Twice upon a Time von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 2: ----------- Draußen im Garten zwitscherten die Vögel schier verzweifelt vor sich hin, eingepfercht in einem kunstvoll verzierten Käfig. Hektische Schritte liefen über den kostbaren Holzboden, als Bedienstete von einem Raum in den Nächsten liefen. Grelles Licht fiel in den Raum, als ein schwerer Vorhang zur Seite gezogen wurde. „Herrin, die Sonne steht bereits hoch. Bitte steht auf!“ Eine Dienerin zog den Vorhang um das Bett zur Seite. Sophie lag unter vielen Decken vergraben, noch tief im Schlaf versunken. „Meine Herrin!“ Nur widerwillig ließ das Mädchen sich wecken. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich im Bett aufgesetzt hatte. „Wie spät ist es?“ „Bereits Mittag, Herrin. Eure Eltern erwarten Euch bereits.“ Sie reichte Sophie die Pantoffeln und half ihr in den seidenen Morgenmantel. Sofort setzte sich Sophie an einen kleinen Tisch voller Schmink- und Frisierutensilien, während ihre Dienerin einen kleinen Kamm aus Jade ergriff und damit begann, ihrer Herrin das Haar zu frisieren. Nachdem man ihr auch beim Ankleiden eines herrlichen Kleides half, erhob sich Sophie ohne ein weiteres Wort des Danks und verließ anschließend den Raum, um ihren Eltern den täglichen Pflichtbesuch abzustatten. Bis zum elterlichen Gemach dauerte es einige Zeit. Sophie musste einige Flure und Räume durchqueren, bis sie in den etwas ab gelegeneren Teil der Villa vordrang. Eine hohe Tür, flankiert von zwei Leibwächtern der Familie, trennte diesen Teil vom Rest der Villa. Sophie traf ihre Eltern beim Mittagessen an. „Ah, Sophie.“ Ihr Vater sah kaum auf, als sie den Raum betrat. „Komm, setz dich. Los, bringt Teller und Besteck.“ Fügte er mit einer Handbewegung zu den in der Ecke wartenden Bediensteten hinzu. Als Sophie sich an den Tisch setzte, fing sie den Blick ihrer Mutter auf: „Wurde auch Zeit, dass du endlich aufstehst. Sobald du etwas zu dir genommen hast, wirst du hinunter in die Stadt gehen und deinen Unterricht abhalten.“ „Ja Mutter.“ Lieblos stocherte Sophie in einer Kartoffel herum. Der Benimmunterricht war alles andere als unangenehm. Langatmig und träge zog er sich jedes Mal in die Länge, und danach tat Sophie ein jedes Mal der Rücken weh. Sitz gerade, sprich nur wenn man dich etwas fragt – der Preis für ein Leben in Luxus war stetiger Gehorsam. Und doch ein Preis, den Sophie bereit zu zahlen war. „Wir werden für ein paar Tage verreisen, um den Geschäften nachzugehen. Ich erwarte von dir, dass du in der Zeit unserer Abwesenheit unsere Familie angemessen vertrittst. Sollte irgendetwas sein, wende dich an die Crescione.“ Sophie wusste, dass hinter den Worten ihres Vaters eine viel klarere Botschaft steckte: Sieh zu, wie du allein zu Recht kommst, und wag es dich nicht Schwäche zu zeigen und andere um Hilfe zu bitten. Doch sie wusste auch mit dieser Situation umzugehen, schließlich war es nicht das erste Mal, dass ihre Eltern sie alleine ließen – und ganz allein war sie ja doch nicht, wo doch genug Bedienstete in der Villa waren. So blieb es Sophie wohl nichts anderes übrig, als zustimmend zu nicken. Sogleich erhob sich ihr Vater und wandte sich an die Bediensteten. „Es wird Zeit, Vorbereitungen zu treffen. Macht die Kutsche bereit und packt alles nötige zusammen.“ Ohne seine Familie eines weiteren Blickes zu würdigen, verließ er den Raum. Sophies Mutter dagegen ergriff erneut das Wort: „Heute Nachmittag ist ein Treffen mit dem Sohn der Averno vereinbart. Raphael, erinnerst du dich?“ Sophie schoss das Bild eines schmierigen jungen Mannes um die zwanzig in den Kopf. Sie hatten sich einige Male gesehen, wenn er seine kleine Schwester vom Unterricht abgeholt hatte, allerdings wusste Sophie von ihm nur, dass er der zweitälteste Sohn der mächtigen Averno Familie war. „Er sah dich vor einiger Zeit und bekundete sein Interesse. Es wäre eine Ehre für die Familie, sollte er dich als Frau wählen.“ Die Ehre der Familie, das höchste Heiligtum. Sophie wusste: Es war egal, ob sie diesen Mann kannte, gar mochte oder sich womöglich in ihn verlieben würde. Wichtig war nur, dass sie der Familie Ehre und Einfluss brachte – was durch eine Ehe mit einem Sohn der führenden Familien in Marecielo sicherlich von Fall war. „Du wirst ihn also nach dem Unterricht aufsuchen. Enttäusche mich nicht, Sophie. Du weißt, was auf dem Spiel steht.“ „Ja Mutter.“ Sophie erhob sich. „Erlaubt Ihr mir, den Tisch zu verlassen?“ „Aber Liebes, du hast ja kaum etwas gegessen.“ „Ich werde noch zu spät zum Unterricht kommen. Ihr stimmt mir sicherlich zu Mutter, dass Pünktlichkeit weitaus wichtiger ist.“ Sophies Mutter lächelte bei diesen Worten wohlig. „Natürlich, du darfst gehen. Erwarte uns in drei Tagen zurück. Wir werden dir Dan hier lassen, er wird ein besonderes Auge auf dich haben.“ Sophie nickte; Dan war einer der Leibwächter der Familie, und ihr liebster Aufpasser. Er sprach nicht viel und mischte sich nicht ein. Ein unauffälliger, stummer Schatten. Diese Art Mensch war ihr persönlich eigentlich am liebsten. Sophie nickte einmal kurz, dann machte sie sich auf den Weg zum Unterricht. In der Empfangshalle der Villa warteten die beiden üblichen Leibwächter, die Sophie wie gewohnt durch die Stadt geleiten sollten – sie würdigte sie keines Blickes und lief einfach an ihnen vorbei. Da die Tage in Marecielo immer heißer wurden, verzichtete Sophie auf einen Mantel. Als sie in die Sonne hinaustrat, verharrte sie einen Moment und genoss das angenehme Prickeln der Wärme auf ihrer Haut. Eine leichte Brise strich ihr sanft durchs lange Haar. Es war ein perfekter Sommertag. Doch Sophie konnte all das nur kurz genießen. Kaum war sie ein paar Schritte in den Vorgarten getreten, verdeckte auch schon ein großer Sonnenschirm die schädigenden Strahlen. Als Adelige hatte man blass zu sein. Sommerwärme und das Gefühl der Sonne auf der Haut war etwas, auf dass sie verzichten musste – einer der wenigen Verluste in ihrem Leben. Einer ihrer Leibwächter hielt den Schirm hoch über sie, dass er sie auch ja nicht streifte. Sophie schnalzte missbilligend mit der Zunge, doch natürlich war sie solche Aktionen gewohnt. Und sofort kam ihr auch wieder in den Sinn, was die Sonne alles mit ihr anstellte: Ihr Haar würde ganz vertrocknen, ihre Haut gar bräunen – nur arme Leute hatten gebräunte Haut. Mit in die Luft gestreckte Nase stolzierte Sophie also voran, dicht gefolgt von ihren Leibwächtern. Sie ging so stur und überheblich ihres Weges, dass ihr nicht einmal die seltsamen, herumlungerten Gestalten am Fuße der Villa auffielen. Die Schule, in dem der Unterricht stattfand, glich mehr einem kleinen Herrenhaus. Am Fuße der Hügel gelegen, trennte es das Adelsviertel von dem der Bürgerlichen. Man hatte es direkt in die Mauer eingebaut, die beide Viertel voneinander trennte; es bildete damit in vielerlei Hinsicht ein Symbol vom Übergang des Bürgerlichen in den Adel. Wer als Tochter in eine Adelsfamilie hineingeboren wurde, wuchs mit dem Unterricht dieser Schule auf. Den höheren Töchtern wurde hier schon im Kleinkindalter alles beigebracht, was sie im Laufe ihres verwöhnten Lebens brauchten; von den Regeln der Konversation und die korrekte Sitzposition, über die richtige Art den Fächer zu nutzen und der Ausführung des klassischen Tanzes. Dreimal die Woche fand dieser Unterricht statt, doch viele Familien ließen ihre Töchter daheim privat unterrichten. Und da der Unterricht auch nur für die Mädchen war – die Jungen besuchten ab einem bestimmten Alter die Militärakademie nördlich der Stadt, wo sie in Kampf- ebenso wie alltäglichen Umgangsformen gelehrt wurden – fand Sophie ihn eher lästig als hilfreich. Mehr als eine Handvoll nützlicher Kontakte konnte man ohnehin nicht knüpfen, wobei die paar zumal alle rein oberflächlicher und gesellschaftlich-taktischer Natur waren. Es war also nicht verwunderlich, dass Sophie nicht voller Vorfreude der Lehranstalt entgegen sah. So bemerkte sie erst sehr spät, dass sie bereits vor dem Gebäude erwartet wurde, doch weder von der Lehrerin, noch von einer ihrer Mitschülerinnen: Vor dem Eingang wartete, höchst interessiert von einigen umstehenden Mädchen beäugt, ein junger, hochgewachsener Mann. Als Sophie ihn entdeckte, lächelte er geheimnisvoll und breitete zur Begrüßung die Arme aus. Das Mädchen war allerdings mehr überrascht als erfreut: „Raphael?“ Es war der Sohn der Averno, einer der Herzogsfamilien der Stadt. Jener Mann, zu dem Sophies Mutter für den Nachmittag geschickt hatte. „Ich ging davon aus, Euch nicht vor Nachmittag zu sehen, mein Prinz.“ Sie machte einen höflichen Knicks, kaum war sie bei ihm angelangt. „Es schien mir bis dahin noch zu lang, Gräfin.“ Er gab Sophie einen Handkuss. „Mein Unterricht beginnt gleich.“ Mit einer ausladenden Handbewegung verwies Sophie auf die immer noch zu ihnen hinüber starrenden Töchter. „Ich werde bereits erwartet.“ „Ah, ja.“ Raphael sah kurz zu den Mädchen hinüber, bevor er seufzte und sagte: „Ich hielt diesen Unterricht schon immer für plump. Wie Ihr wisst, besucht auch meine wehrte Schwester ihn und… ich hörte nichts allzu viel Gutes. Veraltete Methoden, mangelnde Durchsetzung der Führungskräfte…“ Er lächelte mitleidig: „Sicherlich wird also niemand wagen einzuschreiten, wenn ich Euch heute von der Schwelle des Hauses entführe und vom Unterricht freistelle.“ „Nun, meine Mutter…“ „Die Fürstin Castelli wird mir wohl kaum widersprechen.“ Sophie verstummte. Sie wusste ebenso gut, dass ihre Mutter es niemals wagen würde. „Nun, ich würde sagen wir suchen mein Heim auf, um, sagen wir, ein Tässchen Tee auf der Terrasse zu genießen? Es ist doch so herrliches Wetter.“ Der junge Prinz – so sein Titel als Sohn eines Herzoges – hielt Sophie den Arm empor, damit sie sich bei ihm einhaken konnte. Sie zögerte einen Moment, dachte dann jedoch an den herrlichen Klatsch den es geben würde und ergriff Raphaels Arm. „Wie Ihr wünscht.“ Sophie hatte Mühe, mit dem großen Raphael Schritt zu halten; für jeden seiner Schritte benötigte sie zwei. Daher war sie mehr darauf bemüht, auf ihre Füße zu achten, anstatt seinen beflissenen Worten Gehör zu schenken. Flankiert von Sophies Leibwächtern – Raphael benötigte keine, denn einen Sohn der Averno wagte das Volk nicht auch nur anzusehen – durchquerten sie die Gassen und kamen rasch auf eine der sanft abfallenden Hauptstraßen der Stadt. Durch die Häuser konnte Sophie einen Blick auf das wundervolle, blaue Meer erhaschen. Zu ihrer Verwunderung führte Raphael sie auch weiter in diese Richtung, und damit fort von seiner Villa, die auf dem höchsten Punkt der Stadt über die anderen hinauf ragte. „Mein Prinz…?“ Er schien Sophies Frage zu ahnen, denn mit einem leichten Lächeln auf den Lippen sagte er: „Ein spontaner Sinneswandel. Es ist so herrliches Wetter, wieso nicht eine kleine Bootstour?“ Sophie biss sich auf die Lippen, um keine freche Bemerkung zu machen: ‚Boot‘ konnte man das nun wirklich nicht bezeichnen. Sie kannte das Schiff der Familie von einigen Festen, und auf diesem Gefährt konnte man mühelos ganze Familien ansiedeln. „In Gottes Namen, seht Euch diese Schandtat an.“ Raphael holte Sophie zurück aus ihren Gedanken und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf eine kleine Gruppe Bettler am Rande der Straße. Es waren etwa vier, die Jüngste unter ihnen schien gar in Sophies Alter, wenn nicht jünger. Missmutig lungerten sie auf dem dreckigen Boden, und das Mädchen haftete zischend ihre Augen auf Sophie, als sie vorbei gingen. Raphael zog Sophie rasch weiter, und ihre Leibwächter machten eine kurze, drohende Geste in Richtung der Bettler. „Sie kriechen immer weiter die Straßen hinauf und besudeln noch selbst den schönsten Fleck dieser Stadt. Ein bitteres Eingeständnis, dass meine Familie sie noch nicht dauerhaft vor die Mauern der Stadt vertreiben konnte.“ Sophie kräuselte die Lippen und erwiderte süffisant: „Sie sind nicht mehr als Kakerlaken, mein Herr. Sie vermehren sich, doch wenn man sie zerquetscht, gehen sie nicht von dannen. Wahrlich eine lästige Plage.“ Raphael lächelte wohlwollend und tätschelte Sophies Hand: „Ihr wisst Euch gut auszudrücken, Sophie. Ein weiterer Beweis, dass Euer Besuch dieser Schule nichts als reine Zeitverschwendung ist. Man sollte Euch lieber auf die wahren Dinge dieser Welt vorbereiten.“ Sie durchschritten nun ein hohes Tor, an das eine weitere, breite Straße mündete. Vor ihnen konnte Sophie schon den Hafen erkennen. Doch sie ließ sich davon nicht ablenken und fragte stattdessen: „Und welche Dinge schweben Euch da vor?“ „An der Seite eines Mannes von Stand zu stehen, zum Beispiel.“ „Eines Mannes wie Euch.“ Schloss Sophie knapp, doch ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Raphael erwiderte etwas, doch mittlerweile hatten sie den Hafen erreicht, und Sophie blieb augenblicklich stehen. Die Augen auf das blaue Meer gerichtet, umspielte eine leichte Brise ihr Haar. Sie sog den salzigen Duft des kühlen Nass ein, den strengen Geruch des Fisches, der einige Meter weiter von den Fischern verkauft wurde. Ihr Gesicht lugte unter dem Schirm hervor, den immer noch einer ihrer Leibwächter hielt. Wohlwollend ließ sie die Sonne ihr Gesicht wärmen und schloss die Augen, um diesen kurzen Moment fest zu halten – und kurz war er in der Tat. Ihre Lider hatten sich gerade gesenkt, da zerstörte Raphael ihr diesen Moment auch wieder und fragte mit einschneidender Stimme: „Sophie, habt Ihr mir überhaupt zugehört?“ „Oh, verzeiht…“ Sie sah ihn an, doch ihr entschuldigendes Lächeln war in ihrem Kopf mehr ein hasserfüllter Blick. Schließlich erklärte sie jedoch wahrheitsgemäß: „Ich liebe das Meer. Seine Weite, die Vielseitigkeit, diese Schönheit… Zu schnell vergesse ich bei seinem Anblick alles um mich herum.“ Es überraschte sie ein wenig, als Raphael verständnisvoll – vielleicht ein wenig zu verständnisvoll für ihren Geschmack – lächelte und sie etwas abseits des alltäglichen Hafengetümmels führte. Der Hafen lag, wie auch die ganze Stadt, in einer kleinen Bucht, und an einem Teil dieser Bucht lagen die Schiffe all der Adligen der Stadt. Gut bewacht von den Soldaten der Herzogsfamilien, schwappten die Schiffe an den Stegen entlang. Das Schiff der Averno war eines der Prächtigsten. Etwas abseits der anderen, war es fest am Pier befestigt und machte einen so pompösen Eindruck, dass selbst Sophie beeindruckt war. Immer noch bei ihm untergehakt, ließ sie sich von Raphael an den Soldaten vorbei geleiten. Am Zugangssteg zum Schiff half er ihr galant hinauf, während sie darauf achtete, dass ihrem Kleid nichts geschah. Auf Deck wurden sie bereits von mehreren Dienern erwartet. Raphael führte sie zu einer Sitzgruppe, die mit einem großen Vorhang vor der Sonne geschützt war. Kaum angekommen, scheuchte er die Leute fort, um ein wenig Privatsphäre zu erlangen. Sophies Leibwächter rührten sich zuerst nicht, doch als sie ihnen knapp zunickte, zogen auch sie sich unauffällig zurück. Raphael ergriff ihre Hand. „Ein herrlicher Anblick.“ „Ja.“ Sophie sah verträumt aufs Meer hinaus. Die Wellen schwappten leicht gegen das Holz des Schiffes. Sie wandte jedoch den Blick ab, als sie Raphael gurrend lachen hörte. „Mein Herr?“ Er hielt noch immer ihre Hand. „Ich meinte eher Euren Anblick, Sophie, nicht den des Meeres.“ „Oh…“ Sie wandte ihre Hand aus seiner und strich sich das Haar hinters Ohr. Ein unangenehmes Gefühl überkroch sie, bei dem Gedanken an das wohl nun folgende Gespräch. Und ihre Intuition täuschte sie nicht, denn Raphael meinte: „Ich muss zugeben, nicht viele Mädchen wie Ihr bringen mich derart um den Verstand.“ Sophie versuchte seinem Blick auszuweichen und sah wieder hinaus aufs Meer. „Ihr seid eine faszinierende Persönlichkeit, Sophie. Jung, in der Tat, und doch reif und sehr… sehr faszinierend.“ Er stand auf und lief zur Reling hinüber. Um nicht unhöflich zu sein, tat Sophie es ihm nach. „Zweifellos wird man das Wort erheben, auch wenn es um meine Persönlichkeit geht. Obwohl jung, seid Ihr natürlich im besten Alter für eine Vermählung. Allerdings mangelt es Euch, und verzeiht bitte meine Direktheit, an Erfahrung für eine Stellung wie der meinen.“ Raphael lehnte sich auf das reich verzierte Holz und betrachtete das kühle Nass unter ihnen. Zu ihrer eigenen Überraschung sah Sophie jedoch nur zu ihm. Sie musste zugeben, dass ihn seine Worte interessierten. In der Tat, sie war an ihm interessiert. Sophie empfand es als ein seltsames Gefühl. „Sollte es zu einer Vereinigung unserer Familien kommen, werde ich natürlich alles Nötige in die Wege leiten, als dass man Euch nicht unvorbereitet in die politische Welt da draußen lässt. Ihr sollt Euch nicht überrumpelt, sondern angemessen vorbereitet fühlen.“ Als er sie anlächelte, stellte Sophie die eine Frage, die ihr so sehr auf der Zunge brannte: „Wieso ich?“ „Wie bitte?“ „Nun…“ Sophie trat einen Schritt von Raphael zurück. „Seht mich an. Ich mag aus einer der reicheren Familien dieses Landes kommen, doch was unterscheidet mich von all den anderen Töchtern, die diese Gemeinsamkeit teilen? Es gibt weitaus hübschere und weltgewandtere Mädchen als mich, die Ihr euch allesamt nehmen könntet. Und doch versucht Ihr mir gerade zu erklären, Eure Wahl sei auf mich gefallen? Ihr, der zweite Sohn der Averno? Wieso?“ Zu ihrer Überraschung lachte Raphael laut auf. „Sophie…“ Wieder ergriff er ihre Hand und zog sie näher an sich heran. „Ihr scheint nicht zu begreifen, welchen Eindruck Ihr auf einen Mann wie mich macht. Jedes andere Mädchen wäre nur ein Gegenstand, um mich mit Jugend zu schmücken.“ Sophie war noch nicht überzeugt, und auch Raphael schien das zu merken: „Seht es einmal so… Wenn jeder Mensch mit einem Edelstein gleichzusetzen wäre, so wären all diese Mädchen Smaragde, Jadesteine… Aber Ihr, Ihr seid ein ungeschliffener Diamant. Schon jetzt kostbar, doch wenn man erst einmal das Verborgene sichtbar macht, seid Ihr das, was sich ein jeder Mann dieses Landes wünschen kann.“ „Ich bin mir nicht sicher, ob Ihr das so beurteilen könnt.“ Fiel Sophie ihm ins Wort und entglitt wieder seinem Griff, „Wir kennen uns nicht sonderlich gut.“ „Und doch weiß ich, aus was für einem vornehmen Hause Ihr stammt. Eure Familie mag nicht so viel Einfluss und Macht wie andere besitzen, doch mein Vater spricht immer nur in höchsten Tönen von Euch. Es wäre mir eine Ehre, Euch zu meiner Frau nehmen zu dürfen. Und überlegt nur einmal, welche Welten Euch damit offen ständen…!“ Ehre. Dieses eine verdammte Wort, und Sophie musste alle Bedenken über Bord werfen. Sie sah Raphael an, versank beinahe in diesen wundervollen Augen, die ihr so forsch und begeistert entgegenblickten. Bringe deiner Familie Ehre, Einfluss und Ruhm; sonst gab es nichts, das im Leben einer Frau zählte. Sophie lächelte – diesmal ließ sie zu, dass er ihre Hand ergriff. „Es ist für mich eine viel größere Ehre, Eure Frau zu sein. Aber bitte, lasst mich darüber nachdenken. Ich… muss dieses Geständnis erst einmal verdauen.“ „Dafür habe ich vollstes Verständnis. Verzeiht, falls ich Euch überrumpelt haben sollte, Sophie.“ Sie verbrachten noch den ganzen restlichen Tag auf dem Schiff der Averno. Das Thema der Vermählung wurde fallen gelassen, stattdessen unterhielten sie sich über allerhand andere Dinge. Raphael erzählte Sophie von all den Städten und Ländern, die er schon bereist hatte, von den Schiffsfahrten, von fremden Kulturen und Dingen, von denen Sophie noch nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Er versprach, sie irgendwann einmal auf eine seiner Fahrten mitzunehmen. „Allerdings wird bis dahin wohl noch einige Zeit vergehen. Momentan wäre es unklug, die Stadt zu verlassen.“ „Wieso?“ Sie saßen wieder auf den weichen Sesseln und ließen sich ausgiebig von den Bediensteten mit Essen und Trinken versorgen. Obwohl Sophies Magen durch das dürftige Frühstück ordentlich rumorte, hielt sie sich brav bei all den verführerischen Speisen zurück. „Ihr werdet es vielleicht noch nicht bemerkt haben, doch die Stadt steht vor einem politischen Umschwung. Das Volk ist nicht mehr so leicht zufrieden zu stellen, wie es früher einmal war. Wir tun unser Bestes daran, es niedrig zu halten und die Unruhestifter auszumerzen. Nicht auszudenken, wenn sich der Pöbel geballt gegen den Adel erhebt. Es ist natürlich unsere Pflicht, vor allem die der drei höchsten Familien, alles Menschenmögliche zu tun, um eine Revolution zu verhindern.“ „Und was gedenkt Ihr zu tun?“ „Wie ich schon sagte, die Unruhestifter müssen beseitigt werden. Wenn wir zulassen, dass die Unzufriedenen immer lauter werden, käme es womöglich zu einer Kettenreaktion, und aus einer Flamme der Unzufriedenheit wächst ein Feuer des Hasses. Doch jede noch so kleine Flamme wird erstickt und für immer gelöscht.“ Sophie mochte lieber nicht nachfragen, wie genau sie das anstellten. Sie pickte eine Traube aus der Schüssel, die ihr einer der Diener hinhielt. „Ich bewundere Euren Einsatz, Raphael.“ Meinte Sophie, kaum hatte sie magere Kost hinuntergeschluckt. „Ihr tut alles daran, den Pöbel zurückzudrängen und das Bestehen der Adelsfamilie und der geliebten Aristokratie zu gewähren.“ „Es gäbe all diese Probleme nicht, wenn das Volk nicht endlich verstehen würde, dass es ohne die starke Hand der Aristokratie nicht bestehen kann.“ „Ich hörte, sie wollten Demokratie? Ich wusste mit dem Begriff jedoch nichts anzufangen…“ „Demokratie, pah!“ Raphael sprang von seinem Sessel und verzog angewidert das Gesicht. „Nehmt dieses Wort nicht in den Mund! Oligarchie nennen sie das, was bei uns herrscht. Eine Aristokratie gleichermaßen, nur dass wir gesetzlos herrschten. Nicht am Wohl des Volkes orientiert, sagen sie. Dabei verstehen sie nicht, was diese… Demokratie… für Ausmaße haben würde. Diese Stadt, gar das ganze Land, es würde in Chaos versinken. Herrschaft des Volkes… Wo kämen wir denn da hin, frage ich.“ Unruhig lief er hin und her. „Sie verlangen eine Volksherrschaft?“ Auch Sophie rutschte auf ihrem Sessel unruhig hin und her. „Was geschähe dann mit uns? Die, die nun herrschen?“ „Geld, Reichtum und Macht wären nur noch Worte, dokumentiert aus längst vergangenen Tagen. Gleichberechtigung der Schritt ins morgen. Niemand wäre mehr für seine Taten und seinen Einsatz für dieses Land angesehen, wo auch die größten Tölpel und Faulenzer wichtige Positionen einnehmen könnten.“ „Ihr beliebt zu scherzen…“ „Ich wünschte, es wäre so. Nein, Sophie.“ Erst jetzt hielt Raphael inne. „Ihr seht also, wie wichtig es ist, unsere Familien aufrecht zu erhalten.“ Sie nickte stumm. „Nun seht, wie spät es ist.“ Auch Sophie bemerkte jetzt erst, wie tief die Sonne schon stand. „Wie schnell man die Zeit vergisst, in so angenehmer Gesellschaft.“ Er reichte Sophie die Hand, die sie ergriff und sich aus dem viel zu gemütlichen Sessel erhob. „Ich werde Euch nach Hause geleiten.“ „Nicht nötig.“ Winkte Sophie ab. „Ich habe meine Leibwächter, das genügt. Aber habt Dank. Ich habe die Zeit mit Euch wirklich genossen.“ „Nun, ich hoffe Euch bald wiederzusehen.“ Raphael führte Sophies Hand an seine Lippen. „Ihr schuldet mir noch ein Gespräch. Wie wäre es mit einem Abendessen in meinem Hause? In, sagen wir, zwei Tagen? Morgen bin ich leider verhindert, doch es wäre mir eine Freude, Euch möglichst bald wieder zu sehen.“ „Ich komme sehr gerne.“ „Dann aufs Baldige, Sophie.“ Raphael neigte höflich den Kopf, und auch Sophie machte einen Knicks, bevor sie sich – wie gewohnt flankiert von ihren Leibwächtern – auf den Heimweg machte. Noch auf dem Weg dachte Sophie über den Tag nach. Es war ungewohnt und beinahe etwas unangenehm, solche zusprechenden Worte aus dem Mund eines Mannes wie Raphael zu hören – immerhin war er ein Sohn der Averno, eine der führenden Familien in Marecielo. Sophie wusste immer noch nicht recht, wie sie mit der Situation umzugehen hatte, konnte sich allerdings das Gesicht ihrer Mutter vorstellen, wenn sie dieser bei ihrer Rückkehr davon erzählte. Gewiss, ihre Eltern würden ganz aus dem Häuschen sein, wenn sie davon erfuhren, und sie sicherlich auch zur Vermählung mit einem so einflussreichen und mächtigen jungen Mann zwingen, wenn es notwendig war. Und doch, dachte Sophie, als sie später in ihr angewärmtes Bett schlüpfte und eine Zofe die Vorhänge in ihrem Zimmer schloss, auch sie selbst war so viel Macht und Ruhm nicht abgeneigt. Zumal es sich bei Raphael um einen wahrlich gutaussehenden Aristokratensohn handelte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)