Probieren geht über Studieren von SLEEPWALKER (Das Experiment zum Glück) ================================================================================ Kapitel 1: Aufbau: Wiedersehen ------------------------------ I. Aufbau: Wiedersehen „Kannst du nicht aufpassen?“ Verwundert hob ich meinen Kopf. Ich hatte doch niemanden angerempelt, oder? Eigentlich war ich mir ziemlich sicher, dass dem nicht so war. Dennoch hatte die verärgerte Stimme sehr nahe geklungen, sodass ich für einen Moment dachte, ich könnte gemeint sein. Als ich mich jedoch zur Seite wandte, konnte ich erkennen, dass eine reichlich genervt aussehende Geschäftsfrau vor einem Jungen mit schwarzen Haaren stand, der eben dabei war, die Tasche der Frau aufzuheben, die er augenscheinlich hinunter gerissen hatte. Ich wollte schon gerade weitergehen, da ja scheinbar nichts Schlimmeres passiert war, als ich noch einmal inne hielt. Langsam drehte ich mich noch einmal zu dem Jungen und stockte. Eigentlich hatte ich immer gedacht, dass ich ihn nie wieder sehen würde. Doch da stand er plötzlich. Der Junge mit den schwarzen Haaren, knapp zehn Zentimeter kleiner als ich, Informatikstudent, ruhig und gewissenhaft und mit einer Vorliebe für Muffins und Gedichte. Felix. Nach fast einem Jahr trafen wir uns einfach so mitten in den Menschenmassen des Hauptbahnhofes wieder. Ich konnte es kaum glauben und sah wie im Traum, wie der andere sich schnell bei der Frau entschuldigte und dann mit gesenktem Kopf direkt an mir vorbei laufen wollte. Reflexartig schoss meine Hand vor und packte den anderen am Handgelenk, sodass der Schwarzhaarige überrascht stehen blieb. Er sah langsam auf und seine Augen weiteten sich vor Erstaunen, als er erkannte, wer vor ihm stand. „Joshua?“ Die weiche Stimme und der Blick der warmen, braunen Augen brannten sich sofort in mein Gedächtnis ein. Gleichzeitig holten sie mich wieder in die Realität und dem Jungen vor mir zurück, während wir uns ungläubig musterten. Ich brachte keinen Ton hervor. Ich hätte nicht damit gerechnet, den anderen überhaupt jemals wiederzusehen und schon gar nicht an einem solchen Ort. Nach einer halben Ewigkeit fand ich meine Worte endlich wieder. „Wir haben uns ewig nicht mehr gesehen! Wie geht’s dir? Was hast du in der Zwischenzeit so getrieben? Wie läuft es mit deinem Studium? Wann haben wir uns das letzte Mal gesehen?“, kam es einfach so aus mir herausgesprudelt, ohne, dass ich irgendeinen Einfluss darauf hatte. Der Unglaube, den anderen vor mir stehen zu haben, war einer Welle aus Freude und Erregung gewichen. „Welche Frage soll ich denn nun zuerst beantworten?“, grinste Felix leicht, während er seine Tasche neben sich stellte. Irgendwie kam mir die Situation surreal vor, obwohl ich mich riesig freute, den Schwarzhaarigen nach der langen Zeit wieder zu sehen. „Hast du jetzt Zeit?“, platzte es aus mir heraus. Ich kam gerade aus meiner letzten Vorlesung, hatte demnach den Rest des Tages frei. Außer, dass ich heute Abend mit meiner Schwester telefonieren wollte, hatte ich auch nichts weiter vor. Felix schien kurz zu überlegen, bevor er sich eine Ponysträhne aus dem Gesicht pustete und lächelnd nickte. Wir einigten uns darauf, etwas Essen zu gehen, während wir uns unterhielten, da keiner von uns heute schon großartig etwas zu sich genommen hatte. Ich ließ Felix die Stilrichtung wählen, sodass wir uns kurze Zeit später in einem chinesischem Restaurant wiederfanden. Noch immer konnte ich es nicht glauben, dass ich den Kleineren wirklich vor mir sitzen hatte. Er lachte, während er mit den Händen gestikulierte und seine Augen vor Begeisterung leuchteten. Ich konnte dabei die ganze Zeit, nicht einmal für einen winzigen Augenblick, die Augen von ihm lassen. Leicht fuhr ich mir durch die braunen Haare. „Sag mal, Joshua, ist alles okay mit dir?“, hielt Felix plötzlich im seinen Bericht inne und sah mich besorgt an. Ich schreckte aus meinen Gedanken und lächelte entschuldigend. „Natürlich. Ich kann es nur nicht fassen, dass wir uns hier getroffen haben. Nach der ganzen Zeit hatte ich eigentlich nicht erwartet, dich überhaupt noch einmal zu sehen.“ Nun musste auch der Schwarzhaarige lächeln. „Ja, das stimmt. Ich hatte auch nicht mehr daran gedacht.“ Vor zwei Jahr hatten wir in einem kleinen Restaurant gejobbt, um uns nebenbei noch etwas dazu zu verdienen. Wir hatten uns auf Anhieb verstanden, obwohl wir unterschiedlicher nicht sein könnten. Damals hatten wir beide gerade erst mit unserem Studium angefangen. Während Felix Vorlesungen und Seminare über Informatik über sich ergehen ließ, hatte ich mich für ein Germanistikstudium entschieden. Es war purer Zufall, dass wir uns damals in dem Lokal getroffen hatten. Im Nachhinein musste ich oft darüber nachdenken, was passiert wäre, wenn ich mich doch lieber für einen Nebenjob in einem Copyshop beworben hätte. Ich hätte den anderen wahrscheinlich nie kennen gelernt. Doch dann schloss der Besitzer seinen Laden, da er ins Ausland ziehen wollte und kündigte seinen Angestellten somit. Danach hatte ich keinen Kontakt mehr zu dem anderen gehabt. „Joshua?“ Ich schreckte auf und sah den anderen mit fragendem Blick an. „Entschuldige, was hast du gesagt?“ „Du scheinst heute nicht besonders aufmerksam zu sein.“, grinste Felix und nahm einen Schluck von seinem Wasser. „Ich wollte wissen, ob du mittlerweile eine Freundin hast. Ich erinnere mich noch genau daran, wie du die hübschen Mädchen immer angeschmachtet hast, die bei uns gegessen haben. Jedes Mal hast du gejammert, wie gern du doch eine Freundin hättest.“ Oh ja, daran konnte ich mich noch genau erinnern. Wirklich jedes Mal, wenn ein Mädchen in ihrem Alter den Laden betrat, starrte ich sie lange an und dachte darüber nach, wie schön es doch wäre, eine solche Freundin zu haben. Alle meine Kumpel aus der Schule und Uni hatten schon mindestens eine Freundin gehabt, während ich noch nicht einmal geküsst hatte. Irgendwie hatte ich mich immer wie ein Versager gefühlt, der nichts auf die Reihe bekam. Dann hatte ich immer Felix mit meinem Gejammer in den Ohren gelegen. „Nein, ich habe keine Freundin. Aber mittlerweile nehme ich das nicht mehr so schwer.“, meinte ich grinsend und nahm meinen Teller in Empfang, den ein Kellner in unserem Alter vorsichtig auf den Tisch stellte. Nachdem er wieder gegangen war, fuhr ich fort. „Ich glaube, ich war einfach irgendwie in meinem Stolz verletzt. Aber wie gesagt, ich habe festgestellt, dass es wichtigere Dinge im Leben gibt, als eine Freundin.“ Felix sah mich kopfschüttelnd an, bevor er wieder breit grinste. „Das interessiert mich jetzt aber.“ „Tja, zum Beispiel ist mir mein Studium sehr wichtig. Oder meine Familie und Freunde. Ich setze meine Prioritäten einfach anders.“, meinte ich schulterzuckend und schaufelte mir mit den Stäbchen die Nudeln in den Mund. Felix sah mich einen Moment nachdenklich an, dann wandte auch er sich seinen Nudeln zu. „Ich hätte wirklich nie gedacht, dass du deinen Traum von einer Freundin aufgibst.“ Plötzlich hielt ich inne und musterte meinen alten Freund. Früher hätte ich das auch nicht gedacht. Aber mittlerweile war es mir schnurz, ob ich eine Freundin hatte oder nicht. „Ein geliebter Mensch ist schließlich kein Statussymbol. Entweder kommt die richtige Person irgendwann oder ich werde den Rest meines Lebens allein in meinem dunklen, kalten Zimmerchen verbringen und über meinen Büchern gebeugt mich selbst betrauern.“ „Wenn du willst, besuche ich dich mal und bringe dir eine Thermoskanne mit heißem Tee.“, scherzte Felix. „Wie lieb von dir.“ „So bin ich eben.“ Ich konnte nicht anders, als nur den Kopf zu schütteln und zu lachen. Der Schwarzhaarige hatte sich wirklich kein bisschen verändert. Fast hatte ich den Eindruck, als wären es schlichtweg nur ein paar Tage, in denen wir uns nicht gesehen hatten und nicht ein ganzes Jahr. Nachdem wir mit dem Essen fertig waren redeten wir noch eine Weile über alte Zeiten, bis Felix nach geraumer Zeit auf seine Armbanduhr sah und meinte, es wäre Zeit für ihn zu gehen. Er war noch mit einem Kommilitoren verabredet, der irgendwelche Unterlagen mit ihm durchgehen wollte. Langsam erhob sich der Schwarzhaarige und sah unschlüssig zu mir. „Vielleicht können wir uns mal wieder sehen?“, fragte er unsicher, während er in seiner Tasche kramte. Nun stand auch ich auf und nickte. „Sicher. Ich könnte dich anrufen.“ Schnell krakelte Felix etwas auf ein Stück Papier und hielt es mir dann hin. Als ich den Zettel entgegen nahm konnte ich eine Handynummer darauf erkennen. „Das ist meine Handynummer. Wenn du Zeit haben solltest, kannst du dich ja mal melden.“, grinste der Kleinere und wollte nach seinem Portemonnaie greifen, als ich mit einer Geste abwinkte. „Lass mal, ich mach’ das schon. Sieh’ nur zu, dass du diesen Typen nicht versetzt.“, sagte ich bestimmt und zog meinen eigen Geldbeutel hervor. Kurz hielt Felix inne, dann nickte er dankbar, bevor er sich seine Tasche über die Schulter warf. „Danke, ich geb’s dir zurück.“, meinte er noch, dann hob er die Hand zum Abschied. „Wir sehen uns.“ „Sicher.“, antwortete ich, doch da war der andere schon aus dem gut besuchten Restaurant verschwunden. ~*~ Es vergingen ganze zwei Wochen, in denen ich mich jeden Gott verdammten Tag fragte, wieso ich ständig an den Schwarzhaarigen denken musste. Seit ich ihn zufällig am Bahnhof getroffen hatte, ging er mir nicht mehr aus dem Kopf und ich hatte nicht den Hauch einer Ahnung, woran das liegen könnte. Als wir uns vor einem Jahr voneinander verabschiedet hatten, hatte ich auch noch geschlagene zwei Monate über den anderen nachgedacht und mich geärgert, dass ich ihn nicht nach seiner Telefonnummer oder Adresse gefragt hatte. Am liebsten wäre ich einfach zu unserem Arbeitgeber gestiefelt und hätte diesem um die Daten gebeten, wenn dieser nicht in das verdammte Ausland gezogen wäre und uns beiden gekündigt hätte. Ebenso wie damals dachte ich jede Sekunde an den anderen. Innerlich raufte ich mir die Haare und versuchte angestrengt nicht an ihn, sondern an irgendetwas anderes zu denken. Jeder meiner Versuche scheiterte kläglich, sodass ich es resigniert aufgab. Allerdings verbot ich es mir selbst, Felix anzurufen. Ich war nicht zurück geblieben, ich wusste sehrwohl, warum ich den anderen nicht aus meinem Kopf bekam. Die Erkenntnis hatte sich schon längst in meinem Kopf verankert. Und diese gefiel mir ganz und gar nicht. Ich hatte es schon geahnt, nachdem wir uns vor einem Jahr getrennt hatten. Diese Leere, die plötzlich von mir Besitz ergriffen hatte. Die ganze Zeit über hatte ich nicht gemerkt, wie der Schwarzhaarige sich immer mehr einen Platz in meinem Leben genommen hatte und dann, einfach so, war er wieder verschwunden. Früher hatte ich nie daran gedacht, dass ich vielleicht schwul oder bisexuell sein könnte, doch als der Wunsch nach einer Freundin angesichts des Informatikstudenten immer weiter verblasste, wurde die leise Vorahnung langsam zur Gewissheit. „Das darf doch wohl alles nicht wahr sein!“ Laut hallte die Stimme in meiner winzigen Wohnung wider. „Stimmt...“ Gedanken verloren saß ich auf seiner Couch und starrte aus dem Fenster, bevor mir bewusst wurde, dass die Stimme nicht nur meiner Fantasie entsprang. Sofort stand ich auf und lief zu meiner Tür, um sie mit einem Ruck aufzureißen und zu meiner Zimmernachbarin zu stürmen. Hastig klopfte ich an ihre Tür. „Chris? Alles okay?“, rief ich beunruhigt und wartete auf irgendeine Reaktion, die auch nicht lange auf sich warten ließ. Kaum eine Sekunde später stand meiner Nachbarin vor mir. Mit zerzaustem Haar und mit nur einer Boxershorts und Top bekleidet. Sie starrte mich fragend an. „Morgen, Joshua. Was ist den mit dir los?“ „Das gleiche wollte ich dich eben fragen. Du hast so geschrien. Ist irgendetwas passiert?“, wollte ich wissen, während ich mich dezent etwas von ihr abwandte, damit sie nicht auf die Idee kam, ich würde sie begaffen. Eine Weile schien sie zu überlegen, was ich meinte, dann stöhnte sie jedoch entnervt. „Meine liebe Schwester hat mich heute um sechs Uhr morgens aus dem Bett geklingelt, nur um mir mitzuteilen, dass sie in einer Woche in die Staaten fliegt. Als ich dann nicht mehr einschlafen konnte, dachte ich mir: ‘Ach was soll’s, bleibst du eben wach’. Ich bin also aufgestanden, in die Küche gegangen und habe mir einen Kaffee gekocht. Plötzlich kommt dieses Arschloch aus dem ersten Stock rein und meint, er könne mich am frühen Morgen schon anbaggern. Also hab ich ihn abserviert und bin duschen gegangen. Nur um auf zwei nervige Tussis zu treffen, die sich fast bis zur Besinnlosigkeit gekichert haben. Ich habe wirklich keinen Plan, wieso. Ich kam rein -Hihi-. Ich bin wieder raus -Hihi-. Nach dem Duschen bin ich dann schon ziemlich genervt wieder in meine Wohnung und hab mich vor den Fernseher gesetzt. Du kannst es dir schon denken, es lief nichts Brauchbares. Schließlich ruft um kurz vor neun mein beknackter Möchtegern-Freund an und treibt das ganze auf die Spitze, indem er mir wieder einen Vortrag über seine konservative Geschlechterrollen hält. Danach wollte ich nur noch ins Bett, leg mich hin und just in diesem Moment fangen die Bauarbeiter mit ihrer Arbeit dort unten vor der Tür an. Alles im allem würde ich sagen, es ist ein toller Tag.“ Während ihres Berichts versuche ich mir, die Dinge bildhaft vorzustellen. Allerdings kommt dabei nichts Gutes heraus, sodass ich sie erst einen Augenblick anstarre und dann meine Worte wiederfinde. „Oh...“, sagte ich wenig geistreich und blinzelte. „Das ist genau das richtige Wort.“, schimpfte sie und ging wieder in ihre Wohnung, bedeutete mir allerdings, ihr zu folgen, was ich nach kurzem Zögern auch tat. „Deswegen gehst du jetzt mit mir frühstücken.“, beschloss sie, während sie ihr Top über den Kopf zog und ich es gerade noch schaffte, mich diskret umzudrehen. Christina war vor drei Monaten neben mir in das Studentenwohnheim gezogen. Zuerst habe ich sie nur für etwas aufbrausend gehalten, bevor mir die gesamte Tragweite ihres Temperaments gewahr wurde. Noch nie zuvor war mir eine solche Frau begegnet. Sie schaffte es wirklich, dass der größte Macho-Frauenunterdrücker vor ihr kuschte. Gleichzeitig konnte sie so lieb und zuvorkommend sein, dass es manchmal schon etwas unheimlich war, wenn ich nach Hause kam und Chris auf einmal vor meiner Tür stand, um mich zum Essen einzuladen. Denn das hatte ich auf jeden Fall über sie in Erfahrung gebracht. Sie liebte Kochen. Immer wenn es ihr nicht gut ging oder sie gestresst war, kochte sie. Weiß der Teufel, wie sie das machte, aber sie tat es. Ich kannte keine merkwürdigere Art, seinen Stress zu bewältigen, als ihre. Aber solange es half, störte es schließlich niemanden. Wofür ich sie allerdings am meisten schätzte, war ihre Ehrlichkeit. Wahrscheinlich war genau das der Punkt, warum die meisten sie nicht leiden konnten, ich hingegen liebte sie dafür. Was war es für eine Freundschaft, in der es keine Ehrlichkeit gab? In meinen Augen macht er das eine richtige Freundschaft aus. Und Chris war meine erste Freundin, die mir wirklich ins Gesicht sagen konnte, wann ich mich scheiße benahm. Im Gegenzug tat ich dasselbe bei ihr. Nun zog sich die Ehrlichkeit in Person gerade einen Pullover über, damit wir endlich frühstücken konnten. In den drei Monaten hatten wir schnell festgestellt, dass wir, was das Essen anging, perfekt zusammen passten. So mussten wir nicht lange herum diskutieren, in welches Café wir gehen sollten, sondern steuerten unser Stammlokal ein paar Straßen weiter an. Dabei handelte es sich um ein kleines Kaffeehaus, in dem man günstig gutes Frühstück bekam. Wie immer setzten wir uns an ein Fenster von dem man einen guten Blick auf die Straße draußen hatte. „Na dann erzähl’ mal. Was hast du gestern noch gemacht?“, fragte Chris mich, während sie eine Kellnerin heran winkte. „Du meinst zwischen der Hausaufgabe und schlafen? Nichts, soweit ich weiß.“, grinste ich sie an. Daraufhin warf sie mir einen skeptischen Blick zu und bestellte dann unser obligatorisches Frühstück, bestehend aus einem Kaffee und einem belegten Brötchen. „Du hast dich also noch immer nicht bei Felix gemeldet?“ Ich betrachtete eine auf dem Tisch stehende Orchidee und räusperte mich verlegen. „Nein. Noch nicht.“, antwortete ich schließlich leise. „Ich dachte, du hast dich so gefreut, ihn wieder zu sehen.“ „Das hab ich auch, aber es eben so kompliziert...“ „Weil du schwul bist und auf ihn stehst?“ Entsetzt starrte ich Chris mit weit aufgerissenen Augen an. Musste sie das so direkt aussprechen? „Könntest du nicht etwas diskreter sein?“ „Nö.“, meinte sie trotzig und sah mich provozierend an. „Danke.“ Ich verschränkte meine Arme vor der Brust und sah demonstrativ zur Theke, ob die Kellnerin schon mit unserem Frühstück kam, damit ich nicht Chris an sehen musste. „Jetzt sei doch nicht beleidigt, ich hab doch Recht, oder?“ Ich gab nur ein leises Grummeln von mir, um ihre Aussage zu bestätigen. Natürlich hatte sie Recht, aber deswegen musste sie noch lange nicht der ganzen Welt mitteilen, dass ich schwul war. Mit diesem Gedanken hatte ich mich noch nicht so ganz anfreunden können. Manchmal fragte ich mich, ob ich vielleicht auch nur bisexuell war, da Felix bis jetzt der einzige Kerl war, der mein Interesse erweckt hatte. „Ich bin mir nur nicht so sicher, ob ich wirklich...naja...in ihn verliebt bin.“, murmelte ich, sodass nur Chris mich hören konnte, da gerade zwei Damen sich in eine Sitznische neben uns gesetzt hatten. „Du musst doch wissen, ob du auf ihn stehst. Schmetterlinge im Bauch, Schweißausbrüche, Hände zittern, das ganze Programm eben.“ „Schon, aber vielleicht...“ „Nein.“ Sie sah mich eindringlich an, während sie leicht de Kopf schüttelte. „Ich verstehe nicht, wieso die meisten Kerle es sich nicht eingestehen können, schwul zu sein. Was ist daran so schlimm?“ Ich senkte den Kopf und dachte über ihre Worte nach. „Weil ich...Angst hab?“ Nun nickte Chris leicht. „Angst davor, dass alle euch auf einmal wie einen Aussätzigen behandeln, nur weil ihr das gleiche Geschlecht vögelt.“, sagte sie trocken und nahm unser Frühstück entgegen, als die Kellnerin endlich wieder kam. „Erstens: Nein, davor habe ich keine Angst. Und zweitens: Ich habe noch nie einen anderen Kerl gevögelt.“ „Schon gut. Aber wovor hast du dann solchen Schiss? Dass er dich abserviert?“, wollte sie sarkastisch wissen und schob sich eine kleine Tomate in den Mund, die als Dekoration auf ihrem Teller lag. Als ich nur stumm in meine Kaffeetasse blickte, hielt sie inne. „Du hast wirklich...“ Sie brach ab und betrachtete mich einen Moment. „Das ist doch vollkommener Schwachsinn. Du hast doch erzählt, der Typ wäre auch schwul. Außerdem seid ihr gut befreundet, warum sollte er-“ „Das ist es doch eben. Wir sind befreundet. Er kann alle Kerle haben, die er will. Wahrscheinlich sogar die Heterosexuellen, aber doch nicht mich.“ Gereizt nahm ich einen Schluck vom Kaffee und verbrannte mir prompt die Zunge an dem heißen Gebräu. Fluchend stellte ich die Tasse wieder auf den Tisch und biss stattdessen in mein Brötchen. „Joshua, der Typ ist schwul. Ihr seid befreundet. Warum, in Gottes Namen, sollte er dich so vor den Kopf stoßen?“ „Willst du das nicht kapieren? Was würdest du den machen, wenn deine beste Freundin auf einmal vor dir steht und dir offenbart, dass sie lesbisch ist und auf dich steht?“, meinte ich aufgebracht. Mittlerweile waren mir die beiden Frauen neben uns herzlich egal. Sollten sie doch mitbekommen, dass ich wahrscheinlich schwul war und auf einen alten Kollegen stand. Bei den folgenden Worten klang ihre Stimme ziemlich entschieden und ließ keine Widerworte zu. „Ich würde zumindest mit ihr darüber reden. Und sie nicht einfach sitzen lassen. Und genau das wird auch Felix tun.“ Am Nachmittag saß ich auf meinem Bett und wählte zögernd die Nummer, die Felix mir gegeben hatte. Ich hatte lange über Chris’ Worte nachgedacht und war zu dem Schluss gelangt, dass es vielleicht gar nicht so verkehrt war, gewisse Andeutungen zu machen. Ihm direkt zu sagen, dass ich mit größter Wahrscheinlichkeit auf ihn stand, traute ich mich nicht. Und ich war verdammt noch mal dreiundzwanzig! Ich hatte mein Leben gut im Griff, bis Felix aufgetaucht war. Schon damals vor einem Jahr, als er sich vor mir geoutet hatte, hatte ich angefangen darüber nachzudenken, schwul zu sein. Und jetzt brachte dieser kleiner Schwarzkopf mich dazu, mich wie ein dämlicher Teenager aufzuführen! Ich war dreiundzwanzig und keine sechzehn verdammt! Nachdem ich mich wieder etwas beruhigt hatte, hatte ich also nach meinem Telefon gegriffen und seine Nummer gewählt. Es klingelte nicht lange und er meldete sich atemlos. „Ja?“ „Ähm...Hi, Felix. Hier ist Joshua...“, meinte ich leicht zögerlich und wartete auf eine Antwort. „Hey, wie geht’s dir?“ „Gut, und dir?“ „Mir auch. Was machst du denn gerade?“ „Hausaufgaben. Eben dachte ich mir, ich mach’ mal ‘ne Pause und ruf’ dich an.“ Daraufhin musste er lachen. Wir plauderten noch eine Weile am Telefon, wobei ich mich zusehends entspannte. Am Ende alberten wir fast nur noch herum und machten dumme Witzchen. Doch irgendwann wurde ich wieder ernst. „Meinst du, du hast am Wochenende Zeit?“, fragte ich und hielt die Luft an. Kurz herrschte Schweigen am anderen Ende der Leitung. „Sicher. Wann und wo?“ Erleichtert atmete ich wieder aus. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)