als hätte ich ein Ziel erreicht, von dessen Existenz ich bis dato gar nicht gewusst hatte. Es füllte eine Lücke in mir, die ich zwar nicht bewusst hatte stopfen wollen, die aber unbewusst wohl da gewesen war. Das war es wohl, was man als Vollkommenheit bezeichnete. Dieser Moment war vollkommen. Und ich entdeckte noch ein neues Gefühl zum ersten Mal: bedingungslose Liebe. Es war dieses eine Lebewesen, auf dieser Welt, für das ich alles tun würde. Für das ich ohne zu zögern mein Leben geben würde. Das ich unter allen Umständen beschützen musste. Von diesem Augenblick an bis in alle Ewigkeit.   Und dann geschah noch etwas, womit ich nicht gerechnet hatte. Hatte ich zuvor noch gedacht, dass mein Kind, ganz nach seiner Mutter kam, sah ich nun in kleine, wunderschöne smaragdgrüne Augen.   Meine Augen.   Meine Tochter.   Meine Luna.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)