Wie Kürbisgesicht und Vogelvieh
Ja, September kannte den Weg zu Oktober gut, denn auch, wenn er es nicht zugeben wollte, besuchte er diesen Sonderling gern.
Dass sie bald ankommen würden, sahen die beiden reisenden Monate allein schon an den endlos langen Kürbisreihen, die die Straßen säumten, und an den Krähen, die lauthals schreiend ihre Runden am wolkenverhangenen Himmel drehten.
Zudem hatten sie auch die Warmwetterzone längst hinter sich gelassen, denn noch war die Luft um sie herum zwar nicht wirklich kühl, sondern fühlte sich einfach nur nass und klamm auf der Haut an, als hätten sich Herbstnebel erst kurz vor ihrer Ankunft verzogen.
Nach und nach verstummte das Vogelgekrächze um sie herum und wich einer unheimlichen, ganz und gar nicht natürlichen Stille, die sich immer dichter auf ihre Ohren legte, je näher August und September dem steinernen Turm kamen, der sich plötzlich nicht länger hinter einem der vielen Hügel zu verstecken suchte und anklagend in die Höhe zeigte.
August schluckte mühsam. „Hier ist Oktober also beheimatet?“
Bislang hatte er seinen drittjüngsten Kollegen immer gemieden, sofern dies möglich war. Natürlich hatte er den Gerüchten nicht entgehen können, aber dies… erschien ihm übertrieben dramatisch. Obwohl er genau spürte, wie eindrucksvoll diese Szenerie doch war.
„Ja. Aber… irgendetwas stimmt hier nicht!“, misstrauisch sah September sich um.
„Was?“, instinktiv hielt August nach irgendwelchen irreführenden Begrifflichkeiten Ausschau, doch nicht einmal ein mickriges Teekesselchen ließ sich blicken. „Ich finde hier alles ganz normal. Also – so normal es bei einem Monat, in dessen Wirkungsbereich etwas wie Halloween, „Die Nacht der lebenden Toten“, fällt, nur sein kann.“
September antwortete nicht, sondern stieß das schwere Eingangsportal auf und stapfte energisch in die dichte Dunkelheit vor ihm.
„He! Hältst du das wirklich für eine gute Idee?“, der ältere der beiden Monate sah ihm unschlüssig nach. „Ach, was soll’s. Hoffentlich sind hier keine Katzen.“ Schulterzuckend schloss er sich ihm schließlich an.
Die mächtige Eisentür fiel hinter ihnen mit einem ordnungsgemäßen Donnern ins Schloss.
„Vorsicht, hier fängt die Treppe an“, warnte September vor, und tatsächlich stolperte August wenige Sekunden später auch schon über die erste Stufe.
„Du bist richtig oft hier, oder?“, wollte letzterer neugierig wissen. „Ich glaub, ich weiß nicht mal bei mir zu Hause, was wo ist, wenn ich nicht hinschauen kann – apropos hinschauen, was sind das da für eigenartige Augen?“
„Seine Tauben. Psst jetzt!“
Im Grunde, und das war ihnen klar, hatten sie mit allem gerechnet. Plänen und Versuchen für Halloweenscherze, Maschinen zur Herstellung von Schokoladenbergen, Material für Dekorationen… Doch das Bild, das sich ihnen darbot, als sie um die letzte Kurve der Wendeltreppe gegangen waren, war tatsächlich etwas Unerwartetes.
Nun, wer hätte auch schon damit gerechnet, in einer Ecke des Raumes zusammen gekauert den gesuchten Monat zu entdecken, der sich gebannt anhörte, was eine einzelne Taube der vor ihr versammelten Vogelarmee zu gurren hatte?
Als August sich beiläufig umdrehte, bemerkte er, dass sich hinter ihnen beiden weitere Piepmätze versammelt hatten, als ob sie verhindern wollten, dass sie sich mir nichts dir nichts aus dem Staub machten.
„Herr Spukschädel!“, rief August aus, „Was geht hier vor?“
Atemloses Schweigen folgte diesen Worten, nicht eines der Tiere rührte sich, und auch die anthropomorphen Manifestierungen gaben sich die größte Mühe, einer vorbeikommenden Nadel nicht die Ehre zu nehmen, beim Herunterfallen von allen Anwesenden gehört zu werden.
Unvermittelt stieß eine der Tauben einen heiseren Schrei aus. Alle anderen – alle, bis auf eine – antworteten ihr. Flügelklappern. Federn in der Luft.
Zehn Sekunden später hatte sich der ganze Schwarm durch vier enge Turmfenster hinaus ins Freie gequetscht, bis auf jenes Vieh, das eben geschwiegen und zuvor zu allen anderen gesprochen hatte: Sie saß nun auf der Fensterbank und blickte ihren Schwestern sehnsüchtig hinterher.
Oktober streichelte ihr sanft den Schnabel.
Heimlich wunderte August sich, warum September immerzu an seiner Kleidung rumkrittelte, die von dem Taubenfreund jedoch nicht einmal mit einem schiefen Blick bedachte – diese eigenartigen Kombinationen aus schwarz, weiß, orange und Streifen konnten doch gar nicht modisch sein, von den spitz zulaufenden Schuhen ganz zu schweigen!
„Oktober“, riss September August aus seinen Gedanken, „Was zum Kuckuck ist hier eigentlich los?“
Der Herbstmonat seufzte melancholisch. „Ich habe ihnen das Lesen beigebracht. Es erschien mir richtig, verstehst du? Und stell dir mal vor, was für eine Überraschung es für November gewesen wäre, wenn sie auf einmal Poes Gedichte vorgelesen hätten! Oh, ich bin ja so froh, dass ihr meinen Brief bekommen habt, ihr beide! Möchtet ihr zum Dank ein Glas Kürbissaft?“
„Kürbissaft?“, echote August sprachlich ungeschickt.
„Ja“, antwortete Oktober ohne jeglichen Spott in der Stimme, „Wir haben so viele von den Dingern, ich weiß gar nicht mehr, was ich noch alles damit machen soll! Und jeden Tag gibt’s Kürbis. Zum Frühstück Kürbisbrot mit Kürbiskernen und Kürbismarmelade, zum Mittagessen gebratenen Kürbis mit Kürbissoße und Kürbispudding als Nachtisch, abends dann Kürbissuppe mit dem restlichen Kürbisbrot vom Morgen…“
Er nahm die bereitstehende, bauchige, orangefarbene Karaffe von einem ziemlich wackelig aussehenden Tisch und stellte fest, dass ihm die Gläser bei dem Aufruhr eben auf dem Boden kaputt gesprungen waren, zuckte mit den Schultern, und goss den Saft zum Fenster heraus.
„Die Schokolade darf ich leider nicht anrühren, die ist ja nicht für mich. Oh, wenn ich doch nur einmal in meinem Leben Erdbeeren essen könnte!“, schwärmte der Jüngste mit glänzenden Augen vor sich hin und vergaß angesichts dieses kulinarischen Leckerbissens in seinen Gedanken die Welt um sich herum.
„Und weiter?“, unterbrach September die Phantasiererei rüde. „Hör zu, es ist wichtig! Irgendetwas ist im Gange.“
Mühsam riss sich Oktober von seinen Erdbeerträumen los. „Ähm… ich habe einen Brief bekommen. Ich selbst habe ihm keine Beachtung geschenkt – er war scheinbar falsch zugestellt worden – und habe ihn offen liegen gelassen. Und dann haben ihn die Tauben gesehen…“
„Und sind ausgeflippt? Ich wusste ja, dass man diesen Biestern nicht trauen kann, ich hab’s dir ja gesagt! August, was gibt es da zu lachen?“
„Nichts!“, antwortete dieser rasch. Tatsächlich fand er es jedoch sehr erheiternd, dass ausgerechnet September die Worte „Ich hab’s dir ja gesagt!“ verwendete, und dass sie, aus seinem Munde kommend, tatsächlich so klangen, als wären sie nur für den neunten Monat des Jahres erfunden worden. Erstaunlich!
September ließ die Sache auf sich beruhen und fragte lieber, ob er den Brief einmal sehen könne.
„Natürlich!“, erwiderte Oktober, „Da vorne liegt er!“
Das Papier war über und über mit Taubenkot bedeckt, in dem kleine Federchen fest hingen, dennoch war es glücklicherweise leicht möglich, zu lesen, was dort stand.
Oktober,
X hat mich gefunden und Juli Jones den Indios überlassen, die wütend auf ihn sind!
Schnell, hole die anderen – befreie mich! Ich weiß nicht, was ich sonst tun soll… ich habe keine Zeit mehr, bitte! Ich zähle auf dich!
Mai