Blood Moon - Bis(s) in alle Ewigkeit von -DesertRose- (Fortsetzung von Rising Sun - Bis(s) das Licht der Sonne erstrahlt) ================================================================================ Kapitel 22: Ruhe vor dem Sturm ------------------------------ „Alles okay?“, fragte ich Sangreal leise. Sie nickte, sah zu mir empor und lächelte mich an. Ihr Pony klebte in ihrem Gesicht, ich konnte das rasche Schlagen ihres Herzens unter mir hören und mir war auch nicht entgangen, dass sie leicht zitterte. Mir ging es genauso. Es war der Nachmittag des letzten Tages vor dem von Alice vorausgesagten Eintreffen der Volturi auf unserer grünen Insel. Nayeli hielt ihren gewohnten Mittagsschlaf. Sangreal und ich nutzten diese Zeit für etwas Zweisamkeit. Eigentlich hätte man meinen können, wir hätten genug davon in unserem schier ewigen Leben, aber wie so häufig, kam es anders, als man gedacht hatte. Nun herrschte im ganzen Haus Endzeitstimmung. Ich küsste das hübsche Mädchen unter mir noch einmal, dann zog ich mich zurück und legte mich wieder auf meine Seite des Bettes. „Ich werde das vermissen“, sagte Sangreal nach einem kurzen Moment der Stille. Ich drehte mich auf die Seite, stützte mich mit dem Ellbogen ab und sah sie fragend an. „Was?“ „Alles“, sagte sie, ohne mich anzusehen. Stattdessen sah sie nach oben an die Decke. Ich lachte leicht. „Hört sich an, als gingst du davon aus, dass wir alle ins Gras beißen und die Volturi unser Haus abfackeln.“ Sie lachte kurz und drehte sich dann endlich zu mir um. „Nein, das meine ich nicht. Ich meine... es wird nie wieder so sein, wie jetzt. Verstehst du was ich meine?“ Ich zog die Brauen zusammen. Nein, ich verstand nicht. „Dieser Kampf war ein Ziel, das wir uns gesetzt haben. Wie auch immer er ausgehen mag, alles was darauf folgt, wird nicht mehr so sein wie zuvor. Allein schon die Tatsache, dass wir einige Leben auslöschen werden müssen...“ „Du weißt, dass du mit Nayeli von der Schlacht fern bleiben kannst“, erinnerte ich sie. Wir hatten das erst vorgestern besprochen. Leah hatte ihr angeboten, Nayeli in La Push in Sicherheit zu bringen. Sie würde dort von meiner Cousine versorgt werden und mit Will's Kindern spielen können. Ich musste zugeben, der Gedanke machte mich traurig und glücklich zugleich. Sie war nicht meine Tochter, aber da ich Sangreal so nah stand, war ich in irgendeiner Weise eine Bezugsperson für das Kind und ich würde lügen, wenn ich sage, dass sie mir nicht wichtig geworden war. Will hätte es sicher gern gehabt, dass unsere Kinder miteinander spielten. Nun würde er das nicht mehr miterleben können und das machte mich traurig. Andererseits war es irgendwie so, als würde Nayeli Will dadurch kennenlernen, was mich wiederum glücklich stimmte. „Du weißt, wie ich dazu stehe“, riss Sangreal mich aus meinen Gedanken. Ich nickte widerwillig. „Ich muss damit abschließen können“, fuhr sie fort. „Und das kann ich nur, wenn ich dabei bin. Ich bringe Nayeli nach La Push und komme dann sofort wieder zurück.“ „Ich weiß, ich weiß“, gab ich zurück, ehe ich sie zu mir zog und meine Arme um sie legte. Ich hatte natürlich Angst um sie, aber wäre ich an ihrer Stelle, würde ich wahrscheinlich genauso handeln. Ich konnte nicht mehr tun, als ihr ihren Willen zu lassen und dafür zu sorgen, dass ihr nichts passierte. Aber wie sollte ich das im Kampfgetümmel schaffen? Plötzlich klopfte es zweimal kurz hintereinander an der Tür, dann öffnete meine Schwester sie. Weder sah Sangreal auf, noch ließ ich sie los, als ich meinen Oberkörper in Richtung Tür wendete. „Herein?“, erinnerte ich sie an das Wort, auf das sie eigentlich hätte warten müssen. Mariella hatte genau gewusst, dass Sangreal mit mir im Zimmer war. Sie hatte noch immer eine Abneigung gegen sie und war der festen Überzeugung, dass sie mir nicht gut tat und das zeigte sie auch, wann immer es ihr möglich war. „Du sollst in Carlisle's Arbeitszimmer kommen“, ignorierte sie meine Ermahnung und verließ dann wieder den Raum. Ich drehte mich wieder um. „Sieht so aus, als müssten wir aufstehen“, sagte sie. „Ja, auch wenn ich lieber liegen bleiben würde“, erwiderte ich. „Na komm schon. Du weißt, wie wichtig das ist.“ - „Trotzdem.“ Fünf Minuten später, war ich komplett angezogen, als Sangreal, noch im Morgenmantel, mit Nayeli auf dem Arm zurück ins Zimmer kam. „Ich zieh mich dann auch an, mache die Kleine frisch und komme dann nach, ja?“ Ich nickte, gab ihr einen Kuss auf die Lippen und strich dem Zwerg durchs Haar, dann ging ich die zwei Etagen hoch ins Zimmer meines Urgroßvaters, wo ein kleiner Teil meiner Familie auf mich wartete. Meine Mutter umarmte mich zur Begrüßung. „Guten Morgen“, sagte Edward sarkastisch. Ich zuckte mit den Achseln. „Bereit?“, fragte Carlisle. Ich nickte. Es war nun bereits meine zweite Sitzung dieser Art, daher wusste ich, was nun kam. Es war anzunehmen, dass Caius nicht sehr erfreut darüber sein würde, mich quicklebendig zu sehen und dass er diesen Umstand schnell ändern wollen würde. Um also vorzubeugen, dass mir sein Gift oder das irgendeines anderen Vampirs zum Verhängnis werden konnte, hatte Carlisle die Idee gehabt, ein paar Spritzen meines eigenen Vampirgiftes vorzubereiten. Ich mochte das Prozedere nicht. Ich empfand es als unangenehm und anstrengend, mich selbst dazu zu zwingen es in die kleinen reagenzglasgroßen Spritzen abzufüllen. Es floss nicht durch meinen gesamten Blutkreislauf, wie es das bei einem vollwertigen Vampir tat, daher war die Menge auch geringer und Carlisle hatte mir einen Tag Pause gewährt, ehe er nun die letzten drei Spritzen voll machen wollte. Als Sangreal mit Nayeli das Zimmer betrat, lagen dann schließlich insgesamt zehn mit Vampirgift gefüllte Spritzen fein säuberlich aufgereiht auf Carlisle's Schreibtisch. Das hereinfallende Licht der Abendsonne brach sich in ihrem diamantenen Schimmer. Das Gift war wohl das Einzige, was an mir im Sonnenlicht glitzerte – zum Glück. „Das hätten wir“, sagte Carlisle zufrieden. „Ja“, bestätigte ich und setzte mich auf einen der Stühle vor dem Schreibtisch. Sangreal stellte sich hinter mich und legte eine Hand an meine Schulter. Mit der anderen trug sie das Baby. „Und nun?“, fragte mein Vater. „Ich würde vorschlagen, dass irgendjemand sie für Ani aufbewahrt, damit wir schnellen Zugriff darauf haben, sollten sie gebraucht werden“, antwortete Edward. „Das kann Mariella doch machen!“, warf Seth sofort ein und grinste dann. Ich wusste, worauf er abzielte. Wenn sie darauf achten wollte, dass die Spritzen heil blieben, würde sie sich automatisch eher außer Reichweite der Schlacht aufhalten. „Dafür“, stimmte ich zu. Mir gefiel der Gedanke, dass wenigstens meine Schwester sich zurückhielt, wenn Sangi es schon nicht tat. Mariella blickte in die um sie herumstehenden Gesichter. „Also gut“, sagte sie dann und lächelte leicht. Sie war gerade im Begriff, alle Spritzen hochzunehmen, als Carlisle ihr sanft seine bleiche Hand auf den Oberarm legte. „Moment, nicht alle. Ich denke sieben sollten genügen. Die anderen drei bewahre ich hier auf.“ Er nahm drei Spritzen weg und verstaute sie in einer der Schreibtischschubladen. „Nur zur Sicherheit.“ Meine Schwester nahm die restlichen sieben an sich. „Pass bitte gut darauf auf“, bat Sangreal mit etwas besorgtem Unterton. Mariella zwinkerte ihr zu. „Darauf kannst du Gift nehmen.“ Ich verdrehte wegen des gekünstelten Wortspiels die Augen, lächelte aber dabei und meine kleine, große Schwester lächelte zurück. *** Am Abend desselben Tages versammelte sich unsere kleine Armee zum wahrscheinlich letzten Mal in unseren Räumlichkeiten. Draußen begann es bereits zu Dämmern, als schließlich unsere neuste Verbündete das Wohnzimmer durch die Terrassentür betrat. Ich umarmte Cat zur Begrüßung, lies sie dann jedoch direkt wieder los und bot ihr einen Platz auf dem Sofa an, während ich selbst stehen blieb. Sangreal lächelte mich an und wartete wahrscheinlich darauf, dass ich mich auf ihren Platz setzte, damit sie sich auf meinen Schoß setzen konnte, aber ich tat lieber so, als fände ich es angebrachter, neben Edward stehen zu bleiben. Die Enttäuschung stand ihr für einige Sekunden ins Gesicht geschrieben, verblasste aber rasch wieder, nachdem Carlisle zu sprechen begonnen hatte. „Vielen Dank, dass ihr noch einmal so zahlreich erschienen seid. Wir können euch gar nicht genug für alles danken, was ihr für uns aufzunehmen bereit seid. Ich bin mir sicher, ihr alle werdet mir zustimmen, wenn ich sage, dass der kommende Tag unser Leben mehr verändern wird, als jeder Tag zuvor – abgesehen vielleicht vom Tag unserer Verwandlung und für manche auch jener Tag, an dem er oder sie seinen Partner fürs Leben fand“ - er zwinkerte kurz zu Esme herüber - „ganz gleich was geschehen wird, diese Schlacht wird nie vergessen werden.“ „Oh nein“, warf Stefan ein. „Selbst wenn die Volturi siegen sollten, werden sie sich immer daran erinnern, wie sie herausgefordert wurden und den Tag fürchten, an dem es wieder passiert.“ Carlisle nickte, dann wand er sich an Catriona, die zwischen den versammelten Vampiren zum aller ersten Mal schüchtern auf mich wirkte. Sie hatte die Hände zusammengefaltet und zwischen ihre Schenkel gelegt. „Hast du mit deinem Vater reden können?“, fragte er sie. Sie hatte vorgehabt, ihrem Vater von unserem Vorhaben zu erzählen und wir hofften natürlich auf seine Unterstützung. Doch Catriona schüttelte den Kopf und ein leises Raunen ging durch die Räume. „Noch nicht wirklich. Aber ich bin mir sicher, er wird sich uns anschließen, wenn es tatsächlich so weit ist.“ Carlisle lächelte sie an. „Selbst wenn nicht, es bedeutet uns auch viel, dich in unseren Reihen zu wissen.“ Ich sah ihn fast etwas verblüfft an. War das eine Lüge oder meinte er das tatsächlich ernst? Gut, ich hatte nachgegeben und war mit Cat zurück nach Hause gefahren, als ich sie in Sicherheit bringen wollte, aber ich war noch immer skeptisch und musste zugeben, dass ich die Meinung meines Vaters teilte. Cat war in dieser Schlacht so nützlich, wie Nayeli es wäre. Catriona schien die Anerkennung, die sie durch meinen Urgroßvater erfuhr, zu gefallen, nickte sie doch zustimmend in seine Richtung und lächelte dabei ebenfalls. Als Nächster meldete sich Edward zu Wort. „Die meisten von euch wissen bereits um die fähigen Mitglieder, die Aro um sich geschart hat. Jane und Alec haben die Gaben, die für ihn am Nützlichsten sind, wenn wir eine Chance auf den Sieg haben wollen, müssen wir strategisch vorgehen und sie als Erste ausschalten. Renata, Aro's Schutzschild, wird dann unser nächstes Ziel sein. Meine Frau kann ihre Talente unterdrücken. Gegen physische Angriffe jedoch, ist sie machtlos. Es ist unabdingbar, dass wir zusammenhalten, macht also keine Alleingänge.“ Er legte eine kleine Pause ein, um seine Worte in unseren Köpfen sacken zu lassen. Ironischerweise würden, aufgrund der Tatsache, dass sie Vampire waren, über neunzig Prozent der Zuhörer sie garantiert nicht vergessen, doch sie hörten trotzdem aufmerksam zu, während eine aus den restlichen zehn Prozent plötzlich aufstand, um einem, für Vampire nicht mehr notwendigen, Bedürfnis nachzugehen. Catriona wurde von Esme aus dem Raum begleitet, während Edward fortfuhr. „Die Volturi sind sehr mächtig und haben seit Jahrhunderten die Herrschaft über alle Vampire, aber ich bin mir sicher, dass wir eine reelle Chance haben, sie zu bezwingen, wenn wir ihnen morgen gegenüberstehen.“ „Unsere Chancen standen nie besser, Edward“, stimmten die Rumänen zu, während Esme zurückkehrte und neben Carlisle Platz nahm. Auch die Iren und die Nomaden nickten. „Wir stehen zu euch“, sagte Benjamin. Befürwortendes Raunen und eifriges Kopfnicken schlossen sich ihm an. Danach standen fast alle auf und verließen das Haus, um ein letztes Mal auf die Jagd zu gehen oder sich die Beine zu vertreten. Catriona kam ebenfalls zurück und wurde direkt vom neugierigen Eleazar in Beschlag genommen. Als Edward auf mich zukam, sah ich gerade noch im Augenwinkel, wie beide ebenfalls zur Terrasse hinausgingen. „Hast du mit Sangreal gesprochen?“, hakte er nach. „Sie will bleiben“, antwortete ich und sah Sangi hinterher, als sie das Wohnzimmer in Richtung Flur verließ. Wahrscheinlich wollte sie nachsehen, ob Nayeli wach war. „Nayeli?“, fragte Edward weiter, fast so, als könne er meine Gedanken lesen, aber wahrscheinlich sah man mir die Sorgen an. „Sie will Leah's Angebot annehmen und die Kleine nach La Push bringen.“ „Gut“, sagte Edward. Ich nickte. „Ich werd‘ mal nach ihr schaun'.“ „Alles klar.“ Als ich Nayeli's Zimmer betrat, saß die Kleine zu meiner Verwunderung in ihrem Bettchen und sah mich etwas müde an. Für gewöhnlich nahm Sangreal sie immer auf den Arm, wenn sie wach war und sah nach ihrer Windel. Dass sie nicht hier war, obwohl sie vor mir in den Keller gegangen war, machte mich stutzig. Ich horchte einen Moment und vernahm ein leises Schluchzen im Nebenzimmer. Ich vergewisserte mich kurz, dass Nayeli nicht kurz davor war, loszuweinen und verließ dann wieder den Raum. „Sangi?“, fragte ich, als ich die Tür zu meinem Zimmer öffnete. Sie stand auf ihrer Seite des Bettes. Ich konnte nur ihren Rücken sehen und das Salz riechen. Vorsichtig ging ich auf sie zu und legte meine Hand auf ihre Schulter. „Hey“, hauchte ich leise. „Fass mich nicht an“, sagte sie tonlos und darauf bedacht, ihre zittrige Stimme zu unterdrücken. „Was?“, fragte ich perplex und nahm meine Hand wieder weg. Plötzlich drehte sie sich um. Obwohl ihr Gesicht leicht rot schimmerte und ihre Augen glasig waren, sah sie noch immer wunderschön aus – und ziemlich böse. Erst jetzt bemerkte ich, dass sie ein Stück Papier in der Hand hielt, auf dem offensichtlich etwas geschrieben stand. „Das lag auf meinem Kopfkissen“, erklärte sie und hob mir den Brief entgegen. Ohne auch nur einen Buchstaben davon gesehen zu haben, ahnte ich, was hier gerade geschah und nahm das Schriftstück mit einem extrem unguten Gefühl in der Magengegend an mich. Die Buchstaben waren mit gewöhnlichem blauem Kugelschreiber geschrieben worden. Die Handschrift war nicht überirdisch schön, jedoch auch nicht unsauber und ich kannte sie aus der Schule: Lie Hey Hallo T Nun, wie du siehst, weiß ich nicht mal, wie ich anfangen soll. Ich weiß du kennst mich eher mit einer großen Klappe, aber nun fehlen selbst mir die Worte. Aber da man ja nie sagen kann, was der nächste Tag bringt, möchte ich dir unbedingt noch etwas mitteilen und wenn ich es schon nicht aussprechen kann, will ich es dir wenigstens schreiben... Als ich damals nach Irland zurückgekehrt bin, war ich erstmal nur froh, wieder in meine alte Heimat zurück zu können. Hätte ich gewusst, dass ich dich dort kennenlernen würde, hätte es für mich noch einen Grund mehr zur Freude gegeben. Jedenfalls möchte ich, dass du weißt, wie viel du mir inzwischen bedeutest. Ich finde es sehr schade, dass wir nur so wenig Zeit miteinander hatten. Trotzdem werde ich das, was wir gemeinsam hatten, nie vergessen, keinen Kuss, keine Berührung, keine einzige Sekunde. Weder in diesem Leben, noch in jedem weiteren. In Li deine Cat „Was hast du getan?“, fragte Sangreal enttäuscht und mit leicht zittriger Stimme. Sie schien irgendwo zwischen Wut, Trauer und Enttäuschung zu pendeln. Ich für meinen Teil, spürte die zuvor aufgekeimte Nervosität über mich hereinbrechen. Mein Herz begann schneller zu schlagen, meine Fingerspitzen wurden trotzdem kalt. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte und überlegte kurz. „Es ist nicht so, wie du denkst!“, versuchte ich mich zu erklären, aber ich wusste selbst, wie naiv sie sein müsste, um mir das in dieser Situation zu glauben. „Was?“, fragte sie weiter. Ich sah sie nur fragend an. Mein Wortschatz schien mir vollkommen entfallen zu sein. „WAS ist nicht so, wie ich denke“, wurde sie dann präziser. Ich schluckte, dann nahm ich ihr Gesicht in meine Hände und sah ihr eindringlich in ihre grauen Augen. „Ich habe NICHT mit ihr geschlafen.“ Ihre Unterlippe bebte. „Das liest sich aber anders.“ Ich nickte. „Ich weiß, aber ich sage die Wahrheit. Bitte glaub mir.“ Ihre Fassade begann zu bröckeln. War sie wirklich in der Lage mir zu glauben? Vertraute sie mir bereits so sehr, dass Catriona's geschriebene Worte meine nicht überwogen? Sie sagte nichts weiter und schien auf weitere Erklärungen von mir zu warten. Okay, es war sehr riskant, mit der ganzen Wahrheit rauszurücken, aber welche Wahl hatte ich denn? „Ja, ich habe mit ihr geflirtet und ja, ich habe sie auch geküsst“, gab ich zu. Sangi's Lippen begangen stärker zu zittern. „Aber nicht, um dich zu verletzen oder zu hintergehen.“ Bis hier hin war alles vollkommen im Einklang mit meinem Gewissen. „Ich hab es nicht getan, weil ich mich zu ihr hingezogen fühlte.“ Und da war nun die erste Lüge, gefolgt von dem nächsten Quäntchen Wahrheit. „Sondern weil ich sie für unser Vorhaben gewinnen wollte. Und der einfachste und schnellste Weg war es für mich, mir zunutze zu machen, dass sie etwas von mir wollte.“ Was darauf folgte war Stille. Ich sah Sangreal an, sie sah mich an. Ihr Gesicht lag noch immer zwischen meinen Händen. Und dann wanderten ihre Augen weg von meinen und fixierten etwas hinter mir. Ich brauchte mich nichtmal umzudrehen, um zu wissen, wer es war. Soviel Pech auf einem Haufen, konnte nur ich haben. Ich kniff kurz die Augen zusammen und drehte mich dann langsam um. Cat stand noch im Türrahmen. Sie sah uns unverwandt an, ohne dass ich eine Gefühlsregung in ihrem Gesicht feststellen konnte. Wie viel sie mitbekommen hatte, vermochte ich nicht zu sagen, aber offensichtlich genug, um im nächsten Moment plötzlich auf dem Absatz kehrt zu machen. Ohne lang nachzudenken, fegte ich ihr hinterher. Zum ersten Mal, bemerkte ich, dass sie, wenn sie es wollte, eindeutig schneller zu Fuß sein konnte, als ein Mensch. Im Wohnzimmer bekam ich sie dann schließlich am Handgelenk zu fassen. „Warte“, flehte ich sie fast an. „Lass mich!“, brüllte sie. „Was ist denn hier los?“, fragte Esme entsetzt, kaum, dass sie zusammen mit Mutter und Bella das Zimmer betreten hatte. Cat versuchte indes sich loszureißen, war aber zu schwach dazu. „Mein Vater hatte Recht!“, schrie sie mich an, während einige Tränen langsam aus ihren blauen Augen hervorquollen und sich einen Weg über ihr Gesicht bahnten. „Du bist ein seelenloses Monster, genau wie alle anderen Blutsauger auch!“ „Was ich getan habe, war falsch“, gab ich zu. „Aber ich habe einfach keine andere Möglichkeit gesehen! Ich mag dich wirklich, aber mein Herz gehört nun mal ihr!“ „Du hast weder eine Seele, noch ein Herz! Und ich war dumm genug zu glauben, du hättest eins!“ „Wenn ich so herzlos wäre, hätte ich dich vor drei Tagen nicht in Sicherheit bringen wollen!“, versuchte ich, mich zu rechtfertigen. „Alles nur Fassade!“, schrie sie. „Du hast gewusst, dass ich darauf reinfallen und trotzdem mitmachen wollen würde! Und jetzt lass mich los!“ Ich hielt sie weiter in meinem Griff. „Wenn ich könnte, würde ich es rückgängig machen!“ „Oh ja!“, gab sie zurück. „Das würde ich auch!“ „Cat, bitte!“, schrie ich nun auch und zog sie näher zu mir. „LASS. MICH. LOS!“ Kaum hatte das letzte Wort ihre Lippen verlassen, durchfuhr mich ein derart heftiger Schmerz, dass ich sofort rücklings auf die Fließen knallte. Kaum, dass ich sie losgelassen hatte, verschwand er wieder. Zurück blieb nur die Müdigkeit. Ich fühlte mich so schlapp, als hätte ich gefastet oder nicht geschlafen und ich kannte dieses Gefühl – von ihrem Vater. Ich öffnete die Augen und versuchte wenigstens den Oberkörper zu heben. Cat stand noch immer an derselben Stelle und starrte mich an. Sie wirkte mindestens so überrascht wie ich. Ohne ein weiteres Leben durchleben zu müssen, war sie nun also doch in der Lage, sich gegen Vampire zur Wehr zu setzen. „Ani!“ Die besorgte Stimme meiner Mutter brach die Stille. Sie setzte sich neben mich und wollte mir aufhelfen, aber ich konnte nur daliegen und Cat ungläubig anstarren. Die wiederum sah mich noch einen Moment traurig an, dann drehte sie sich um und verließ das Wohnzimmer durch die Terrassentür. Irgendetwas tief in mir sagte mir, dass ich sie nicht mehr sehen würde... „Alles in Ordnung?“, wollte Renesmee wissen. Ich schob ihre Hände weg und nickte. Gleichzeitig standen wir wieder auf und die schokoladenbraunen Augen meiner Mutter sahen traurig zu mir hoch. Dann machte es auf einmal Klick in meinem Kopf. Ich hatte Sangi ganz vergessen! „Scheiße“, zischte ich zu mir selbst und lies meine Mutter, Esme und Bella einfach stehen. Fast alle Stufen der Kellertreppe auf einmal nehmend, hastete ich zurück in mein Zimmer und riss die Tür auf. Sangreal war noch immer dort, schloss aber just in dem Moment, in dem ich den Raum betrat, den Reißverschluss einer großen schwarzen Sporttasche. Ohne mich eines Blickes zu würdigen, umschlossen ihre zarten Finger die beiden Griffe der Tasche, dann lief sie damit einfach an mir vorbei. „Sangi“, sagte ich leise, wurde aber mit Ignoranz bestraft. Sie ging wortlos ins Nebenzimmer, wo sie Nayeli aus dem Bettchen hob. Als sie sich anschickte, diesen Raum ebenfalls wieder zu verlassen, schloss ich dessen Tür hinter mir und lehnte mich mit dem Rücken dagegen. Sie blieb, Nayeli links, die Tasche rechts, etwa einen Meter vor mir stehen und sah mich ausdruckslos an. „Sei nicht albern.“ „Was hast du vor?“, fragte ich. Diese Seite von ihr kannte ich kaum. Als ich sie damals beschuldigt hatte, mit Aro unter einer Decke gesteckt zu haben, hatte ich einen kleinen Vorgeschmack davon bekommen, aber das hier war um ein vielfaches schlimmer und es machte mir Angst. „Ich bringe Nayeli nach La Push, wie wir es besprochen haben und komme zurück, bevor sie kommen“, erklärte sie. Prompt spürte ich, wie eine Last von mir abfiel und ich atmete, fast hörbar, kräftig aus – allerdings nur, bis sie wieder den Mund aufmachte: „Wenn sie erstmal weg sind, kann ich mit Nahuel und Nayeli irgendwo ein neues Leben anfangen.“ „Was?!“ Zum allerersten Mal in meinem Leben, spürte ich, wie irgendetwas in mir zerbrach, das zuvor nicht zerbrechlich gewesen war. Es war als hätte ich es dreißig Jahre lang aus Kunststoff in mir herumgetragen. Unzerbrechlich, aber dafür weder so wertvoll, noch so schön, wie es aus Glas gewesen wäre. Kaum, dass es schließlich doch diesen gläsernen Zustand erreicht hatte, hatte ich es verschenkt und nun hatte sie es zerbrochen. Aber ich gab ihr keine Schuld. Ich hatte es selbst zu verantworten. Genau wie alles andere in meinem Leben. Sangreal machte zwei Schritte nach vorn, griff nach der Türklinke und öffnete die Tür. Benebelt wie ich mich fühlte, ließ ich sie einfach gewähren. Erst das sich öffnende Garagentor nebenan rüttelte mich aus meiner Trance. Ich brauchte allerdings noch ein, zwei Atemzüge um zu begreifen, was da gerade passierte: Ich war im Begriff, sie zu verlieren. Während jemand Edward's Volvo in den Hof fuhr, ging ich wieder die Stufen hinauf ins Erdgeschoss, zunächst langsam, dann immer schneller. Oben angekommen sah ich gerade, wie Sangreal das Haus verließ. Ich rannte los, um ihr zu folgen, mit der Absicht, sie aufzuhalten, da umschlossen mich zwei Arme und hielten mich gewaltsam davon ab. Nahuel. „Lass mich!“, zischte ich ihn an. „Lass sie!“, giftete er zurück. Es folgte ein kurzes Handgemenge, dass aber jäh von Dad unterbrochen wurde. „Nahuel, lass ihn los!“, befahl er, woraufhin Nahuel tatsächlich seinen Griff lockerte. Er fixierte zunächst finster meinen Vater, sprach aber dann zu meiner Mutter: „Ich hab es dir gesagt.“ Ich verstand seine Worte nicht, hatte keine Ahnung, wovon er sprach, doch der erneut aufheulende Motor von Edward's Fahrzeug lies mich aufhorchen. Ich ließ Nahuel und meine Eltern stehen, raste nach draußen und postierte mich zwischen Sangreal, die Nayeli auf dem Arm trug, und dem schwarzen Wagen, in dem Alice wartete, um die beiden zum Flughafen zu fahren. „Bitte lass mich erklären“, bat ich. „Hast du bereits“, antwortete sie. „Ja, schon... aber...“, stotterte ich. Was wollte ich eigentlich noch gleich sagen? „Aber was?“, fragte sie. „Ich weiß, ich habe nicht ganz die Reaktion gezeigt, die du dir gewünscht hast.“ „Doch“, antwortete ich. „Ich verstehe, dass du wütend bist. Ich verstehe, dass du enttäuscht bist. Aber willst du wirklich jetzt einfach so gehen und mich hier so stehen lassen, so kurz vor der Schlacht?“ „Wann gedachtest du, mir zu erzählen, dass du mit ihr rumgemacht hast?“ Gute Frage, hatte ich das überhaupt vorgehabt? Wenn ja, dann definitiv nicht jetzt. „Danach?“, antwortete ich unsicher, hätte mich aber kurz darauf gern selbst geohrfeigt. „Und in der Zwischenzeit hättest du ihr weiter Gefühle vorgespielt, damit sie ihr Leben für dich riskiert?“ „Nein“, gab ich zurück. „Ich hatte ihr doch sogar gesagt, dass sie sich lieber raushalten sollte. Ich wollte sie nach Hause bringen.“ „Ja“, sagte Sangreal. „Weil du gemerkt hast, dass sie dir nicht von Nutzen ist.“ Ich antwortete nichts, wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Nach einer kurzen Pause, fuhr sie fort: „Jetzt wo du weißt, dass sie doch kämpfen kann, kannst du ihr ja nachrennen und sie weiter bezirzen. Ich stehe dir jedenfalls nicht mehr im Weg.“ Ihre Worte waren wie Ohrfeigen. Jedes einzelne ein Schlag ins Gesicht. „Spinnst du?!“ Mehr fiel mir beim besten Willen nicht ein. Sie antwortete nicht mehr darauf und setzte sich wieder in Bewegung. Ich stellte mich ihr erneut in den Weg. „Das kannst du nicht machen.“ „Oh doch, ich kann“, sagte sie. „Nein!“, fuhr ich sie an. „Lass mich einfach gehen, Anthony!“ „Nein!“ Und dann geschah etwas, womit ich nicht gerechnet hatte. Etwas, dass mir in meinem ganzen Leben so selten passiert war, dass ich solche Situationen an einer Hand abzählen konnte. Ich weiß nicht, ob es Gleichgültigkeit oder Gefühlskälte gewesen war, die mich stets daran gehindert hatte und ob ich die Tatsache, dass ich mich nun aus Wut über mich selbst und Verzweiflung über die Situationen verwandelte, als etwas Positives ansehen sollte, zeigte sie doch, dass ich tatsächlich zu echten Gefühlen in der Lage war. Ich stand keine drei Meter von Sangreal und dem Kind auf ihrem Arm entfernt, als der pferdegroße Wolf aus mir herausbrach und Fetzen meiner Kleidung durch die Luft wirbelten. Sangreal machte einen Schritt zurück und Alice stieg aus dem Auto, bereit einzugreifen. Es war aber schließlich Nayeli, die mich wach rüttelte. Nun in Tiergestalt, spürte ich ihre Angst umso mehr. Natürlich hatte sie die großen Wölfe von weitem gesehen. So richtig nah, war ihr aber nie einer gekommen. Wahrscheinlich war sie auch noch nicht in der Lage zu begreifen, dass wir eigentlich keine Wölfe waren und uns nur verwandelten. In jedem Fall jedoch, machte ihr das große, schwarze Tier, dass ihre Adoptivmutter mit seinen grünen Augen fixierte, Angst. Als das Kind leise zu weinen begann, legte Sangreal schützend den Arm um sie und drückte sie vorsichtig an sich, ohne mich jedoch aus den Augen zu lassen. Ohne dass ich es wirklich beeinflussen konnte, entfuhr mir ein leises Winseln, dann machte ich erst ein paar Schritte zurück, drehte mich schließlich gänzlich um und lief davon. Im ersten Moment wollten meine Pfoten mich weit weg Richtung Meer tragen, dorthin, wo ich immer hingeflüchtet war, aber ich zwang mich, meinem Instinkt nicht zu folgen, schließlich konnte ich meine Familie so kurz vor dem Eintreffen der Volturi nicht verlassen. Stattdessen lief ich zur Rückseite des Hauses, ließ mich vor der kleinen Klappe zu meinem Zimmer nieder und versuchte, mich so weit zu beruhigen, dass ich mich zurückverwandeln konnte. Noch bevor mein Puls sich verlangsamt hatte, ließ der Motor des Volvos ihn erneut etwas hochschnellen. Mein feines Gehör hörte den Wagen noch fast bis er die Stadt verlassen hatte... *** Die nächsten zwei Stunden verbrachte ich damit, auf meiner Bettkante zu sitzen und nachzudenken. Ein Wirrwarr aus Erinnerungen, Zukunftsängsten und Fragen rauschten durch meinen Kopf. Sogar Banalitäten wie die Schulpausen mit Cat und ihrem penetrant riechenden Brötchen kamen mir immer wieder ins Gedächtnis. Ich hatte durch eine falsche Entscheidung sowohl Sangreal, als auch Cat verloren. Momentan hatte ich verdammt große Lust, meinen Kopf kontinuierlich gegen die nächste Wand zu schlagen, aber am Ende würde ja ohnehin nur die Wand Spuren davon tragen. Wie konnte ich nur so blöd sein? Hätte ich nicht so sehr darauf beharrt, Cat's Unterstützung zu bekommen, hätte ich sie niemals in diese Situation gebracht und Sangi wäre noch bei mir, wahrscheinlich genau hier, auf dieser Seite des Bettes. Ich ließ mich nach hinten in die Laken fallen und sog ihren Duft ein. Ich fragte mich, wie lange ich ihn noch würde riechen können, bevor er verblasste. Er war einen Hauch süßer als der anderer Halbvampire, jedoch nicht so penetrant süß, wie es der eines vollwertigen Vampirs war. Ich schloss die Augen und sah ihr hübsches Gesicht vor mir. Wahrscheinlich flog sie gerade über den Atlantik. Plötzlich klopfte jemand an. Zuerst dachte ich, Nahuel hätte sich dazu entschlossen, dort weiterzumachen, wo wir vorhin aufgehört hatten, doch zu meiner Überraschung, öffnete Leah etwas zögerlich die Tür, nachdem sie einen Moment vergeblich auf eine Reaktion gewartet hatte. Ich setzte mich etwas überrumpelt auf. „Störe ich?“, fragte sie. Ich schüttelte nur hastig den Kopf. „Okay“, sagte sie dann und schloss flüsterleise die Tür hinter sich. Sie ging unsicher ein paar langsame Schritte auf mich zu und rieb dabei die Handflächen leicht aneinander, ganz so, als wäre sie nervös und hätte schwitzige Hände. „Nun... da gibt es etwas, was ich dich gerne fragen würde.“ Ich ließ meine Augen blitzschnell durch den Raum huschen, dann bot ich ihr mit einem stummen Kopfnicken den dunkelgrünen Sessel an. Ironischerweise genau das Möbelstück, auf das zu setzen Will mich immer angewiesen hatte, wenn er mit mir hatte reden wollen. Sie setzte sich hin und ergriff nach einer erneuten Pause wieder das Wort: „Ich wollte dir diese Frage schon so lange stellen, aber ich... ich...“ „Schon okay“, unterbrach ich sie. Ihre Gründe waren mir mehr als bewusst. Wäre ich in ihrer Situation gewesen, ich hätte auch nicht mit mir reden wollen. Sie schluckte kurz. „Na ja, jedenfalls....“ Wieder eine Pause. Ich nahm an, dass es sie nervös machte, dass ich sie ansah, nahm meinen Blick von ihr und ließ ihn langsam Richtung Fußboden schweifen. „Jedenfalls“, fuhr sie dann fort. „Wäre es mir sehr wichtig zu erfahren, was... was Will's letzte Worte waren bevor er...“, sie zögerte erneut, „starb.“ Ich konnte gar nicht anders, als sie wieder anzusehen. Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Eigentlich... hatte ich überhaupt nicht mehr damit gerechnet, dass sie jemals wieder normal mit mir reden würde. Natürlich erinnerte ich mich an seine letzten Worte. Jede Silbe hatte sich in mein Gehirn gebrannt, genau wie die Bilder dazu. Ich hatte wohl versucht, alles zu verdrängen, aber sie würden doch immer da sein. Dazu war mein halb menschliches, halb übernatürliches Gehirn zu perfekt. Vampire vergaßen nicht. Ich ebenso wenig. Leah schien mir anzusehen, dass sie mich damit gewissermaßen überfahren hatte. „Es tut mir Leid, wenn ich-“ „Nein“, unterbrach ich sie. „Du hast ein Recht, das zu wissen.“ Ja, das hatte sie. Aber sollte ich ihr wirklich die Wahrheit sagen? Gewiss erwartete sie, dass er in seinen letzten Atemzügen an sie gedacht hatte. Vielleicht hatte er das auch, aber über sie gesprochen hatte er nicht. Er hatte nur von mir geredet und davon, dass ich wieder nach Hause gehen sollte. 'Versprich mir, dass du dir keine Schuld gibst' und 'Bitte, geh zurück nach Hause', hatte er gesagt. Kein Wort über Leah, kein Wort über seine Kinder oder Mariella oder unsere Eltern. Wahrscheinlich würde ich ihr wehtun, wenn ich ihr wahrheitsgetreu wiedergab, was mein Bruder mir gesagt hatte, kurz bevor sein Herz aufgehört hatte zu schlagen, aber Lügen hatten mir schon genug Verluste und Sorgen bereitet und Leah verdiente die Wahrheit. „Versprich mir, dass du dir keine Schuld gibst“, wiederholte ich Will's Worte, ohne Leah anzusehen. „Bitte, geh zurück nach Hause.“ Im Augenwinkel sah ich, dass sie den Kopf etwas sinken ließ. Erneut trat Stille ein. „Es tut mir Leid“, sagte ich dann schließlich zu ihr gewandt. „Ich hätte mir gewünscht, dass er seine letzte Kraft nicht für mich verschwendet und mir eine Botschaft für dich mit auf den Weg gegeben hätte.“ „Nein, schon gut“, winkte sie ab. Der Klang ihrer Stimme verriet, dass es ihr schwer fiel, sich zusammenzureißen. „Im Grunde ist es ja unnötig. Ich weiß, dass er mich unendlich geliebt hat. Ich meine, er ist auf mich geprägt gewesen. Wie hätte er unsere Kinder und mich nicht lieben können?“ Eine einzelne Träne quoll aus ihrem linken Auge hervor. „Eigentlich ist es unnötig“, wiederholte sie. „Leah“, sagte ich leise und wollte gerade aufstehen, da schnellte sie aus dem Sessel und gestikulierte mit den Handflächen in meine Richtung. „Nein, schon gut. Danke, dass du es mir erzählt hast, das war mir wirklich sehr wichtig.“ Ich sah ihr niedergeschlagen nach, als sie zur Tür ging. Für was ich eben hatte aufstehen wollen, war mir selbst schleierhaft. Hatte ich sie etwa trösten wollen? Wie denn? In den Arm nehmen? Einen Kuss auf die Stirn geben? Ich war verwirrt über mich selbst. Leah öffnete die Tür eilig, verharrte dann jedoch plötzlich und drehte ihren Kopf noch einmal zu mir. „Nayeli wird in La Push sicher sein“, sagte sie dann. Es passte nicht zum Thema, aber es war auf irgendeine Weise ein wohltuendes Gefühl zu wissen, dass sie sich dessen bewusst zu sein schien, dass ich mir aufrichtig Sorgen um das Kind machte. Bisher hatte ich immer die Vermutung gehabt, dass Leah mich für ein gefühlskaltes Wesen gehalten hatte. Schon als ich noch klein gewesen war, war sie mir gegenüber eher distanziert. Nachdem sie den Raum verlassen hatte, legte ich mich wieder aufs Bett und schloss die Augen. Dieses Gespräch hätte ich vor ein paar Wochen niemals für möglich gehalten. Dementsprechend fiel mir nun ein Stein vom Herzen. Leider fühlte ich mich trotzdem kein Gramm leichter. Die restlichen Steine wogen zu schwer... Erneut ging die Tür auf und ich schreckte hoch. „Hast du was verg-“ Ich hielt inne. Statt wie von mir vermutet Leah, betrat meine Schwester das Zimmer. „Leah?!“, fragte sie neugierig und schien ebenso verwundert über Leah's Besuch bei mir, wie ich es war. Ich winkte ab, meine Schwester nickte nur verhalten. „Du hast das Anklopfen wohl wirklich verlernt“, sagte ich dann, schließlich war es bereits das zweite Mal an nur einem Tag, dass sie unangekündigt mein Zimmer betrat. Meine Schwester sah betroffen drein. „Das mit Sangreal tut mir Leid.“ Ich lachte bitter: „Mariella, ich kenne dich buchstäblich schon mein ganzes Leben, mir ist nicht entgangen, dass du sie nicht mochtest.“ „Mir tut es ja nicht um sie leid, sondern um dich. Ich wusste, dass sie dir nicht gut tun würde, aber ich hatte mir gewünscht, ich würde falsch liegen.“ „Dann kannst du ja nach oben gehen und Nahuel die Hand reichen. Er hat wohl auch gewusst, dass ich ihr nicht gut tun würde.“ Mariella antwortete nichts. Ich schüttelte den Kopf. „Warum bist du wirklich hier?“ „Mum und Dad wollen dich sehen.“ Zur Antwort zog ich eine Augenbraue hoch. *** In der Suite meiner Eltern stach mir direkt nach betreten ihrer Räumlichkeiten die goldene Champagnerflasche ins Auge. Neben meinen Eltern waren nur noch meine Großeltern im Raum. „Was wird das?“, fragte ich leicht verstimmt. Drehten sie jetzt komplett am Rad? Oder war es ein ungeschriebenes Gesetz, dass andere immer dann glücklich waren oder etwas zu feiern fanden, wenn ich nur noch schwarz sah? „Feiern wir unseren tosenden Untergang?“ „Aber nicht doch“, beteuerte meine Mutter sogleich, nahm mich am Oberarm und führte mich zur Couch, wo Mariella bereits Platz genommen hatte. Edward öffnete indes die Flasche und füllte sogar sein und Bella's Glas beim Einschenken gleichzeitig. „Ich weiß, dass wir eine große Familie sind“, fuhr Renesmee fort. „Aber innerhalb dieser großen Familie, gibt es unabhängig davon, auch noch uns und es war uns, also Mum und Dad, deiner Schwester, Jake und mir wichtig, dass wir noch etwas Zeit nur für uns haben.“ „Und für Edward ist es eine tolle Gelegenheit die letzte Flasche Armand de Brignac aufzubrauchen“, fügte Vater hinzu und lächelte Edward verschmitzt an. „So ist es“, stimmte Edward hinzu und hob sein Glas. „Auf den morgigen Tag und darauf, dass sich alles ändern wird, so oder so.“ Die Anderen taten es ihm gleich und hoben ihre, nun gold-sprudelnden, Champagnergläser hoch, dann hielten sie inne und sahen mich erwartungsvoll an. Ich seufzte und nahm mein Glas. „Auf Morgen“, sagte ich, den Blicken, die ich erntete, nach zu urteilen, etwas zu motivationslos. Ich hob es ebenfalls empor und alle tranken. Nach dem ich einen Schluck genommen hatte, sah ich Mariella, die neben mir saß, bei ihrem letzten Zug zu. „Wo ist denn Seth?“, fragte ich dann, Meine große Schwester stellte ihr Glas auf den gläsernen Couch-Tisch. „Bei Leah“, sagte sie kurz. „Du hast mir immer noch nicht gesagt, was Leah von dir wollte“, kam sie davon auf vorhin zu sprechen. Ich lächelte sie leicht an. „Sie hat mir nur eine Frage gestellt, nicht mehr. Sie hat mir nicht den Kopf abgerissen.“ Mariella sah mich schuldbewusst an. „Es tut mir leid, ich mache mir nur Sorgen. Ich kann das so schwer abstellen.“ „Ich weiß“, antwortete ich. Ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln, doch dann sah ich sie eindringlich an und ihr Lächeln verschwand, als ich weitersprach. „Aber morgen möchte ich, dass du dich zurück hältst, ganz gleich was passiert.“ „Aber-“, wollte sie gerade erwidern, doch ich unterbrach sie. „Nein“, sagte ich und schüttelte den Kopf, dann wand ich mich meiner Mutter zu. „Dasselbe gilt übrigens auch für dich.“ Renesmee antwortete nichts und sah mich, das Champagnerglas, noch zu einem Drittel gefüllt, in der Hand, einfach nur an. Vater legte seine rostrote Hand auf ihr Handgelenk und nahm ihr das Glas mit der anderen Hand ab. „Er hat Recht, Schatz.“ „Jake“, hauchte sie. „Du weißt, wenn es nach mir ginge, würde ich dich sofort in den Privatjet setzen und auf die Malediven schicken, damit sie dich niemals finden und die Sonne dich schützen kann. Und Mariella und Ani würde ich direkt mitschicken.“ Mum nahm Dad das Glas ab und stellte es auf den Tisch, dann nahm sie sein, nun trauriges, Gesicht in ihre bleichen Hände. „Du bist meine Sonne, Jake und ich werde nicht von deiner Seite weichen.“ „Ich weiß“, sagte er und legte seine Hand auf ihren Handrücken. „Jake“, meldete sich nun Bella zu Wort. „Du bist nicht der Einzige, der Nessie um jeden Preis schützen will“, sagte sie und zwinkerte ihm zu. Dad nickte. „Ich verlass mich auf deine Jedi-Tricks, Bella.“ *** Am nächsten Tag war es dann natürlich nicht nur mein Vater, der große Hoffnungen in die Fähigkeiten meiner Großmutter setzte. Ich war mir wohl bewusst, dass ich ihre Gabe zu einem gewissen Teil geerbt hatte, hätte mir nun jedoch gewünscht, dass ich damit noch anderen würde helfen können, außer nur mir selbst. Auf Alice' Anraten hin, bauten wir uns eine Art kleine Basis in Küstennähe auf. Wir hofften so, die Volturi vor dem Eindringen ins Landesinnere weitgehend hindern und dadurch die Menschen, die hier lebten, beschützen zu können. Das starke Gewitter, dass sie vorausgesagt hatte und das sich bereits durch dunkle Wolken am Himmel und tosende Wellen im Meer ankündigte, kam uns daher gerade gelegen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich bei diesem Unwetter jemand an der Küste aufhielt, war gering. Wir schlugen Zelte auf und Benjamin zündete ein Lagerfeuer an, um die Wartezeit erträglicher zu gestalten. Die Nacht brach bereits an, als Edward schließlich aufhorchte, nachdem er die Gedanken Aro's lokalisiert hatte. Und tatsächlich: von der Küste aus, näherten sich uns über zwei Dutzend in schwarz gehüllte Vampire. Ihre Mäntel erinnerten mich an einen Farbfächer. Das Schwarz der Äußersten wirkte verwaschen, es hätte fast als Grau bezeichnet werden können, während der Ton nach Innen hin immer dunkler wurde. Sie kamen als eine Einheit, prunkvoll wie eh und je. Aro wurde von Marcus und Caius flankiert. Unweit von ihnen befanden sich Renata, das Schutzschild, und natürlich Jane und Alec, die Hexen-Zwillinge. Mit jedem Schritt, den sie auf uns zugingen – obgleich sie sich für vampirische Verhältnisse verdammt langsam fortbewegten – stieg meine Anspannung. In diesen Sekunden begann ich es als Segen zu betrachten, dass ich sowohl Sangreal, als auch Cat von mir fort getrieben hatte. Immerhin waren sie nun beide nicht auf dem Schlachtfeld. Ich hoffte, dass Sangi sich kurzfristig dazu entschlossen hatte, bei Nayeli zu bleiben. Wahrscheinlich würde ich sie nun nie wieder sehen, aber das war es mir wert. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)