Bonheur éphémère von Niekas ================================================================================ Kapitel 3: In Quebec -------------------- „Und er kommt nicht her?“, fragte Mathieu und konnte den Blick nicht von dem Verband an Francis' Arm lösen. „Natürlich nicht“, sagte Francis beruhigend und strich über seinen Kopf. „Diese Festung ist nicht einzunehmen, Mathieu. Es ist unmöglich.“ „Bist du sicher?“, fragte Mathieu leise. „Oui.“ „Und wenn Arthur es doch schafft, herein zu kommen...“ „Das wird nicht passieren“, unterbrach Francis ihn ruhig. „Schlaf jetzt, petit prince. Und träume etwas Schönes.“ Mathieu legte den Kopf von einer Seite auf die andere. „Gute Nacht“, sagte er dann leise. Francis lachte. „Gute Nacht, Mathieu.“ Er löschte das Licht neben dem Bett, stand auf und schloss leise die Tür hinter sich. Danach machte er sich auf den Weg in sein eigenes Schlafzimmer. Die Festung war uneinnehmbar, versuchte er sich selbst zu überzeugen. Sie lag auf der Spitze eines Berges. Niemand könnte die Felswand hinauf klettern, und die anderen Zugänge waren schwer bewacht. Hier würde Arthur ihn nicht angreifen können. Es war die richtige Entscheidung gewesen, Mathieu hierher zu bringen. Hier war er sicher. Sie beide waren erst einmal sicher. Seufzend betrat er sein Schlafzimmer, schloss die Tür hinter sich und warf einen letzten Blick aus dem Fenster. Draußen war es stockdunkel, er erkannte nichts. Niemand würde versuchen, diese Festung anzugreifen, dachte er und kroch unter seine Bettdecke. So dumm wäre nicht einmal Arthur. Nein, dumm war der falsche Ausdruck. So sehr würde nicht einmal Arthur sich selbst überschätzen. Er blies die Kerze auf seinem Nachttisch aus, raschelte noch ein wenig mit der Decke und lag dann still im Dunkeln. Wieso fühlte er sich nur so angespannt? Nun gut – angesehen von dem offensichtlichen Grund, dass er sich gerade in einem Krieg befand. Aber bisher lief es nicht allzu schlecht für ihn, zu Hause in Europa nicht und auch hier nicht. Er hatte sich extra hierhin zurück gezogen, um sich ein wenig Ruhe zu gönnen und seine Verletzung auszukurieren. Arthur war ebenfalls in Richtung Übersee abgereist, doch Francis wusste nicht sicher, ob er schon angekommen war und mit wie vielen Männern. Es machte keinen Unterschied, dachte er und schloss die Augen. Um diese Festung zu belagern, würde Arthur viele Männer brauchen. Mehr, als er hoffentlich würde entbehren können. Und um sie einzunehmen... was für ein Unsinn. Diese Festung ließ sich nicht einnehmen. Die Tür knarrte. Sofort war Francis wieder hellwach. War doch ein Eindringling herein gekommen? „François?“, flüsterte eine dünne Stimme und Francis entspannte sich. „Ach, du bist es nur, Mathieu... Was ist los?“ „Kann ich bei dir schlafen?“, fragte Mathieu leise. „Hast du schlecht geträumt?“ „Nein. Aber ich habe Angst.“ Francis seufzte leise. „Komm her.“ Mathieu tapste durch das Zimmer und kletterte auf das Bett. Er schwieg, als Francis den verletzten Arm um ihn legte und über seine Haare strich. „Hab keine Angst, Mathieu. Es kommt niemand rein.“ „Und wenn doch?“ „Dann passe ich auf dich auf. Verlass dich darauf, petit prince.“ Leicht beruhigt schloss Mathieu die Augen, drückte seinen mitgebrachten Teddy an sich und gähnte. „Schlaf“, sagte Francis und lächelte. „Morgen sieht die Welt schon anders aus.“ Ein kalter Wind fuhr um die kahlen Felsen. Arthur warf einen Blick nach oben zu der Festung und runzelte die Stirn. Der Plan hatte etwas, das musste er zugeben. Die erste Gruppe von Soldaten war schon die Küste hinauf geklettert und hatte die oben stationierten Wachen überwältigt. Nun würden die anderen ihnen auf dem selben Weg folgen, während die Besatzung der Festung selig schlief. Abgesehen von dieser einen Schwachstelle war die Stadt kaum einzunehmen. Aber wenn das gesamte Heer es schaffte, den Hang hinauf zu klettern, ohne dass Francis' Leute es bemerkten, hatten sie wohl eine Chance. Arthur schnaubte. Das gesamte Heer diesen Hang hinauf. Lautlos. In stockfinsterer Nacht. Wenn das nicht spaßig klang. Aber er sah ein, dass er keine andere Wahl hatte. Wenn er Francis besiegen wollte, würde er irgendwo anfangen müssen. Francis erwachte, als Mathieu an seinem Ärmel zupfte. „François“, flüsterte er. In seiner leisen Stimme lag Panik. „François!“ „Was ist denn?“, fragte Francis verschlafen und gähnte. „Sie sind hier!“ Sein Gähnen blieb ihm im Hals stecken und sein Herz begann zu rasen. „Was meinst du?“, fragte er Mathieu, der sich an ihn klammerte und zitterte. „Hörst du sie nicht?“ Francis lauschte. Er hörte Schritte, gedämpfte Stimmen und von sehr weit weg das Klirren von Waffen. Aber wie konnte das sein? Wie war es möglich, dass die Festung... „Was machen wir jetzt, François?“, fragte Mathieu schrill. „Zuerst einmal ruhig bleiben“, versuchte Francis, ihn zu beruhigen, obwohl ihm selbst das Herz bis zum Hals schlug. „Es wird alles gut. Du musst hier weg. Ich werde...“ Er verstummte, als er Schritte auf dem Gang hörte. „François“, wimmerte Mathieu. „Ich will nicht, dass...“ „Sei still“, flüsterte Francis, schob Mathieu auf die Seite des Bettes, die zur Wand gerichtet war, und zog die Decke über ihn. „Bleib ganz still liegen und rühr dich nicht. Vertrau mir, Mathieu.“ „Aber...“ Die Tür wurde aufgestoßen und schlug gegen die Wand. Arthur betrat das Zimmer, ein Gewehr in den Händen und ein überlegenes Grinsen auf dem Gesicht. „Francis. Es tut mir Leid, wenn ich ungelegen komme.“ Francis spürte Mathieu hinter sich zittern und versuchte, sich so zu drehen, dass er die verdächtige Wölbung unter der Decke verdeckte. Er blinzelte zwischen seinen wirren Haaren zu Arthur hinauf und schnalzte tadelnd mit der Zunge. „Also wirklich, Angleterre. Dass du keine Manieren hast, wusste ich ja, aber zu dieser frühen Stunde...“ „Ich habe diese Festung so gut wie eingenommen“, erklärte Arthur selbstgefällig. „Du hast verloren, Francis.“ „Na so etwas“, erwiderte Francis und seufzte theatralisch. „Wie heißt es doch bei dir? C'est la vie.“ „Das hast du aber schön gesagt, Angleterre. Abgesehen von deiner Aussprache.“ „Spar dir deine klugen Sprüche.“ „Du bist es, der mit dem Sprücheklopfen angefangen hat.“ „Steh auf“, verlangte Arthur und machte einen Schlenker mit der Waffe. „Ah, Angleterre...“ „Sofort.“ Seufzend schwang Francis die Beine über die Bettkante und versuchte, nicht allzu nervös zu wirken. Glücklicherweise hatte Mathieu aufgehört zu zittern. „Verzeih mir meine Aufmachung, aber ich habe geschlafen. Wenn du dich angekündigt hättest, hätte ich mich angemessen kleiden können.“ „Kleider sind mir völlig egal.“ „Ja, das sieht man“, bemerkte Francis kopfschüttelnd und betrachtete Arthurs Uniform. Arthur grinste auf eine verkrampfte Art und hob das Gewehr, bis die Spitze des Bajonetts an Francis' Brust stieß. „Keine Angst, Francis. Ich werde dich laufen lassen. Vielleicht werde ich sogar davon absehen, diese Stadt niederzubrennen.“ „Wie nett von dir“, sagte Francis steif und lächelte. „Aber ich denke mal, die Sache hat einen Haken.“ „Wie man's nimmt“, gab Arthur zu und senkte die Stimme leicht. „Ich will natürlich eine Gegenleistung dafür.“ „Und worin besteht diese Gegenleistung?“ „Kannst du dir das nicht denken?“ Francis legte den Kopf schief und zwang sich, den Huckel unter der Bettdecke nicht anzusehen. „Ich weiß nicht, wovon du redest“, erwiderte er unschuldig. „Oh doch, das weißt du“, widersprach Arthur mit einem unguten Leuchten in den Augen. „Ich habe unten das Zimmer dieses Jungen gefunden.“ „Oh, du meinst Mathieu?“ „Wie auch immer er heißt. Sein Bett war leer, aber nicht gemacht. Er war vor kurzer Zeit noch hier.“ Francis zog die Augenbrauen hoch und versuchte, unbeeindruckt auszusehen. „Und?“, fragte er. „Und?“, wiederholte Arthur und trat etwas näher. Das Bajonett stieß an Francis' Kinn. „Und ich denke, du weißt ganz genau, wo er gerade steckt.“ „Je suis désolé, aber ich weiß nicht, wovon du sprichst.“ „Ich warne dich, Francis. Ich habe nicht viel Geduld.“ „Nein, das war zugegebenermaßen nie deine Stärke.“ „Sag mir, wo er steckt, und ich lasse dich in Frieden“, sagte Arthur. „Oder nein, Frieden wäre ein bisschen hoch gegriffen. Aber ich lasse dich von hier entkommen, in Ordnung?“ „Mir scheint, du verstehst das Problem nicht, Angleterre“, sagte Francis und reckte das Kinn, um dem Bajonett auszuweichen. Schweiß stand auf seiner Stirn. „Ich weiß nicht, wo Mathieu gerade steckt.“ Sei still, betete er stumm. Keinen Laut jetzt. Arthur runzelte die Stirn. „Und das soll ich dir glauben?“ „Du kannst es mir glauben und mich in Ruhe lassen“, legte Francis ihm die Möglichkeiten dar, „oder du kannst mich aufspießen und dich dann erst entschließen, mir zu glauben. Es läuft auf dasselbe hinaus.“ „Für mich. Für dich nicht.“ „Mon dieu, oui. Aber entscheide dich schnell, Angleterre, denn einige von uns möchten heute Nacht noch schlafen“, sagte Francis und unterdrückte ein Gähnen. Mit einer Klinge an seiner Kehle war ihm das zu riskant. Arthurs Augen waren zu Schlitzen verengt. Er war nicht dumm, dachte Francis. Er mochte Arthur verabscheuen, aber er unterschätzte ihn keineswegs. Diesen Fehler hatte er nur einmal gemacht und danach nie wieder. Obwohl... doch, streng genommen hatte er Arthur in dieser Nacht erneut unterschätzt. Er hätte niemals gedacht, dass er die Festung einnehmen könnte. „Der Junge war hier“, sagte Arthur fest. „Aber jetzt ist er nicht mehr in seinem Bett.“ „Wenn du das sagst.“ „Also gut“, sagte Arthur und ließ die Waffe langsam sinken. „Wenn er weggelaufen ist, wird er nicht weit kommen. Meine Männer werden ihn finden. Wenn nicht... falls du ihn finden solltest, wirst du mir doch sicher Bescheid sagen, Francis?“ „Bien sûr“, antwortete Francis sarkastisch. Er traute dem Braten ganz und gar nicht. So einfach würde Arthur sich nicht abwimmeln lassen. „Sehr gut“, sagte Arthur und lächelte. Sein Lächeln machte Francis Angst. Es lag etwas Bitteres, Verkrampftes darunter. „Angleterre“, begann er und versuchte, ruhig zu klingen. „Wenn es da noch etwas gibt, das du...“ Er brach in einem Schrei ab, als Arthur das Gewehr ein Stück herum schwenkte und auf das Bett richtete. „Angleterre! W-was...“ „Hast du ein Problem, Francis?“, fragte Arthur und holte aus. Die eiserne Spitze, die am vorderen Ende des Gewehrs angebracht war, raste auf den Buckel unter der Decke zu. Francis schrie auf, griff nach dem Lauf und schaffte es, ihn zur Seite zu drehen. Mit einem lauten Klirren stieß die Klinge gegen die steinerne Wand. „Bist du wahnsinnig?!“, brüllte Francis und bemerkte, dass er am ganzen Körper zitterte. „Wieso?“, fragte Arthur und legte den Kopf schief. „Weil ich deine Decke ein wenig durchlöchern wollte, nur zur Sicherheit? Es ist unsinnig, ein Schlafzimmer zu verlassen, ohne das Bett anständig durchsucht zu haben, nicht wahr?“ Francis atmete schwer. Das Bündel unter der Decke hatte wieder zu zittern begonnen. „Also, Francis“, sagte Arthur und ein Grinsen zog über sein Gesicht. „Darf ich fragen, wieso dir so viel an dieser Decke liegt?“ „Du bist ein Monster, Angleterre“, flüsterte Francis. „Das bin ich nicht“, erwiderte Arthur ernst. „Wäre ich es, hätte ich geschossen.“ Francis hörte ein leises Wimmern hinter sich. Mathieu sollte still sein, dachte er verzweifelt, stellte aber im nächsten Moment fest, dass es keinen Unterschied machte. Jetzt nicht mehr. „Also, Francis“, sagte Arthur und ließ die Waffe sinken. „Hast du vielleicht doch eine Ahnung, wo der Junge stecken könnte?“ Er hatte verloren, dachte Francis, konnte es aber nicht begreifen. „Angleterre, bitte... du kannst ihm nichts tun.“ „Hol ihn raus“, sagte Arthur nur. Das Gewehr hielt er gesenkt, doch noch immer umklammerte er es so fest, dass seine Handknöchel sich weiß durch seine Haut drückten. Francis biss sich auf die Lippe, drehte sich um und legte eine Hand auf die Decke. „Hab keine Angst, Mathieu“, flüsterte er und zog sie beiseite. „Ich bin hier. Ich lasse nicht zu, dass dir etwas passiert.“ Mathieus Kopf tauchte unter der Decke auf, eingerahmt von hellem, wirrem Haar. Sein Gesicht war verweint. „Ganz ruhig, Mathieu“, sagte Francis, griff nach seinen Armen und zog ihn auf die Beine. „Es wird alles gut.“ Arthur stand reglos da und sah zu. Mathieu erwiderte seinen Blick ängstlich und versuchte, sich hinter Francis zu verstecken. „Das ist er?“ „Oui.“ „Er sieht Alfred sehr ähnlich.“ „Wem?“, flüsterte Mathieu Francis zu. Er zitterte am ganzen Körper. „Hör ihm nicht zu, Mathieu. Es wird alles gut.“ Arthur legte den Kopf schief. „Du hast dich mal wieder überschätzt, Francis“, sagte er und schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Meine Männer haben diese Festung eingenommen.“ „Angleterre. Ich weiß, dass ich verloren habe, aber müssen wir das vor dem Jungen ausdiskutieren?“ „Yes, indeed. Es betrifft ihn direkt.“ „Wie meinst du das?“, fragte Francis und umklammerte Mathieus Hand fester. „Du dachtest, du könntest eine Kolonialmacht sein“, sagte Arthur und schüttelte den Kopf. „Aber du hast nicht das Zeug dazu, Francis. Deine Zeit ist abgelaufen.“ „Hör auf, um den heißen Brei herum zu reden, und sag mir, was du willst!“ „Ist es nicht offensichtlich, was ich will?“, fragte Arthur und sah Mathieu an, der unter seinem Blick zu schrumpfen schien. „Das kannst du nicht machen“, brachte Francis hervor. „Angleterre, du...“ „Ich kann“, erwiderte Arthur und zuckte die Achseln. „Ich bin der Gewinner. Ich lege die Bedingungen fest.“ Francis starrte ihn an. „Was will er, François?“, flüsterte Mathieu ängstlich. „Was will er?“ „Du hast eine Schlacht gewonnen, aber noch nicht den Krieg.“ „Eine Schlacht genügt mir, um eine Entschädigung zu verlangen“, erwiderte Arthur und hob sein Gewehr wieder. „Gibst du ihn mir oder zwingst du mich, ihn mir mit Gewalt zu nehmen?“ Francis schluckte schwer und betrachtete den Gewehrlauf, der auf seine Brust gerichtet war. Es gab keinen Ausweg, dachte er. Selbst wenn er mutig gewesen wäre (was er nicht war), hätte es Mathieu und ihm nichts genutzt. Er hatte verloren. Er hatte keine andere Wahl, als Arthurs Bedingungen Folge zu leisten. „Ich möchte, dass dir eins klar ist, Angleterre“, sagte Francis leise und spürte, wie Mathieu neben ihm zitterte. „Du hast diese eine Schlacht gewonnen, aber noch ist gar nichts entschieden. Ich lasse ihn jetzt mit dir gehen, aber sobald alle Schlachten geschlagen sind und der Krieg beendet ist, hole ich ihn mir wieder. Du tust also gut daran, ihn anständig zu behandeln.“ Arthur schnaubte. „Ich werde gut für ihn sorgen. Du weißt genau, dass ich kein Unmensch bin.“ „Du bist kein Mensch.“ „Du weißt, wovon ich rede. Also?“ Francis wusste, was er mit also meinte. Er musste es jetzt tun, dachte er und schluckte. Angst stieg in ihm auf. Es war nicht einmal die Angst davor, dass Arthur Mathieu schlecht behandeln könnte, jetzt noch nicht – es war die Angst davor, den Jungen enttäuschen zu müssen. „Sei mir nicht böse, Mathieu“, murmelte er, drehte sich zu ihm um und drückte ihn fest an sich. „Wir sehen uns wieder. Das hier ist kein Abschied für immer.“ „François?“, fragte Mathieu ängstlich. „Wieso...?“ „Du wirst jetzt mit Angleterre hier gehen, in Ordnung? Sei brav. Ich weiß, dass du ein lieber Junge bist, also... benimm dich gut. Ich hole dich wieder ab, ganz sicher. Ich hole dich wieder.“ „Ich will nicht, François“, flüsterte Mathieu und vergrub das Gesicht an seiner Schulter. „Du hast immer gesagt, dieser... Angleterre ist ein crétin.“ Francis lächelte. „Vielleicht kommst du ja besser mit ihm zurecht als ich“, sagte er und wusste, dass es kein überzeugendes Argument war. „Versuch es, petit prince.“ „Aber...“ Doch Francis ließ ihn nicht ausreden. Er hatte beschlossen, es hinter sich zu bringen. Nach einiger Zeit würde er Mathieu wieder abholen, versuchte er sich selbst zu überzeugen. Das hier war kein Abschied für immer. Er versuchte, daran zu glauben, als er Mathieu hochhob und auf dem Boden absetzte. „Ganz ruhig. Es wird alles gut.“ Arthur musterte den Jungen, der dort vor ihm stand, müde und verängstigt. Abgesehen davon sah er Alfred wirklich ähnlich, dachte er. Es war gut, die beiden Brüder neben einander aufzuziehen. Sicher war es das. Es war kein Unrecht, ihn Francis wegzunehmen. „Wie heißt du?“, fragte er. Der Junge blinzelte das Gewehr an. Dann wanderte sein Blick zu Arthur hinauf. Seine Lippen zitterten leicht, doch er brachte kein Wort heraus. „Das müsstest du doch noch wissen, Angleterre“, sagte Francis, der sehr blass war. Dennoch versuchte er, sich seine Würde zu bewahren. „Er heißt Mathieu.“ „Vielleicht hättest du ihm damals doch besser einen Namen gegeben, den ich aussprechen kann“, stellte Arthur fest und runzelte die Stirn. Der Junge drückte einen schlaff aussehenden Teddy an sich und sah ihn hilflos an. „Versuch es einfach“, sagte Francis. „Gib dir Mühe.“ „Ma... Math... Matthew.“ „Nicht Matthew. Mathieu.“ „Matthew“, wiederholte Arthur und nickte. „Das wird sogar Alfred aussprechen können.“ „Ich heiße Mathieu“, sagte der Junge leise. „So schwierig ist das doch nicht.“ „Sei froh, dass ich dich nicht komplett umtaufe“, erwiderte Arthur streng. Matthew zuckte zusammen und begann leicht zu zittern. Er hatte ihm Angst gemacht, dachte Arthur zerknirscht. Auch das noch. „Also... komm mit, Matthew“, sagte er, hängte das Gewehr über seine Schulter und streckte ihm eine Hand hin. „Non“, murmelte Matthew. „Bitte, Mathieu“, sagte Francis leise. „Es ist nichts daran zu ändern.“ „Ich will bei dir bleiben, François.“ „Ich hole dich wieder, petit prince. Du bleibst nicht für immer bei Angleterre, nur für ein Weilchen. Bevor du es merkst, bist du schon wieder zu Hause bei mir. Versprochen.“ Arthur beschloss, ihm nicht zu widersprechen. Als Matthew sich noch immer nicht regte, trat er auf ihn zu und griff nach seiner Schulter. „Komm mit“, sagte er und versuchte, freundlich zu klingen. „Ich tue dir nichts. Ich nehme dich mit zu mir, dort kannst du deinen Bruder kennen lernen. Willst du das nicht?“ „Non“, flüsterte Matthew zitternd. Und dann heulte er laut auf und umklammerte Francis' Beine neben sich. „Mathieu“, brachte Francis hervor und rührte sich nicht. „Gib ihn mir“, sagte Arthur, doch Francis schien ihm nicht einmal zuzuhören. Er sah Matthew an, der sich an ihn klammerte, und sah aus, als kämpfe er mit den Tränen. Arthur trat einen Schritt vor und hob Matthew hoch. Es war nicht einfach, weil der Junge sich an Francis' festhielt, als ginge es um sein Leben. Vielleicht glaubte er, es ginge tatsächlich um sein Leben, dachte Arthur. Was hatte Francis ihm nur von dem bösen Angleterre erzählt. Es hatte ihn nicht zu interessieren, dachte er, als er den um sich schlagenden Jungen zu bändigen versuchte. Es war nicht seine Sache, was zwischen Francis und Matthew gewesen war. Die beiden waren Vergangenheit. Von jetzt an würde Arthur sich der Aufgabe annehmen, Matthew aufzuziehen. Der Junge würde noch erkennen, dass es so besser für ihn war. Und es störte Arthur nicht im Geringsten, was Francis von der Sache hielt. Das glaubte er. Er wandte sich zur Tür. Matthew hing über seiner Schulter und weinte noch immer lauthals. Arthur strich über seinen Rücken und versuchte erfolglos, ihn zu beruhigen. Kurz bevor er den Raum verließ, machte er den Fehler, sich noch einmal zu seinem Erzrivalen umzusehen. Francis stand mitten im Raum und sah ihnen nach. Er war barfuß, sein Nachthemd war zerknittert und ließ ein Stück seiner behaarten Beine frei. Sein Gesicht wirkte wie versteinert, das Kinn war von Bartstoppeln bedeckt. Die Haare hingen in wirren Locken auf seine breiten Schultern. Stumme Tränen liefen über seine Wangen und er machte sich nicht die Mühe, sie beiseite zu wischen. Arthur wünschte sich, er hätte ihn hassen können, ihn wenigstens verachten können, wie er es immer getan hatte. Doch er konnte es nicht. Stattdessen drehte er sich langsam um und ging. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)