Der Neuschnee-key: Poison von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 3: ----------- Hinweis: "Poison" spielt im Palast der Jahreszeiten, einem Keyfiction Setting das sich jederzeit über Interessenten und Mitleser/schreiber freut, und unter der folgenden Adresse zu finden ist: http://www.palast-der-jahreszeiten.co.cc Danke! Ein riesengroßes Dankeschön geht an Tsugumi, die Poison beta-liest und dabei die ganzen Verwirrungen und Ungereimtheiten enttarnt, die mir gar nicht mehr aufgefallen sind, die sich mit obskuren Rechtschreibfehlern und Wortwiederholungen auseinander setzt, und ohne die Poison sicher nur halb so gut klänge. :) Poison Your cruel device Your blood, like ice One look could kill My pain, your thrill I want to love you but I better not touch (Don't touch) I want to hold you but my senses tell me to stop I want to kiss you but I want it too much (Too much) I want to taste you but your lips are venomous poison You're poison running through my veins You're poison, I don't want to break these chains Your mouth, so hot Your web, I'm caught Your skin, so wet Black lace on sweat I hear you calling and it's needles and pins (And pins) I want to hurt you just to hear you screaming my name Don't want to touch you but you're under my skin (Deep in) I want to kiss you but your lips are venomous poison You're poison running through my veins You're poison, I don't wanna break these chains Poison                                               ( aus: Alice Cooper - Poison) Kapitel 3 Die entspannte Müdigkeit, die Antoine nach seinem Bad umfangen hielt, wog ihn in Sicherheit als er, wieder angekleidet, aus dem Badezimmer heraus trat. Der große Wohnraum war angenehm warm, das herunterbrennende Kaminfeuer knisterte leise, draußen heulten die sich zum Sturm entwickelnde Böen ohne Einlass zu finden. Es mußte wunderbar sein, des Abends dort am Kamin in einem der beiden Sessel sitzen zu können, oder sich bei Tageslicht einen Stuhl an eines der Fenster zu ziehen und die Landschaft zu überblicken. Dem ganzen Raum haftete eine erhabene Gemütlichkeit an, gepaart mit dem Gefühl von unbeirrbarer Ordnung. Chaos musste zwangsläufig außerhalb dieser Räume bleiben, und alle Gedanken, mit denen Antoine sich noch bis zu diesem Mittag herumgeschlagen hatte hielten sich in disziplinierter Entfernung ohne Anstalten zu machen, auf ihn einzudringen. „Ich habe Ihren Koffer ausgepackt“, sprach unvermittelt eine angenehm tiefe Stimme. Antoine fuhr herum. Er hatte Seveil nicht nur für den Moment verdrängt, er hatte ihn obendrein auch noch übersehen. Doch da saß er, die Haltung aufrecht und trotz seiner Größe und attraktiv breiten Schultern fast als anmutig zu bezeichnen, auf dem Klavierhocker, wo er einen Stoß loser Notenblätter durchgesehen hatte. Nun legte er ihn zur Seite und erhob sich. „Ich nahm an, um Ihre Tasche möchten Sie sich gern selbst kümmern.“ „Ja... ja danke“, murmelte Antoine und brachte ein höfliches Lächeln zustande, von dem er den Verdacht hatte, daß es aufgesetzt und schief wirkte. „Darf... darf ich mich setzen?“, fragte er und deutete auf einen der Stühle am Tisch. Um Seveils Mundwinkel zuckte es. „Alles in dieser Suite gehört für die Dauer Ihres Aufenthalts Ihnen.“ Abschätzend ruhte sein Blick auf Antoine. Dieser schob den Stuhl, auf den er sich eben hatte setzen wollen, langsam wieder zurück, als die eben erst überwundene Unruhe ihn wieder zu übermannen drohte. „Ich...“, er räusperte sich und warf einen kurzen Blick zur holzgetäfelten Decke, an die von Gas erleuchteten Wandlampen freundlichen Lichtkreise warfen. „...Ich bin nicht hier, um...“ Er vollführte wenig aussagekräftige Handbewegungen und wünschte, Seveil würde ihn aus der unangenehmen Situation befreien, doch der schwer deutbare Zug um dessen Mundwinkel wurde nun unbestreitbar belustigt. Fand Antoine zumindest. „Ich bin in der Tat nur hier, um...“, setzte er also neu an, doch er wusste nicht einmal recht, was sonst er hier vorgehabt hatte, je genauer er es bedachte. Hilflos warf er einen Blick durch den Raum. An den Bücherregalen zu beiden Seiten des Kamins blieben seine Augen hängen. Es war eine Sammlung, die bereits aus der Entfernung aussah, als könne jeder, der gerne las, nur davon träumen. Bis an die hohe Decke reichten die eng gefüllten Regalbretter, um an die obersten Reihen zu gelangen würde man einen Stuhl bemühen müssen. „Ob ich einen Blick in das Bücherregal werfen darf?“, fragte er abgelenkt. Seveil neigte den Kopf kaum merklich zur Seite. „Natürlich. Es gehört Ihnen.“ Antoine musste sich beherrschen, nicht eiliger als notwendig auf das vordere der Bücherregale zuzutreten, obgleich sein Interesse daran alles andere als geheuchelt war. Von klein auf hatte er es geliebt zu lesen, und fremde Bücherregale boten mehr als nur eine neue Auswahl an möglichem Lesestoff. Bücherregale, fand Antoine, sagten viel über ihre Besitzer aus. Über ihre Interessen und Tätigkeiten, über Loyalitäten und Träume, über gesellschaftliche Stellung oder -Vorstellung. Was mochte Seveil für Bücher bevorzugen? Sicher würde einiges an breiter Auswahl dabei sein, das für die verschiedenen Geschmäcker der verschiedenen Holder gedacht war, doch jemand, der praktisch an eine Suite gebunden war, würde doch auch Lektüre den eigenen Vorlieben entsprechend haben wollen. Er vermeinte Seveils Blicke im Rücken zu spüren, als er vor dem Regal Halt machte. Tatsächlich fand sich hier ein regelrechtes Sammelsurium verschiedenster Einbände und Formate, Sprachen und Themengebiete wieder. Antoine entdeckte alte Geschichtsfolianten, englische Shakespeareausgaben, Gedichtbände und philosophische Schriften, Dramen und Romane neben politischen Reden in lateinischer Sprache, Berichten aus fernen Ländern und den Memoiren von Persönlichkeiten verschiedenster Nation. „Findet es Ihre Zustimmung?“, fragte Seveil viel näher hinter Antoine als dieser erwartet hätte. Überrascht fuhr er herum und fand sich unmittelbar gegenüber dem Key wieder, zu nah, als daß ihm wohl dabei gewesen wäre, nicht nah genug, als daß ihm unbehaglich wäre. Wieder nahm er den sanften, unaufdringlichen Duft war. Entwand er sich dem Seidenhemd, das in fliessenden Falten den Oberkörper seines Gegenübers betonte? Die freundlichen Gaslampen an den Wänden und das Feuer des Kamins verliehen der feinen Seide einen warmen Schein, der sich in den dunklen Augen und auf dem schwarzen, schulterlangen Haar fortsetzte. Als Antoine bemerkte, daß er Seveil anstarrte, trat er hastig einen Schritt zurück. „Natürlich! Es ist eine ganz beachtliche Sammlung“, brachte er hervor und lächelte unbeholfen. Es lag tatsächlich eine nur schwer wahrnehmbare Prise Spott in Seveils Lächeln, das bildete er sich doch nicht ein, oder? Er würde ja auch spöttisch dreinsehen, wenn sich jemand so weltfremd ihm gegenüber aufführte, wie Antoine es gerade vermutlich tat. Es war an der Zeit, sich zusammen zu nehmen, und sich endlich wie jemand zu benehmen, der nicht den Verstand verloren hatte. Wie jemand, der sich in der Welt behaupten konnte, ob im Gerichtssaal oder im Palast der Jahreszeiten. Er hatte dazu beigetragen, daß den Machenschaften von Thomàs Sabatier eine vorläufiges Ende gesetzt wurde, da konnte das hier doch nicht so schwer sein. Zumal er es sich selbst ausgesucht hatte. „Nun...“, begann er schließlich, und räusperte sich. „Es ist... wirklich bereits spät, und ich habe Sie wahrscheinlich wach gehalten. Das tut mir sehr leid. Sie sind sicherlich ebenfalls müde und möchten zu Bett gehen.“ Wieder spielte ein feines Lächeln um Seveils Lippen, das drohte, Antoine ein weiteres Mal aus dem Konzept zu bringen. „Gemeinhin pflegt ein Key mit seinem Holder zu Bett zu gehen.“ Antoine öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Dann jedoch hatte er sich endlich unter Kontrolle. „Das... wird nicht nötig sein. Ich habe noch... zu arbeiten.“ Er nickte entschieden, als müsse er seine eigenen Worte bestätigen, und sah sich suchend um. „Meine Bücher?“ „Natürlich. Ich habe sie zu Ihren Sachen in den Schrank gelegt“, sagte Seveil und drehte sich halb herum um auf die Schlafzimmertür zu deuten. Dann glitt sein Blick zurück zu Antoine. Eine steile Falte hatte sich auf der Stirn des jungen Mannes gebildet die nicht recht zu ihm passen wollte.  Es wirkte, als habe er eine anstrengende Aufgabe vor sich, doch Seveil konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was das sein sollte, das nicht auch bis morgen verschoben werden konnte. Daß ein Holder ihn so entschieden verschmähte war ihm jedenfalls noch nicht passiert, und es kratzte an seinem Stolz. Nicht jeder Holder wollte alles in der ersten Nacht, doch bislang hatte noch jeder gewisses Interesse gezeigt. Antoine eilte an ihm vorbei. Seveil blieb nichts, als ihm verdrossen hinterher zu sehen. Als Antoine das Schlafzimmer kaum einige Momente später wieder verließ, trug er tatsächlich eines seiner Bücher unter dem Arm, dazu eine Mappe die er zwischen die Seiten geklemmt hatte. Seine Haltung war beinahe etwas zu aufrecht und steif, doch daß er sich nahezu an seinem Buch festzuhalten schien strafte diesen Eindruck Lügen. Seveil folgte ihm mit dem Blick als der junge Rechtsgelehrte, der er zu sein schien, ziellos in der Mitte des Raumes innehielt. Alles an ihm war widersprüchlich. Die Haltung passte nicht zu dem Eindruck, den seine Hand, die kaum merklich auf dem Buch einen nervösen Takt klopfte, vermittelte. Die bemüht verschlossene Miene, die er aufgesetzt hatte, passte nicht zu den unsicher dreinblickenden dunkelblauen Augen, die er konsequent von Seveil abwandte. Selbst das nach dem Waschen akurat gescheitelte Haar wollte nicht zu jenen Strähnen passen, die ihm als sie langsam trockneten weich in die Stirn fielen, und die energische Bewegung, mit der er sie erfolglos zur Seite wischen wollte, passte nicht zu dem anderen Arm der krampfhaft das Buch hielt. Seveil verschränkte die Arme. Im Feuer knisterten die Kiefernzapfen, die Seveil nachgelegt hatte als Antoine im Bad gewesen war. Das Kaminfeuer verbreitete warme Gemütlichkeit, doch Antoine schien weder diese wahrzunehmen, noch den anderen Annehmlichkeiten des Wohnraumes viel abgewinnen zu können. Zumindest sah er nicht aus, als nähme er sonderlich viel Notiz. Endlich trat er langsam auf den alten Holztisch zu und legte sein Buch geräuschlos ab. Sein Blick wanderte durch den Raum und blieb nur widerwillig an Seveil hängen. Seine Nase hätte wirklich einen Deut kleiner ausfallen dürfen, doch das klare, kräftige Dunkelblau seiner Augen machte vieles wieder Wett, und auch seine nett geschwungenen Lippen trugen ihren Teil dazu bei. „Also...“, Antoine rieb sich mit einer Hand abwesend die Stirn, „...ich werde bestimmt noch länger aufbleiben. Es würde gar keinen Sinn machen, blieben Sie nur wegen mir länger auf.“   Er lächelte höflich, doch sein Ton war distanziert, als er anfügte: „Bitte, gehen Sie ruhig zu Bett wenn Sie möchten.“ „Natürlich, wenn das Ihr Wunsch ist“, erwiderte Seveil und deutete eine knappe Verbeugung an. Antoine schwieg. Seveil verharrte nur kurz, dann wandte er sich stumm herum. Als Seveil die Schlafzimmertür leise hinter sich schloss atmete Antoine erleichtert auf, ließ sich müde auf einen der Stühle am Tisch fallen, stützte die Ellbogen auf die Tischplatte und den Kopf auf die Hände. Er war müde von der langen Reise und der Situation, und das einzige Bett der Suite war belegt. Natürlich war ihm im Vorfeld klar gewesen, daß er diese Suite mit jemandem teilen würde, und mit ihr das Bett, doch es war ihm leicht und natürlich vorgekommen, und er hatte keine Vorstellung, was er sich dabei gedacht hatte. Sich einen Bettgefährten zu erkaufen war nichts das man tat, doch immerhin machte es einen gewissen, wenn auch fundamental anrüchigen Sinn. Die obskure, naive Wunschvorstellung die er gehabt haben musste hingegen war nachgerade lächerlich. Einen unschuldsvollen Gefährten, einen Menschen, der spontan aus dem Hut gezaubert wurde und der sich nahtlos zumindest kurzfristig in sein Leben einpasste um dort die Stelle eines Menschen einzunehmen, der ihm das Gefühl vermittelte, nicht allein zu sein. Oh heiliger Petrus. Oder zumindest war das der Schutzheilige, der ihm am ehesten für offensichtlich Wahnsinnige einfiel. Es war entsetzlich. Doch nun gab es nichts daran zu ändern, daß er hier war. Lustlos zog er sich sein Buch heran, entnahm die Mappe, schlug sie auf und sah durch die darin gesammelten Briefe und Dokumente, allen zuoberst das Bestätigungsschreiben des Palastes. Er hatte es vorgezogen, die Mappe mit seinen wichtigsten Unterlagen mitzunehmen. Es gab ihm das Gefühl, sich nicht vollkommen gewissenlos aus allen Dingen ausgeklinkt zu haben, und er war sich nicht vollständig sicher, ob sein Vater nicht hinein gesehen hätte, wäre er zufällig auf sie gestoßen. Und selbst wenn die Briefe des Palastes sich nicht darin befunden hätten, behagte ihm der Gedanke nicht. Sein Vater war ein guter, fleissiger und verantwortungsvoller Mensch, der ausgezeichnete Arbeit verrichtete und sich immer um Antoine gekümmert hatte, auch nach dem Tod seiner Frau. Dennoch ging seine Fürsorge für seinen mittlerweile erwachsenen Sohn hin und wieder etwas zu weit, und weder wollte Antoine der Kritik ausgesetzt sein, die sein Vater für die meisten Dinge übrig hatte, die sein Sohn tat, noch hatte er Interesse daran, Fälle oder Begebenheiten oder auch einfach nur Bestandteile seines Lebens mit seinem Vater zu diskutieren, wenn sie diesen nichts angingen. Erst als im Schlafzimmer eine Schranktür leise klappte wurde Antoine sich wieder Seveils Anwesenheit bewusst. Käme er nochmal heraus? Nicht notwendigerweise, zumindest befand sich ein Waschtisch im Schlafzimmer der das Badezimmer, wenn man keine anderweitigen Notwendigkeiten hatte, erübrigte. Und tatsächlich knarrte bald darauf das Bett hinter der Tür. Antoine schloss die Augen und unterdrückte ein Gähnen. Immerhin, das Sofa der Sitzecke vor dem mittleren der bis zum Boden reichenden Fenster hatte verhältnismäßig bequem ausgesehen. Ob es hier irgendwo eine Decke gab? Müde erhob er sich, schob den Stuhl leise zurück an den Tisch und sah sich um. Nein, keine Decke. Aber Kissen, und in einem Korb neben dem Kamin genügend Feuerholz, um zumindest die Raumtemperatur über Nacht angenehm zu halten. Draußen hatte sich das Wetter zu einem regelrechten Novembersturm ausgewachsen, der um das Gebäude heulte und an den Fenstern rüttelte. Irgendwo klapperte ein Fensterladen. Antoine schob einige Holzscheite in das Kaminfeuer und beobachtete, wie die Flammen danach zügelten und schließlich Besitz von ihnen ergriffen. Das Bett war womöglich Seveils liebstes Möbelstück in der Neuschnee-suite, und nicht wegen der ungezählten Stunden körperlicher Liebe, die sich hier zugetragen hatten. Er hätte eher vermutet, daß diese seine Vorliebe für das Bett, wenn er lediglich Erholung suchte, eher schmälterten, doch nichts dergleichen war der Fall. Die vielen aufgeschüttelten Kissen, die man sich nach Belieben heranziehen und fortschieben konnte, die weiche Matraze, die warmen Decken, all das war so komfortabel, daß es ihm noch nie in seiner Zeit im Palast den Schlaf versagt hätte, sobald er die Augen schloss. Dekorative Brokatvorhänge und golddurchwirkte Kordeln perfektionierten jeden Morgen aufs neue die Illusion, man befände sich in den Gemächern einer königlichen Residenz. Nun ja, zumindest ein Palast war es ja nun auch. Und die verschiedensten hochrangigen Personen hatten in der Vergangenheit die Dienste der Paläste aufgesucht, und sie damit zu ihrer Residenz gemacht. Die Arme hinter dem Kopf verschränkt sah Seveil zum Brokathimmel herauf und lauschte dem Sturm, der in unregelmäßigen Abständen Regenschauer gegen die Scheiben klatschen ließ. Das leise Knarren der Dielenbretter im Wohnraum ließ ihn aufhorchen. Unwillig verzog er die Mundwinkel. Er konnte Antoine beim besten Willen nicht einschätzen. Einen Moment lang glaubte er, einen im Grunde ganz passablen Menschen vor sich zu haben, dann wiederum war er überzeugt, daß der junge Mann wohl doch an Arroganz und hochmütiger Distanz litt. Was genau er hier im Palast suchte, war Seveil in beiden Fällen ein Rätsel. Er wusste, was es damit auf sich hatte, war hier und behauptete dennoch, keinen Nutzen davon machen zu wollen? Es gab immer wieder Holder, die mit dümmlichen Ausflüchten zu erklären suchten, daß ihnen ihr Aufenthalt im Palast selbstredend von irgendwelchen Freunden, Bekannten oder Geschäftspartnern aufgenötigt worden war, oder, wenn sie das Bett mit Seveil teilten, was für gewöhnlich recht schnell der Fall war, daß sie dies natürlich lediglich taten, um ihn nicht in Verlegenheit zu bringen. Seveil fand derart stupide Lügen entschieden verwerflicher als die Anwesenheit im Palast. Das einzige, was ermüdender und verachtenswerter war als Hochmut war die dummdreiste Verleugnung von Tatsachen um besser dazustehen, und dabei auch noch von der Naivität anderer auszugehen. Sollte sich Antoine als eine derartige Person herausstellen, versprachen die folgenden drei Wochen eine Qual zu werden. Antoine hatte in seinem Leben nur selten ein Problem gehabt, zu schlafen. Ob Lärm oder Licht, ob Sorgen oder Ärger, er konnte sich kaum an Nächte erinnern, in denen er nicht ungerührt geschlafen hätte. Es gehörte normalerweise viel dazu, ihn daran zu hindern. Aber vielleicht war  lediglich die fremde Umgebung die Ursache, oder das Sofa, das als Sitzmöbel sehr bequem sein mochte, aber auf die Dauer nicht zum Schlafen gemacht worden war. Draußen heulte der Sturm in immer höherer Tonlage wie die schrille Drohung zunehmenden Wahnsinns. Nur das Kaminfeuer, dessen warmer Lichtschein den mittlerweile dunklen Raum erhellte, flackerte tröstlich wann immer er aus unruhigem Halbschlaf hochschreckte, doch es wärmte nicht so sehr, wie er gehofft hatte. Fröstelnd zog er die Knie enger an den Körper, zu müde, um aufzustehen und seinen Mantel von der Garderobe zu holen. Im Schlafzimmer nach einer Decke zu sehen kam nicht in Frage. Die Nacht wollte nicht enden, und der Gedanke an die folgenden drei Wochen war niederschmetternd. Als endlich das erste düstere Grau hinter den Fenstern dämmerte, fühlte Antoine sich zerschlagen. Dumpfes, nicht greifbares Gewicht lastete auf seinem Kopf, sein Nacken schmerze und die Müdigkeit war tief in seine Knochen gekrochen, statt sich von der Nacht vertreiben zu lassen. Im Kamin war das Feuer verloschen, nur letzte Glutreste glimmten hin und wieder unter der Asche auf. Langsam setzte Antoine sich auf, ließ sich gegen die weiche Sofalehne fallen und legte den Kopf in den Nacken. Kein Laut drang aus dem Inneren des Palastes. Während der Nacht hatte er hin und wieder Schritte auf dem Korridor vernommen, mal gemessene, schwere Schritte, vielleicht von einem der erstaunlich unauffälligen, aber wehrhaften Gesellen in Uniform die ihm bei ihrem Weg zur Neuschnee-suite sporadisch begegneten waren, und die offenbar für die Sicherheit innerhalb der Palastmauern sorgten, mal andere Schritte, hin und wieder gedämpfte Stimmen. Nun jedoch lag der Palast so still da, als wäre alles Leben aus ihm gewichen. Wie spät mochte es sein? Das fahle Licht draußen war noch so schwach, daß ihm der Tag unvorstellbar fern erschien. Sechs Uhr morgens? Sieben Uhr? Was jetzt? Theoretisch führe heute mit Sicherheit ein Zug nach Paris. Doch je mehr darüber nachdachte, desto weniger erstreblich erschien ihm auch diese Möglichkeit. Was sollte er daheim? Niemand rechnete mit ihm, bei Dupont und Rougier nicht, daheim nicht. Außerdem wüsste er nicht, wie er seinem Vater erklären sollte, warum er umgehend wieder heimgekehrt war. Und schlussendlich wäre es Geldverschwendung. Er wollte um Gottes Willen nicht wissen, was diese drei Wochen irgendjemanden gekostet hatten. Was ihm blieb war, das Beste aus der Sache zu machen. Und der Palast bot dazu alle nur irgend denkbaren Möglichkeiten. Wie oft hatte er in den letzten Wochen bedauert, keine Zeit zu haben, ein paar neue Bücher zu lesen und die Welt für eine Weile zu vergessen, wie oft hatte er die Pariser Stadtluft, mit all dem Qualm und Rauch aus den unzähligen Schornsteinen, der grau und abweisend die Häuser und Straßen einhüllte, bemägelt. Mochte es auch unüblich sein, daß ein Gast kein Interesse am Hauptangebot des Palastes hatte, er zahlte, also konnte man es nicht in Frage stellen. Entschlossen richtete Antoine sich auf und reckte die schmerzenden Glieder. Dann trat er auf den Kamin zu, stocherte mit dem Schürhaken in der Asche, legte Zunder und trockenen Tannenzapfen nach und wartete, bis die Glut danach zu züngeln begann ehe er einen ersten Holzscheit in den Kamin warf. Ob man hier irgendwo Kaffee bekam? Allerdings wohl kaum um diese Uhrzeit, wer erwartete schon, daß die reichen Gäste, die sich diesen Luxus leisten konnte, so früh aufzustehen geruhten? Aber ein Schinkenbrot hatte er noch, das war ein Anfang. Leise fischte Antoine das Brot aus seiner Tasche und trat kauend ans Fenster. Trübe zeichneten sich erste Baumwipfel vor nebligem Hintergrund in der weichenden Dunkelheit ab. Im schwachen Licht des nur langsam an Intensität gewinnenden Kaminfeuers spiegelte Antoine sich in der Fensterscheibe. Er rümpfte die Nase. Er sah genauso aus, wie er sich fühlte: Verknittert und unangemessen dem edlen Umfeld, in dem er sich befand. Als hätte ein Puppenspieler versehentlich eine abgerissene, alte Figur auftreten lassen, wo ansonsten nur Prinzessinnen und Ritter agierten. Immerhin an der Kleidung konnte man etwas ändern, doch noch rührte sich nichts im Schlafzimmer, und die Zeit gab keinen Anlass zu hoffen, Seveil stünde bald auf. Bis dahin mußte er also wohl oder übel noch warten. Leise wanderte Antoine zum nächstgelegenen Bücherregal herüber. Der tröstende Geruch alten Papiers und abgegriffener Ledereinbände, der auch in Bibliotheken vorzuherrschen pflegte, verlieh der Suite zum ersten Mal auch für ihn etwas heimisches. Antoine überflog die Buchrücken, zog hin und wieder einen der Bände hervor und betrachtete ihn genauer, schob ihn zurück und sah nach dem nächsten Titel ohne die rechte Ruhe zu haben, ein Buch auszuwählen und sich damit hinzusetzen. Außerdem waren da immer noch die mitgebrachten Unterlagen, in die es hinein zu sehen galt, und Bücher zum Thema. Er hörte bereits die Stimme seines Vaters im Hinterkopf: ‚Ich hoffe, du hast die freie Zeit sinnvoll genutzt, Antoine. Antoine, du hast sicherlich nicht versäumt, deine Fälle vorzubereiten?’. Antoine verzog das Gesicht. Es war vergebene Mühe, Monsieur Rigot erklären zu wollen, daß sein Sohn durchaus nicht versäumte, sich um seine Aufgaben zu kümmern und daß er das auch dann tat, wenn er nicht jeden Abend über irgendwelchen Unterlagen verbrachte. Er hatte es aufgegeben, darüber Debatten zu beginnen. Sein Vater stellte in derartigen Gesprächen knapp fest, daß Antoine sich Dinge einbildete wenn er sagte, sein Vater traue ihm nichts zu, es sei wahrhaftig enttäuschend, derlei vom eigenen Sohn zu hören, und überhaupt könne er ja leicht zeigen was in ihm stecke. Was hier als Beweis fungieren könnte, war Antoine allerdings nicht klar. Erfolge wie der Fall um Thomàs Sabatier zählten offenbar nicht. Der Morgen graute hinter den Fenstern. Seveil zog selten die Vorhänge zu, es gefiel ihm, morgens bei Tageslicht aufzuwachen statt im künstlichen Dunkel der schweren Vorhänge. Er unterdrückte ein Gähnen, fuhr sich in automatischer Bewegung mit den Händen durch das Gesicht und brachte danach rasch sein Haar in halbwegs annehmbare Ordnung ehe er die Augen öffnete, sich aufsetzte und zur Seite sah. Die andere Hälfte des Bettes war leer und unberührt. Stirnrunzelnd sah Seveil sich um, doch nichts im Schlafzimmer ließ auf eine vergangene Anwesenheit seines neuen Holders schließen, eine Tatsache, die ihn aus dem Konzept brachte. Aus dem Konzept in der Tat. Er schüttelte den Kopf, ließ sich vorest wieder zurück in die Kissen sinken, und starrte zum brokatenen Betthimmel herauf. Herrgott, normal war das nicht, und solang es sich bei ihm nicht um einen entsetzlich überarbeiteten Menschen handelte, der nicht zurückschreckte,  auch die Nacht – und zwar während eines Aufenthalts an einem der teuersten Orte Frankreichs –  hindurch zu arbeiten, was Seveil bezweifelte, lief hier tatsächlich etwas ganz und gar außerhalb all dessen, was er bislang als Key erlebt hatte. Es hatte jedenfalls definitiv noch keiner seiner Gäste jemals dieses Bett verschmäht, wenn auch vielleicht nicht jeder immer seine nähere Gesellschaft in diesem wünschte. Zumindest nicht sofort. Früher oder später aber war noch jeder von Seveil überzeugt gewesen. Jeder. Er kräuselte die Lippen, warf die weiche Daunendecke nun doch zurück und verließ das Bett mit der Entschlossenheit eines Feldherren auf Beutezug, griff nach einem frischen Hemd und einer eleganten Hose, machte sich am Waschtisch in der Ecke des Schlafzimmers zurecht und zog sich um. Sporadisch überprüfte er sein Aussehen im Spiegel ehe er die Haltung straffte und auf die Tür zum Wohnraum zutrat. * Wie die kostbaren Perlen am Dekolleté einer Königin rannen die Tropfen der sanft schimmernden Flüssigkeit unablässig in den gläsernen Kolben, der zusammen mit dem Rest der Apparatur, die das kostbare Mittel destillierte, auf einer alten Werkbank stand, in jenem heruntergekommenen, kühlen Kellergewölbe, das der Mann, bei dem Leclerc schon seit Jahren seine Gifte beschaffte, seit ebenso langer Zeit erfolgreich vor Obrigkeit, Behörden und Konkurrenz hatte geheimhalten können. Der Giftmischer, von dem Leclerc den Namen ebensowenig kannte wie er ihm seinen Namen preisgegeben hätte, obgleich sie über die Jahre hinweg ein vertrautes Verhältnis der Zusammenarbeit aufgebaut hatten, schüttelte stumm den Kopf. „Palast der Jahreszeiten. Scheint Sabatier ja viel wert zu sein, Ihren neusten Klienten aus dem Weg zu haben. Konkurrenz?“ Leclerc hob die Schultern und schüttelte zeitgleich den Kopf. „Ein Jungspund. Arbeitet bei Rougier und Dupont. Muß ihm irgendwie in die Quere gekommen sein.“ „Ziemlich in die Quere gekommen, möchte man meinen. Daß Sabatier zu solchen Mitteln greift war ihm zuzutrauen, aber daß er es sich solch ein exquisites Sümmchen kosten lässt...“ Der Giftmischer spitzte die Lippen. „Nunja. Man lernt nie aus über die Menschen.“ „In der Tat nicht. Wie lange braucht es noch?“ Er nickte in Richtung der Destille. „Gutes Gift braucht seine Zeit. Was das andere betrifft, das müsste ich...“ Der Giftmischer sah sich suchend um, trat auf ein mit überquellenden Kisten und Kästen vollgestopftes Regal zu und entnahm ihm ein altes Zigarrenkästchen. Er warf einen Blick hinein und nickte zufrieden. „Wieviel?“ Leclerc beobachtete, wie der Giftmischer das Kästchen auf einer weiteren Werkbank abstellte. Der Inhalt war mit einem dunklen Seidentuch gepolstert. „Ich benötige für gewöhnlich keine zwei Versuche, doch der Palast ist weit, und ich fordere das Schicksal ungern heraus.“ „Wie alt ist er? Haben Sie eine Vorstellung, was er wiegt?“ Leclercs Miene hellte sich zu einem schmalen Lächeln auf. „Zufällig konnte man mir bei der Schneiderei, in der er kauft, einige Auskünfte erteilen. Der Statur nach dürfte er dem gängigen Pariser Durchschnitt entsprechen.“ „Schön.“ Zwei unbedeutend wirkende Phiolen entwanden sich dem Kästchen, gefüllt mit einer gelblich-klaren Flüssigkeit. Misstrauisch nahm Leclerc sie entgegen, hielt den Inhalt gegen das rußige Licht einer der Laternen die den Keller erhellten und kniff ein Auge zusammen. „Gute Qualität nehme ich doch an?“ „Die Beste. Das Gift wurde erst vor kürzester Zeit extrahiert. Ich schätze mich derzeit glücklich, Kontakt zu einem Mitarbeiter eines zoologischen Instituts in Nordfrankreich zu haben.“ „Wie nett.“ Leclerc wickelte die Phiolen sorgfältig in sein Taschentuch und steckte sie in die Innentasche seines abgewetzten Mantels zu seiner Zugfahrkarte und einer zierlichen Samtschatulle, die Sabatier erstaunlich schnell herbeiorganisiert hatte. ~wird fortgesetzt~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)