Noblesse von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 3: Eine erste Frage --------------------------- Unruhig ging Samuel in seinem Zimmer auf und ab. Er hatte seinen neuen Schützling seit einem letzten Blick in der Eingangshalle nicht mehr gesehen und auch der Doktor hatte ihm keine Auskunft über das Befinden des Jungen geben wollen. Der Herzog war überrascht, wie sehr ihn die Ungewissheit beunruhigte und verunsicherte. Er wusste, wie unangenehm dem Gestürzten das plötzliche Auftauchen seines unliebsamen Lehrers gewesen war, er hatte es in seinen Augen sehen können, dennoch hatte er eine grenzenlose Erleichterung verspürt, als Alexis gewohnt trotzig geantwortet hatte. Aus irgendeinem Grund wollte er nicht, dass sich der junge Lord verletzte oder Schmerzen hatte. Samuel dachte plötzlich an seinen älteren Bruder Karl, der vor Jahren auch einen schweren Sturz vom Pferd hatte erleben müssen und seitdem seinen rechten Arm nicht mehr bewegen konnte. Karl war ohne Frage trotzdem ein starker und gütiger Herrscher, aber er hatte damals einen Großteil seiner Lebensfreude eingebüßt. Schweiß brach auf Samuels Stirn aus und er musste sich einen Moment setzen. Er mochte es ganz und gar nicht, die Kontrolle über seinen eigenen Körper zu verlieren und tadelte sich stumm ob seiner Schwäche. „Es wird ihm schon gut gehen.“, seufzte er in die belastende Stille des dunklen Raumes und erhob sich energisch von dem kleinen Hocker. Seine Wohnstatt für die folgenden Monate war ungewöhnlich großzügig bemessen und prunkvoll ausgestattet. Lysander ließ es ihm an nichts fehlen, soviel war sicher. Er beschloss noch ein kurzes Bad zu nehmen, dann würde er schlafen gehen. Sein Blick fiel auf den ausgearbeiteten Lehrplan für die nächste Zeit und er seufzte resigniert: „Das wird wohl noch eine Weile warten müssen.“, murmelte er auf dem Weg ins Badezimmer und ein leises Gefühl des Bedauerns breitete sich in seiner Brust aus. Der nächste Morgen begann grau und regnerisch. Schwerer Nebel lag wie ein dickes Tuch auf dem Anwesen und dämpfte die Geräusche wie eine Watteschicht. Das Licht war weiß und sanft, ganz so, als würde das Wetter Erbarmen mit Alexis' noch immer dröhnendem Kopf haben. Mit einem Stöhnen setzte er sich auf und blickte an sich herab: Sein Nachthemd war zerknittert und verrutscht, entblößte das schimmernde Hellbraun seiner flachen Brust. Er mochte den Kontrast zwischen dem blendendem Weiß und seiner Haut normalerweise sehr, doch heute kam er ihm unwirklich und seltsam entrückt vor. Sich vom Anblick seines Körpers lösend betätigte er das Klingelseil, dann versuchte er aufzustehen. Überraschenderweise schien das rhythmische Hämmern in seinem Kopf schwächer zu werden statt sich zu steigern. Henry erschien mit gewohntem Gesichtsausdruck, verbeugte sich und nahm seinen Platz neben der Tür ein: „Guten Morgen my Lord, wie ist Euer wertes Befinden?“, fragte er und seine Stimme verriet kein wirkliches Interesse. „Besser.“, entgegnete Alexis halbherzig und ging zwei prüfende Schritte. Es ging. „Ich möchte meinen Tee heute gerne in meinem Studierzimmer zu mir nehmen, ich habe einiges zu tun.“, sagte er und tauchte seine Hände in das kalte Wasser in der Waschschüssel. Er verzog das Gesicht. „Dieses Wasser sollte wesentlich wärmer sein, Henry. Bitte kümmere dich darum.“, fügte er hinzu und betrat sein Ankleidezimmer. „Sehr wohl.“, antwortete sein Bediensteter und verließ den Raum leise. Mit suchendem Blick strich Alexis durch den über und über mit Kleidung gefüllten Raum. Seit er sich zurückerinnern konnte, hatte er sich seine Kleider selbst herausgesucht und sich, entgegen seiner Angewohnheit, nie bedienen lassen. Er mochte es, seinen eigenen Stil zu pflegen und mit seinem Äußeren anzuecken. Er war zweifellos eine auffällig Erscheinung: das exotische Aussehen gepaart mit der eigenwilligen Art Kleidung zu kombinieren, ließ ihn auf jedem Bankett zum Mittelpunkt werden. Er entschied sich heute für etwas Bequemes und Praktisches. Sein Angestellter kehrte nach wenigen Minuten mit einer Kanne heißen Wassers zurück und Alexis gönnte sich eine kurze Katzenwäsche. Es tat gut, die warme Flüssigkeit auf seinem Gesicht zu spüren und auch die letzten Anzeichen seines gestrigen Sturzes, und wohl auch die seines Alkoholgenusses, schienen zu verblassen. Als er sein weitläufiges Studierzimmer betrat war alles still. Es roch nach Staub, alten Büchern und frisch aufgebrühtem Tee. Mit einigen Schritten war der junge Herr an seinem wuchtigen Erlenholzschreibtisch und ließ sich träge in den hohen Lehnstuhl fallen. Als der Raum noch als Arbeitszimmer seines Vaters diente, hatte es auf den kindlichen Alexis immer bedrohlich und düster gewirkt: die hohen Bücherregale, keine Bilder an den Wänden, die dicken Vorhänge vor den riesenhaften Fenstern. Heute mochte und schätzte er diese Atmosphäre, besonders wenn ihm der Sinn nach Lesen und Rückzug stand. Man suchte in dem jungen Lord nicht unbedingt die Fähigkeit, sich für längere Zeit ernsthaft auf einen Text oder ein Buch zu konzentrieren, doch er barg durchaus auch diese Eigenschaft in sich. Und wenn sie auch selten zu Tage trat, war er doch im Umgang mit Schriftstücken und Aufsätzen weitaus vertrauter, als seine Umwelt es ihm zutraute. Alexis nahm einen Schluck des herben Jasmintees und runzelte die Stirn während er das zuletzt Gelesene in die Hand nahm. Es war ein langer, absatzloser Text, geschrieben in schottischem Dialekt, der sich mit der Aufklärung einer brutalen Mordserie befasste. Die Buchstaben waren in einer stark nach rechts geneigten Handschrift aufgesetzt und schwer zu entziffern – das reizte den jungen Lord sehr. Er war nicht der Typ für schier endlose Abhandlungen über Philosophie, Etikette oder Literaturwissenschaften, dass langweilte ihn schnell und ließ sein Interesse innerhalb von Sekunden abkühlen. Forensik hingegen weckte stets die Neugierde in Alexis klarem Geist und er hatte nicht selten die Nächte bei Kerzenschein, angestrengt lesend hier verbracht. Er schreckte hoch und unterbrach seinen Gedankengang widerwillig als es laut klopfte. Ohne eine Antwort abzuwarten trat Baroness Cecilia ein und kam mit langen, eleganten Schritten auf ihn zu. „Alexis, meine Sonne, wie geht es dir?“, fragte sie nur wenig interessiert und setzte sich provokativ auf die polierte Schreibtischplatte. „Ich war ganz krank vor Sorge als ich hörte, du hättest einen Unfall gehabt. Ich musste einfach kommen und nachschauen.“ Ihre rauchige Stimme klang sinnlich und troff gerade zu vor sexuellem Verlangen. „Es geht schon Cecilia.“, antwortete Alexis ungerührt und versuchte, das eben Gelesene unter dem beachtlich steifen Kleid der französischen Adligen hervorzuziehen. „Mein Gott, musst du mir immer solche Schrecken einjagen?“, fragte sie und suchte eine Weile mit ihren schlanken Fingern in ihrer Tasche, zog schließlich eine Zigarette an einem langen Halter hervor und entzündete sie sich an dem großen Leuchter. Sie war sich der Sinnlichkeit ihrer Geste, als sie das dunkle Holz zwischen ihre kirschrot geschminkten Lippen schob, nur allzu bewusst. „Es ist wirklich nett, dass du mich besuchst, aber ich brauche ein wenig Zeit zum arbeiten meine Liebe.“, sagte Alexis und sah sein Gegenüber ernst an. Die junge Frau war eine klassische Schönheit: lange, haselnussbraune Locken die voll und schwer ihr schmales Gesicht umrahmten. Die grünen Augen funkelten aufmerksam und verliehen ihr ein das katzenhafte Aussehen einer Jägerin, die stets auf der Suche nach Beute war. Der schlanke Hals bildete einen perfekten Kontrast zu ihren weichen, vollen Brüsten und ihre Figur würde selbst ein Kritiker wohlwollend als üppig bezeichnen können. Cecilia bot alles, was ein Mann sich wünschen konnte und Alexis hatte sich schon oft in ihrem weiblichen Körper verloren. Aber heute schien sich seine Aufmerksamkeit eher dem Studium widmen zu wollen, seine Augen blieben blind für all die Herrlichkeit, die die junge Frau barg. Cecilia schaute ihn einen Moment verständnislos an, dann lachte sie herzhaft und undamenhaft auf: „Mein lieber Lord Alexis, ich nehme dir nicht ab, dass du dich lieber verblichenen Schriften aus längst vergangen Tagen widmest, als dem hier.“, antwortete sie amüsiert und legte die Hand des jungen Mannes fordernd auf ihre Brust. Der Ausschnitt ihres Kleides war tief und ließ Alexis viel der weichen, makellosen Haut spüren. Sie atmete tief ein und die weiche Pracht hob sich verführerisch an. Der junge Lord seufzte tief und spürte die wohlbekannte Hitze in sich aufwallen. „Vielleicht hast du recht.“, stöhnte er leise und erhob sich, küsste seine Geliebte voller Leidenschaft. Cecila lächelte und ließ ihre Hand in seinen Schritt gleiten: „Dachte ich es mir doch.“, gurrte sie und lehnte sich auf dem Tisch zurück. Nach einem kurzen aber heftigen Austausch körperlichen Verlangens hatte sich Cecilia wieder angezogen und war, mit der Begründung noch einiges Erledigen zu haben, wieder in ihre Kutsche gestiegen. Alexis verspürte eine gewisse Erleichterung in sich, denn obwohl er nicht leugnen konnte, dass er an dem Treffen gefallen gefunden hatte, wollte er die Zeit doch eher allein verbringen. Als er die breite Treppe zurück zum Anwesen hochstieg, wanderten seine Gedanken zum ersten Mal an diesem Tag wieder zu dem unangenehmen Besucher. Alexis war ein wenig überrascht, dass sich Samuel bis jetzt noch nicht wieder hatte blicken lassen, als er den rothaarigen Mann am Portal entdeckte. „Na großartig.“, murmelte der junge Lord und konnte den Impuls, einfach auf der Stelle umzukehren, nur mühsam unterdrücken. Stattdessen versteifte er sich und schritt so selbstbewusst es ihm eben gelang auf Samuel zu. „Wie ich sehe geht es Euch besser.“, sagte der hochgewachsene Eindringling leise und für einen Moment sah Alexis so etwas wie Erleichterung in den sturmgrauen Augen aufblitzen. Er nickte widerwillig und fluchte innerlich, als ihm klar wurde, dass er halb angezogen und mit zerzausten Haaren wohl nur halb so majestätisch wirkte, wie er gehofft hatte. „Ja, offensichtlich.“, antwortete er trotzig und strich verstohlen seine Frisur glatt. „Dürfte ich Euch dann heute Nachmittag in die Bibliothek bitten, ich würde gerne alsbald mit dem Unterricht beginnen.“, fuhr der Herzog fort und machte eine vage Handbewegung in Richtung Studiersaal. Der Unwillen bäumte sich in Alexis auf wie ein wildes Pferd und ein zerknirschter Ausdruck erschien auf seinem jugendlichen Gesicht. „Eigentlich hatte ich bereits Anderes, Besseres vor.“, presste er zwischen seinen Zähnen hervor. Ein leises Lächeln schlich sich auf Samuels gerade Lippen und seine hochgezogenen Augenbrauen verrieten höchste Arroganz: „Ich korrigiere Euch nur ungern, junger Herr, aber eigentlich habt ihr, solange ich hier bin nichts Besseres vor. Ich wurde angehalten, Eure Ausbildung mit höchster Priorität zu handhaben und ich bin nicht bereit, wegen Eurer.. kleinen Abenteuer davon abzusehen.“, sagte er und maß die unstandesgemäße Kleidung und deren Zustand mit Missbilligung. Alexis schnaubte als Antwort nur unwillig wie ein junger Hengst und stampfte auch wie einer auf. Dann warf er seinen Kopf in den Nacken und durchschritt das Portal, sorgsam darauf achtend, den Eindringling nicht zu berühren. „Ich lasse ihn töten.“, brüllte Alexis, zurück in seinem Studierzimmer, voller Wut und warf die gerade aufgetischte Suppe gegen die kahle Wand. Das heiße Gebräu tropfte dampfend gen Fußboden und hinterließ fettige Spuren. So bevormundet zu werden, derart Maß genommen zu werden war er nicht gewöhnt und er war nicht gewillt, es widerstandslos hinzunehmen. „Ich werde es ihm zeigen, ihm beweisen, dass ich keinen Unterricht brauche. Ich bin nicht auf seine dummen Manieren angewiesen. Ich will seine Aufmerksamkeit nicht.“, sagte er trotzig in die Stille des Raumes und biss voller Abscheu in eine Scheibe frischen Brotes. „Schließlich habe ich es bis jetzt auch ganz gut ohne ihn geschafft.“, murmelte er dann müde und stellte überrascht fest, dass eine einzelne Träne seine Wange herunterrann. Wütend wischte er sie weg und stopfte sich den Rest des Brotes in den Mund, schmiss sich dann in den Lehnstuhl. Nachdenklich kaute er auf dem trockenen Gebäck und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Er verstand einfach nicht, was es war, dass das Schoßhündchen seines Vaters ihn derart aus der Fassung bringen konnte? Warum ließ er sich so aus der Reserve locken von jemandem, den er nicht mal kannte? Und warum war es so schwer sich einem Mann zu entziehen, der lediglich ein Störfaktor in seinem Leben darstellte? Alexis stöhnte leise und griff nach einer weiteren Scheibe Brot, tränkte sie in dem kaltgewordenen Tee und begann, seine Papiere auf dem Tisch wieder zu ordnen. Die heftige Vereinigung mit seiner Geliebten hatte einiges durcheinandergebracht und definitiv ihre Spuren hinterlassen. „Cecilia..“, murmelte der junge Mann leise und stellte unwirsch fest, dass das Treffen mit dem Schoßhund jegliche Gedanken an die schöne Frau vertrieben hatten. „Großartig.“, stöhnte er und blinzelte die Erkenntnis weg, stürzte die letzten Reste des kalten Tees herunter und widmete sich vollends seinen Aufzeichnungen. Mit schnellen Schritten näherte sich Alexis der Bibliothek, stoppte abrupt vor der großen Flügeltür und schaute noch einmal an sich herab. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass jedes Kleidungsstück an seinem Platz saß, das Hemd richtig geknöpft und die Stiefel frisch poliert waren trat er ein. Samuel war bereits anwesend und lehnte entspannt an einer der großen Säulen am Fenster. Sein Blick war auf die Ländereien gerichtet, der Nebel schien jegliche Lichtreflexe seiner Haare zu schlucken. Er schien Alexis noch nicht bemerkt zu haben, sodass dem jungen Lord Zeit für eine eingehende Betrachtung blieb. Er bemerkte zum ersten Mal, dass die Haare seines unwillkommenen Lehrers viel länger waren als er angenommen hatte und in einem langen Pferdeschwanz über den breiten Rücken des Mannes fielen. Das dunkle Rot wirkte unnatürlich und anziehend zugleich, der Kontrast zu der milchigweißen Haut war perfekt. Der strenge graue Anzug lag eng an dem muskulösen Körper und ließ ihn älter und elitär wirken. Alexis kam nicht umhin, sich den sehnigen Körper des Herzogs in einem weiten Hemd in weichen Stiefeln und Hosen vorzustellen, und er stellte mit Erstaunen fest, dass ihm dieser Gedanke gefiel. Er schnaubt unwillig und räusperte sich anschließend leise. Samuel wandte sich um und für einen Moment lag in seinem Blick etwas Entrücktes, Träumerisches. „Schön Euch zu sehen.“, sagte der Herzog leise und machte eine einladende Geste an den Schreibtisch. Er hatte einen weiteren Stuhl herangezogen und es stapelten sich bereits eine beträchtliche Anzahl an Büchern und Schriftrollen auf der Platte. Alexis folgte er Einladung seines Lehrers und ließ sich lässig auf den unbequemen Holzstuhl fallen. Er maß sein Gegenüber mit einem durchdringenden Blick und zog es vor, weiterhin zu schweigen. „Ich habe Euch einen Plan angefertigt, nach dem wir uns richten sollten.“ Er reichte Alexis ein eng beschriebenes Pergament und lehnte sich zurück. Seine Haltung war korrekt und es schien ihm nicht das Mindeste auszumachen, dass der ungepolsterte Stuhl hart und ohne jede Spur von Komfort war. Alexis überflog die Aufzeichnungen kurz und stöhnte auf. Der Zeitplan war so eng gesteckt, dass er bald jede freie Minute seines bisherigen Lebens nun mit Lernen, Trainieren und dem Studium verbringen würde. Er würde neben Literaturwissenschaften und Philosophie auch Unterricht in Etikette, Reiten, Manierlichem Umgang, Fechten und Konversation bekommen. „Es sieht auf den ersten Blick wohl etwas viel aus Lord Alexis, aber so können wir die Disziplinen, in denen Euer Vater mich gebeten hat Euch zu unterrichten, schnellstmöglich abarbeiten.“ Seine Stimme war sachlich und trocken währen seine Hände unaufhörlich Blätter auf Stapel sortierten. „Ich habe die Phasen so eingeteilt, dass Ihr jeden Tag sowohl körperliche als auch psychische Ertüchtigung bekommt, dass wird Euren müden Geist erfrischen.“ „So scheint es.“, antwortete Alexis karg und faltete das Blatt lieblos zusammen. „Was machen wir nun?“, fragte er dann und seine Stimme verriet pures Desinteresse. „Ich möchte mit einigen leichten Sonetten und Abhandlungen beginnen. Sie werden Euren Wortschatz aufstocken und zusätzlich werden Euch solche Themen zu einer unverfänglichen Konversation helfen.“, antwortete der Herzog prompt und reichte eines der verstaubten Dokumente mit vergilbten Seiten über den Tisch. Außer dem gelegentlichen Knistern der Bücher war es totenstill in der Bibliothek. Alexis hatte eine ebenso ermüdende wie lächerlich einfache Aufgabe bekommen, den Auftrag aber schweigend angenommen. Er hatte weder Lust noch Kraft zu protestieren, zumal seine hämmernden Kopfschmerzen zurückgekommen waren. Draußen begann es bereits zu dämmern und der riesenhafte Raum war in flackerndes Kerzenlicht getaucht. Der Herzog war in eines der herumliegenden Bücher vertieft und blickte nur ab und an mal auf. Er schien äußerst zufrieden mit dem friedlichen Verlauf des Nachtmittags. Alexis reihte gelangweilt Worte aneinander, stellte Zusammenhänge her und spielte zwischendurch abwesend mit der Feder in seiner Hand. Immer wieder glitt sein Blick zu seinem strengen Gegenüber und blieb dort hängen. Die roten Haare waren vom tanzenden Flammenspiel erleuchtete und wirkten fast lebendig, die schmalen Lippen waren zu einer festen Linie zusammengepresst. Alexis wollte seinen Blick eben wieder abwenden, als er stutzte. Zum ersten Mal wie es schien entdeckte er die lange, feine Narbe im Gesicht seines Lehrers. Sie zog sich von der Stirn über sein rechtes Auge bis über ein gutes Drittel seiner Wange. Im schwachen Licht erschien sie ungewöhnlich grell und glänzte leicht perlmuttfarben. „Was ist da passiert?“, hörte Alexis sich fragen, noch ehe er sich selbst und seine Neugierde zügeln konnte. Überrascht sah Samuel auf und einen Moment stand Verwirrung in seinem Blick geschrieben, dann lächelte er dünn. „Wenn Ihr die hier meint,“, antwortete er mit rauer Stimme und seine Hand glitt wie automatisch zu den Überresten seiner Verletzung. „das war ein Unfall.“ Alexis nickte verstehend, fühlte sich aber nicht in der Lage seinen Blick abzuwenden. Seine Augen waren wie gebannt und gegen seinen Willen begann er sich zu fragen, wie sich die Haut an der Narbe wohl anfühlen würde. „Seid Ihr fertig?“, fragte Samuel und schien sich über Alexis Unfähigkeit den Blick auf andere, wichtigere Sachen zu lenken, zu amüsieren. Angesprochener nickte langsam und rief sich stumm zur Ordnung. Vergebens. „Könnt Ihr auf dem Auge noch sehen?“, fragte er, wiederum von seinem schieren Wissensdurst getrieben. Das Lächeln des Herzogs wurde breiter und erreichte seine stahlfarbenen Augen. Plötzlich schien alle Strenge und militärische Korrektheit aus seinen Zügen gewichen und er sah jung, fast kindlich aus. „Ein wenig schon, Schatten und Bewegungen.“, antwortete er trotz seiner Belustigung prompt und ließ keinen Zweifel daran, dass das Gespräch damit beendet war. „Oh, das tut mir leid.“, murmelte der junger Lord und in seiner Stimme lag echtes Bedauern. Samuel legte seinen Kopf schief und ein Ausdruck vager Dankbarkeit schlich sich in seine Züge. Alexis war endlich im Stande seinen Blick zu senken und starrte ein wenig beschämt auf seine Hände. Er hatte niemals fragen wollen, nicht so etwas. „Nun, wie schaut es mit Euren Aufzeichnungen aus?“, fragte der Herzog erneut. Er schien das Unbehagen des jungen Manns gegenüber zu spüren und ging nahtlos zu den Studien über. Alexis nickte. Den Rest des ausklingenden Nachmittags verbrachte das ungleiche Paar in verschwiegener Ruhe. Alexis erfüllte seine Aufgaben ohne zu protestieren und Samuel vertiefte sich in die Lektüre einiger sehr interessanter Aufzeichnungen des ansässigen Adels. Als Henry mit der Botschaft, dass Abendessen wäre bereits aufgetafelt hereintrat, hatte Alexis gerade den letzten Satz beendet und erhob sich. Die plötzliche Unterbrechung hatte seinen Unwillen wieder geweckt und er verließ den Raum ohne ein weiteres Wort. In seinem Zimmer angelangt riss er sich entnervt die Kleidung vom Körper und stürmte ins Badezimmer. In dem reichverzierten Kamin loderte ein gemütliches Feuer, der Kessel darüber war voller warmen Wassers. Mit einiger Anstrengung schaffte er es, die Rinne vom Haken zu nehmen und ließ das heiße Nass in die weiße Wanne strömen. Dann füllte er mit kaltem Wasser auf. Leise stöhnend ließ er sich in die Fluten gleiten und spürte, wie sich sein Körper entspannte. Er wollte an nichts denken, nichts fühlen und keinerlei schwere Entscheidungen treffen. Das Hämmern in seinem Kopf hatte ein unerträgliches Level erreicht und erschwerte selbst die kleinsten Bewegungen. Alexis seufzte leise, griff nach der duftenden Lavendelseife und begann sich mit langsamen Bewegungen zu waschen, sorgsam darauf bedacht, den Schmerz in seinem Kopf nicht noch zu verschlimmern. Als der junge Lord Minuten später in ein weiches Handtuch gewickelt in sein Bett stieg, dachte er noch einmal an die weiße Narbe in Samuels Gesicht, an das ehrliche Lächeln in seinem sonst so ernsten Gesicht und mit einem wohligen Gefühl im Bauch schlief er ein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)