Uns bleibt immer noch Amsterdam von Wortfetzen (Ryoki) ================================================================================ Kapitel 1: Gestrandet in Amsterdam ---------------------------------- Hier präsentiere ich euch einen kleinen Gedankenblitz, den ich vor ein paar Wochen hatte. Zu Beginn möchte ich anmerken, dass ich Gott sei Dank zu den Glücklichen zählte, die nicht von dem Flugchaos im April/Mai betroffen war. Ich flog im Mai, eine Woche nach einer erneuten Sperre nach London – ohne Probleme. :) Deswegen sei es mir bitte auch verziehen, wenn vielleicht einige Dinge anders gelaufen sind, Flugdurchsagen anders gelautet haben usw. Ich war nicht dabei und kann nur so schreiben, wie ich es mir vorstelle. :) Uns bleibt immer noch Amsterdam ist eine Kurzgeschichte, die ungefähr vier/fünf Kapitel umfassen wird. Das zweite Kapitel steht bereits hinten an und wird in einigen Tagen kommen. Natürlich würde ich mich wieder sehr über Kommentare freuen. ;) Viel Spaß und liebe Grüße, die Tanya * Kapitel 1 – Gestrandet in Amsterdam 15. April 2010 Ryo Mitten in der Nacht riss mich das Klingeln des Telefons aus dem Schlaf. Selbst als ich ranging, dachte ich noch immer, dass mich ein Tag wie jeder andere erwarten würde. Stattdessen brach mit dem Anruf für mich eine Welt zusammen: Mein Vater war tot. * Mir war bewusst, dass ich einen ziemlich verwahrlosten Anblick abgab, wie ich da durch das Terminal des Amsterdamer Flughafens Schiphol ging. Ich war schlecht rasiert, mit zerzaustem Haar, das eigentlich dringend eine Bürste benötigte, trug ein braunes Kapuzenshirt und eine ausgebleichte Jeans, die ihre besten Tage bereits hinter sich hatte. Meine Reisetasche trug ich über der Schulter und hielt Ausschau nach einem englischen Nachrichtensender, den auch ich verstehen würde. Es hatte schnell gehen müssen, nachdem ich den Anruf aus dem Krankenhaus bekam und so buchte ich sofort den nächstmöglichen Flug von London nach Japan – zwei Stunden später und zu einem wahrhaft überteuerten Preis. Und jetzt stimmte etwas nicht. Wir hatten in Amsterdam notlanden müssen. Anscheinend machte noch immer dieser Vulkan Eyjafjallajökull Probleme, der im März in Island ausgebrochen war. Viel wurde uns allerdings nicht mitgeteilt. Erst recht nicht, wann es weitergehen würde. Wohin ich auch blickte, sah ich in deprimierte und genervte Gesichter. Die Informationsschalter wurden belagert, die Bänke in den Wartebereichen waren vollständig besetzt, genauso wie die Cafés und Restaurants. Für deren Besitzer musste das wohl ein Traumzustand sein. Plötzlich entdeckte ich einen Nachrichtenmonitor des CNN. Der Vulkanausbruch schien wirklich immer noch einiges an Wirbel auszulösen. Sogar in Amerika war es das Topthema des Tages. „Durch den Ausbruch des Vulkans Eyjafjallajökull im vergangenen März hat sich eine Aschewolke in der Luft gesammelt, die gefährliche Auswirkungen auf den Flugverkehr haben könnte. Ein Beschluss der Luftfahrtüberwachungsbehörde führte dazu, dass ein Großteil aller Flüge gestrichen wurde. Davon sind besonders Flughäfen in Großbritannien, Niederlande und in den skandinavischen Ländern betroffen. In Deutschland und Frankreich […].“ Im meinem Kopf war eine kleine Repeat-Taste angesprungen, die fleißig die Stimme der blonden Nachrichtensprecherin wiederholte. Nur allmählich begriff ich, was ihre Worte für mich bedeuteten: Ich saß hier fest, in Amsterdam. Mehr als zehn Flugstunden von dem Ort entfernt, an dem ich eigentlich sein sollte. Und in zwei Tagen würde mein Vater beerdigt werden – vielleicht ohne mich. Deprimiert warf ich meine Tasche auf den Boden, ließ mich an der Wand heruntersinken und zog meine Beine etwas zu mir heran. Jetzt sah ich sicherlich wie der letzte Obdachlose aus, doch ich war nicht der einzige, der es sich inzwischen auf dem Boden gemütlich gemacht hatte. Viele in meiner Nähe, die mit mir ebenfalls Nachrichten gesehen hatten, stellten sich jetzt ebenfalls auf eine lange Wartezeit ein oder hatten es schon längst getan. Ich konnte nur hoffen, dass wir alle uns irrten. Ich zerraufte mir das Haar. Mir steckte die Müdigkeit der Nacht in den Knochen. Eigentlich war es jetzt gerade mal Zeit zum Aufstehen. In meinem Kopf kreisten die wildesten Gedankenfetzen umher und plötzlich überwältigten mich Erinnerungen. Ich sah Papa vor mir, wie er mir lachend das Fahrradfahren beibrachte. Er hatte Fahrradfahren immer geliebt. Wer hätte gedacht, dass ihm das knapp 20 Jahre später das Leben kosten würde? Es war ganz alltägliche Routine, dass er jeden Tag mit dem Fahrrad zur Arbeit fuhr und nie war ihm dabei etwas geschehen, aber heute war er diesem Auto in die Quere gekommen. Fast eine gefühlte Ewigkeit saß ich so da, sinnierte vor mich hin, sah meinen Vater verzweifelt vor mir, nachdem meine Mutter vor 15 Jahre gestorben war, und erinnerte mich daran, wie er nach ihrem Tod immer versucht hatte, bei meiner Erziehung sein Bestes zu geben. Nachts, wenn er dachte, ich schlief bereits, hatte ich ihn immer wieder noch lange und oft deswegen weinen gehört. Und ausgerechnet ich war es, der ihm ein zweites Mal das Herz brach, nachdem ich hautnah miterlebte, die sehr er damals gelitten hatte, als ich mit gerade mal 13 Jahren von zu Hause weglief, weil ich damals der Meinung war, ich würde das Richtige tun. Es war meine kindliche Einfalt, die mich hatte so handeln lassen. Noch Jahre später, selbst heute, wünschte ich mir manchmal, ich hätte es nicht getan. Ja, ich bereute sogar hin und wieder, dass ich mein Sportstudium in London begonnen hatte. Vor allem jetzt. Niemals hätte ich erwartet, dass vergangenes Weihnachten das letzte Mal gewesen ist, dass ich meinen Vater gesehen hatte. Ich seufzte und kramte meinen iPod aus der Tasche. Die lauten Klänge und Beats von Linkin Park sollten mich auf andere Gedanken bringen. Ich versuchte mich auf den Text zu konzentrieren, um meinem Gedankenteufelskreis zu entkommen. Stattdessen hätte ich aber am liebsten wie ein kleines Schlosshündchen vor mich hin geweint. Ich musste mich ablenken und wenigstens für ein paar Minuten vergessen können. Der Verlust brannte brennend in meiner Brust, als hätte jemand einen Anker nach meinem Herzen ausgeworfen und es erbarmungslos aus mir herausgerissen. Ich fühlte mich nicht mehr vollständig. Ein großer Teil von mir fehlte. Den hämmernden Tönen der Musik gelang es einfach nicht, mich abzulenken. Argwöhnisch beobachtete ich eine kleine dreiköpfige Familie, die es geschafft hatte, sich Plätze auf den Stühlen zu ergattern. Der braunhaarige Junge konnte sich allerdings nicht auf seinem Sitz halten. Sofort krabbelte er auf den Schoß seines Vaters und begann aufgeregt etwas zu erzählen. Ich verstand seine Sprache nicht, vermutete aber, dass es Deutsch war und er eine lustige Geschichte vor sich hin brabbelte. Er sah glücklich aus. Ich warf einen wehmütigen Blick über seinen Vater und seine Mutter. Sie alle sahen glücklich aus. „Verehrte Damen und Herren,“ Als ich begriff, dass soeben die erste Flughafendurchsage zur aktuellen Situation durchgesagt wurde, zog ich schnell meine Ohrstöpsel wieder heraus und zwang mich, meinen Blick wieder von der glücklichen Familie abzuwenden. „aufgrund der aktuellen Ereignisse in Island hat die Luftfahrtüberwachungsbehörde den Flugverkehr über Europa in weiten Teilen eingedämmt. Davon ist auch Schiphol betroffen. Auf unbestimmte Zeit werden weder Flüge landen, noch starten. Wir entschuldigen-“ So viel hatte ich auch bereits mitbekommen. Dennoch kroch plötzlich Panik in mir hoch. Jetzt, da die Durchsage auch im Flughafen gemacht wurde, konnte ich nur vermuten, dass die Sperre für einen längeren Zeitraum aufrecht erhalten werden würde. Der Flughafen bereitete jetzt seine Passagiere auf eine lange Wartezeit vor. Ich konnte doch nicht in diesem verdammten Land und verfluchten Flughafen festsitzen, wenn mein Vater beerdigt wurde! Er brauche mich und ich brauchte diesen Abschied! Außerdem musste ich auch zu meiner Großmutter – jetzt hatte sie niemanden mehr. Ich hielt es nicht mehr aus, schnappte meine Reisetasche und begann ziellos vor mir herzulaufen. Die Ansage hatte jede Menge Hektik verursacht. Noch immer hatten die meisten nicht mitbekommen, dass der Luftraum gesperrt worden war. Viele Menschen standen mit ratlosen Gesichtern herum und wussten nicht, wohin sie jetzt gehen sollten und die Schlangen an den Informationsschaltern wurden noch länger. Beinahe kopfschüttelnd ging ich an den Schaltern vorbei. Viele regten sich fürchterlich über die Sperrung auf, allerdings sah jeder von ihnen nach Sonne, Strand und Meer aus. Sie alle waren enttäuscht, weil sich ihre Erwartungen, bald am Pool zu liegen oder in der Sonne Cocktails zu schlürfen, in Luft auflösten. In ihrem Falle wäre ich es sicherlich auch, allerdings spürte ich dennoch einen gewissen Trotz in meiner Brust. Garantiert musste niemand von ihnen dringend zu der Beerdigung seines Vaters. „In Schiphol landet weder ein Flugzeug, noch fliegt eines“, drang plötzlich Japanisch an mein Ohr. Ich horchte auf. Es war die Stimme einer jungen Frau. Sie klang genervt, wie so viele hier. Automatisch suchten sie meine Augen und fand sie sofort. Sie stand nur ein paar Meter entfernt mit dem Rücken zu mir und sprach gerade in ihr Handy. Eigentlich wollte ich nicht lauschen, doch ich musste unwillkürlich stehen bleiben. Diese Frau erinnerte mich so sehr an meine Heimat, die ich jetzt unbedingt brauchte und nach der ich mich so sehr sehnte. „Du musst den Shooting absagen. – Ja, mir tut es wohl am meisten leid. – Hör zu, was soll ich denn machen? Soll ich etwa über die Nordsee schwimmen?“ Ihre Stimme wurde erregter und sie stellte die Tasche auf den Boden zwischen ihre Beine, die sie bislang noch in der Hand getragen hatte. Was für andere bereits eine Reisetasche gewesen wäre, war wahrscheinlich nur ihr Handgepäck. „Taxi und Fähren? Du bist echt ein Idiot! Hör mal, ich mache das, damit ich davon leben kann und nicht, um mir einen Schuldenberg anzuhäufen! Sag ab!“ Sie schaltete ihr Handy aus, bückte sich und verstaute es wieder in ihrer Tasche. Dann hob sie sie wieder hoch, klemmte sie unter ihre Schulter und drehte sich in meine Richtung um. Ihr langes braunrotes Haar flog dabei nach hinten, doch einzelne Strähnen hielten sich penetrant in ihrem Gesicht. Ihr Blick fixierte mich sofort und ich begriff erst jetzt wieder, dass ich sie die ganze Zeit penetrant anstarrte. Dennoch gelang es mir nicht meine Augen von ihr abzuwenden, geschweige denn, wieder weiterzugehen. Ihr Gesicht fesselte mich, mein Kopf begann zu arbeiten, doch mein Herz hatte es schon längst begriffen. Für einen gefühlten Moment setzte es aus, als ihre violetten Augen mich argwöhnisch musterten und sie langsam direkt auf mich zukam. Diese Frau kannte ich. Ich wollte nicht sagen, dass sie wie eines dieser Topmodels aussah, die man sonst nur auf Werbeplakaten zu Gesicht bekam, doch etwas an ihrem Auftreten sagte mir, dass hier jemand auf mich zuging, der eigentlich in diese Beschreibung passte. Im Grunde wollte ich es nur nicht sagen, weil sie es eigentlich immer gehasst hatte. Ich konnte nicht umhin meinen Blick von oben bis unten über sie wandern zu lassen. Sicherlich machten die schwarzen High-Hels sie mindestens fünf Zentimeter größer, für eine Frau war sie zwar groß, aber durch die Schuhe erst auf meiner Augenhöhe. Ihre dunkle Röhrenjeans saß wie angegossen und sie trug einen hübschen blauen Pullover, der sich durch einen Gürtel eng über ihre Taille und den Hintern entlang schmiegte. Einen Meter vor mir blieb sie stehen und sah mich mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck an. Ich konnte nicht herauslesen, ob sie mich erkannt hatte. Ich wusste allerdings genau, wen ich vor mir hatte. Rika Nonaka. * Fortsetzung folgt … Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)