Les Misérables von abgemeldet ================================================================================ Prolog: 0. ---------- Als ich Olivier les Demondés das erste Mal erblickte, erinnerte er mehr an ein fleischgewordenes Häufchen Elend als an den sorglosen Jungen von 14 Jahren, der er hätte sein sollen. Zitternd und verängstigt blickte er mich mit seinen großen, verwirrten Augen an, als ich das Zimmer betrat, nachdem Zidler, ein fetter, stinkender und aus mir unerfindlichen Gründen erfolgreicher Geschäftsmann, mir von seinen Vorzügen vorgeschwärmt hatte. So wenig ich Harold Zidler leiden konnte, so musste ich ihm dennoch zugestehen, dass er schon immer ein Händchen für die Leckerbissen gehabt hatte, die genau meinen Geschmack trafen. Auch, wenn es makaber klingen mag. Ich hege eine Vorliebe für die Schönheit. Ich will sie besitzen. Und je unschuldiger sie sich mir offenbart, desto mehr begehre ich sie. Weil ich es kann. Dort saß er nun auf dem Bett, in ein Kleidchen gezwungen, geschminkt und mit hochgestecktem Haar. Etwas, wodurch der Besitzer des Moulin Rouge pflegte, den Liebreiz seiner ‘Goldknaben’ noch mehr hervorzuheben, um einen so hohen Preis wie möglich erzielen zu können. In diesem Fall vollkommen unnötig, wenn man mich fragte, ich wäre auch hin und weg gewesen, hätte er nur die Kleidung eines einfachen Straßenjungen getragen. Die Unschuld, die der Knabe ausstrahlte, war überwältigend und staunend trat ich näher, um sein Kinn anzuheben, da er bisher stur den Blick auf seine gefalteten Hände gerichtet hatte. Nun sah er mich mit seinen angstvollen Augen, einer Mischung aus Lavendel und Ozean, an und schwieg, offensichtlich aus Stolz, während ich sein zartes Gesicht leicht hin- und herdrehte. Dass er Jungfrau war, stand außer Frage. Der Gestank der Sünde fehlte ihm. “Sie haben nicht zuviel versprochen, Zidler”, raunte ich, ohne den Blick von dem Knaben abzuwenden. Ich hörte, wie der Mann sich die Hände rieb. Dann ließ ich abrupt von Olivier ab und ging auf Zidler zu. “Also, Harold”, sagte ich liebenswürdig, während wenig später einer seiner Angestellten die Türe hinter uns schloss, “wie viel?” “Für Sie natürlich ein Sonderpreis, Monsieur Tornatore. 7000 Francs. 4000 im Voraus und wenn es zu Ihrer vollen Zufriedenheit verläuft den Rest.” Ich zog eine Augenbraue in die Höhe, während Zidler der Schweiß ausbrach. 7000 Francs waren zu jener Zeit Wucher, selbst wenn es für mich persönlich kaum der Rede wert war. Mit meinem Vermögen hätte ich, wenn ich gewollt hätte, das ganze verdammte Moulin Rouge kaufen können. Zidler musste sich seiner Sache ziemlich sicher sein. Ich ließ ihn eine Weile zappeln und nickte schließlich. Dann zückte ich mein Scheckbuch und einen Füllfederhalter. “Ich bin einverstanden. Ich werde Sie morgen Abend aufsuchen.” Geflissentlich nickte der Mann und grabschte mit seinen nikotinfleckigen Fingern nach dem Zettel. “Ach ja und - Harold”, sagte ich in einem scharfen Ton, ehe ich ihm den Scheck überließ. “Oui, Monsieur?” “Sehen Sie zu, dass er bis dahin unberührt bleibt. Und damit meine ich auch Ihre seltsamen Methoden, jemanden gefügig zu machen - sehe ich nur einen blauen Fleck auf der weißen Haut, einen kleinen Kratzer, dann wird ein geplatzter Scheck Ihre geringste Sorge sein.” Ich überließ Zidler den Scheck, welchen er hastig in seiner Weste verstaute, dann wandte ich mich zum Gehen. Und gleichsam besiegelte ich damit das Schicksal meines geliebten Täubchens. Nicht ahnend, wie sich dahingehend auch mein eigenes ändern würde. Kapitel 1: I. ------------- "Nicht weinen." Olivier sah auf und blickte direkt in das freundlich lächelnde Gesicht eines fremden Jungen. Als er die klangvolle Stimme mit dem seltsamen Akzent hörte und das sonnengebräunte Gesicht vor sich sah, bekam er es erst recht mit der Angst zu tun und wich zurück, wobei er seine körperlichen Kräfte überschätzte und sofort, als er vom Bett gesprungen war, in sich zusammensackte - so wich er auf dem Hintern soweit zurück, wie es ging, und schlang dann die Arme um die angewinkelten Knie, während er den exotischen jungen Mann vor sich anstarrte, als sei der nicht von dieser Welt. Der Andere war aufgesprungen, hatte ihm hinterher gewollt, besann sich aber dann doch eines Besseren. Wenn man ein erschrockenes Reh verfolgte, geriet es nur mehr in Panik. Stattdessen wich er wenige Schritte zurück und sagte noch einmal sanft: "Bitte hab keine Angst. Ich bin es nicht, der dir ein Leid will. Wie heißt du?" Olivier sah den jungen Mann einen Moment lang misstrauisch an, dann schniefte er. "Das sagt sich so leicht - wo bin ich hier überhaupt? ... Olivier les Demondés", nuschelte er dann, sich seiner guten Erziehung besinnend. "Und wer bist du?" Das Gesicht des Orientalen nahm einen bedauernden Ausdruck an. Man sah ihm förmlich an, dass er Olivier die nun folgende Wahrheit am liebsten erspart hätte. "Du bist hier im Moulin Rouge." "Das Theater?" "Nein. Das Bordell." Der Junge flüsterte beinahe, dann fügte er noch hinzu, so, als spiele es eigentlich keine Rolle: "Mein Name ist übrigens Malik." "Warum bin ich hier?" Malik biss sich auf die Unterlippe. War das nicht offensichtlich? Zidlers skrupellose Lakaien waren wohl mal wieder auf Beutezug gegangen. Olivier tat ihm leid. Er sah wirklich nicht aus wie jemand, der eigentlich hier sein sollte. Er wirkte aristokratisch, aus gutem Hause, es stand außer Frage, dass er nicht freiwillig hier war. Aber wer war das schon? Malik schauerte, wenn er daran dachte, mit welchen Methoden Zidler verhinderte, dass die entführten Kinder wieder gefunden wurden. Wen das Moulin Rouge einmal verschlungen hatte, den gab es so schnell nicht wieder frei. Malik selbst hatte schon oft genug versucht zu fliehen - und dafür immer wieder Prügel und psychische Folter einstecken müssen, es war schier unmöglich. Was ihn nicht daran hinderte, es immer wieder zu versuchen, denn wenn es eines gab, das der Ägypter hasste, dann war es eingesperrt sein. "Und was soll diese schreckliche Verkleidung?", fügte er der Junge wenig später wimmernd hinzu. "Vorhin war ein Mann bei mir, er hat mich betrachtet, als wär ich ein Pferd auf dem Markt!" Malik verzog angewidert das Gesicht. "Olivier, kannst du dir das nicht denken? Zidler versucht, deine Unschuld so teuer wie möglich zu verkaufen." Dem Jungen wurde schlecht und er errötete leicht, sowohl vor Scham als auch vor Zorn. "Er - was...? Ich ... das muss ein Missverständnis sein, ich ... habe Eltern, einflussreiche Eltern und..." Malik schwieg. Es war gut möglich, dass Oliviers Eltern ermordet worden waren. Zidler war eiskalt, wenn es um so etwas ging und das Erschreckende war, dass er die Mittel dazu hatte, aber das wollte er dem Jungen vorerst ersparen, der hatte immerhin schon genug mitmachen müssen. Olivier fühlte sich elend. Er war so gut wie allein, nur in Gesellschaft eines Jungen, den er im Grunde nicht kannte, und das, was hier mit ihm passieren sollte, war eine Ungeheuerlichkeit. Er schlief die ganze darauffolgende Nacht nicht richtig, die meiste Zeit lag er hellwach und starrte in das abgedunkelte Zimmer, welches nur ein wenig durch die Lichter des Elefanten und der Mühle erhellt wurde. Auch die wurden in den frühen Morgenstunden gelöscht, aber nichtmal die Dunkelheit konnte ihm Schlaf bringen. Nichtmal die Dunkelheit, die er früher, im Vergleich zu anderen Kindern in seinem Alter, eher als angenehm und deckend empfunden hatte, konnte ihn trösten. Im Gegenteil, jetzt machte sie ihm Angst. Mit einem leisen Wimmern kugelte er sich in Embryonalhaltung zusammen und zog die Decke höher. Er musste hier unbedingt weg. Am nächsten Morgen wurde er eher unsanft geweckt, man brachte ihm Frühstück - Olivier rührte es nicht an - er bekam selten etwas herunter, wenn er Angst hatte oder aufgeregt war. Tagsüber versuchte er, irgendeine Möglichkeit zu finden, seinen Eltern eine Nachricht zukommen zu lassen oder selbst irgendwie zu entkommen - aber dieses Unterfangen wurde von dem muskelbepackten Mohren vereitelt, der vor seiner Tür Wache hielt. Wütend und verzweifelt ballte er die Fäuste. Hier herauszukommen hatte sich innerhalb weniger Minuten als unmöglich herausgestellt. Alle waren diesem Zidler hörig und innerlich verfluchte er den Mann, den er noch kein einziges Mal zu Gesicht bekommen hatte. Unruhig wanderte er im Raum auf und ab. Es gingen ihm so viele Fragen durch den Kopf, doch der einzige, der sie ihm womöglich hätte beantworten können, war unauffindbar und so war er mit seinen Gedanken alleine. "Mon Diéu, das kann doch nicht mein Leben sein", sagte er leise resignierend und beschloss, das unruhige Umhergehen bleiben zu lassen. Das Zimmer, in dem er untergebracht war, beherbergte ein Klavier, welches ihm vorhin schon ins Auge gestochen war und er wollte sich mit Spielen ein wenig abzulenken versuchen. Dann bekam er vielleicht wieder einen klaren Kopf, oder wurde wenigstens etwas ruhiger. Während seine geübten Finger über die Tasten glitten, verschwamm das Schwarzweiß vor ihm und wurde zu Grau, bis ihm irgendwann die Augen brannten. Olivier hatte an jenem Tag eigentlich nur einen Spaziergang machen wollen. Tag um Tag war er in seinem goldenen Käfig eingesperrt und nun hatte sein Vater überraschend eine Geschäftsreise angetreten, worauf ihn Oliviers Mutter begleitet hatte. Es war ein Leichtes gewesen, unbemerkt an den Dienern vorbei nach draußen zu gelangen. Das Wetter war wirklich schön - es war Frühling und die Vögel sangen ihr Lied, während die ersten Blumen im Park ihre Köpfe durch den Erdboden streckten. Olivier konnte seine neugewonnene Freiheit erst gar nicht fassen, wusste nicht, wo er zuerst hinsollte und so entschied er sich vorerst, ein wenig in besagtem Park zu flanieren. Einfach nur im Gras liegen und die Wolken beobachten, unbeschwert an nichts denken, das hatte er sich immer gewünscht. Aufgrund seiner schwachen Gesundheit waren seine Eltern immer übervorsichtig gewesen und hatten ihn selten etwas alleine machen lassen. So genoss der Junge es in allen Zügen, einmal zu tun, wonach ihm der Sinn stand. Doch der Frieden sollte nicht lange halten - plötzlich fiel ein Schatten auf Oliviers Gesicht und der Junge öffnete die Augen - nur um erschrocken aufzukeuchen - er blickte direkt in das zahnlos grinsende Gesicht eines Bettlers. "Was wollen Sie von mir?" zischte er, seinen Herzschlag wieder beruhigen wollend und in eine sitzende Position auffahrend - der Mann war ihm nicht geheuer. Keine Antwort, nur dieses unheimliche Grinsen - dann streckte er seine schmutzigen Hände aus - er wollte wohl Geld. "Ich ... Ich habe gar nichts bei mir...", sagte der Vierzehnjährige leicht angewidert, während er langsam aufstand, um etwas Abstand zu gewinnen - der Mann jedoch blieb hartnäckig und folgte ihm. "Lassen Sie mich zufrieden, Mon Dieu!", keuchte Olivier und lief ein paar Schritte davon, sich nicht umblickend, ob der Widerling ihm immer noch folgte. Als er irgendwann den Ausgang des Parks erreichte und wieder auf der Straße stand, hielt er kurz inne, um Luft zu holen und sich umzublicken, ob der Kerl ihm noch folgte - es war nichts mehr zu sehen - gut. Den Kopf leicht schüttelnd und sich zusehends unbehaglicher fühlend, beschloss er, dass es vielleicht doch eine bessere Idee wäre, nachhause zurückzukehren und blickte sich zögernd um, welchen Weg er wohl nehmen musste. Unsicher schlug er eine Richtung ein - nicht ahnend, dass es die falscheste war, die er hatte nehmen können... Irgendwann wurde die Gegend zwielichtiger und Olivier war sich immer sicherer, dass er hier nicht hingehörte. Bald brach die Dämmerung herein und der Junge, schon den Tränen nahe, blieb einen Moment stehen und rieb sich mit den Händen über die Oberarme, da es doch recht kalt geworden war. Die Beine schmerzten ihm. Er hätte sich im Traume nicht einfallen lassen, was Paris eigentlich für eine große Stadt war. "Na, hast du dich verlaufen, Kleiner?", schnurrte ihm plötzlich eine Stimme ins Ohr, was ihn dazu brachte einen Satz rückwärts zu tun - nichts - da war niemand. Langsam bekam er es mit der Angst zu tun. Wo war er hier nur gelandet? Er sah Gestalten sich im Zwielicht bewegen, dann, ohne irgendeine Vorwarnung, ohne ein Geräusch, spürte er, wie sich ihm plötzlich ein kaltes Tuch mit dem beißenden Geruch von Chloroform über Nase und Mund legte, dann wurde seine Welt schwarz... Hätte Olivier auch nur im Entferntesten geahnt, was er mit dem einen unschuldigen Augenaufschlag bei Enrico Tornatore angerichtet hatte, hätte er sich doch sehr gewundert. Die Nacht hatte der sich damit vertrieben, durch die dunklen Gassen zu streunen - etwas, was sonst gar nicht seinem Naturell entsprach - und sich abgelenkt, indem er sich wahllos das Blut von Bettlern und Straßenräubern, die sich im Schutz der Dunkelheit sicher wähnten, einverleibt hatte. Der Morgen brach bereits an, als er seine Villa betrat, die edle Kleidung, auf welcher sich Blutspritzer befanden, abstreifte und sie achtlos zu Boden fallen ließ. Seine Diener sollten sich gefälligst darum kümmern, dafür bezahlte er sie ja schließlich. Über ihren Herrn wunderten die sich nebenbei erwähnt schon lange nicht mehr. Mit schnellen und festen Schritten betrat Enrico sein Atelier, griff sich ein paar der wenige Tage zuvor angemischten Farben und verteilte sie, nicht besonders sorgfältig auf einer Palette. Diese Augen ... Blauer als der Ozean mit diesem interessanten Violetteinfluss - etwas, das ein Sterblicher wohl gar nicht hätte wahrnehmen können - und wie sie ihn angeblickt hatten ... Enrico war es ganz anders geworden, auch, wenn er sich mit stoischer Miene nichts hatte anmerken lassen. Diese Unschuld, diese Reinheit, nie zuvor war ihm ein anderes sterbliches Geschöpf begegnet, das solch einen Aufruhr in ihm ausgelöst hatte. Und diese Haut ... weiß wie Milch. Es schauerte ihm wohlig bei dem Gedanken daran, bald die Fänge darin zu vergraben, während der Junge zitternd und Lust unterworfen in seinen Armen lag. Mit energischen Pinselstrichen brachte er Farbe auf die weiße Leinwand, arbeitete so hastig, dass er nicht bemerkte, wie er den ein oder anderen Farbspritzer abbekam. Er wollte ihn einfangen, auf die Leinwand bannen, ein Ebenbild dessen schaffen, was er gesehen hatte und als er wenige Stunden später fertig war, trat er zurück und betrachtete sein Werk. Ganze zwei Sekunden lang. Es war perfekt. Dann riss er es ärgerlich mit einem Hieb seiner bloßen Hand entzwei. So etwas konnte man nicht auf die Leinwand bannen. Er wollte den Jungen wiedersehen - jetzt sofort. Ungeduldig wanderte der Blick seiner saphirblauen Augen in Richtung Fenster, durch welches noch das abendgoldene Sonnenlicht drang. Längst vermochte die Sonne es nicht mehr, ihn zu verbrennen, doch allzu lange standhalten, ohne dass ihm die Kräfte schwanden, konnte er ihr nicht. Enrico kleidete sich in dunkle und teure Seide. Ausnahmsweise einmal der Zeit angepasst, ansonsten bevorzugte er prunkvolle und auffällige Kleidung, wie sie damals sein Volk getragen hatte, ganz hatte er diese Ambition auch nach fast 3000 Jahren nicht ablegen können. Den Weg zum Moulin Rouge legte er im Nu zurück, er bewegte sich schnell, wie ein Schatten, ohne jemandem aufzufallen. In dieser langen Zeit hatte er das nahezu perfektioniert. Nicht gesehen zu werden, wenn man nicht gesehen werden wollte. Zidler empfing ihn höchstpersönlich und mit einem emotionslosen Nicken begrüßte er diesen. Sofort konnte er die Anspannung spüren, der Angstschweiß, der diesem auf der Stirn stand. Während der Bordellinhaber mit nervöser Stimme irgendwelche Floskeln intonierte, verzogen sich Enricos Mundwinkel leicht verächtlich. Immerhin war ja Zidler nicht derjenige, der heute Nacht seine Unschuld verlieren würde, warum also die Nervosität. Eine rhetorische Frage, natürlich kannte er die Antwort darauf bereits. Zidler war einfach nur ein erbärmlicher Auswurf der Gattung Mensch, der er selbst vor langer Zeit einmal angehört hatte. Das Wissen um diese unfreiwillige Verbindung erfüllte ihn regelrecht mit Abscheu. Schon von Weitem drangen die Klänge von Beethovens 'Für Elise' an sein Ohr und sein Herz frohlockte leicht, denn es stand außer Frage, wer sie erzeugte. "Zidler." Der Angesprochene hielt inne, blieb stehen, da Enrico es auch getan hatte und sah diesen, verwirrt darüber, dass man ihn in seinem Satz unterbrochen hatte, fragend an. "Oui, Monsieur?" "Geht. Und sperrt den Flur ab, ich will nicht, dass mich irgendjemand überraschend stört. Ansonsten werde ich sehr ungehalten." Zidler tupfte sich die Stirn mit einem weißen Tuch ab und deutete dann ein Kopfnicken an. "Natürlich. Alles zu Eurer Zufriedenheit." Mit Enricos stechendem Blick im Rücken machte sich der Mann, sichtlich erleichtert darüber, seinem Fokus zu entkommen, davon, um das Gewünschte in die Wege zu leiten. Normalerweise war es üblich, dass auf den Gängen und vor den meisten Türen zur Sicherheit Aufpasser aufgestellt waren, aber ... Enrico Tornatores Anweisungen konnte man sich verflucht nochmal einfach nicht entziehen. Warum das so war, das war Zidler bis heute ein Rätsel. Enrico huschte lautlos in das Zimmer hinein, unbemerkt von Olivier, welcher mit dem Rücken zu ihm saß und gerade dazu übergegangen war, Chopins Nocturne zu spielen. Eine Weile verharrte der Italiener im Türrahmen, mit verschränkten Armen und den Kopf leicht schief gelegt. Ihm gefiel es, den Jungen so zu betrachten, während dieser das nicht bemerkte. Ja, er mochte es zu wissen, dass Olivier ihm nun ausgeliefert war in seiner ganzen Willkür. Ein lieblicher Geruch stieg ihm in die Nase. Auch, wenn einem die ganzen Gerüche hier die Sinne vernebelten, so intensiv waren, so stach er doch eindeutig hervor und den Vampir schauerte es kurz, ehe er beschloss, sich bemerkbar zu machen. Olivier hatte gerade geendet, als er sprach: “Das war sehr schön, mein Täubchen.” Olivier für seinen Teil war so versunken in sein Klavierspiel gewesen, dass er sich bis ins Mark erschreckte, als er plötzlich eine fremde Stimme hinter sich hörte. Er fuhr zusammen und wirbelte herum - nur um mit pochendem Herzen die Gestalt des blonden Mannes zu erblicken, der ihn noch am Vorabend seiner Musterung, wie der Junge es bei sich nannte, unterzogen hatte. Die Lippen waren leicht geöffnet, die Atmung ging schnell und sein Herz klopfte. Da hatte Enrico ganz den erwünschten Effekt erzielt, dachte er mit einem Schmunzeln. “Wie lange steht Ihr schon da?”, meinte Olivier plötzlich schnippisch und erhob das Kinn leicht in einer arroganten Pose. Enrico rührte sich nicht vom Fleck. “Seit du so wunderbar Für Elise gespielt hast. Zidler hat nicht zuviel versprochen. Da meint man immer, für ein Klavier brauche man große Hände und lange Finger, aber...” Nun kam er doch leichtfüßig zu ihm herübergeschlendert und Olivier ließ ihn keinen Moment aus den Augen. Zu seiner Überraschung kniete sich der Mann vor dem Klavierhocker hin, auf dem er immer noch saß, und ergriff seine linke Hand. “... Deine Hände sind so zierlich ... passend zu deiner ganzen Erscheinung.” Damit hauchte Enrico einen Kuss auf den blassen Handrücken und Olivier kam nicht umhin, leicht zu erröten. Noch nie zuvor hatte man ihm solch ein Kompliment gemacht und er wusste nicht, ob er sich geschmeichelt fühlen sollte, dass es geschehen war, oder empört zeigen, da es von einem Mann gekommen war. Oder Jungen? Es war schwer, Enricos Alter zu definieren. Vorsichtig zog Olivier seine Hand zurück und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. “Wer seid Ihr überhaupt?” “Mamma mia”, lachte der Italiener leise. “Wie unhöflich von mir. Da war ich nun so hin und weg von deiner Erscheinung, dass ich glatt meine Manieren vergessen habe - mein Name lautet Enrico Giancarlo Tornatore, es ist mir eine Ehre, Signorino....” Olivier musterte Enrico eine kurze Weile, während dieser sich erhob, um sich wenige Augenblicke später auf einem Sessel niederzulassen. Dann teilte er Enrico mit: “Wisst Ihr, ich werde nicht mit Euch schlafen.” Der Italiener blinzelte einen Augenblick lang verdutzt und brach dann, sehr zu Oliviers Missfallen, in ein kurzes, helles Gelächter aus. Wenn der Junge nur wüsste. Wenn er wollte, könnte er ihn jetzt gleich gefügig machen oder über ihn herfallen, aber irgendwie wollte er es hier lieber langsam gehen. Der Junge gefiel ihm und je mehr ihm etwas gefiel, desto intensiver beschäftigte er sich damit. Ob das für das auserkorene Opfer nun einen Vor- oder einen Nachteil bedeutete war dabei nicht zu deuten. “Ich fürchte, du hast keine andere Wahl, Täubchen”, gab er, immer noch amüsiert, zurück, während er die Wange in der Handfläche abstützte und den Jungen intensiv musterte. Dem schien das gar nicht zu gefallen. “Ich bin nicht freiwillig hier”, ereiferte er sich. “Meine Eltern sind sehr einflussreich und...” “Olivier, schh.” Es brachte ihn zum Schweigen. Normalerweise, wenn er einmal in Fahrt war, konnte man ihn vom Reden nicht mehr abhalten, aber das einfache ‘Schh’ dieses Mannes hatte ihn doch tatsächlich dazu gebracht, innezuhalten. “Bitte lass uns von etwas Anderem sprechen”, sagte Enrico in einem einlenkenden, ja fast bittenden Tonfall, welcher gut versteckte, dass er sich ein wenig seiner außerweltlichen Kräfte bediente. “Ich ... bin nicht das, für das Ihr mich haltet...”, erklang der letzte schwache Protest und anstelle auf das Gesagte einzugehen, streckte Enrico auffordernd eine Hand aus. “Komm her.” Aber Olivier wollte nicht. Er wollte nicht von diesem Fremden herumkommandiert werden, er wollte nicht ... Wie von selbst setzten sich seine Beine in Bewegung und ehe er es sich versah, stand er direkt vor dem Blonden, der zu ihm heraufsah. Enrico ergriff abermals seine Hände, diesmal beide, und barg sie in den seinen. Sie waren so kalt ... Warum waren die Hände eines Sterblichen so kalt? Menschen waren doch immer warm. Der Junge weckte immer mehr seine Neugier. “Setz dich doch”, wisperte er und wies damit auf einen Sessel, der dem, auf dem er selbst Platz genommen hatte, leicht schräg gegenüber stand. Olivier nahm, nicht ohne sich ein wenig missmutig zu zeigen, direkt an der Kante Platz, er wollte keine bequeme Position einnehmen. Nicht, solange er sich nicht sicher fühlte. In Enricos Augen blitzte es kaum merklich. “Warum fühlst du dich nicht sicher, Olivier?”, fragte er freundlich, noch immer die Hände des Jungen in seinen haltend. Olivier zuckte zusammen und sah auf, sah Enrico sogar für einen kurzen Moment direkt in die Augen, ehe er sich abwenden musste, da er nicht fähig war, ihm standzuhalten. “Nun, Monsieur”, sagte er leise, “Ihr habt eben mein Gefühl in Worte gefasst und ich fragte mich, ob ich tatsächlich so durchschaubar bin und dann ... Ihr kennt meinen Namen, obgleich ich ihn nie genannt habe. Sicherlich hat Zidler ihn Euch genannt, oder?” Ein leichtes Lächeln umspielte Enricos Mundwinkel. Der Junge hatte eine gute Auffassungsgabe, ein Auge für Details, das gefiel ihm, begegneten ihm doch sonst nur selten Menschen wie er. “Zidler hat mir sehr viel über dich erzählt”, lenkte er vorsichtigerweise das Gespräch in eine andere Richtung. “Er machte mir deine Künste auf dem Klavier schmackhaft - und er hat völligen Unsinn erzählt - du bist nicht einfach nur gut, du bist herausragend, beachtlich für dein Alter, Mozart selbst hätte es nicht besser gekonnt...” Er schwieg eine kurze Weile, in der er beobachtete, welche Wirkung seine Komplimente auf Olivier hatten, ehe er fortfuhr: “Außerdem ... sagte er, du wärest des Lateinischen mächtig?” Nun war es an Olivier, Enrico ein zynisches Lächeln zu schenken und passend im selben Tonfall sagte er unschuldig: “Tandem is heros venit, qui me tormentis meis liberabit.” Es entlockte Enrico ein leises Lachen und ebenso auf Latein erwiderte er: “Ein Held vielleicht nicht, aber wie gefiele dir der Prinz aus einem fernen Land auf seinem weißen Ross?” “Sehe ich aus, als sei ich ein Mädchen, das von einem Prinzen träumt?” “Nicht nur Mädchen haben Träume, mein Kind.” Daraufhin wusste Olivier nichts mehr zu sagen und nachdenklich senkte er den Blick. Dann fragte er schüchtern, wieder auf Französisch: “Ihr kommt aus Italien? Wo habt Ihr dort gelebt?” Er hatte nicht neugierig sein, sondern Enrico eher kühle Geringschätzung entgegenbringen wollen, aber irgendetwas war während ihrer kurzen Konversation in dieser alten Sprache in ihm geschehen. Enrico Tornatore hatte unabstreitbar etwas äußerst Faszinierendes an sich. “Ich bin in Rom geboren und dort lebt mein Herz bis in alle Ewigkeit ... Ah, ce bellissima Citta!” Für den Hauch eines Momentes war etwas Verträumtes in Enricos Augen getreten. “Warum seid Ihr weggegangen, Monsieur, wenn ich fragen darf?” Ein leicht melancholischer Ausdruck huschte über seine Züge. “Lass uns darüber ein anderes Mal sprechen, Täubchen.” Olivier schien mit dieser Antwort nicht gänzlich zufrieden, begnügte sich aber dann damit. Er wollte nicht, dass Enrico dachte, er sei vorlaut oder neugierig. Na hoppla. Als müsste es ihn überhaupt interessieren, was derjenige über ihn dachte, der ihn in naher Zukunft zu vergewaltigen vorhatte. "Du sprichst sehr gut Latein, Olivier." "Mein ... Vater legte sehr viel Wert auf Bildung. Er ließ mich in vielen Fächern unterrichten, auch in Philosophie und Theologie ... Ich bekam Privatunterricht." Unbewusst sprach er in der Vergangenheit. Enrico nahm es schweigend zur Kenntnis. Was die Menschen der heutigen Zeit mit ihrem theologischen Firlefanz hatten. Kurz schweifte sein Blick durch den Raum, blieb dann an einem Tablett hängen, welches man Olivier wohl schon einige Stunden zuvor gebracht hatte - das Essen war gänzlich unberührt. Olivier folgte seinem Blick und sagte entschuldigend: "Ich ... konnte nicht..." Dabei senkte er den Blick, wie als habe er etwas Schlimmes angerichtet. Enrico schenkte ihm ein schmales Lächeln. "Kein Grund, Reue zu zeigen. Aber, Olivier, du musst verstehen, dass man sich um dich sorgt, wenn du nichts zu dir nimmst. Du bist ohnehin schon nicht sehr ... kräftig, du solltest essen, sonst brichst du noch zusammen." "Wer sollte sich denn hier um mich sorgen?", gab der Junge mit mutloser Stimme zurück. Irgendwie erschien es ihm beinahe, als läge die Zeit in seinem Elternhaus schon unendlich viele Jahre zurück, obgleich er gerade einmal zwei Tage hier war. Als diese Gefühle auf Enrico überschwappten, huschte ein kurzer Ausdruck des Mitgefühls über sein Gesicht. Olivier war nicht der Erste, den es hierher verschlagen hatte. Das Moulin Rouge fraß die Unschuld der Kinder und die Träume der Menschen, bis von ihrer Existenz nur mehr ein trauriges Stück Fleisch übrig war. Es missfiel ihm, Olivier diesem Schicksal ausgeliefert zu wissen. "Vielleicht sorge ich mich ja...?" "Natürlich, Monsieur..." Na sowas ... seit wann hatte er seine mitfühlende Art wieder, dachte er leicht ironisch. Immerhin war er lediglich hier, um sich sein Vergnügen zu holen und er blätterte ganz sicher nicht so eine Summe hin, um sich nur zu unterhalten. Auch, wenn es ganz interessant war. So beschloss er, das Gespräch langsam in eine andere Richtung zu lenken. Ihm war es genug der Gefühlsduselei. "Du scheinst der körperlichen Liebe nicht sonderlich zugetan", wagte er sich also hervor und beobachtete dabei genauestens Oliviers Mimik, dem dieses Thema sichtlich ein Unangenehmes war. "Ich wüsste nicht, wieso ich es sein sollte." "Olivier, Olivier..." Enricos Tonfall hatte etwas Belehrendes, der Junge hatte noch Einiges zu lernen. "Du ahnst ja nicht, was du bis jetzt verpasst hast..." "Oh, glauben Sie mir, ich kann es mir denken. Unzucht ist eine Sünde." Enrico stützte das Kinn abermals in die Hand und sah den Jüngeren durchdringend an. "Gab Gott uns nicht die Fähigkeit zu lieben?" "Du sollst nicht bei einem Mann liegen wie bei einem Weib!", gab der Junge trotzig zurück und funkelte den Älteren herausfordernd an. "Ist die Liebe nicht für alle da?" "Es ist ein starkes Wort, Monsieur." Das versprach, interessant zu werden. Olivier mochte noch so unschuldig und adrett wirken, auf den Mund gefallen war er auf jeden Fall nicht. "Hast du über Alexander und Hephaistion gelesen?" Olivier sah Enrico direkt an. "Man sagt, es sei bis heute ungeklärt, in welcher Beziehung sie zueinander standen ... Wie kommt Ihr darauf, Monsieur?" Es interessierte den Jungen wirklich. Er konnte sich keinen Reim darauf machen, in seinen Ohren klangen Enricos Fragen ziellos. "Weil im Laufe der Geschichte...", begann Enrico zu sprechen, streckte dabei die Hand aus, um Olivier nur mit einer hauchfeinen Berührung dazu zu bewegen, näher zu ihm zu kommen, "die körperliche Liebe immer und zu jeder Zeit eine wichtige Rolle spielte. Jedes Lebewesen wird von ihr geleitet. Du darfst sie nicht unterschätzen, mein Junge. Sie ist soviel mehr als nur das Fortpflanzen einer verdorbenen Rasse, mehr als nur stumpfsinnige Vereinigung." Mit glasigem Blick war Olivier der sanften Berührung gefolgt, die von Enrico ausging. Dieser hatte ihn nur am Handrücken berührt und doch war er wie von Geisterhand aufgestanden und war, wie durch einen unsichtbaren Faden gezogen, auf den Schoß des Römers geglitten. Während sich Enricos einer Arm geschickt einen Weg um die schmale Taille des Jungen wand, um einen leichten Druck gegen das Kreuz auszuüben, was ihn daran hindern sollte, eventuell zurückzuzucken - Nicht, dass er damit rechnete, dem glasigen Blick zu urteilen, war der Knabe bereits zu großen Stücken seinem Bann unterworfen - sprach er gedämpft weiter: "Die Liebe ... kann einem die Sinne vernebeln..." Die andere Hand machte sich geschickt an den Knöpfen zu schaffen, die das Gewand zusammen hielten. "Süßer ... und berauschender als der kostbarste Rotwein..." Nun glitt sie in einer fließenden Bewegung in das Gewand hinein, traf auf nackte Haut und die Kälte der Hand jagte Olivier eine Gänsehaut über den Körper, während ihn die Worte einlullten, er fühlte sich hypnotisiert, wie das Kaninchen von der Schlange, unfähig, sich zu regen. "Und wenn sich das süße Stöhnen der Ekstase erst im Einklang miteinander vermischt ... Dann merkst du..." Er hauchte es ihm ins Ohr und es ließ ihn abermals erschauern, ein zarter Kuss auf das Ohrläppchen folgte. "Dass du nie wieder ... etwas anderes..." Das Gewand Oliviers glitt ihm von den Schultern. "... willst." Mit einem leisen Keuchen drückte Enrico seine Lippen gegen den schwanengleichen Hals und es kostete ihn all seine Selbstbeherrschung, nicht einfach mit seinen spitzen Dornen die zarte Haut zu durchstoßen um sich an dem Blut zu laben, das ihm so köstlich in die Nase stieg. Aber noch nicht ... Er wollte sich Olivier aufheben, wie einen guten Wein, der umso länger man ihn reifen ließ, umso vorzüglicher schmeckte. Nein, heute Nacht würde er ihn noch nicht nehmen, dazu hatte er zu großen Gefallen an ihm gefunden. Olivier stöhnte leise, als Enricos Hand plötzlich in seine Hose glitt, um ihn zu verwöhnen. Eine niedliche Röte flammte über die blassen Wangen und fasziniert betrachtete der Vampir, wie der Junge mit halbgeschlossenen Augen immer wieder erbebte, bis sich schließlich zwei Tränen aus dessen Augenwinkeln lösten - sichtlich war Olivier mit der Situation überfordert, was Enrico allerdings nicht dazu brachte, Rücksicht zu nehmen. Vielmehr labte er sich an dem erotischen Anblick, den dieser gerade bot, küsste ihm die Tränen weg. "Schh..." Für Olivier, der noch niemals angefasst worden war, waren das zuviele Eindrücke auf einmal und so dauerte es nicht lange, ehe sich der Junge zum Höhepunkt gewunden hatte und dann überfordert die Augen schloss und dabei den Kopf gegen Enricos Schlüsselbein sinken ließ. "Monsieur ... Was macht Ihr da mit mir...?" Gänzlich hatte er es noch nicht realisiert, was soeben geschehen war, dazu war sein Geist noch zu benebelt, nur unterbewusst meldete sich eine Stimme, dass das, was Enrico da soeben mit ihm getan hatte, äußerst ungehörig war und am besten niemand davon erfuhr. Enrico hauchte ihm einen Kuss an die Schläfe. "Schlafe jetzt..." Kapitel 2: II. -------------- Es war ein Leichtes gewesen, Zidler davon zu überzeugen, Olivier weiter unbescholten zu lassen. Mit Geld konnte man alles haben. Natürlich hätte er ihn auch per Geisteskontrolle überzeugen können, aber momentan war das noch nicht nötig ... Noch brauchte er Zeit zum Nachdenken. Oliviers Erscheinung, sie ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Jedes Mal, wenn er die Augen schloss, sah er sein Gesicht, glaubte, den süßen Geruch des Blutes in der Nase zu haben, und ein ungewollter Schauer lief ihm über den Körper, wenn er daran dachte, diese liebliche Stimme bald seinen Namen stöhnen zu hören. Trotz dessen, dass ihn der Junge zweifelsohne erregte, bereute er seine Entscheidung nicht, nicht mit ihm geschlafen zu haben. Er wollte mehr über ihn erfahren, wollte ihn noch eine Weile ansehen, ehe er ihn nahm. Wollte ihn behüten, als wäre er das Seinige. Sein Vertrauen gewinnen. Und trotzdem ... sollte er ihn zu sich holen? In sein Haus? Zweifelsohne würde sich der Junge dort wohler fühlen, aber dann wäre Enrico für ihn verantwortlich und er war sich nicht sicher, ob er das wollte - so würde es auch viel schwerer fallen, sich irgendwann einmal von ihm zu trennen. Eine Entscheidung, die wohl überlegt getroffen werden musste ... Olivier indes hatte nicht den blassesten Schimmer, was für Gedanken Enrico sich gerade über ihn machte. Er war heute morgen benommen aufgewacht und hatte sich stirnrunzelnd versucht daran zu erinnern, was am vorigen Abend geschehen war. Es war anfangs etwas verschwommen, nur eine Stimme, nicht greifbar, welche in seinem Kopf melodisch widerhallte, und er spürte ein angenehm kribbelndes Gefühl in sich, wenn er sich daran erinnerte, wie diese Stimme seinen Namen geformt hatte. Es dauerte seine Zeit, bis die formlose Stimme in seinem Geist Gestalt annahm, bis der Schemen der dort war, zu einem Gesicht wurde ... das blonde kurze Haar, welches sich frech um das Gesicht geringelt hatte, und der seltsame Glanz, der darin gelegen hatte, die intensiven blauen Augen und dieses unverschämt-charmante Lächeln ... Olivier blinzelte, als er an das Lächeln dachte, während er dabei verklärt aus dem Fenster blickte. Irgendetwas stimmte daran nicht ... Es war nur für den Bruchteil einer Sekunde gewesen, ein kleines Aufblitzen... zu kurz, als dass er es gestern hätte verarbeiten und logisch schlussfolgern können, sein Unterbewusstsein hatte es wohl aufgenommen. Das Klopfen an seiner Tür ließ ihn aus seinen Gedanken auffahren und er wandte den Blick zur Tür, die sich daraufhin öffnete. Malik streckte vorsichtig seinen Kopf hinein, er hatte nach dem Jungen sehen wollen. “Darf ich reinkommen?”, fragte er vorsichtig und Olivier nickte. Kurz glitt sein Blick über den ägyptischen Jungen - irgendwie wirkte er ziemlich erschöpft und gequält. Malik nahm wortlos bei Olivier Platz, welcher auf dem gepolsterten Fenstersims saß, und lehnte sich leicht an. Eine Weile sah er auch aus dem Fenster, dann löste er den Blick und er blieb auf dem Frühstück hängen, das Olivier schon wieder nicht angerührt hatte. Dann seufzte er: “Olli, du solltest wirklich etwas essen, das ist nicht gesund, du wirst deine Kräfte hier wirklich brauchen.” “Aber ich bekomme nichts herunter ... Sag mal, Malik, kennst du einen Monsieur Tornatore?” Missbilligend über den Themawechsel erwiderte selbiger langsam, “ Ja.... Ja, den kenne ich - wieso? War er ... gestern bei dir? Wie geht es dir jetzt?” Olivier zog die Beine an und stützte den Kopf auf den Knien ab. “Ja, er war bei mir, aber ... Naja, er ... Also, er hat nicht...” “Mit dir geschlafen?”, fragte Malik verblüfft. “Wie hast du das denn geschafft?” Olivier errötete hauchfein. “Ich weiß gar nicht, was ich gemacht habe ... Wir haben geredet ... Sehr viel und gegen Ende ... ich weiß nicht, es ist alles ein wenig verschwommen ... Kannst du mir was über ihn erzählen? Ich finde ihn etwas ... sonderbar.” Malik legte kurz den Kopf schief, dann kam ihm eine Idee. “Ich mach dir einen Vorschlag”, sagte er grinsend, “du isst jetzt was und währenddessen erzähle ich dir, was ich weiß, einverstanden?” “In Ordnung.” Olivier griff zu Messer und Gabel, um das Omelette zu schneiden. Langsam schob er sich ein Stückchen davon in den Mund und blickte Malik dabei erwartungsvoll an. Dieser holte Luft und begann: “Also ... Er ist, sagen wir mal, einer der angenehmeren Freier ... ich weiß das, weil...” Er selbst konnte dem Jungen dabei nicht wirklich ins Gesicht sehen. “... Naja, sagen wir so, ich kann mir durchaus ein schlimmeres erstes Mal vorstellen, das einzig Schlimme daran war, dass ich es im Grunde nicht wollte, aber wehgetan hat er mir nicht ... Er ist, wie du ja sicher gemerkt hast, eigentlich sehr ... Naja, freundlich ist das falsche Wort, wenn er was will, dann holt er sich das, auf die eine, oder auf die Art, aber ... Naja, umgänglich, er ist kein Monster wie die ... Wie viele andere Männer, die ... Schon bei mir waren ... Ansonsten weiß ich eben nur noch, dass er wohl Aristokrat sein muss und Zidler scheint irgendwie Angst vor ihm zu haben ... Das erzählt man sich hier überall ... Also wenn du Tornatores Gunst gewinnst, dann kannst du dich glücklich schätzen...” Malik machte Pause, um Luft zu holen, und warf einen Kontrollblick auf Oliviers Teller. “Was ich allerdings wirklich nicht verstehe...”, nahm er den Faden wieder auf, “dass er dich unbescholten gelassen hat, ich meine ... Es ist ein gutes Zeichen, aber er ist jetzt auch nicht gerade für grenzenlose Geduld bekannt...” Olivier schwieg. Es war irgendwie seltsam, so offen über Körperlichkeiten zu reden und so ganz konnte er sich noch nicht daran gewöhnen, aber, so wie Malik es schilderte, hatte er da wohl wirklich Glück gehabt. Wäre es ein anderer als Enrico gewesen, so wäre er jetzt wohl längst nicht mehr er selbst ... Er mochte es sich gar nicht ausmalen. Dann fiel ihm plötzlich etwas auf. “Malik, du siehst auch nicht gerade gesund aus.” Er klang schuldbewusst dabei, weil er zuerst an seinen eigenen Wissensdurst gedacht hatte als an das Wohl des Anderen. Dabei hatte er ihn die ganze Zeit so freundlich behandelt. Malik lächelte und wenn Olivier zu einem späteren Zeitpunkt einmal auf diesen Moment zurückgeblickt hätte, hätte er gemerkt, wie gequält dieses Lächeln doch war. “Nichts weiter. Ich hab nur meine Arbeit getan und bin deshalb ziemlich müde.” “Wirklich?”, fragte Olivier skeptisch und legte den Kopf leicht schief. “Wirklich”, versicherte Malik und wuschelte ihm kurz durch den grünen Haarschopf. “Willst du mir nicht was auf dem Klavier vorspielen?” Olivier nickte und stand dann auf, um zu dem alten Klavier hinüberzugehen, auf dem er schon gespielt hatte, als Enrico ihn überrascht hatte. Olivier ließ sich auf dem Hocker nieder und begann zu spielen. Er spielte eine kurze Weile, aber irgendwie ... heute war etwas anders, er verspielte sich mehrmals und irgendwie wurde er immer genervter und frustrierter. Plötzlich schlug der Junge mit einem wütend-enttäuschten Aufschrei auf die Tasten ein. "Verdammt, ich kann das heute einfach nicht!" Malik war für einen Moment zusammengezuckt, er hatte es noch nie haben können, wenn andere Menschen laut wurden, dann stand er auf und ging zu Olivier hinüber. "Hey, ich fands schön", sagte er vorsichtig und legte dem Jungen eine Hand auf die Schulter. "Es war absolut...!" Olivier fehlten die Worte, er benutzte sonst nie Flüche oder andere Schimpfwörter, weshalb er einen Augenblick mit sich rang und dann verzweifelt zu Boden glitt, kniend hocken blieb und die Hände vors Gesicht schlug. Leise schluchzte er auf. "Das ist ein Alptraum..." Malik ließ sich mit einem Seufzen nieder und zog Olivier in seine Arme. "Ganz ruhig, es wird alles wieder gut..." Natürlich wusste er, dass Oliviers Ausbruch sich weniger auf das Klavierspiel bezog, als auf seine derzeitige Situation. Und es war tatsächlich so. Der Junge wollte einfach nicht begreifen, warum es so undenkbar schwer sein sollte, hier zu entkommen, warum seine Eltern nicht schon längst nach ihm suchten, warum ... er ganz alleine war. Er fühlte sich plötzlich so klein und jämmerlich. Wobei ... Ganz alleine war er ja nicht. Immerhin hatte er ja Malik. Er war hier, hielt ihn im Arm und doch ... Vielleicht war es der Grund, dass sie dieses Schicksal zu sehr verband, als dass er von Malik Trost empfangen konnte. Weil er wusste, dass der andere Junge es genauso wenig ändern konnte, obgleich er sich solche Mühe gab, es für ihn erträglicher zu machen. Plötzlich kam ihm ein Gedanke. "Malik, was muss ich tun, wenn ich mit Zidler sprechen will?" Selbiger blinzelte und verzog das Gesicht. "Glaub mir, was auch immer du vorhast, das wird nicht funktionieren, mit Menschen wie Zidler kann man nicht reden, er würde dir nichtmal zuhören und selbst wenn ... Das Einzige, was du bekommen würdest, wäre ein höhnisches Lachen..." "Ich muss es aber versuchen...", sagte er verzweifelt. "Ich kann doch nicht hierbleiben ... gestern hatte ich vielleicht Glück, aber was wenn wirklich ... Also, wenn jemand..." Es ekelte ihn so sehr, schon allein diese Vorstellung, dass er es gar nicht aussprechen konnte und für einen kurzen Moment hatte Malik sein ganzes Mitgefühl, der ja keine andere Möglichkeit mehr hatte, als hierzubleiben. Fern der Heimat und der Familie und völlig mittellos. Heiße Tränen strömten plötzlich über seine Wangen. Zuhause, im Schutz seiner Familie, war ihm nie bewusst geworden, was für ein immenses Glück er eigentlich hatte. Er hatte nie geahnt, wie grausam diese Welt doch sein konnte und mit einem Schluchzen klammerte er sich in der Kleidung seines Freundes fest. "Ich will nicht hier sein, ich will nicht, ich will nicht..." Beinahe wie ein Kind, das nicht einsehen wollte, dass man das Blau des Himmels nicht in Grün umändern konnte, weil einem Grün besser gefiel... Malik fühlte sich ein wenig hilflos und beruhigend strich er Olivier über den Rücken. Wie hatte er nur sagen können, dass alles gut würde, das war doch der totale Schwachsinn! Nichts würde gut werden und wenn nicht plötzlich ein Prinz auf einem weißen Pferd vorbeikäme, dann würde sich hier auch nichts ändern. "Warte kurz", flüsterte er und drückte Olivier einen Kuss auf die Schläfe, dann stand er auf und holte sich kurz vom Schminktisch eine Haarbürste. Schließlich ließ er sich wieder in den Schneidersitz herunter und begann vorsichtig, Oliviers Haar zu bürsten. Er wusste nicht, wieso, aber ihn selbst beruhigte sowas immer ein wenig. Olivier spürte die angenehm ziehende Bewegung der Bürste in seinem Haar und das leicht massierende Gefühl, das sie auf seine Kopfhaut ausübte. Es fühlte sich gut an. "Weißt du, Olivier...", sagte Malik umsichtig, "ich fürchte, uns bleibt nichts anderes übrig, als das Beste aus dieser Situation zu machen ... Irgendwann ... gibt es vielleicht ... nein, sicher eine Möglichkeit zu fliehen und bis dahin ... Müssen wir irgendwie durchhalten..." Er merkte, wie Olivier ruhiger wurde, das Schluchzen wurde leiser und für einen Moment überlegte er fieberhaft, was er noch sagen könnte, einfach nur, um keine Stille entstehen zu lassen. Stille war immer grässlich. Dann fiel ihm etwas ein. "Ich bin von Ägypten hergekommen, um Geld für meine Familie zu verdienen. Wir haben in sehr ärmlichen Verhältnissen gelebt, musst du wissen... ich habe fast zwei ganze Jahre gespart, um mir die Überfahrt nach Europa leisten zu können und ich bin mit dem Versprechen gegangen, dass es ihnen bald besser gehen würde ... Ich hab noch eine Schwester, weißt du? Sie hat mich mit meiner Mutter aufgezogen, da mein Vater schon gestorben ist, als ich noch klein war, und jetzt ist sie dort geblieben um sich um Mutter zu kümmern ... Man erzählt sich von Ägypten immer als einem schönen, hellen Land, aber in den Armenvierteln der größeren Städte ist es fast noch so wie vor 300 Jahren ... dreckig, heruntergekommen..." Malik seufzte, Olivier war inzwischen ganz ruhig geworden und lauschte gespannt dessen Worten. "Ich dachte, hier in Europa könnte alles besser werden, ich würde Arbeit finden und das Geld, das ich verdiene, meiner Familie schicken und dann nach ein paar Jahren wieder zurückkommen ... Der größte Fehler, den ich machen konnte, war, mich an Zidler zu wenden ... Ich hatte nur das Theater vor Augen und in diesem Wissen hat er mich geködert. Ich dachte, ich hätte eine anständige Arbeit gefunden, aber als sich die Tore der Mühle hinter mir geschlossen haben..." Er ließ den Satz nicht ganz ausgesprochen. "Ich hatte seither auch keine Möglichkeit, meiner Familie irgendeine Nachricht zukommen zu lassen, Zidler bezahlt seine Wachhunde einfach zu gut, als dass man sie bestechen könnte. Ich hab es zwar ein paar Mal versucht, auch mit Methoden, auf die ich nicht unbedingt stolz bin, aber das Schlimmste, was dann passierte, war, dass man mich postwendend an Zidler verraten hat und glaub mir, der Mann hat keine sonderliche Geduld ... Herrje, ich sollte aufhören, dir Angst zu machen, es tut mir leid ... Worauf ich eigentlich hinaus wollte ist, dass ich es wirklich nachvollziehen kann, wie es sich anfühlt, von seiner Familie getrennt zu werden und keine Möglichkeit hat, Kontakt aufzunehmen, wenn man sich völlig machtlos fühlt ... Aber Olivier ... Olli ... Wenn wir zusammenhalten ... dann wird das sicher erträglicher." Dann herrschte eine Weile Schweigen. Olivier fühlte sich einerseits geschmeichelt, weil Malik ihm so viel von sich erzählt hatte, aber andererseits ... bekam er ein schlechtes Gewissen, weil er nur an sich gedacht hatte. Der Großteil der Menschen war hier wohl nicht freiwillig. Es gab bestimmt einige, deren hilflose Situationen Zidler erbarmungslos ausgenutzt hatte. "Du jagst mir keine Angst ein", sagte er nach einer kurzen Weile des Schweigens. "Ich danke dir, dass du mir das erzählst ... ich möchte nicht, dass du ... dass man glaubt, mich wegen meines Alters schonen zu müssen." Malik ließ die Bürste sinken und betrachtete einen Moment das Haar, welches nun seidengleich schimmerte. Kurz rieb er zärtlich seine Wange an der Oliviers. Malik hatte schon immer mehr mit Gesten, als mit Worten Trost spenden können. Plötzlich hielt er allerdings inne. "Olli, hast du Fieber?", fragte er und legte vorsichtig die Hand an dessen Wange. Tatsächlich fühlte sich die Haut wärmer an, als sie sein sollte. "Ich fühle mich gar nicht krank", antwortete der Junge wahrheitsgemäß. Nur so unendlich erschöpft. Malik runzelte die Stirn. "Vielleicht ist das die Aufregung. Hast du dich in den letzten Stunden übergeben oder war dir schlecht?" "Ein wenig, ja", gab der Junge zu. Zu seiner Überraschung erschien ein Lächeln auf Maliks Gesicht. "Also, Olli, du bist todkrank, du gehörst ins Bett. Unmöglich, dass man jemanden zu dir schickt, man könnte sich sonst anstecken." Olivier blinzelte erst einen Moment irritiert, dann verstand er und auch um seine Lippen erschien ein schmales Lächeln. "Du kommst vielleicht auf Ideen. Ich hoffe nur, das fliegt nicht auf..." Malik hob den Zeigefinger. "Na na, wir lügen ja nicht direkt. Du hast ja immerhin wirklich ein bisschen Fieber. Wir ... schmücken die Situation nur zu unserem Vorteil aus..." "Was soll das heißen, ich kann nicht zu ihm?" Enricos Stimme klang drohend und Zidler brach der Schweiß aus. "S-so wie es aussieht, hat sich der Junge eine schlimme Grippe oder so etwas eingefangen, ich kann unmöglich verantworten, dass Sie sich anstecken, Monsieur." Enrico schnalzte ungeduldig mit der Zunge. "Ich bestehe darauf", sagte er resolut. "Ich bezahle Sie nicht umsonst. Und ob ich mich anstecke oder nicht lassen Sie mal ganz meine Sorge sein..." Plötzlich legte er den Kopf schief, als ihm ein Gedanke kam, und er ging drohend ein paar Schritte näher zu Zidler, welcher in sich zusammenschrumpfend, zurückwich. "Könnte es vielleicht eher sein, dass Sie nicht wollen, dass ich ihn zu sehen bekomme, weil Sie etwas mit ihm angestellt haben, Harold? Lügen Sie nicht, Sie wissen, dass ich meine Mittel habe, um die Wahrheit herauszufinden." "I-Ich lüge nicht, Monsieur, ich habe Ihrem Wunsch entsprechend keine anderen Freier zu ihm gelassen. Glauben Sie mir doch, ich würde Sie niemals belügen, Sie sind mein ehrbarster Kunde!" So ein widerlicher Schleimer. Enrico genoss es fast, wie der Mann sich um Kopf und Kragen redete. "Dann sehe ich auch keinen Grund, warum Sie mich nicht zu ihm lassen sollten, Harold." Zidler saß in der Falle, das sah auch er selbst ein. "Na schön, Monsieur, auf Ihre Verantwortung." Enrico rollte die Augen, als Zidler ihm den Rücken zuwandte. Selbst, wenn der Junge an der Pest litt, dann war es ihm gelinde gesagt scheißegal, denn anstecken konnte er sich nicht. Nun, das war ein wenig derb ausgedrückt, natürlich wäre es ihm nicht egal, wenn Olivier krank würde, aber nur so vom Sinn der Sache her. Bedauerlicherweise konnte er das dem stinkenden, schwitzenden und schleimigen Wurm vor sich nicht einfach so mitteilen, da er ihn ansonsten wohl hätte töten müssen. "Harold, ich finde den Weg alleine", knurrte er schließlich, da ihm alles zu langsam ging und rauschte an dem Mann vorbei, welcher sichtlich erleichtert aufatmete, da er nicht mehr das unangenehme Gefühl hatte, Enrico hinter sich zu haben. Enrico brauchte nicht lange, ehe er zu dem Zimmer kam, in welchem man Olivier untergebracht hatte. Schon von weitem schlug ihm der liebliche Duft entgegen und ließ sein Innerstes frohlocken. Allerdings fehlte da etwas, spürte er, als er näher kam. Im ersten Moment war ihm nicht ganz klar, was es war, aber dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen - der Geruch nach schwerer Krankheit fehlte. Als der Vampyr wenig später überraschend die Tür aufstieß und Olivier tatsächlich schlafend in seinem Bett vorfand, geriet er einen Moment ins Stocken. Schlief der Junge wirklich? Oder tat er nur so? Mit katzenhaften, leisen Bewegungen kam er näher und betrachtete das entspannte Antlitz des Jungen, dann allerdings trat ein verhaltenes Grinsen auf sein Gesicht. Was für ein kleines Miststück, das hätte er ihm gar nicht zugetraut. So beugte er sich herunter und murmelte ein amüsiertes "Aufwachen, Prinzessin", ehe er Oliviers Lippen zu einem Kuss entführte. Weich und süß. Allerdings verfehlte das seine Wirkung nicht. Olivier schlug mit einem Keuchen, das von dem Kuss gedämpft wurde, die Augen auf und starrte erschrocken in Enricos Gesicht, nachdem dieser sich nur kurze Augenblicke später wieder gelöst hatte. "W-woher...?" Enrico zwinkerte ihm zu. "Dein Atem war nicht regelmäßig. Außerdem..." Er stockte kurz, beinahe hätte er zuviel verraten. Allerdings war es ihm auch irgendwie gleich, ob der Junge wusste, was er war. "Dein Herzschlag hat dich verraten", raunte er schließlich und hauchte Olivier noch einen Kuss auf die Ohrmuschel, welcher dadurch merklich erschauerte. Der Junge krallte nervös die Hände ins Bettzeug. Woher hätte er denn auch im ersten Moment wissen sollen, dass es ausgerechnet Enrico war, der da kam, das hätte ja sonst jemand sein können. Zürnte er ihm jetzt? Würde er ihn bestrafen? Allerdings konnte er sich das nach Maliks Beschreibung nun nicht wirklich vorstellen. Enrico schüttelte nur lächelnd den Kopf. "Nein, Ciccina, das werde ich nicht, hab keine Furcht..." Dabei strich er ihm über die Wange. Zärtlich, seine Berührung war nicht unangenehm, wie Olivier feststellte, aber er war doch auf der Hut. Er hatte noch zu genau im Kopf, was der Andere das letzte Mal getan hatte und bei diesem Gedanken stieg ihm leicht die Schamesröte ins Gesicht. Enrico, dem das keinesfalls entgangen war, lächelte in sich hinein. Wenn Olivier das schon als sündig empfand, würde er aus dem Beten nicht mehr herauskommen, wenn er ihn bald in den Garten der Lüste entführte. Olivier sah Enrico seltsam an. "Du hast meine Gedanken gelesen." Holla, der Kleine verlernte aber schnell seine guten Manieren. "Aber Olivier", tat er überrascht, "wie sollte ich das können?" Olivier setzte sich auf und starrte ihn aus einer Mischung aus Trotz und Neugier an. "Ich weiß nicht wie, aber du kannst es. Bist du ein Hellseher?" "Ein ... Also wirklich, was denkst du denn von mir, natürlich nicht! Das war sicher nur Zufall. Aber sag du mir doch lieber...", knüpfte er dann an, "was du mit deinem Theater bezweckst . Sag bloß, du wolltest, dass ich dir fernbleibe?" Enrico gab sich gespielt entrüstet und Olivier errötete abermals leicht, da er ertappt worden war. "Ich ... Nein, ich dachte ... Dass jemand anders..." Olivier kam plötzlich in Erklärungsnot, etwas, was ihm sonst nie passierte und plötzlich ließ er gleich einem gescholtenen Jungen den Kopf hängen. Die Situation war peinlich. Mehr als das. Entwürdigend. Enrico wurde plötzlich wider Erwarten ernst, fasste sanft mit dem Zeigefinger Oliviers Kinn, um diesen so dazu zu zwingen, ihn anzusehen. "Olivier, war jemand bei dir, der nicht hätte bei dir sein sollen, hat man dir wehgetan?" Natürlich hätte er auch die Gedanken des Jungen lesen können, aber er wollte lieber mit ihm sprechen, wollte, dass Olivier sich an ihn gewöhnte. Olivier ließ sich einen Augenblick von dem Azurblau der Augen gefangen nehmen, ehe er sich erinnerte, dass er Enrico ja noch eine Antwort schuldig war. "Nein, Monsieur, hier war niemand", sagte er leise. "Ich hatte nur Angst, deshalb ... Haben Malik und ich..." Malik? Bei diesem Namen dämmerte etwas. Ein Junge, dessen Bekanntschaft er schonmal hatte machen dürfen ... Aber das spielte jetzt keine Rolle. Lieber wollte er den süßen Geschmack der sinnlichen Lippen noch einmal kosten und ohne ein Wort drückte er Olivier abermals seine Lippen auf, ganz zart, dann ließ er einen kurzen Augenblick ab und flüsterte: "Keine Furcht, ich werde nicht zulassen, dass jemals ein anderer hier herkommen wird..." Ein abermaliger Kuss und schon bald schloss Olivier überfordert die Augen, spürte, wie Enrico ihn in seine Arme zog, spürte die Zunge, die in die leichte Mulde seiner geschlossenen Lippen glitt und sich sanft Zugang verschaffte und sein letzter Widerstand fiel in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Er öffnete die Lippen, nur einen Spalt, aber das genügte Enrico auch, denn flink glitt seine Zunge dazwischen und ein leises Schnaufen entwich ihm, als er das jungfräuliche Gebiet erkundete. Olivier schmeckte so sagenhaft verführerisch, am liebsten wäre er jetzt sofort über ihn hergefallen, bereits jetzt spürte er zur zu deutlich seine eigene Erregung. Olivier wusste gar nicht mehr, wie ihm geschah. Er wusste, dass das nicht richtig war, dass es gegen Gottes Gebot war, jemanden des selben Geschlechtes zu küssen, nur ... Warum fühlte es sich dann so gut an? Verboten gut. Die feuchte, heiße Zunge, die gleichsam so dominant und doch zärtlich mit der seinen spielte, es verursachte ein Kribbeln in ihm, das von seinem Brustkorb aus sich in seinem ganzen Körper verteilte, bis er irgendwann glaubte, vor Hitze zu verglühen. Abermals löste sich Enrico, nur wenige Millimeter, ein Speichelfaden verband ihre Lippen noch miteinander, dann spürte Olivier, wie dieser sein Handgelenk packte und es zu sich zog, drückte es leicht auf seine Männlichkeit. "Das bist du, Olivier...", hauchte Enrico mit heißem Atem gegen seine Lippen und Olivier erschauerte leicht bei dem Klang seiner heiseren Stimme, griff automatisch zu, spürte die Härte durch den Stoff und er wusste plötzlich nur zu genau, was das bedeutete. Seine Hand erschlaffte und Enrico ließ sie. Stattdessen biss er dem Jungen zärtlich in die Unterlippe und küsste sich dann an dessen Unterkiefer entlang einen Weg zu seinem Hals. Olivier keuchte leise auf, als Enrico dort begann, an der Haut zu saugen und seine Brustwarzen wurden plötzlich hart. Warum fühlte sich schmutzig nur so wahnsinnig gut an? Warum... verlor er so schnell seine Hemmungen, obgleich er wenige Stunden zuvor sogar den Gedanken an Körperlichkeiten als abstoßend empfunden hatte...? "Mh..." Er spürte schon dieses Kribbeln im Unterleib, das er schon das letzte Mal gespürt hatte, aber diesmal war Enrico nicht so gnädig, ihn zu berühren und ihm Linderung zu verschaffen, dieser fuhr lediglich damit fort, ihn an allen Körperstellen zu liebkosen, die er erreichen konnte, biss wenig später sogar kurz durch den Stoff, um an einer Brustwarze zu saugen, während er ihn stets im Kreuz festhielt, damit er nicht zurückweichen konnte. Langsam wurde das Kribbeln unangenehm und ein leises Stöhnen wand sich über seine Lippen, während Enrico eine Hand beinahe unbemerkt von hinten leicht in die Hose des Schlafgewandes schob, das Olivier trug, um die Finger dort auf der zarten Haut des Hinterns ruhen zu lassen. Inzwischen überlief ein Schauer nach dem anderen seinen Körper und die Atmung hatte sich beschleunigt. Enrico spürte, was gerade in dem Jungen vorging und seine Lippen kräuselten sich zu einem kleinen Lächeln. Es war so einfach jemanden, der es noch nie getan hatte, zum Höhepunkt zu bringen, wenn alle Berührungen noch neu für den Körper waren, jede für sich einzigartig. Enrico ließ von den Brustwarzen ab, die inzwischen so steif waren, dass es schmerzen musste, und nahm wieder die vom Küssen noch leicht geschwollenen tiefroten Lippen in Beschlag, welche sich diesmal gierig und ohne zu zögern öffneten, um ihn einzulassen. Und ab da dauerte es nur noch wenige Augenblicke, Olivier spürte, wie sich sein Unterleib verkrampfte, genau wie neulich, nur dass er nichtmal berührt wurde, und wenig später schrie er leise auf, als es ihm kam. Erschöpft und beschämt über die Feuchtigkeit, die er nun in seiner Wäsche spürte, ließ er den Kopf gegen Enricos Brust sinken, welcher ihm durchs Haar strich, ihm einen sanften Kuss darauf hauchte und ihm währenddessen gedankenverloren über die Seite streichelte. Olivier sollte erst wieder etwas zu sich kommen und Enrico ließ ihm diese Zeit gerne, nahm es sogar in Kauf, seine eigene Erregung unbefriedigt zu wissen. Im Laufe der Jahrhunderte hatte er Geduld gelernt. Mehr jedenfalls als er sie zu Lebzeiten je gehabt hatte. Eine Weile lag er so da, in den Armen des Älteren, döste beinahe weg, als ihn dessen warme Stimme ereilte. "Olivier... Würdest du mit mir kommen wollen...?" Der Junge riss die Augen auf. "Wie meinen Sie das?" "Ich meine es, wie ich es sage, Täubchen. Ich würde dich gerne bei mir haben." Oliviers Herz klopfte einen Tacken schneller. Sprach der Ältere tatsächlich davon, ihn hier herauszuholen? Dann könnte er vielleicht sogar bald seine Eltern wiedersehen! "Ich... Ich würde sehr gerne mit Ihnen kommen, aber geht das denn so einfach?" Enrico strich ihm durch die Haare. "Das Einzige, was ich brauche, ist deine Zustimmung. Den Rest lass meine Sorge sein." Doch da gab es plötzlich eine Sache, die Olivier in den Sinn kam und sein Lächeln erstarb, seine Miene wurde bedrückt. "Was ist mit... Malik? Können wir ihn nicht mitnehmen? Er war sehr nett zu mir." "Wenn du das wünscht, Täubchen." Er schloss die Augen. "Das wäre wundervoll." Mit abwesendem Gesichtsausdruck bemerkte Enrico, wie Olivier in den Schlaf hinüber glitt, er ließ ihn jedoch nicht los. Er hatte seinen Gedanken gehört. Die Hoffnung, nachhause zu können, seine geliebten Eltern wiederzusehen und er fühlte sich ein wenig übel, dass er Olivier die Wahrheit verschwiegen hatte. Nun, die Wahrheit... Ganz sicher war er sich nicht, aber er ging davon aus, dass man Oliviers Eltern ermordet hatte. Damit niemand Olivier vermisste. Die Nachbarn würden sicher nicht nach ihm fragen. Dazu waren die Menschen viel zu egoistisch. Sie warfen nichtmal einen Blick über die Straßen, verschlossen die Augen vor dem, was sich direkt vor ihrer Nase abspielte. Sie waren so ignorant, hatten jeden Blick für das Wesentliche verloren. Schon oft hatte Enrico in den letzten Jahrhunderten das Gefühl gehabt, an der Menschheit als solcher zu zerbrechen. Immer wieder hatte er sich auf sie eingelassen, immer wieder war er enttäuscht worden. Er war zwar mit der Zeit vorsichtiger geworden, aber eine Winzigkeit war von seinem menschlichen Ich noch geblieben, die sich danach sehnte, jemanden zu finden. Jemanden für sich... Dieser Gedanke war töricht, das wusste er. Behutsam ließ er Olivier auf das einladende Bett gleiten und zog die Bettdecke um dessen Körper. Ein wenig Fieber schien er tatsächlich zu haben, bemerkte er nebenbei. Aber nicht gefährlich. Fast liebevoll lag der Blick des Vampyrs auf den entspannten Zügen des Jungen, er konnte nicht widerstehen, wollte ihn noch einmal im Gesicht berühren und so strich er ihm ein, zwei Strähnen zur Seite, die Fingerspitzen glitten hauchfein über die Wangen, ehe er sich löste. Dann hauchte er ihm einen letzten Kuss auf die Stirn. "Ich komme bald wieder, Ciccina..." “Zidler!” Wie von Geisterhand schwang die Tür des Zimmers auf, in dem der Vampyr die Anwesenheit des Mannes bemerkt hatte. Zidler, welcher gerade dabei gewesen war, eine neue Ware zu testen, eine junge Frau, die zu ihm gekommen war, um Arbeit zu finden. Mit ausdrucksloser Miene beobachtete Enrico, wie Zidler hektisch von der jungen Frau herunterkletterte und sich umständlich die Hose hochzog. Kein Wort der Welt wäre dem gerecht geworden, welche Abscheu er gegen diesen Mann hegte. “M-Monsieur, stimmt etwas nicht?” Zidler rang um Fassung und Enrico konnte spüren, wie genervt dieser darüber war, in seiner Tätigkeit unterbrochen worden zu sein und das ausgerechnet von ihm. Das Mädchen indes machte sich nicht die Mühe, sich zu bedecken, sondern musterte Enrico stattdessen mit unverhohlener Neugier. “Nein. Ich habe nichts zu beanstanden, ich habe etwas mit Ihnen zu bereden-” Dabei glitten seine Augen kurz zu der jungen Frau, welche sofort ertappt ihren Blick abwandte. “-Alleine.” Zidler nickte unwillig und meinte dann: “Gehen wir ins Nebenzimmer.” Enrico nickte. “Also, was kann ich für Sie tun, Monsieur?” Enrico lächelte. “Ich habe Gefallen an dem Jungen gefunden, er ist so liebreizend.” “Ha, das ist er allerdings”, erwiderte Zidler und konnte den Stolz darüber nicht zurückhalten, dass er derjenige war, der Olivier gefunden hatte. “Hat er Ihnen große Freude bereitet, als Sie ihn genossen haben?” “Das ist vielleicht nicht die passende Beschreibung...”, räumte Enrico ein und lehnte sich lässig an den Türrahmen. “Ich will ihn haben.” Jetzt wirkte der Besitzer des Moulin Rouge wirklich perplex. “I-ich fürchte, ich verstehe nicht.” Plötzlich war ihm Enrico nah. Sehr nah - wie war das möglich, er hatte ihn gar nicht herüberkommen sehen? “Sie haben mich, denke ich, schon sehr richtig verstanden, Zidler. Ich will ihn haben. Ganz. Er ist viel zu schade für dieses verdammte Höllenloch hier.” Dem Mann brach der kalte Schweiß aus. “Monsieur, ich kann ihn unmöglich hergeben, ich habe schon viele Interessenten, die gutes Geld bezahlen würden...” “Und du verstehst, Zidler...”, sagte er leicht höhnisch und grinste, diesmal bewusst so, dass man seine Eckzähne aufblitzen sehen konnte, “dass ich das unmöglich zulassen kann. Ich werde ihn mitnehmen. Und den Ägypter übrigens auch.” “A-aber...” Ein letzter schwacher Protest. Enricos gefährliche Ausstrahlung ließ Harold Zidler die Knie weich werden, “Das dürfen Sie nicht, Monsieur...” Ein plötzlicher Griff an den Hals ließ ihn gurgelnd verstummen, das intensive Blau von Enricos Augen nahm ihn gefangen, brannte sich in die seinen, beinahe schmerzhaft und dieser Blick tat mehr weh, als der Griff um den Hals. “Sie werden keinen Mucks machen, wenn ich jetzt gleich gehe. Sie werden zu ihrem Mädchen gehen und das tun, was sie die ganze Zeit tun wollten. Sie werden vorerst nicht mehr an Olivier und auch nicht mehr an den Ägypter denken. Das werden Sie doch, oder?” Der Blick Zidlers wurde ausdruckslos. Enrico spürte, dass er das erreicht hatte, was er wollte. Dann ließ er ihn unsanft los. “Jesusmaria”, wisperte der Mann, drehte sich um und ging in den Raum, in welchem er die Hure zurückgelassen hatte, schien Enrico gar nicht mehr zu bemerken. “Komm, mein Engel”, wisperte er dem schlafenden Olivier zu, während er ihn mühelos in seine Arme hob, nachdem er eine Decke um den schmalen Leib geschlungen hatte, “wir gehen weg von hier.” Er warf Malik dabei einen Blick zu und der nickte wortlos und presste den Koffer enger an sich. Wenig später verschwand eine Pferdekutsche im Nebelgrau des dämmernden Morgens. Kapitel 3: III. --------------- Olivier wurde von einem Strahl hellen Sonnenlichtes geweckt. Verschlafen blinzelte er und zog sich missmutig die Decke über den Kopf, um nicht geblendet zu werden. So verging eine Weile, ehe er realisiert hatte, dass er sich gar nicht mehr im Moulin Rouge befinden konnte, denn da hatte er ein Westzimmer gehabt. Wobei ... Es war doch Morgen, oder? Er musste sich eingestehen, dass er momentan gar kein Gefühl mehr hatte für die Zeit oder welcher Wochentag heute war. Wenig später gab er sich einen Ruck und ließ die Decke wieder von seinem Gesicht gleiten und unter kleiner Anstrengung - er fühlte sich furchtbar ausgelaugt - setzte er sich schließlich auf. Rieb sich die Augen dabei. Nein, dieses Zimmer kannte er definitiv nicht. Es war auch viel luxuriöser eingerichtet als das im Moulin Rouge. Die Wände erstrahlten in einem schönen Azurblau (Es erinnerte an Meer) und eine Art Bordüre, in welche blaues, türkises und weißes Spiegelglas eingearbeitet war erstreckte sich in einer geraden Linie an den Wänden entlang. Den Möbeln, die im Raum standen, sah man auf den ersten Blick an, was sie einmal gekostet haben mussten, sie waren ohne Zweifel antik und als er seinen Blick zur Decke gleiten ließ, bemerkte er sofort den Leuchter aus Kristallglas. Das Bett, in dem er lag, hatte die Größe eines Doppelbettes, kunstvoll geformte Metallstangen und einen kleinen Baldachin. Der Fußboden war aus Holz und verteilt lagen mehrere weiße Lammfellteppiche im Raum. Olivier ließ nach kurzem Zögern die Beine aus dem Bett baumeln und stellte fest, dass der Schlafanzug, den er im Moulin Rouge getragen hatte, mit einem weißen Nachthemd ausgetauscht worden war und einen Moment wunderte er sich, seit wann er so einen festen Schlaf hatte, dass er so etwas nicht mitbekam. Ein wenig wanderte sein Blick weiter durch den Raum, blieb dann an einem Klavier, einem sehr teuren, hängen und ein kleines Lächeln schlich sich auf seine Züge. Im nächsten Moment klopfte es leise an der Tür und ohne ein 'Herein' abzuwarten, öffnete selbige sich und Olivier, der schon sonst etwas befürchtet hatte, bemerkte, dass es nur Malik war, der, als er ihn erblickte, eine sehr freudige Miene machte. Ehe er noch irgendetwas sagen konnte, fand der junge Franzose sich in eine stürmische Umarmung gezogen, während sich ein Schwall Arabisch über ihn ergoss. "M-Malik...", keuchte er, "du erdrückst mich und außerdem verstehe ich kein Wort!" Nachdem er ihm noch auf jede Wange einen Kuss gedrückt hatte, ließ Malik ihn wieder los, kratzte sich im nächsten Moment peinlich berührt am Kopf. "Verzeih. Ach, Olli, ich bin nur so glücklich, so dankbar ... Tornatore sagte, das hab ich dir zu verdanken!" Abermals drückte Malik ihn an sich und als er ihn wieder losließ sah Olivier, dass dessen Augen feucht geworden waren. "Ich ... Also, ich meine, das ist doch ... selbstverständlich..." Malik, welcher sich ebenfalls auf dem Bett niedergelassen hatte, machte plötzlich eine ernste Miene, während er sich über die Augen wischte, dann sah er ihn intensiv an. "Olivier, in unserer Welt ist das alles andere als selbstverständlich. Ich verdanke dir mein Leben." Nun war es an Olivier, leicht rot zu werden und abwehrend hob er die Hände. "Malik, du übertreibst wirklich!" Der Ägypter legte ihm beide Hände auf die Schultern. "Glaub mir. Ich weiß nicht, wie lange ich das da noch ausgehalten hätte, früher oder später hätte ich sicherlich..." Er brach ab, in seinen Augen blitzte kurz etwas Schmerzhaftes auf. Olivier wusste auch so, was er hatte sagen wollen. "Also...", nahm Malik den Faden wieder auf, "was ich sagen will, ist, dass ich im Gegenzug alles für dich tun will, damit du dich wohl fühlst - nicht nur, weil Monsieur Tornatore es mir aufgetragen hat, es ist mein Wunsch.” Olivier schluckte leicht, war überwältigt von so viel Hingabe. Aber er vermutete, es lag wohl wirklich an Maliks arabischen Wurzeln. Soviel er mitbekommen hatte, waren die Menschen in den südlichen Ländern viel warmherziger zueinander, viel aufopfernder und gingen respektvoller miteinander um. “Na schön, ich...”, nahm er schließlich den Faden auf, als ihm etwas an Malik auffiel. Der ältere Junge trug auf einmal andere Kleidung ... Bunter, orientalischer und nicht mehr so zwanghaft europäisch, worin er immer ausgesehen hatte, als fühle er sich nicht wohl. Und die Stoffe, sie wirkten sehr kostbar. “Was wolltest du sagen?”, durchdrang die warme Stimme Maliks seine Gedanken und seine ursprüngliche Frage vergessend, meinte er: “Wie lange habe ich geschlafen, dass du dir in der Zwischenzeit eine völlig neue Garderobe leisten konntest?” Malik grinste daraufhin schief. “Der Herr des Hauses hat eine eigene Schneiderin und die sich dem mit Freuden angenommen ... Du wirst übrigens auch noch neu eingekleidet, du hattest ja kaum eigene Sachen im Moulin Rouge dabei. Aber ... Sag mal, möchtest du nicht gerne ein Bad nehmen?” Olivier blinzelte, sagte dann: “Das wäre ... der Himmel auf Erden.” Zu seiner Überraschung schritt Malik im nächsten Moment zur Tür, um sie aufzureißen. Allerdings wurde ihm die Frage, die ihm auf der Zunge lag, schon von selbst beantwortet. Er musste sich ein Lachen verkneifen, als er ein Hausmädchen halb ins Zimmer stolpern sah, während das andere erschrocken zurückwich. “Ihr habt es gehört, schätze ich”, sagte Malik feixend und blickte eines der Mädchen an, welches daraufhin leicht errötete. “Lasst ein Bad ein und die andere kann der Schneiderin Bescheid sagen, dass sie nachher gleich ein paar Sachen anpasst. Und der Koch sollte beizeiten etwas auf den Tisch zaubern.” Das eine Mädchen nickte leicht und machte einen Knicks, der wohl eher Olivier galt als ihm und zog die andere am Handgelenk mit sich weg, um das Aufgetragene zu erledigen. Wenig später ließ Olivier sich in das heiße, duftende Badewasser gleiten, wobei er wohlig seufzte und halb die Augen schloss, während Malik neben ihm auf einem Schemel platz genommen hatte. “Sag mal...”, begann der Jüngere schließlich, “ich möchte nicht unhöflich sein, aber muss es sein, dass ich sogar hier beaufsichtigt werde?” Malik verzog entschuldigend das Gesicht. “Ich weiß auch nicht wieso, aber Tornatore sagte, ich sollte aufpassen, dass du ... Naja, nichts Dummes anstellst.” Damit meinte er wohl weglaufen. Dass der Italiener dabei vielleicht auch um seine Sicherheit besorgt war, kam ihm dabei nicht in den Sinn. Naja, es hätte schlimmer sein können, dachte er bei sich. Hier lief er wenigstens nicht mehr in Gefahr, von einem widerlichen Mann vergewaltigt zu werden. Außerdem wäre es hier sicherlich einfacher, seine Familie zu kontaktieren und schließlich nachhause zu kommen. Ein wenig wohler fühlte er sich nun doch, die Schrecken der letzten Tage lösten sich gerade mit dem Wasserdampf in Luft auf. Entspannt ließ er den Kopf zurücksinken und schloss die Augen. “Wo ist Enrico eigentlich?” Maliks rechte Augenbraue zuckte erstaunt in die Höhe. Soso, da nannte er ihn schon beim Vornamen? Malik legte den Kopf schief. “Ich weiß es nicht, tagsüber scheint er meistens beschäftigt zu sein ... Also rechne so in den frühen Abendstunden mit ihm”, fügte er dann schulterzuckend hinzu. Und tatsächlich, es war bereits Abend geworden, als Enrico Olivier mit seiner Aufwartung beehrte. Er wirkte sichtlich erfreut, dass Olivier wieder zu Bewusstsein gekommen war. "Hast du dich eingelebt?", fragte er höflich und ließ seinen Blick über die zierliche Gestalt seines Gastes gleiten, welcher daraufhin zögerlich nickte. "Monsieur, ich ... Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, ich möchte keinesfalls undankbar erscheinen, aber ich ... Ich möchte gerne meine Familie sehen, sie machen sich sicher Sorgen und sollen wissen, dass es mir gut geht." "Sind deine Eltern nicht auf Geschäftsreise, Olivier?", wagte Enrico nachzufragen und hoffte, Olivier möge es nicht auffallen, dass er das seinen Gedanken entnommen und nie danach gefragt hatte. "Ja, das ist richtig. Aber ... Naja, diejenigen, die für die Weile auf mich achtgeben sollen, sind auch so etwas wie ein Teil meiner Familie, sie ... sahen mich praktisch aufwachsen..." Wäre Enrico weniger beherrscht gewesen, hätte er sich wohl auf die Unterlippe gebissen. "Du solltest dich erst noch ein wenig erholen", sagte er schließlich ausweichend. "Du warst sehr krank die letzten Tage. Aber ich verspreche dir, dass ich sehe, was ich tun kann. Wir können ihnen eine Nachricht schicken, dass es dir soweit gut geht..." Enrico bezweifelte zwar, dass das noch irgendeinen Sinn hatte, aber er wollte Olivier vorerst nicht allzu sehr aufregen, der Junge hatte schon genug mitgemacht, die Geschichte mit der Entführung musste ihm noch in allen Knochen stecken. Allerdings sollten keine zwei Tage vergehen, bis Olivier es nicht mehr aushielt und Enrico regelrecht dazu drängte, endlich seine Familie aufzusuchen, zurückzukehren. "Ich kann dich unmöglich alleine gehen lassen, Olivier", protestierte der mit einem schiefen Blick Richtung Fenster, sah die Sonne untergehen, den Himmel in einem schönen Abendrot erstrahlen. "Dann soll Malik mich begleiten", hielt der Junge dagegen. "Ach, und du glaubst allen Ernstes, dass der ein sicherer Schutz ist für dich, oder?" Olivier verengte die Augen und sah Enrico böse an. "So langsam glaube ich, dass du mich gar nicht hier weggehen lassen willst, kann das sein?" "Himmel", stöhnte der Ältere resignierend und fuhr sich durch das hellblonde Haar. "Na schön, du kleiner Quälgeist, ich werde dich selbst begleiten, das erscheint mir am sichersten." Damit schien Olivier sich zufrieden zu geben und Enrico hielt es auch für das Beste. Wenn Malik wirklich wehrhaft gewesen wäre, dann hätte er sich gar nicht erst so lange im Moulin Rouge einsperren lassen, außerdem traute er dessen Gesinnung noch nicht ganz über den Weg. "Wann machen wir uns auf den Weg?" "Geduld ist eine Tugend, Signorino", tadelte Enrico leise, gab dann einem Diener den Auftrag, die Kutsche fertig zu machen. Immerhin lag Oliviers Heim ein gutes Stück weg von hier und zu Fuß brauchten sie wohl eine Ewigkeit. Außerdem hätten sie dann wohl bei Dunkelheitseinbruch gehen müssen, da Enrico es nicht mochte, wenn das Licht der Sonne ihm unangenehm in die Haut zwickte. Auch wenn es ihn schon lange nicht mehr verbrennen ließ, die roten Flecken waren äußerst unschön und Enrico ein von Grund auf eitles Wesen. Während Enrico verborgen im Schatten der zugezogenen Vorhänge saß, blickte der Jüngere immer wieder ungeduldig aus dem Fenster, während die schlanken Finger miteinander spielten, nervös, und keine Ruhe fanden. Olivier war angespannt, wer würde es ihm verdenken? Der Junge zuckte zusammen, als er plötzlich die Hand Enricos auf seiner eigenen spürte, das Spiel der Finger erstarb und ein wenig unsicher blickte er den Anderen an. Für den Moment war vergessen, was zwischen ihnen geschehen war, was Enrico mit Olivier gemacht hatte, für den Moment war Olivier im Stillen unendlich dankbar, dass er nicht alleine war. Auch wenn sie sich kaum kannten. "Kann diese Kutsche denn nicht schneller fahren?", murrte er leise. "Schh." Der Vampyr hauchte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Schläfe. "Es wird nicht besser, wenn du dich nervös machst. Erzähl mir doch lieber ... etwas von deiner Familie." Er wollte den Jungen ein wenig ablenken. "Nun ja ... Also mein Vater ist Importeur für Tee, er reist in der ganzen Welt umher. Ich weiß nicht, ob er schon zurück ist, ich hab das Zeitgefühl verloren, aber wenn nicht, dann müsste er jetzt noch in China sein. Er ... er sagte, dass er der erste ist, der mit China direkten Handel treibt..." Olivier lächelte schwach. "Mein Vater ist ein Mensch, der manchmal übers Ziel hinausschießt und was er anpackt, wird entweder die reine Katastrophe oder stellt sich als wahre Goldmine heraus. Er hat öfter Glück, als er eigentlich verdient hat, sagt er immer ... Und meine Mutter ... Sie ist diejenige, die darauf bestanden hat, mich in allem Möglichem und Unmöglichem zu unterrichten. 'Wo dein Vater doch nur seine getrockneten Kräuter im Kopf hat'. Das sagt sie ziemlich oft. Ich hab schon mit vier angefangen Klavier zu lernen, ich habe das Gefühl, sie wollte einen zweiten Mozart aus mir machen...” Interessiert lauschte Enrico der Erzählung des Jüngeren. Schließlich rückte der Zeitpunkt ihrer Ankunft näher. Die Läden waren dicht. Das wunderte Olivier, denn seine Mutter bestand immer darauf, dass möglichst viel Licht ins Haus gelassen wurde und die Diener hielten sich meistens auch daran. Das nervöse Gefühl machte sich wieder in der Magengegend breit. Enrico war im Schatten der Kutsche stehengeblieben, als allerdings die letzten Strahlen der Sonne verschwanden, stieß er sich ab, um dem Jungen zu folgen, welcher gerade die Türklingel betätigt hatte. Nichts. Es blieb still. Olivier lauschte angestrengt. Da waren keine Schritte, die sich eilten, den Besucher hereinzulassen. Keine aufgeregten Stimmen, einfach nur Stille. Die Tür war verschlossen. Der Kloß in Oliviers Hals wuchs. Enrico trat wortlos an ihn heran und mit einem Schwenk seiner Hand klickte es, die Tür öffnete sich. Der Knabe hatte momentan anderes im Sinn, als sich darüber zu wundern. Ihm gingen die Augen auf, als er in das Haus hineintrat. "W-was zum...", entfuhr es ihm fassungslos. Die Möbel waren abgedeckt, mit weißen Tüchern, ebenso die Bilder an den Wänden. Hier sah es aus, als ... Sei die Familie für eine sehr, sehr lange Zeit in Urlaub gefahren. "Wo sind denn alle...", flüsterte Olivier, der die Welt nicht mehr verstand, und ging ein paar hastige Schritte in das Haus hinein, Enrico folgte ihm lautlos. "Hallo? Sebastián? Nanette?" Seine Schritte trugen ihn zur Treppe und mit jedem Schritt, den er nach oben machte, sank sein Mut etwas weiter hinunter. Enrico spürte, wie Oliviers Herz in seiner Brust flatterte, wie das eines gefangenen Vögelchens. Es machte ihm Sorgen. Er spürte, was hier vor sich gegangen war. Nur warum brachte er es nicht über sich, Olivier einfach die falschen Hoffnungen zu ersparen und ihm die Wahrheit zu sagen? Er seufzte und setzte an, die Treppe nach oben zu steigen. So auch in seinem Zimmer. Abgedeckt mit weißen Planen. Was in aller Welt...? Was war mit seinen Eltern? Waren sie etwa nicht zurückgekehrt? Aber wer war dann hierfür verantwortlich? Sollte etwa Zidler...? Wut stieg in ihm auf. Das war so utopisch, dass es zu diesem ekelhaften Mann zu passen schien. Seine Eltern hätten ihn niemals einfach so zurückgelassen ... Oder doch? Einen Moment stand er still da, ließ die Eindrücke auf sich wirken, dann wallte Wut in ihm auf und energisch und mit einem kleinen Aufschrei riss er die nächstbeste Plane von einem Gegenstand herunter. Sein Bücherregal. Wie er es zurückgelassen hatte. Er riss ein Buch aus dem Regal und Brehms 'Tierwelt' sauste mit einem gewaltigen Schlingern durch die Luft, ehe es von er Wand zum Stillstand gebracht wurde und daran herunterfiel. Seiten verknickten. Olivier starrte das Buch an, wie es da lag. Dann packte er ein weiteres, diesmal ohne auf den Titel zu achten. Wie konnten sie hier nur stehen, als sei nichts gewesen? Als sei alles so, wie immer? Tränen stiegen dem Jungen in die Augen. "Verflucht!", schrie er. "WO sind sie? Wo sind sie?" Die Tränen strömten ihm über die Wangen und ihm wurde schlecht. "Das kann nicht sein! Das kann, darf nicht- lass mich los!" Ohne dass er es bemerkt hatte, war Enrico an ihn herangetreten und hatte ihm eine Hand auf die sich schnell hebende und senkende Schulter gelegt. Olivier hatte sie schwer atmend und mit Abscheu in der Stimme weggeschlagen. "Du bist doch kein Stück besser! Du hättest mir helfen können, ich wette, du wusstest ganz genau, dass ich sie nicht wiedersehen würde, oder? Du wusstest es!" Enrico wandte den Blick nicht ab, als Olivier ihn so anklagend anfunkelte, er wusste, er hatte den Zorn das Knaben verdient, wenigstens zum Teil. Er tat ihm so Leid. Er spürte den Schmerz, der den Jungen innerlich zerriss und überlegte nicht lange, sondern zog ihn an sich. Auch wenn er sich wehrte. Olivier warf ihm alles Mögliche an den Kopf, wehrte sich, zappelte wie eine Katze, die einem Tierfänger in die Falle gegangen war. Aber davon ließ der Italiener sich nicht beeindrucken, er hatte in seinem Leben schon viele Katzen beruhigt und gezähmt. Irgendwann erlahmte die Gegenwehr Oliviers und machte einem verzweifelten Schluchzen platz. Enrico spürte die Finger, die sich in sein Hemd krallten, panisch, verzweifelt, spürte, dass der Knabe gefallen wäre, hätte er ihn nicht gehalten. Sanft kraulte er durch den seidenen Haarschopf. "Enrico...", erreichte ihn die Stimme Oliviers, "sind ... sind sie tot?" Die Mimik des Vampyrs blieb ausdruckslos. "Ich weiß es nicht. Aber ich vermute es. Es tut mir so leid, Olivier." Für Olivier war eine Welt zusammengebrochen. Seine Eltern waren weg - tot? Die Bediensteten wie vom Erdboden verschluckt, keine Nachricht, nichts. Man könnte die Leute fragen, aber mit Leuten ist das so eine Sache. Vielleicht war es auch besser, man dachte, Olivier sei nicht mehr am Leben. Sonst würde man ihm das Leben schwermachen. Olivier wusste ganz genau, dass er eigentlich das Erbe antreten musste in so einem Fall, aber er konnte nicht. Er brachte es nicht über sich. Wie sollte er denn in einem Haus leben, das so tot und kalt war? Eine Woche. Es war höchstens eine Woche gewesen. Innerhalb einer Woche war sein Leben zerstört worden. Und er hatte niemanden mehr. Er war ganz alleine. Ganz allein. Eine Gänsehaut überzog seinen Körper. Eine beängstigende Vorstellung. Doch halt ... Allein? Da war noch Enrico, aber den kannte er so gut wie gar nicht, im Grunde wusste er doch nichts über den charmanten Italiener. Wer wusste es, vielleicht hatte dieser sogar ... Nein, das war zu utopisch. So wenig er Enrico auch kannte, so wenig konnte er sich vorstellen, dass dieser so subtil vorgehen würde, um ihm zu schaden. Wenn er ihm schaden hätte wollen, dann hätte er ihn doch erst nicht umwerben brauchen. Trotzdem. Ob er es nun wahrhaben wollte oder nicht. Außer Enrico hatte er erstmal niemanden mehr, der für ihn sorgen konnte. Gut, er hatte Malik, aber der war auch in gewissem Maße von Enrico abhängig. Das Schluchzen wurde langsam weniger, stattdessen verfiel der Junge ins Starren und nur der sanfte Druck um seine Schultern brachte Olivier dazu, aufzusehen. "Vielleicht wäre es besser, wenn wir gehen würden?" Er nickte wortlos. "Möchtest du irgendetwas mitnehmen? Ich kann ... will für dich sorgen, das bin ich dir schuldig..." "Ich ... möchte nichts mitnehmen ... Es soll so bleiben wie es ist. Ich ... ertrag das hier nicht mehr, dieser Anblick ist grässlich." Auch wenn er sich auf nichts Genaues bezogen hatte, so wusste Enrico doch genau, was er meinte. Diese Unberührtheit. Als wäre niemals jemand hier gewesen, als wäre hier nie ein Junge aufgewachsen, umgeben von der liebevollen Fürsorge seiner Eltern und der Aufmerksamkeit seiner Diener. Die Stille konnte einen durchaus wahnsinnig machen, das wusste Enrico am Besten. Und wenn man erstmal 3000 Jahre lebte, dann machte einem der Zerfall der Welt mehr und mehr zu schaffen. Besonders wenn man ihm immer und immer wieder entfliehen muss und einem nichts bleibt, als tatenlos zuzusehen, dass sich alles verändert, nur man selbst nicht. Mit sanftem Druck legte der Italiener Olivier den Arm um die Schultern und führte ihn, da diesem schon wieder die Tränen den Blick vernebelten, Richtung Treppe nach unten. Die milde Spätsommernacht mochte nicht so ganz zu der niedergedrückten und wehmütigen Stimmung passen, die ihnen beiden nun anhaftete. Sie sprachen nicht, aber instinktiv suchte Olivier, als sie später wieder in der Kutsche saßen, Enricos Nähe und dieser verwehrte sie ihm nicht. Den Arm nun um die schmale Taille spürend, presste sich Olivier an die Seite des Anderen. Die Nähe gab ihm das Gefühl, nicht völlig allein zu sein. Der Tränenfluss versiegte irgendwann, die Augen brannten ihm unangenehm, deshalb schloss er sie. Öffnete sie sogleich wieder, da die Bilder seiner Eltern vor seinem inneren Auge auftauchten, die er jetzt nicht ertrug. Er fühlte sich so müde, dabei war es noch gar nicht so spät in der Nacht, aber schlafen wollte er nicht. Ein jeder kennt wohl dieses Gefühl, dass man sich den Schlaf herbeisehnt, sich aber gleichermaßen vor seiner Stille und Finsternis fürchtet. Sich fürchtet, wehmütig zu träumen. Enrico musste Olivier wenig später zum Haus zurücktragen, da dieser sich nicht rühren mochte, und er tat es gern. Er mochte das Gefühl, gebraucht zu werden und er ... Ja, er genoss die Nähe des Jungen, auch wenn es eher unglückliche Umstände waren, die sie zusammengeführt hatten, und er kam sich ein wenig schlecht dabei vor, beim Gedanken daran, dass er froh darum war, dass sich ihre Wege gekreuzt hatten. Schon jetzt hatte er eine spürbare Schwäche Olivier gegenüber entwickelt. "Warum isst du denn schon wieder nicht", stieß Malik aus, als er den nicht angerührten Teller Oliviers ins Visier nahm. Er machte sich Sorgen. Und gleichsam nervte es ihn irgendwie, dass es niemand für nötig zu halten schien, ihn mal irgendwie ins Bild zu setzen. Das einzige, das er mitbekommen hatte, war, dass Olivier trauerte. Nur die genauen Umstände teilte ihm keiner mit. Allerdings sah der junge Franzose so angeschlagen aus, dass er es nicht über sich brachte, ihn danach zu fragen und womöglich noch Sand in die Wunde zu streuen. "Ich hab keinen Hunger", murmelte Olivier überflüssigerweise. "Das sehe ich", erwiderte Malik kategorisch. "Möchtest ... du darüber reden? Wenn nicht, ist das völlig in Ordnung, ich..." Olivier sah ihn an, versuchte dabei zu lächeln. Es misslang. "Schon gut, ich ... habe nur meine Wurzeln verloren und überlege, wie es weitergehen soll..." Malik legte den Kopf schief. Dann ging er zu Olivier und setzte sich zu diesem an das kleine Tischchen, an welchem er gesessen hatte, den Ellebogen abgestützt. Sanftes Flieder traf auf Blau. "Hör mir mal zu", sagte er sanft, "ich weiß, wie schwer es ist, seiner Heimat Lebewohl zu sagen. Nach vorne in eine ungewisse Fremde zu blicken. Und ich kenne auch die Gedanken, die man dabei hat. Olivier." Er legte seine Hand auf die des Franzosen, die nicht aufgestützt war und auf dem Tisch ruhte. "Deine Wurzeln kann dir niemand nehmen. Wie sehr man dich auch quälen und verletzen mag. Du bist, was du bist. Daran wird sich nie etwas ändern." Diesmal lächelte Olivier leicht, dafür aufrichtig. "Danke, Malik...", sagte er. Auch wenn der Schmerz über den Verlust tief saß, hatte er gerade begriffen, dass er ihn nicht alleine verarbeiten musste. Seine Gedanken schweiften einen Moment wieder zu Enrico. Wie so häufig in der letzten Zeit. Es war ihm immer noch ein Rätsel, wohin dieser des nachts verschwand. Da war eine kleine Sache in seiner Erinnerung, eine Sache, die nicht stimmte ... Aber er kam nicht darauf, was es war. Er sollte es noch früh genug merken. Lautlos glitt das Opfer zu Boden, dessen Blut er sich gerade einverleibt hatte. Er ließ sie niemals am Leben, genoss es, den letzten Tropfen zu trinken. Es gab ihm Macht. Er aalte sich gerne in dem Gedanken, dass er allein es vermochte, jemanden das Leben aushauchen zu lassen. Die Menschen fürchteten Geschöpfe wie ihn, auch wenn ihr Glaube daran im Lauf der Jahrhunderte abgeschwächt war. Einen Moment hielt er inne, auf einem Dachgiebel stehend, das weiße Haar schimmerte im Mondlicht eigentümlich Sein Durst war gestillt, die Sinne geschärft. Er hatte sich nicht getäuscht. Es war tatsächlich er. Ein schmales Grinsen zierte plötzlich sein Gesicht. Er hatte sich tatsächlich hier niedergelassen. Ein anderer Bluttrinker hätte wohl seine Mühe gehabt, ihn aufzuspüren, nicht so er. Sie waren verbunden durch ihr Blut, Enrico hatte ihn schließlich zu dem gemacht, was er heute war. Keinem von ihnen war es möglich, den anderen auf lange Zeit von sich wegzusperren, auch wenn sie sich in den letzten Jahrhunderten gemieden hatten. Das hieß, er hatte Enrico gemieden, wie es um selbigen bestellt war, wusste er nicht und es war ihm auch egal Mit geschmeidigen Bewegungen huschte der filigran gebaute Vampir von Dach zu Dach, bis er schließlich an seinem Ziel war. Ein vornehmes Anwesen in dem Nobelviertel der Stadt, ganz Enricos Stil. Als er sich dem Haus näherte, stieg ihm ein weiterer Geruch in die Nase, sein Grinsen wurde einen Augenblick breiter. Es roch unmissverständlich nach Sex. Das war gut, denn so war der Überraschungsmoment auf seiner Seite. Enrico wurde während des Liebesspieles meistens ein wenig nachlässig, da er es als lästig empfand, sich um etwas Anderes zu kümmern als seinen derzeitigen Bettpartner. Schließlich ließ er sich lautlos auf dem Sims nieder, blickte, im Dunkel verborgen, in das helle Zimmer hinein. Er sah nicht allzu viel, nur Enricos Geruch war allgegenwärtig und wurde mit einem anderen vermischt. Einem, den er nicht kannte, aber er gefiel ihm. Er war süß, orientalisch und sinnlich und irgendwie vertraut. Es roch ein wenig nach ... Heimat? Bakura wurde neugierig und schließlich hielt er es nicht mehr aus und er beschloss, sich bemerkbar zu machen. Einem Windstoß gleich glitt schließlich das große Fenster auf, brachte Kälte mit hinein, und nachdem der Vampyr zu Boden geglitten war, richtete er sich auf und schnurrte amüsiert, "Dein Geschmack hat sich nicht geändert, Kaiser." Enrico, welcher sich für eine Weile Malik zugewandt hatte, lächelte in sich hinein. Natürlich hatte er Bakuras Anwesenheit in der Stadt bemerkt, allerdings hatte er nicht die Scham, sich dadurch von seinem Vorhaben - nämlich dem Stillen seiner Lust, da er sich bei Olivier zurückhielt - abbringen zu lassen. Jedoch hatte er zumindest innegehalten, wandte dann langsam das Gesicht. “Und wie ich sehe, hast du immer noch keine Manieren, Prinz der Diebe.” Trotzdem hatte der andere Vampyr in einem Punkt recht behalten, nämlich dass er während des Liebespieles zu abgelenkt gewesen war, um das Näherkommen zu bemerken. Bakura ließ ein kurzes, süffisantes Lachen hören und kam dann langsam näher. Allerdings galt sein Augenmerk weniger Enrico sondern vielmehr demjenigen, mit dem dieser sich beschäftigt hatte - unmissverständlich die Quelle dieses betörenden Geruches. Enrico folgte seinem Blick zu Malik, welcher immer noch ziemlich erstarrt unter ihm lag und Bakura anstarrte wie eine Erscheinung, und er beschloss leicht ärgerlich, dass es vorerst keinen Sinn mehr hatte. So zog er sich aus Malik zurück, welcher für einen Moment scharf die Luft einzog und sofort die Beine zusammenpresste, versuchte, sich zu bedecken. Der Blick Bakuras, der nun interessiert auf ihm lag, war ihm unangenehm, er machte ihn nervös. Wer war der Fremde, wo war er plötzlich hergekommen? Und wieso wirkte der so ... Ja, überirdisch? Mehr noch als Enrico. Die Haut, welche die Farbe von Elfenbein hatte, wirkte so glatt und makellos und er ertappte sich dabei, wie er den Wunsch hegte, sie zu berühren, ob sie sich auch genau so anfühlte. Und das Haar ... So weiß wie Schnee, in welchem kleine Kristalle saßen, die vom Licht reflektiert wurden. "Er ist hübsch", kommentierte Bakura, nachdem er sich am Bettrand niedergelassen hatte, während er der Versuchung nicht widerstehen konnte, mit dem Zeigefinger über die leicht geröteten Lippen Maliks zu streichen. Wie sie wohl schmeckten? Und das war es, was Malik wieder aus seiner Starre holte, und als er ihn berührte, war er kurz versucht, auszuholen und ihm eine gepfefferte Ohrfeige zu geben, allerdings hielt er sich im letzten Augenblick zurück. Die beiden waren zu zweit und Malik wusste schon allein von Enrico, dass dieser mühelos mit ihm fertig wurde. Nicht dass er jemals einen größeren Aufstand gewagt hätte, immerhin wurde er so in Oliviers Nähe geduldet, aber dennoch. “Wo hast du ihn her?” Er warf Enrico einen Blick zu und im Stillen waren sie sich einig, wie auch schon Jahrhunderte zuvor. Malik zitterte vor unterdrückter Wut und vor allem vor Scham. Dieser Mann sprach über ihn, als sei er ein wertvolles Ausstellungsstück oder ein Haustier, das man sich neu zugelegt hatte. Enrico, dem das Zittern Maliks nicht entgangen war, erwiderte mit einer hochgezogenen Augenbraue: “Wieso? Gefällt er dir?” Malik würde er gerne teilen. Warum auch nicht? An ihm hing er nicht sonderlich, er diente nur als Mittel zum Zweck und leistete Olivier ein wenig Gesellschaft, wenn er keine Zeit für diesen hatte. Wer wusste es, vielleicht machte er Malik Bakura später einmal zum Geschenk. Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel, als er sich einen dünnen Morgenmantel griff, um sich nachlässig etwas anzuziehen, dabei ließ er Bakuras Mimik nicht aus den Augen. Er wusste auch so, dass Malik ganz seinen Geschmack traf. "Eifersüchtig?", gurrte der Vampyr und löste sich einen Moment von den ihm zweifelsohne schmeichelnden Blicken Maliks, um Enrico in einen Kuss zu verwickeln. Nicht fordernd, dennoch bestimmend, seine Zunge strich über die geöffneten Lippen. Enrico ließ es geschehen, begrüßte es sogar, zu lange hatte er die Nähe Bakuras missen müssen. Zum Abschluss biss der Weißhaarige ihm leicht in die Unterlippe, dann ließ er seinen Blick wieder auf Malik ruhen. Er war sich sehr wohl der Wirkung bewusst, die er auf den jungen Ägypter ausübte. Dann sprach er leise ein paar Worte auf Altägyptisch an Malik gewandt, zu gespannt, ob er verstand, was er zu ihm gesagt hatte, während er sich gemächlich ein paar Knöpfe seines Hemdes öffnete. Enricos linke Augenbraue zuckte arrogant in die Höhe, während er sich mit vor der Brust locker verschränkten Armen gegen einen kleinen Tisch lehnte und Bakuras Tun dabei nicht aus den Augen ließ. “Sehr sogar”, antwortete er halb im Scherz, halb im Ernst. Durch den Kuss der beiden Männer so in den Bann gezogen, hätte Malik fast vergessen zu antworten. Auch wenn es ihm widerstrebte, folgsam und unterwürfig zu tun, so ahnte er, dass diese Taktik erst einmal gesunder war. “Malik Ishtar”, antwortete er leise und fragte sich im Stillen, ob der Weißhaarige aus Ägypten stammte - er sprach akzentfrei und flüssig, aber sein Aussehen erinnerte so gar nicht an einen Araber. Mit den Bewegungen einer Katze näherte er sich Malik, kam seinem Gesicht näher und blies ihm seinen kalten Atem auf die erhitzte Haut. Malik schnappte nach Luft und erschauerte, sein Körper kribbelte und er konnte es sich nicht erklären. Das einzige, das er wusste, war, dass er sich ausgeliefert fühlte. Er wandte den Blick ab vor Scham darüber, dass es ihn leicht erregte. "Nicht doch", sagte Bakura nun wieder auf Ägyptisch, wohl wissend, dass sich Enrico im Stillen darüber ärgerte, der es noch nie hatte leiden können, wenn man in einer Sprache sprach, die er nur lückenhaft beherrschte. Dabei fuhr er mit einer Hand leicht zwischen ihre Körper, berührte das halbaufgerichtete Glied des Jüngeren dabei, umschloss es schließlich mit festem Griff. "Nichts wofür man sich schämen müsste, Nefer", wisperte er ihm nun ins Ohr. Äußerst anregend - er spürte das Blut in dem jungen Körper rauschen und leckte sich daraufhin leicht über die Lippen. Er warf Enrico einen leichten Seitenblick zu, der behielt seine ausdruckslose Miene bei, allerdings sah er tief in dessen Blick verborgen etwas aufblitzen. Und Bakura wusste, dass das Spiel beginnen konnte. Kapitel 4: IV. -------------- Ich habe mich dazu entschieden, das Adult Kapitel, das zuvor vor diesem noch zu finden war, zu löschen, da ich es die ganze Zeit schon irgendwie schwach fand. Ich gebe euch allerdings gerne eine kleine Zusammenfassung, damit ihr keine Fragezeichen in den Augen habt: Bakura hat sich mit Malik vergnügt, dessen Spaß dabei blieb fraglich. Später schlafen Enrico und Bakura miteinander, Letzterer offenbahrt eine sehr submissive Seite Enrico gegenüber. Die enge Bindung, die die beiden in der Vergangenheit hatten, wird noch einmal deutlich. Der letzte Absatz des vorherigen Kapitels: [...]Wenig später lagen sie beieinander und Enrico stellte die Frage, die ihm schon die ganze Zeit auf der Seele gebrannt hatte. “Wo warst du nur so lange?” Dabei hatte er sich auf den Bauch gedreht und den Kopf auf den verschränkten Armen abgestützt. Bakura sah ihn nicht an. “Ich habe vieles gesucht und nichts gefunden.” Eine rätselhafte Antwort, aber Enrico verstand ihn auch so.[...] Schritte auf dem Flur hatten Olivier geweckt. Er hatte nur einen leichten Schlaf gehabt und jetzt war er neugierig, wer da zu so später Stunde noch wach war. Auf leisen Sohlen tapste er Richtung Tür, um diese einen Spalt aufzuschieben. Was er dann sah, erschreckte ihn ziemlich. Enrico, der Malik scheinbar mühelos auf seinen Armen an seinem Zimmer vorbei trug. War Malik ohnmächtig? Er hatte die Augen geschlossen und er meinte, Blut erkannt zu haben. Olivier schluckte, ein Kloß bildete sich in seinem Hals. Oder bildete er sich das vielleicht nur ein? Nein, er ... Er musste sichergehen. Malik war immerhin sein Freund. Als er die Schritte des Italieners abermals auf dem Gang hörte, aus der entgegengesetzten Richtung kommend, schluckte er noch einmal, wartete dann, bis er eine Tür zufallen hörte, und huschte dann im nächsten Moment auf den Gang hinaus. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich etwas über sein Nachtgewand zu ziehen. Eilig eilte der Junge über den nächtlichen Flur, zu Maliks Zimmer hin. Leise schob er es auf. "Malik?" Keine Antwort. Seltsam. Als er eintrat, sah er, dass niemand auf dem Bett lag und auch nicht auf dem kleinen Diwan. Olivier war verwirrt. Vielleicht ein anderes Zimmer? Auf dieser Höhe befand sich eigentlich nur noch ein Zimmer und das war, soweit Olivier das beurteilen konnte, noch nie benutzt worden. Aber einen Versuch schadete es ja nicht und wenn er es nicht tat, würde er wohl die ganze Nacht nicht schlafen können. Als er die Zimmertür einen Moment später aufzog, konnte er tatsächlich eine Gestalt auf dem Bett erkennen. Er trat näher. Es war Malik. Warum hatte Enrico ihn auf dieses Zimmer gebracht? "Bist du wach?", wisperte er und trat näher an das Bett heran. Das Licht der Straßenlaternen fiel auf die erschlafften Gesichtszüge des Ägypters. Schlief er? Oder war er ohnmächtig? Olivier setzte sich an das Bett und fasste Malik an die Wange, um zu erkennen, ob dieser vielleicht krank war, Fieber hatte. Nein. Fühlte sich alles normal an. "Malik?", fragte er noch einmal lauter. Wieder keine Reaktion, doch - ein kleines Stöhnen. Wenig später flatterten die Lider des Ägypters und kurz darauf schlug er die Augen auf. Sein Blick war panisch und es wirkte, als wolle er in die Aufrechte fahren und vor irgendetwas davon laufen. Als Malik erkannte, dass nur Olivier hier bei ihm war und sonst niemand, entspannte er sich wieder. "Olli", wisperte er mit erschöpfter Stimme, "was machst du denn hier?" Olivier biss sich auf die Unterlippe. "Malik, sag mir die Wahrheit", verlangte er. "Was ... was ist der Preis dafür, dass du hier bei mir bleiben darfst? Er verlangt einen, nicht wahr?", fügte er flüsternd hinzu und Malik fiel auf, was für sensible Antennen der Junge doch haben musste. Da er allerdings bereits in dieser kurzen Zeit einen Beschützerinstinkt dem Jüngeren gegenüber entwickelt hatte, brachte er es nicht über sich, ihn zu beunruhigen. Allerdings glaubte er kaum, dass er Olivier etwas vorlügen konnte. "Olivier, hab keine Sorge, es geht mir hier viel besser, als dort im-" "Malik. Ich ... Das kann ich nicht verlangen. Ich kann nicht verlangen, dass du dir wehtun lässt, nur damit ich in Frieden gelassen werde." Malik schluckte. War das so offensichtlich? Eigentlich ... war das ja nicht immer so, Enrico hatte ihm im Grunde nichts getan. Er hatte allerdings auch nichts dagegen unternommen, sondern nur zugesehen. Es war dieser andere gewesen ... Wie hatte Enrico ihn genannt? Bakura? Bakura ... Er trug den Namen des ägyptischen Sonnengottes in seinem. Ra. Dabei wirkte er gar nicht wie die Sonne. "Ich werde das nächste mal freiwillig zu ihm gehen!", holte Olivier ihn aus seinen Gedanken. Malik erschrak. "Nein, das kann und werde ich nicht zulassen!", protestierte er. Er wusste natürlich, dass er Olivier nicht ewig davor bewahren konnte. Früher oder später würde Enrico ihn in sein Bett holen. Aber er sollte seine Unschuld so lange bewahren, wie es ging. Es war eines der kostbarsten Güter, die ein Mensch hatte, und niemand sollte gezwungen sein müssen, sie herzugeben. "Malik..." "Nein, Olivier, ich habe mich klar und-" "Malik, du zitterst!" Der Ägypter hielt inne. Er spürte plötzlich, jetzt wo Olivier es gesagt hatte, dass er ziemlich fror und automatisch zog er die Decke hoch. Olivier jedoch hielt ihn auf, ergriff die Decke und hob sie ein wenig an, um sich schüchtern an seinen Freund zu schmiegen. Er kannte sich mit solchen Körperlichkeiten nicht aus, aber er merkte, dass es Malik innerlich nicht gutging und vielleicht half das ja wenigstens gegen das Frieren. Wenn es denn nur Kälte war. "Olivier, da gibt es etwas, das ... du wissen solltest", sagte Malik mit schwerer Stimme, der Schlaf drohte, ihn wieder zu holen. "Ja? Was ist es?" "Enrico ... er und ... Bakura, der Mann, der bei ihm ist, sie ... sie sind ... keine Menschen ... Striges..." Striges? Striges ...? Oliviers Kopf suchte fieberhaft nach der Sprache, aus der dieser Begriff stammte. "Malik, was bedeutet das...?" Keine Antwort. "Malik?" Doch da erinnerte er sich wieder. Und die nackte Angst machte sich in Olivier les Demondés breit. Wenige Stunden später hatte Olivier immer noch keinen Schlaf gefunden, als sich die Türe öffnete und die Schatten von zwei Personen in den Raum fielen. Oliviers Herz pochte ihm bis zum Halse, doch er bemühte sich, keinen Mucks von sich zu geben. "Olivier", schwebte eine sanfte Stimme an sein Ohr. Doch diesmal ließ er sich nicht erweichen, er fürchtete sich. Als Enrico merkte, dass der Junge nicht auf ihn reagierte, seufzte er leise und Olivier hörte die Schritte, die dem Bett näher kamen. Wenig später spürte er den Luftzug, als die Bettdecke gelupft wurde und man ihn ohne zu fragen hochhob. "Fürchte dich nicht", raunte die Stimme des Vampyres. "Wieso sollte ich mich nicht fürchten?", antwortete Olivier eine ganze Weile später, als er auf einem weichen Bett heruntergelassen wurde. Er vermied es, Enrico anzusehen. "Du bist ein Monster. Was habt ihr Malik nur angetan?" "Ein Monster?" Enrico sprach es aus mit völligem Unverständnis. Er war plötzlich missgestimmt. Warum? Trafen ihn die Worte dieses Kindes etwa? "Du hast doch keine Ahnung." Seine Stimme klang hart auf einmal. Aber er konnte es nicht ertragen, dass Olivier ihn nicht mehr ansehen mochte. "Ich habe genug Ahnung, um zu wissen, dass es meinem Freund Malik nicht gutgeht und du nichts getan hast, um ihn zu beschützen. Sag mir, wie lang es dauert, bis du mich so behandelst, mich quälst und erniedrigst, damit ich wenigstens nicht mehr bangen muss." Enrico wurde mit einem Mal zornig. Mit einem Ruck war er bei Olivier und drückte ihn unsanft auf das Bett, hielt ihn bei den Schultern fest. Seine Augen nahmen einen tieferen, intensiveren Ton an. "Niemals!", fauchte er erbost. "Niemals würde ich dir wehtun, dass du das glaubst, erzürnt mich über alle Maßen!" Olivier erstarrte vor Angst, starrte mit aufgerissenen Augen in die Enricos. "Ich weiß, was du bist ...", flüsterte er mit bebender Stimme und der Vampyr wandte sich mit einem Ruck ab. Er konnte Oliviers Anblick mit einem Mal nicht mehr ertragen. Lautlos trat er an das Bett heran, nachdem er die Türe hinter sich geschlossen hatte. Der Atem seines Blutspenders ging flach, er sollte eigentlich tief schlafen, aber irgendetwas schien sein Befinden zu stören. Ja, richtig. Der Blutverlust. Da war doch etwas ... Mit ausdrucksloser Miene nahm der Vampyr am Bett platz, sein Blick flackerte über den Körper seines neuesten Spielzeuges. Wie fragil der Mensch doch war im Vergleich zu ihnen, den Unsterblichen, den Verdammten. Fast schon abstoßend. Sie konnten sich nicht wehren. Keiner von ihnen hatte das gekonnt und alle waren sie ihm schnell langweilig geworden. Bakura hatte sich niemals mehr als einmal mit einem seiner Opfer befasst. Aber bei Malik war das irgendwie anders. Er konnte nicht benennen, was das war. Vielleicht einen winzigen Bruchteil, in dem er etwas von sich selbst in Maliks Blick aufgefangen hatte. Von sich selbst, wie er früher einmal gewesen war. Irgendwie waren sie sich doch gar nicht so unähnlich und gedankenverloren strich er dem jungen Mann eine Strähne seines sandblonden Haares aus dem Gesicht. Es glühte ein wenig. Hatte er es vielleicht übertrieben? Bakuras Züge wurden wieder hart. Nein. Wenn der Mensch das nicht aushielt, dann war er es auch nicht wert, punktum. Plötzlich flackerten Maliks Lider, er schlug die Augen auf und Bakura zog schnell die Hand zurück. Maliks Augen weiteten sich einen Augenblick erschrocken, als er Bakura erkannte, doch seine Züge erschlafften schnell wieder. Der Blutverlust hatte ihn zu sehr geschwächt, als dass er wirklich aufbegehren konnte. “Ihr schon wieder ...” Seine Augen schimmerten. Verdächtig. Wie als wolle er weinen, doch die Tränen wagten es nicht, sich zu zeigen. Bakuras Miene wurde wieder hart. Er wandte sich zum Aufstehen. Allerdings hielt ihn etwas zurück. Eine Hand, die sich um sein Handgelenk gewunden hatte. Überrascht sah er Malik an. “Bitte, Herr ... Lasst mich nicht alleine hier im Dunkeln ...” Und irgendetwas in diesen Worten rührte ihn. “Wie kannst du nur nach mir verlangen?”, entfuhr es ihm wenig später, als er bei Malik lag und diesen in seine Arme gezogen hatte. “Ich habe dich nicht gut behandelt und ich habe auch nicht vor, das in Zukunft zu ändern.” Malik schwieg. Er wusste keine Antwort darauf. Ja, er fürchtete Bakura, das war richtig. Aber wenn er ihn fürchtete, so galt das sicherlich auch für andere Lebewesen. Und es war ihm tausendmal lieber, nur von einem angefasst zu werden, als von jedem, der gerade Lust dazu hatte. Und da war noch etwas, das sie verband. Es war die Heimat. “Mehr noch, als ich dich fürchte, Herr, fürchte ich die Einsamkeit ...” Bakuras Blick wurde trüb, unbewusst die Umarmung enger, er nahm wahr, dass Malik sich an ihm festhielt. Das war ein seltsames Gefühl und nicht nachvollziehbar für ihn. Er war ein Todesengel, kein Beschützer, kein Behüter. Er hauchte seinem jüngeren Landsmann einen Kuss auf die Stirn, er fühlte sich herrlich kühl an auf der schwitzigen Haut. Und dabei sandte er ihm unbewusst jene Bilder von damals. Nicht die düsteren, traurigen. Nein, er zeigte ihm Ägypten, wie es zu seiner Zeit gewesen war. Hell und stolz und unbezähmbar. Erfüllt von seinen Göttern und beherrscht von der starken Hand der Pharaonen. Ramses II, Echnaton, Sethos ... Große Frauen wie Hatschepsut, Nofretete und Nefertari, ihrer Zeit die atemberaubendsten Blüten des Landes. Ein Lächeln erschien auf Maliks Lippen. “Zu gern hätte ich es mit meinen eigenen Augen gesehen ...” “Dafür wäre mir diese Welt am liebsten erspart geblieben...”, lautete die geflüsterte Antwort und es war das erste Mal, dass Malik etwas anderes als das Monster in ihm sah. Als es hell wurde, entschwand Bakura lautlos im Morgengrauen. Wenn er des Tages schlief, so zog er es vor, alleine zu sein. Denn nur im Schlaf war ein Vampyr einigermaßen verwundbar. Außerdem musste er sich Gedanken machen. Und dazu konnte er die Nähe Maliks nicht ertragen. Olivier war den ganzen Tag über gereizt und angespannt. Einerseits wollte er hier nicht länger bleiben, andererseits hatte er Angst, zu fliehen. Er wusste nicht, wie es um die Fähigkeiten dieser Wesen bestellt war, aber wenn auch nur ein Bruchteil von dem stimmte, was er gehört hatte, dann war eine Flucht beinahe aussichtslos. Egal, wie lange er am Tag laufen würde, er würde ihn in der Nacht immer wieder einholen. Außerdem wusste er gar nicht, wo er hinsollte, das kam erschwerend noch hinzu. Und er konnte Malik hier nicht alleine lassen. Der Junge fuhr sich durch die Haare, momentan konnte er sich nicht mal mit dem Klavierspielen ablenken. Da war nämlich noch eine andere Sache, die ihn interessierte. Wie war es eigentlich so weit gekommen? Wie war Enrico das geworden, was er heute war? Wann hatte er gelebt und wie? Das waren alles Fragen, die ihm im Kopf umhergeisterten und er fand und fand einfach keine Ruhe. Schließlich kam ihm die zündende Idee. Enrico hatte mal sein Bibliothekszimmer erwähnt, wo sich eine beachtliche Büchersammlung befand. Er wusste zwar nur ungefähr, wo es sich befand, aber er hatte ohnehin den ganzen Tag kaum etwas zu tun, Enrico ließ ihn ja momentan noch nicht raus. Bei dem Gedanken daran verzog sich missgelaunt seine Miene. Jeder Mensch brauchte einmal frische Luft, wenn man immer nur in denselben vier Wänden saß. So machte er sich am frühen Nachmittag auf, um die Bibliothek zu durchforsten - er fragte einen der Bediensteten, welcher ihm nicht nur den Weg erklärte, sondern ihn auch wie selbstverständlich dorthin führte. Als er den Raum betrat, staunte er nicht schlecht. Irgendwie war diese Villa viel größer, als es von außen den Anschein machte. Sicher eine optische Täuschung. Vorerst ziellos glitten Oliviers helle Augen über die Buchrücken, es schien nicht so, als seien sie nach einem gewissen Schema sortiert - das erschwerte die Sache ziemlich. Sein Blick blieb auf einem Band hängen und seine Augen wurden groß. Umsichtig griff er nach dem Band und zog ihn heraus. Das Buch war neu gebunden worden, das bemerkte er sofort. Die Seiten waren alt, spröde und vergilbt, die Schrift in so einer alten Form (noch Handschriftlich) verfasst, dass es ihm Mühe machte, sie zu entziffern. Es war die Urausgabe eines 'Hexenhammers'. "Wenn ich das doch nur lesen könnte", murmelte Olivier mit zittriger Erregung und blätterte umsichtig einige Seiten um, dabei ganz vergessend, was er eigentlich suchte. Als Malik erwachte, war es bereits später Nachmittag. Die Sonne schien schräg in sein Fenster. Der junge Mann streckte sich. Hatte er so lange geschlafen? Warum? Und warum fühlte er sich immer noch so matt? Ihm war, als habe er geträumt. Irgendwie war alles in seinem Gedächtnis so verschwommen ... unwirklich ... "Bakura..." Der Name kam ihm geflüstert über die Lippen, ohne dass er eben einen Gedanken an selbigen verschwendet hatte. Wie ein innerer Impuls. Dieses Wesen ... War es überhaupt real gewesen? Hatte es wirklich gestern Abend bei ihm gelegen und ihn im Arm gehalten? Und warum hatte er sich so wohl gefühlt? Obwohl er wusste, dass er Tod bedeutete. Früher oder später. "Ich habe Hunger", stellte Malik plötzlich fest und nachdem er einem der Diener Bescheid gesagt hatte, wanderte sein Gedanke unbewusst zu Olivier. Ob dieser wieder richtig aß? Er hoffte es, der Junge war ohnehin schon so ein Wibbchen. Darum würde er sich später kümmern. Ein Bad täte ihm vielleicht auch nicht schlecht. Und dann ein Spaziergang? Ihm war ja erlaubt tagsüber nach draußen zu gehen, Enrico hatte es ihm gesagt. Er hatte gesagt, er wolle ihn nicht einsperren, aber sollte er daran denken, nicht mehr zurückzukommen ... Er hatte es nicht vollständig ausgesprochen gelassen, aber Malik wusste auch so, was auf dem Spiel stand. Olivier war ihm ans Herz gewachsen, war ihm in dieser kurzen Zeit ein Freund, eine Art Seelenverwandter geworden und er mochte ihn nicht alleine lassen. Außerdem wusste er selbst nur zu gut, dass er nicht die nötigen Mittel hatte, um sich alleine über Wasser zu halten und bis auf die unangenehmen und erniedrigen Prozeduren, gleich dem gestrigen Abend, wurde er hier nicht, wie im Moulin Rouge, noch zusätzlich gequält. Wenn Zidler schlechte Laune gehabt hatte, seinen sadistischen Trieb ausleben wollte, dann hatte er sich die widerlichsten Dinge ausgedacht. Malik war ein pragmatischer Denker und mit der Zeit hatte er seinen Stolz gegen sein Leben abwägen müssen und die Entscheidung, was überwog, war ihm nicht schwergefallen. Vielleicht konnte er Enrico in ein paar Monaten nach Geld fragen, das er seiner Familie schicken konnte. Immerhin hatte er es ihnen versprochen und sicher sorgten sie sich schon, da sie so lange nichts von ihm gehört hatten. "Lucius Tarquinius Superbus war einer der jüngsten Könige Roms. Bereits mit fünf Jahren ernannte man ihn zum König des Reiches und mit 17 Jahren verlieh er sich selbst den Titel des Caesars. Man sagt ihm ein sehr leichtlebiges Wesen nach, zugleich jedoch soll er für größten Scharfsinn und eine listige Zunge bekannt sein. Seine Feldzüge zählen neben denen Julius Caesars zu den größten in der Geschichte Roms. Allerdings, so wird es nach einer Legende überliefert, soll er letzten Endes so von Hochmut und Gier getrieben worden sein, dass er seinen eigenen Untergang heraufbeschworen hat. In der "Ab urbe condita", einem von Livius' Werken, steht da geschrieben: ' ... Tarquinius treibt es mit dem Morde an Adligen und anderen Missbraeuchen seiner Macht so weit, dass sich die Götter entschließen, kurz nach dessen Einfall in Ägyptenland ihre Wut in einem Omen zu zeigen: Im Königspalast kriecht eine Schlange aus einer Holzsäule, was die Königsfamilie in Angst und Schrecken versetzt. Tarquinius, sehr erzürnt und gleichsam beunruhigt, lässt alle Sklaven, alle Gefangenen, die er von dort mitbrachte, hinrichten. Ihnen zu zeigen, dass er ihr Urteil nicht fürchtet. Tod durch Enthauptung. Einer von ihnen jedoch soll entkommen sein. Er habe einen dunklen Pakt eingegangen, heißt es. Sieben Tage und sieben Nächte später verschwand Lucius Tarquinius Superbus spurlos und ward nie mehr gesehen. Er sei verflucht worden, verschleppt oder ermordet, das mochten nur die Götter wissen.' Über den Verbleib des mysteriösen Königs ist bis heute nichts bekannt. Man fand kaum Relikte, die auf ihn hindeuteten. Unter anderem nur die auf Seite 363 abgebildete Büste..." Olivier hatte den Text halblaut vor sich hin gelesen und griff nun mit neugierigem Blick die Seite, um sie umzublättern. Er blinzelte einmal. Dann öffnete sich sein Mund zu einem Spalt. Endlich hatte er seine Gewissheit. Diese Büste war ihm ja wie aus dem Gesicht geschnitten. "Weißt du nun, was du wissen wolltest?" Enrico trat aus dem Schatten eines Bücherregals hervor und Olivier erschreckte sich zu Tode und ließ in seinem Schrecken das Buch fallen. "I-ich...", stotterte er, fühlte sich ertappt, das Herz schlug ihm bis zum Hals. Auf Enricos Gesicht stand Milde. War er bei ihrem letzten Treffen nicht noch so unwirsch gewesen, beinahe wütend? Olivier hatte ein wenig Angst. Mit Betonung auf ein wenig. Sein Verstand wusste, dass er sich fürchten SOLLTE, aber da war gerade etwas anderes in ihm, das die Überhand nahm; Neugier. Der unersättliche Drang nach Wissen, eines der charakteristischsten Merkmale der menschlichen Rasse. „Das ... warst also wirklich du? Du hast damals gelebt? Vor fast 3000 Jahren? Erzähl mir, wie es war! Sie sagen, dass du sehr grausam warst, stimmt das? Und wie ... wohin bist du damals verschwunden, was hat es mit diesem Sklaven auf sich, der entkommen ist, gab es ihn wirklich? Oh, Enrico, erzähl mir bitte alles, ich möchte es wissen!" Enrico lächelte nachsichtig, als er das vor neugieriger Erregung leicht gerötete Gesicht Oliviers erblickte. "Alles zu seiner Zeit, Täubchen", gab er nur geheimnisvoll zur Antwort und kam auf Olivier zu, der sich nicht rührte, ihn nur erwartungsvoll anblickte. Dann fasste er ihm zärtlich ins Gesicht. "Bitte verzeih mir meine Grobheit, ich war aufgebracht und hätte es dir nicht zur Last legen dürfen. Ich war wohl wütend darüber, dass du nicht mehr das in mir sehen konntest, was ich dich versucht habe, glauben zu machen. Ich wollte wohl meine eigene Unmoral nicht wahrhaben." Er küsste ihn auf die Stirn und Olivier, der wusste, dass er eigentlich noch wütend und enttäuscht sein sollte, fühlte ein angenehmes Kribbeln, eine Wärme, wie Enrico sie eigentlich nicht mehr ausstrahlen dürfte. "Ich bin es nicht, den du um Verzeihung bitten solltest", sagte Olivier nur leise, wirkte allerdings versöhnlich. Enrico verstand den Wink mit dem Zaunpfahl. "Ich werde mir beizeiten etwas einfallen lassen, um für mein durchbrennendes Temperament zu entschädigen." Olivier machte sich ein kleines Stück von Enrico los und sah ihm in die Augen. "Temperament ist ein vorzüglicher Diener, aber ein grausamer Herrscher." Der Italiener lachte amüsiert auf. "Du bist so scharfsinnig, mein kleiner Olivier, dass man meinen könnte, du seiest bereits uralt!" "Machst du dich über mich lustig?" Er zog die Stirn kraus. "Keinesfalls, Ciccina", erwiderte Enrico einlenkend und Olivier beschloss doch noch einmal nachzubohren. "Wirst du es mir nun erzählen?" "Ich sagte doch, alles zu seiner Zeit. Jetzt ist sie noch nicht gekommen." "Nun gut ... Ich ..." Er brach ab. "Was ist?" "Nicht so wichtig", nuschelte der Knabe und strich sich eine seidene Haarlocke aus dem Gesicht. "Doch, nun hast du mich neugierig gemacht. Bitte sprich." Olivier zögerte. "Es wäre schön, einmal Rom zu sehen." Enricos Gesichtsausdruck hellte sich auf. "Ich werde es dir zeigen, irgendwann, das verspreche ich dir!" Und Olivier hätte sich wirklich von ganzem Herzen freuen können, wäre da nicht dieser Stich gewesen, der ihn an seine lieben Eltern erinnerte. "Du wirkst so traurig plötzlich ...", wisperte der Italiener und glitt einmal streichelnd mit der rechten Hand durch Oliviers Haar. Olivier sah ihn wehmütig an. "Habe ich überhaupt das Recht, mich über irgendetwas zu freuen, wo doch-" Er brach ab. Enrico ahnte auch so, was er sagen wollte. "Olivier", sagte er mit warmer Stimme, "welche Eltern der Welt würden wollen, dass ihr Kind unglücklich ist?" Zwei Tränen lösten sich, rannen über die blassen Wangen, und diesmal ging der Körperkontakt von Olivier aus. Er brauchte ihn. Enrico schloss stillschweigend die Arme um den bebenden Körper. Er empfand grenzenloses Mitleid mit dem Jungen. Allerdings verspürte er auch noch etwas anderes. Neid. Und zwar darüber, dass Olivier etwas konnte, was er schon vor hunderten von Jahren verlernt hatte. Die Fähigkeit, zu trauern. Plötzlich spürte er in aller Deutlichkeit seinen Anorganismus. Olivier musste bei ihm bleiben. Für immer. Vielleicht schaffte er es ja, ihn daran zu erinnern, wie es war, ein Mensch zu sein. Schon mehrfach hatte sich Malik bei dem Gedanken daran ertappt, dass er sich die Gegenwart des Vampyres herbeisehnte. Mit dem Voranschreiten des Tages wuchs auch seine Nervosität und er fluchte bald pausenlos auf Arabisch vor sich hin. Der Gedanke an Bakura trieb ihm die Galle hoch. Doch war es weniger Bakura selbst, mehr DASS seine Gedanken ständig in seine Richtung gelenkt wurden. Dann redete er sich ein, dass es wohl ein Zauber gewesen sein musste - wenn es Vampyre gab, dann doch auch schwarze Magie und Malik war nie abergläubisch gewesen, er wusste nur nicht, wie er sich sein Verhalten sonst erklären sollte. Keinem Menschen konnte es gefallen, so gedemütigt zu werden ... Er erschauerte leicht beim Gedanken daran, wie Bakura ihn genommen hatte, dessen Hände auf seiner heißen Haut, die bohrenden Blicke Enricos dabei ... Unwillkürlich wurden seine Brustwarzen hart. Plötzlich spürte er einen Luftzug. Die Sonne war gerade so untergegangen. Schnell wandte er seinen Blick zum Fenster, sah die geschmeidige Gestalt Bakuras, welcher sich nun von der Fensterbank heruntergleiten ließ und ins Zimmer stiefelte. Ein überlegener Ausdruck lag in seinem Gesicht und Malik hätte ihm für diese Dreistigkeit am liebsten eine gepfefferte Ohrfeige gegeben. "Hast du mich so sehr herbeigesehnt, Malik Ishtar?", raunte die dunkle melodische Stimme und Malik schauerte es erneut. Er straffte die Gestalt. Sah Bakura hochmütig an. "Ganz gewiss nicht." "Oh, natürlich nicht", schnurrte der Weißhaarige und schlich langsam näher. Malik ballte die Hände zu Fäusten, sein Körper spannte sich an. Er fühlte sich gerade wie die Beute, die von einem Raubtier belauert wurde. "Nein, denke was du willst, ich bin nur verärgert über dein unverschämtes Eindringen hier." Ein Luftzug, Bakura bewegte sich schneller, als Malik es wahrnehmen konnte, plötzlich war er hinter ihm und der junge Mann keuchte erschrocken auf, als er seinen Körper umfasst spürte, einmal um die Hüfte, einmal um die Brust, sodass er den einen Arm nicht bewegen konnte. Er keuchte überrascht auf, als er die scharfen Fingernägel an seiner Hüfte spürte. Durch den Stoff drückten sie unmissverständlich gegen seine Haut. Plötzlich brach ihm der Schweiß aus. "Lass mich los", knurrte er. Bakura zwang ihm mit der anderen Hand den Kopf zur Seite und leckte ihm forsch über den Hals. "Und was, wenn mir nicht danach ist?" "Dann ..." Verdammt. Das hatte er doch glatt vergessen. Bakura war um so Vieles stärker als er. Er war also vollkommen seiner Willkür ausgeliefert. Bakura lachte, "Schon gut." und zu Maliks Überraschung ließ er ihn plötzlich los. Hatte er ihn nur ärgern wollen? Er keuchte leise und wich ein paar Schritte zurück. "Was willst du eigentlich von mir?", entfuhr es ihm. Bakura fixierte ihn mit seinen dunklen Augen und Malik konnte nicht anders, als nach zwei Sekunden den Blick abwenden. Wobei er ihm unbewusst ein Signal der Unterwürfigkeit übermittelt hatte. "Ich dachte, das sei offensichtlich." "Ist es nicht", schnappte Malik. "Ich will, dass du mir gehörst." Eine helle Augenbraue zuckte in die Höhe. Das war doch nicht sein Ernst! Er war doch kein Gegenstand. Auch wenn ihm viele Männer im Moulin Rouge versucht hatten, das Gegenteil einzureden, aber schlussendlich hatte Malik doch immer noch irgendwie ein kleines Bisschen Stolz übrig, dass es ihm verbat, solche Minderwertigkeitskomplexe zu hegen. "Und wenn ich das nicht will?", erwiderte er kühn und überwand sich, um Bakura direkt in die Augen zu sehen. "Diese Möglichkeit ist nicht vorgesehen." Kapitel 5: V. ------------- Eine Melancholie hatte sein junges Herz ergriffen und er wusste nicht, wie er sie jemals stillen sollte. Mit einem resignierenden Seufzen betrachtete er den Sonnenaufgang über Paris. Die Villa hatte eine so einzigartige Lage, dass er ihn in vollen Zügen genießen konnte. Eigentlich. Nicht so am heutigen Morgen. Irgendetwas war anders. Die Stadt, sie war ... sündig. Böse. Irgendwie eine andere. In der Ferne sah er die Türme Notre Dames im sanften Morgennebel aufragen. Plötzlich sehnte er sich nach dieser Kirche. War heute nicht Sonntag? Ob es wohl schon zu spät war für den Gottesdienst? Er hatte gar kein Zeitgefühl mehr. Er warf einen Blick auf die Uhr und ein mattes Lächeln schlich sich auf sein Gesicht. Wenn er sich jetzt anzog und ging, dann würde er es noch schaffen. Dann biss er sich auf die Unterlippe. Er sollte nicht alleine nach draußen gehen, er hatte es versprochen. Aber er wollte auch ungern Malik aus dem Schlaf reißen. Vor allem nicht an einem Sonntag. Aber mit ihm umgab er sich lieber als mit einem der Diener. Er vertraute ihm einfach mehr. Seine Sorge war unbegründet, wie sich wenig später herausstellte. Malik war schon vor dem Sonnenaufgang wach gewesen und als Olivier ihm schüchtern seine Bitte vortrug, lächelte er ihn freundlich an und stimmte ihm zu. Die Kutschfahrt verbrachten sie schweigend, aber es war ein angenehmes Schweigen. "Ich werde in der Zwischenzeit spazieren gehen", sagte Malik und widerstand dem Drang, Olivier auf die Wange zu küssen. Selbiger nickte, lächelte und drehte sich dann um. Dem jungen Franzosen war auf eine seltsame Art mulmig zumute, als er die Stufen hinaufstieg. Notre Dame ragte mächtig über ihm empor, die in Stein gehauenen Heiligen an der Außenbalustrade starrten mit ihren leeren Gesichtern in verschiedene Richtungen. Als Kind hatten sie ihm ziemliche Angst eingejagt und Olivier war immer sehr ungern zur Kirche gegangen, auch wenn er ein wirklich braves und gottesfürchtiges Kind gewesen war. Er hatte sich vor ihren leeren Blicken gefürchtet, hatte geglaubt, dass sie ihm direkt in die Seele blickten und ihr Urteil über ihn machten. Damals, als Kind, was, wenn man es so bedachte, noch nicht allzu lange her war. Die klaren, ebenmäßigen Choräle, die dumpf aus dem Inneren drangen, veranlassten den Knaben dazu, sich wieder in Bewegung zu setzen und mit etwas Mühe eine Hälfte der schweren Flügeltüren aufzuschieben. Sofort stieg ihm der Geruch der Zeit in die Nase und die steinerne Kühle. Der Geruch der Kirche, alt und drückend, aber auf eine gewisse Weise auch irgendwie tröstlich. Olivier, darauf bedacht, nicht aufzufallen, schlich sich in eine der letzten Bänke. Die Kirche war nicht besonders voll und so hatte er auch von hier hinten eine sehr gute Sicht auf den Altar und auf den Pfarrer, welcher gerade die Arme zum Pater Noster ausgebreitet hatte. Olivier stimmte murmelnd in die Sprechmelodie mit ein, während er die Hände faltete. Es war wirklich kühl hier drin, es fröstelte ihn, aber es fühlte sich angenehm an. Hier fühlte er sich beschützt, geborgen. Er dachte an Enrico. Dachte daran, dass das hier vielleicht der einzige Ort war, an dem er vor ihm Schutz finden konnte. Schutz finden. Wie das klang. Als würde Enrico ihm jemals etwas antun wollen. Auch wenn er Enricos harte und gnadenlose Seite durchaus nicht vergessen hatte und dann war da eben die Ungewissheit, ob er sie auch vor ihm zeigen würde. Er seufzte und schloss die Augen, um sich mehr auf sein Gebet konzentrieren zu können. Dabei entging ihm, wie der Blick von einem trübblauen Augenpaar behutsam auf ihm lag. Nur für einen Moment, dann wandte es sich ab. Olivier sah auf. War da etwas gewesen? Nein. Der Pfarrer schloss gerade sein Gebet und Olivier murmelte ein Amen. Die Orgel begann zu spielen, Olivier erkannte die Melodie, deshalb brauchte er kein Gesangsbuch. Er stimmte nur leise in die Gesänge mit ein, er mochte nicht auffallen. Der Gottesdienst tat Olivier gut. Er genoss ihn, trotz der Kälte, die in seinen Körper kroch. Er zog seinen Mantel enger um seinen Körper. Es war seltsam. Vor kurzem hatte er erfahren, dass seine Familie ausgelöscht ... verschwunden war. Alle, mit denen er sich umgeben hatte, sie alle waren fort. Im Grunde schien niemand mehr zu wissen, wer Olivier les Demondés war. Er fühlte sich erstaunlich gefasst dafür, dass das alles noch nicht allzu lange her war. Die Kirche verschaffte ihm die innere Ruhe, nach der er sich so lange gesehnt hatte. "... Aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund", murmelte der Junge und plötzlich standen ihm dabei Tränen in den Augen. Tränen, die er sich nicht erklären konnte. Er stand auf, um die Hostie zu empfangen, den Leib Christi. Die anderen Kirchenbesucher drängten ebenfalls nach vorne und einmal wäre er beinahe gestolpert. Es dauerte lange. Er starrte, während er sich vorwärtsbewegte. Wie mechanisch. Fühlte sich plötzlich wie eine Puppe unter all diesen Menschen, die im Grunde dasselbe wollten wie er. Er bewegte kaum seine Füße, um nach vorne zu gelangen. Schließlich stand er vor dem Pfarrer, mit in Kummer schwimmenden Augen blickte er auf. "Der Leib Christi", sagte der Pfarrer behutsam und der Knabe murmelte als Antwort ein ersticktes Amen, ehe er sich die Hostie zwischen die Lippen schob. Ehe er jedoch auf wackeligen Beinen Richtung seiner Sitzbank zurückstolpern konnte, spürte er den sanften Druck einer Hand auf seiner Schulter. "Mein Sohn, der Beichtstuhl steht dir jederzeit offen", hörte er eine geflüsterte Stimme und er drehte sich nicht um und antwortete auch nicht, nur eine Träne war es, die über seine Wange rann. Und plötzlich ertrug er es nicht mehr. Ertrug sie nicht mehr, die Menschen um sich herum, die sich mit Sünde nur so beladen hatten, auch wenn er sich einbilden musste, das zu spüren, denn er konnte ja unmöglich in sie hineinsehen. Enrico konnte das bestimmt. Enrico ... Olivier wurde einen Moment schwindelig, blieb stehen und stützte sich mit einer Hand an einer Säule ab. "Was ist denn los mit dir?", stellte er die Frage an sich selbst. "Komm doch zur Ruhe ..." Immerhin war das der Ort, an dem er sich sicher fühlen sollte, behütet und hier sollte er Absolution empfangen. Für eine Sünde, die er, so war er sich plötzlich sicher, noch begehen würde. Früher oder später. Wenn er bei ihm blieb. Aber er konnte sich ihm nicht entziehen, nicht entkommen. Ein leises Schluchzen wand sich aus seiner Kehle, das in dem allgemeinen Gemurmel um ihn herum unterging. Wie verloren er sich plötzlich fühlte, verloren und zurückgelassen. Er musste hier aus dieser Kirche raus. Wieso war er überhaupt noch hier? Er hatte sich mit dem Teufel eingelassen. Und er hatte plötzlich grauenhafte Angst, ihn hierher zu bringen. Olivier setzte sich wieder in Bewegung, Richtung Ausgang, stolpernd und konnte beinahe gar nicht schnell genug aus dem Gebäude herauskommen, das ihn mit einem Mal zu ersticken drohte. Als er schließlich nach draußen gelang und sich mit sich hebender und senkender Brust umsah, war niemand da. Malik war nicht da, die Kutsche war weg. Er blickte sich verwirrt um. Der Blick der Heiligen traf ihn. "Ich habe nichts getan!", rief er plötzlich laut aus und seine Stimme klang so hell und so verzweifelt in seinen eigenen Ohren, dass er davon erschrak. Es war so still. Wieso war es so still? Plötzlich spürte er etwas Kaltes auf seiner Wange und die von Kummer getrübten Augen wandten sich zum Himmel. "Es ist schon Winter?", flüsterte er, als er die Schneeflocken bemerkte, die sacht und unschuldig vom Himmel rieselten. "Wann ist es Winter geworden?", sagte er leise zu sich selbst. Beinahe entsetzt über diesen Zustand. So lange war er doch noch gar nicht von zuhause fort. Solange ... Plötzlich spürte er, wie sich ein feuchtes Tuch gegen sein Gesicht drückte und das Letzte, bevor er ohnmächtig wurde, war ein beißender Gestank. Als Olivier wieder erwachte, hatte er ein schreckliches Déjà-vu. Er befand sich in einem Zimmer. In einem roten Zimmer mit großzügigem Mobiliar und schummrigen Leuchten. Er rührte sich, doch diesmal konnte er sich nicht bewegen. "Guten Morgen, mein Kätzchen...", ertönte eine scheinheilig sanfte Stimme an seinem Ohr und mit einem Ruck richtete er den Kopf auf. "Zidler!", stieß er mit Entsetzen aus. Ihm drehte sich alles und er hatte Kopfschmerzen. "Stets zu Diensten." Täuschte er sich, oder war die Stimme von tiefster, menschlicher Bosheit durchtränkt? "Was wollt Ihr von mir?" Zidlers kleine, stechenden Augen ruhten auf ihm. Auf seinem Körper. Auf seinem nackten Körper. Wann hatte man ihn seiner Kleider entledigt? Doch das schlimmste war die Art, wie er ihn ansah. Nicht etwa lüstern, nein. Mehr wie ein Stück Fleisch, dessen Marktpreis es festzustellen galt. Ihn grauste es, als er diesen Blick erkannte. Zidler, der bisher an einem Tisch gelehnt und auf das Erwachen des Jungen gewartet hatte, setzte sich ihn Bewegung, wobei seine Kleidung, teilweise aus Leder, knirschte. Olivier konnte sich nicht entsinnen, wann der Mann jemals Leder getragen hatte. Bestimmt nicht, wenn er seine hohen Gäste empfangen hatte. "Was ich von dir will, mein Junge...", sagte er langsam. "Nun, lass es mich so formulieren. Ich wurde wirklich übel aufs Kreuz gelegt, als ich einen Handel über dich schließen wollte. Das ist nichts, was ich mir üblicherweise gefallen lasse, nur ... spielten hierbei wohl höhere Mächte eine Rolle. Ich bin nicht gerade erfreut gewesen, dich mitsamt einer weiteren sehr lukrativen Einnahmequelle zu verlieren." "Lass Malik da raus...", sagte Olivier und tat mutiger, als er sich augenblicklich fühlte. Um Zidlers Mundwinkel zuckte es. Es verlieh ihm einen sehr schmierigen und kalten Wesenszug. Plötzlich fühlte sich Olivier in seiner Nacktheit über alle Maßen gedemütigt, wie als wäre ihm diese Tatsache jetzt erst bewusst geworden. Er wich dem boshaften blick des Mannes aus. "Ihr tut, als sei ich der einzige Knabe auf der Welt", sagte er leise. "Warum quält Ihr mich, warum könnt Ihr mich nicht einfach in Frieden lassen?" "Oh, die Frage nach dem Warum ist einfach beantwortet." Er trat näher an Olivier heran und strich ihm über die Stirn, wie man es manchmal mit kranken Kindern zu tun pflegte. "Weil ich es kann." "Was habt Ihr jetzt mit mir vor?" "Das werde ich sehen. Je nachdem, inwieweit du gewillt bist, mir die ein oder andere Wahrheit zu verraten. "Ich verstehe nicht ..." "Ich denke, du verstehst mich sehr gut. Ich fange gleich mit der ersten Frage an. Wer oder was ist dieser Tornatore wirklich?" Oliviers Augen weiteten sich und wandten sich in Richtung eines Fensters. Draußen wurde es noch nicht mal dunkel. Er biss sich auf die Unterlippe. "Lasst Ihr mich gehen, wenn ich Euch etwas sage?", murmelte er geschlagen. "Das nicht", erhielt er die grausam ehrliche Antwort. "Aber ich würde dich zumindest am Leben lassen. Und wenn du ganz brav bist, wird auch deine Bestrafung nicht allzu schlimm ausfallen." "In die Kirche?" Enrico schnalzte missbilligend mit der Zunge. Auch das noch. Er hatte mit diesem Verein nie etwas anfangen können, da war es wohl nicht verwunderlich, dass er es nicht allzu gut hieß, wenn sein erklärtes Feinsliebchen so eine Gottesliebe hegte. "Tse..." Er winkte dem Hausdiener, dass er verschwinden konnte und sah nach draußen. Es fing bereits an, zu dämmern. Im Winter war er durchaus schon früher auf den Beinen, als bei Dunkelheitseinbruch. Die Sonne schien ja nicht und Enrico hielt das aus, im Gegensatz zu Bakura, der aufgrund seiner von Geburt an hellen Haut diese strikte Richtlinie einhalten musste, da er sich unglaublich schnell Verbrennungen zuzog. Seit wann verbrachte man so lange in der Kirche? Selbst wenn Olivier und Malik danach nachhause gelaufen waren, so hätten sie doch längst zurück sein müssen und das noch ehe Enrico erwachte. "Hmm", brummte der ehemalige Kaiser. Dann entschied er sich dafür, dass Kontrolle besser war als Vertrauen und verließ die Villa, wobei er nicht mal daran dachte, sich um der Tarnung willen Winterkleidung anzuziehen, sondern einfach in einem Seidenhemd nach draußen trat. Er konnte Oliviers Geruch noch ganz deutlich wahrnehmen, auch wenn es schon Stunden her sein musste, ehe er das Haus verlassen hatte. In Windeseile langte er bei der Kirche an und trat auf den Vorplatz. Sein Blick glitt einen Augenblick abfällig über die in Stein gemeißelten Heiligen, doch als er vor die schwere Flügeltür trat, zögerte er tatsächlich. Es war lange her gewesen. Und eine gewisse Hemmschwelle war immer geblieben. Trotz Ungläubigkeit, trotz Verachtung für die Kirche. Erinnerungen, die er vor ewigen Zeiten, wie es ihm schien, hier zurückgelassen hatte. Schließlich drückte er doch die Türen auf und sofort stieg ihm der, in seiner Nase, unerträgliche Gestank von Weihrauch in die Nase. Es schien, als bereitete man gerade die Abendmesse vor. Enrico hustete tatsächlich etwas, dann trat er auf den Mittelgang und straffte die Haltung: Er konnte in leichter Entfernung die Gestalt eines Pfarrers erkennen. Er trat näher, legte es bewusst darauf an, dass man ihn bemerkte und der Gottesmann drehte sich um. "Gott zum Gruße, Monsieur", sagte der Mann freundlich, doch Enricos Miene blieb ungerührt. "Ich bin auf der Suche nach einem Knaben, der heute Morgen dem Gottesdienst beigewohnt haben muss. Wenn er hier war, wird er Euch sicher aufgefallen sein, grünes Haar, blaue Augen, zierliche Gestalt." Der Priester schien einen Augenblick konzentriert nachzudenken und sagte dann langsam: "Ja ... Ja, so ein Knabe war heute Morgen tatsächlich da. Ich habe ihm die Beichte angeboten, da er sehr verloren wirkte. Ihr seid auf der Suche nach ihm?" "Könnt Ihr mir sagen, wo er ist, Pater?" "Nein, er hat den Gottesdienst leider vorzeitig schon wieder verlassen-" Plötzlich stutzte der Mann und er schien nachzudenken, wo er Enrico vielleicht schon einmal gesehen hatte. Selbiger allerdings verfluchte sich selbst für seine eigene Unachtsamkeit und erwiderte nur: "Dann hält mich nichts weiter hier, ich muss gehen." Damit wandte er sich abrupt auf dem Absatz um und verfluchte dabei sein eigenes schlagendes Herz, das tatsächlich gerade Furcht empfand. Die Furcht davor, erkannt worden zu sein. Es war zu lange her. Zu lange, als dass er ihm sein Jungbleiben irgendwie würde erklären können. Doch im Moment hatte er andere Sorgen. Beziehungsweise eine. Die Sorge um Olivier, die weiter wuchs, als er draußen plötzlich merkte, dass er ihn nicht mehr wahrnehmen konnte. Er verengte die Augen. Das durfte doch nicht wahr sein. War das die Luft da drin gewesen, die ihn so durcheinandergebracht hatte? Er knurrte ärgerlich. Das war doch zum aus der Haut fahren. Wo steckte dieser Knabe bloß? Plötzlich wandte sich sein Blick, einer Eingebung folgend, zu den roten Flügeln der Mühle. Seine Augen verengten sich. Oliviers Augen waren angstvoll geweitet, als sich die schwere Hand auf seine Lippen senkte. "Ich könnte sagen, dass ich dir die Zunge abschneiden würde, wenn du schreist. Aber dazu genieße ich deine Schreie zu sehr. Tu dir also keinen Zwang an." Die Hand löste sich und wanderte den makellosen Leib herab. Lüstern leckte er sich über die Lippen. Dieser Junge sah aus wie ein Engel. Immer noch. Ob sich Tornatore wohl in der Zwischenzeit schon mit ihm vergnügt hatte? Der Mann grinste sadistisch, als er einen Finger in den Jungen stieß und Olivier schrie leise auf, da es doch sehr wehtat. Eine Röte der absoluten Scham und Demütigung legte sich auf seine Wangen und er kniff die Augen zusammen. Vielleicht ging es schneller vorbei, wenn er sich an einen anderen Ort träumte. Nachhause zu seinen Eltern oder zu ... Ja, zu Enrico, der ihn beschützte, der ihn behütete. Mein Gott, er hatte doch nur in die Kirche gehen wollen. Beten wollen. Sich Gott unterwerfen in all seiner unendlichen Güte und Nachsicht. Ob Gott ihm verziehen hätte? Oder sollte das am Ende die Buße sein, die er abzuleisten hatte, damit man ihm verzieh? Wenn es so sein sollte, dann wollte er es ertragen. Was spielte es überhaupt noch für eine Rolle? Wie man es drehte und wendete, es wurde nicht besser. Auch wenn die Gesellschaft Enricos doch vorzuziehen war. Ob er es annehmen sollte? Sich solange einreden, dass es ihm gefiel, was man mit ihm tat, was ihm geschah, dass es weniger wehtat? Das war doch absoluter Blödsinn. Aber ... Der Schmerz einer heftigen Ohrfeige brachte ihn von seinen Gedanken ab und ließ ihn mit großen Augen in das Gesicht Harold Zidlers starren. "Bleib gefälligst da, wenn ich vorhabe, dich zu ficken!", befahl dieser kalt. Olivier reckte das Kinn, dann spuckte er ihm ins Gesicht. "Fahrt zur Hölle!", spie er aus und Zidler wirkte einen Moment tatsächlich, als könne er seinen Ohren nicht trauen. Wurde dieses Früchtchen hier tatsächlich aufsässig? Das war doch ... typisch Aristokratenpack. Mit denen hatte man immer die meisten Scherereien. "Ich glaube, du bist niemals richtig erzogen worden", knurrte der Mann drohend. Dann schlich wieder ein sadistisches Grinsen auf sein Gesicht. "Nun gut, ich habe da so meine Methoden. Du wirst sehen. Ob es dir gefällt, das bezweifele ich zwar, aber dafür werde ich umso mehr meinen Spaß haben." Enrico machte sich nicht die Mühe, die Tür zu benutzen. Innerhalb von zwei Sekunden hatte er die Räume ermittelt, in denen man Olivier festhielt und mit einem Satz glitt er in schwindelerregende Höhen hinauf zu dem Fenster des Zimmers. Noch ehe er das Sims erreicht hatte, hatte sich in ihm ein solcher Zorn aufgebauscht, dass die Fensterscheiben in tausend Stücke barsten. Zidler hatte erschrocken innegehalten, als er sich dessen gewahr wurde und nun starrte er mit sich weitenden Augen auf das Loch, das mal ein Fenster gewesen war. Der flackernde Blick glühend roter Augen traf Harold Zidler mitten ins Mark und plötzlich sah er unfähig sich zu regen. Das blonde Haar schien in Bewegung zu sein, rahmte das marmorne Gesicht beinahe wie eine Löwenmähne ein und die Miene ... die Miene des Eindringlings war so sehr verzerrt, so sehr, dass es unmöglich noch menschlich sein konnte und Zidler bekam es mit der nackten Angst zu tun. "M-Monsieur", japste er erstickt, doch ihm wurde keine Möglichkeit gelassen, sich zu erklären, sich zu rechtfertigen, zu bitten oder zu betteln, um sein jämmerliches Leben zu flehen. Mit einer Schnelligkeit, die für ein menschliches Auge unmöglich wahrzunehmen war, war Enrico direkt vor Zidler und ohne, dass er eine Berührung spürte, fühlte er plötzlich, wie ihn eine unsichtbare Macht in die Höhe riss und ihm die Kehle zuschnürte. Zidler begann zu japsen und riss die Augen auf. Enrico ballte die Hand langsam zur Faust und langsam und allmählich begann die Zunge Zidlers hervorzuquellen, während das Gesicht blau anlief. Er wollte ihn töten. Er hätte ihn getötet, wenn nicht plötzlich die Stimme des einzigen Menschen zu ihm durchgedrungen wäre, auf den er überhaupt hörte. "Enrico, bring ihn nicht um!" Überrascht wandte er sich zu Olivier um. So abrupt, dass er die Macht über Zidler vernachlässigte und dieser aus einer Höhe von etwa 3 Metern zu Boden prallte. Ein lautes Knacken zeugte davon, dass der Arm gebrochen war. Enricos Blick lag einen Augenblick auf Olivier. Dann ging er wortlos zu dem Jungen hin, nahm seinen Überwurf ab, um ihn damit einzuhüllen. Seine Hände glitten flüchtig über die von dem Schlag noch gerötete Wange. "Er hat dich angefasst", knurrte er, "nenn mir einen Grund, ihn am Leben zu lassen!" Olivier erschrak ob der Härte, die in diesen Worten lag. "Weil ..." Ja, warum eigentlich nicht? Immerhin hatte Olivier Grund genug, um sich den Tod dieses Mannes zu wünschen. Er hatte ihn entführt, seine Familie ermordet, ihm das Leben zur Hölle gemacht, ihn ein zweites Mal entführt, geschlagen und fast vergewaltigt. Warum also nicht? Warum nicht? Oliviers Blick glitt kurz zu Zidler, welcher mit schmerzerfüllter Miene versuchte, sich wieder zu berappeln, dann flogen seine Augen in die Höhe, wo sie direkt auf die flammenden Augen Enricos trafen. Er öffnete die Lippen einen Spalt. "Du kannst ihm wehtun", sagte er dann leise. "Du kannst ihm sehr wehtun, aber ... töte ihn nicht. Ich ... möchte nicht, dass das auf diese Art geschieht. Ich .. ertrage es momentan einfach nicht ... Ich möchte einfach nur ... weg von hier, dieser Ort macht mich so krank ..." Die Stimme versagte ihm und Enricos Blick wurde langsam wieder sanft. Das flammende Rot wich dem Saphirblau. "Wenn es dein Wunsch ist, mein Täubchen", sagte er und küsste ihn auf die Stirn. Dann fuhr er mit einem Ruck herum und schwang seinen Arm einmal in Zidlers Richtung, sodass es ihn von den Füßen hob und er mit einem entsetzten Schrei einmal quer durch das riesige Zimmer geschleudert wurde, nur um mit der vollen Wucht einer übernatürlichen Kraft an die nächste Wand zu prallen und abermals zu Boden zu fallen wie ein nasser Sack. Er wollte sich schon wieder Olivier zuwenden, da fiel ihm etwas ein. Er hatte ja heute noch nicht gespeist. "Noch einen Augenblick, es wird nicht lange dauern", sagte er leise zu dem Jungen, woraufhin er zu dem am Boden kauernden Zidler schritt und den zwei Köpfe größeren und zweimal so breiten Mann ohne Mühe hochhob. "Ich bin sicher, dass du absolut widerlich schmecken wirst", zischte er. "Du bist es nicht mal wert, dass ich dir einen Kuss meiner Dornen schenke, aber vielleicht siehst du es wenigstens als letzte Warnung." Dann vergrub er die Zähne in dem Hals des Moulin Rouge-Besitzers. Sofort schoss ihm ein Schwall Blut in den Mund. Es schmeckte metallisch und giftig. Nach Rauch, nach Zigaretten, nach Alkohol, nach Huren, nach Boshaftigkeit, nach Sünde. Er ließ von ihm ab und flüsterte ihm zu: "Komm ihm noch einmal zu nahe und ich werde dir bei lebendigem Leib deine stinkenden Eingeweide aus dem Körper holen. Und ich werde es sehr langsam tun, denn ich habe Stil." Enrico grinste, dann ließ er ihn fallen. Olivier hatte den Blick angewandt, als Enrico sich an Zidler vergriffen hatte. Das war ein Akt von purem Sadismus. Aber er hatte dem Vampir sozusagen seinen Segen dafür gegeben. Als dieser wenig später seine Drohung aussprach, zweifelte Olivier keine Sekunde daran, dass er jedes Wort ernst gemeint hatte. Im nächsten Moment spürte er zwei Arme, die sich einmal um seinen oberen Rücken wanden und einmal unter die Kniekehlen schoben. Olivier klammerte sich in dem seidenen Hemd fest, als Enrico auf das Fenstersims trat, und barg das Gesicht an dessen Brust. Im nächsten Moment glitt der Vampir in die Nacht hinaus und Olivier spürte, wie der eisige Wind durch seine Haare strich. Malik war vollkommen aufgelöst, als Olivier schließlich wieder einigermaßen wohlbehalten zurückkehrte. Er ließ es sich nicht nehmen, sich persönlich um Olivier zu kümmern und auch, wenn Enrico den Jungen gerade am liebsten für sich alleine gehabt hätte, so wurde er von der plötzlichen Mütterlichkeit des Ägypters so überrollt, dass er ihn einfach ließ. Eine Weile zumindest. Malik schloss den Jungen in seine Arme und küsste ihn auf beide Wangen. "Olli, es tut mir so leid! Als ich zurückgekehrt bin, habe ich auf dich gewartet, aber du bist nicht aus der Kirche gekommen und niemand, den ich gefragt habe, hat mir Auskunft geben wollen." Malik hielt kurz inne und ärgerte sich in Gedanken einen Moment darüber, dass man ihm aufgrund seiner Herkunft immer noch so eine feindliche Haltung entgegenbrachte, dann fuhr er fort: "Ich hab dich überall gesucht und als ich schließlich hierher zurückkam und Tornatore davon berichten wollte, sagte man mir, er sei schon längst weg, um dich zu suchen. Ich hoffe, er reißt mir nachher nicht den Kopf ab - was hältst du davon, wenn ich dir ein Bad einlasse?" "Klingt gut", nuschelte Olivier, wobei er unwillkürlich schauderte, als er an die Ereignisse dachte, die erst so kurz zurücklagen. Er war nur haarscharf einer Vergewaltigung entgangen. Eine schreckliche Vorstellung. Heißes Wasser erschien ihm jetzt das einzig Richtige. Er war ziemlich durchgefroren von dem Wind ihrer kurzen Reise. Das Wasser ließ die Lebensgeister wieder in ihm erwachen. Was für ein furchtbarer Tag, ging es ihm niedergeschlagen durch den Kopf. Vor allem ... es erschien ihm so makaber, wenn er bedachte, wie unbeschwert und leicht er früher sein Leben gelebt hatte und jetzt, wo er quasi auf sich alleine gestellt war, passierte ihm fast jeden Tag irgendetwas. Das hielt doch kein Mensch aus. Mit einem Seufzen schloss er die Augen und glitt unter Wasser. Es war angenehm. Geborgen. Fühlte es sich so ähnlich an im Mutterleib? Olivier öffnete seine Augen unter Wasser, in dem Wissen, dass sie ihm brennen würden von den Badezusätzen und fuhr dann erschrocken hoch, als er die Kontur eines Gesichtes über sich erkannte. "Malik, ich hab dich doch gebeten-" Er hielt inne. Es war nicht Malik, den er vorhin gebeten hatte, ihn alleine zu lassen, sondern Enrico, der neben ihm auf dem Wannenrand saß und ihn betrachtete. Verlegen strich Olivier eine Strähne seines nassen Haares nach hinten und murmelte: "Ich hab nicht gemerkt, wie jemand hereingekommen ist." "Wie geht es dir jetzt, Olivier?", fragte der Vampir sanft. Der Junge zuckte mit den Schultern. "Ich ... weiß nicht. Besser, als man nach so einem Vorfall vermuten würde, schätze ich", fügte er dann unschlüssig hinzu. "Wie weit ist er gegangen?" Wieso hatte er nur auf diese Frage gewartet. "Kannst du das denn nicht riechen?" Enrico lächelte schwach. "Mir ist viel in die Nase gestiegen, als ich das Zimmer betreten habe. Das ist das Problem im Moulin Rouge." Olivier schwieg eine Weile, dann sagte er, "Er hat ... seinen Finger in mich gesteckt und mich geschlagen, aber mehr hat er nicht gemacht." Olivier bemerkte, wie sich Enricos gläserne Fingernägel nach diesen Worten tatsächlich in den Rand der Wanne gruben und kleine Risse bildeten. "Das ist schon viel zu viel, wenn du mich fragst", murrte er finster. "Ich verstehe immer noch nicht, wieso du mich ihn nicht hast töten lassen." "Enrico, nicht jedes Problem kann mit dem Tod beseitigt werden", sagte Olivier gedämpft und ergriff die Hand des Vampires, die sich in den Wannenrand gekrallt hatte, um sie sanft zu küssen. Enrico war überrascht über die Geste - das erste Mal, das eine Zärtlichkeit von Olivier ausging. "Ich will es einfach nur vergessen. Wie wäre es, wenn du morgen Abend mit mir in den Louvre gehst? Ich habe gehört, dass da gerade eine neue Ausstellung aufgemacht haben soll." Kapitel 6: VI. -------------- Müde kühlte Ryou seine schmerzenden Füße in dem Wasser des Fontana di Trevi. Mittlerweile war es Abend geworden. Er war den ganzen Tag unterwegs gewesen. Und hier war er nun. Ein junger Bohemian, der von London nach Paris, von Paris nach Rom gereist war, in der vagen Hoffnung, endlich eine Zukunft zu finden, für die es sich zu kämpfen lohnte. Der Junge, welcher noch nicht einmal die Volljährigkeit erreicht hatte, ehe er das Elternhaus hatte verlassen müssen, ließ den Blick der dunklen, freundlichen Augen über die steinernen Statuen schweifen, welche den Brunnen säumten und auch in seiner Mitte ihren Platz gefunden hatten. Ein Seufzen schlich sich über seine zarten Lippen. "Sitzen vor den Pyramiden, zu der Völker Hochgericht - Überschwemmung, Krieg und Frieden - und verziehen kein Gesicht." Goethe. Ryou kannte viele Gedichte, viele Reime. Seine kleine Schwester hatte sie auch immer geliebt. Als Kinder hatten sie sich gegenseitig die Werke alter Künstler vorgelesen, die schönsten Reime, und hatten sich daraus ihre eigene kleine Welt erschaffen, da die Eltern sich selten um ihre Kinder gesorgt hatten und als der Vater gestorben war und die Mutter alkoholkrank wurde und sich einem Mann an den Hals warf und sie beide alleine ließ, nahm das tragische Schicksal seinen Lauf, denn auch die kleine Amane blieb bald nicht verschont von der garstigen Grausamkeit des Daseins. Der Tod holte sie schließlich. Und nichts mehr hatte Ryou in London gehalten. Das Versprechen Amane gegenüber hatten ihn stets getrieben. Das einzig Greifbare, das noch geblieben war. Seine Reise hatte so lange gedauert, weil er nie Geld gehabt hatte. Er hatte beinahe jede Arbeit angenommen, um zu etwas Geld zu kommen, um die Überfahrt von der Insel aufs Festland zahlen zu können und nach Rom war er per Billigexpress gefahren und während dieser Fahrt hatte er die Menschen mit seinen eigenen Gedichten so sehr bezaubert, dass sie ihm Geld gegeben hatten. Und nun war er schließlich hier, in Rom, hatte sich gerade soviel erarbeitet, dass es zum Leben reichte. Eine Existenz gründen? Ungewiss. Er hatte ja noch nicht einmal eine Bleibe für die Nacht und so, wie es aussah, würde er hier vor den Stufen des Brunnens nächtigen. "Da bin ich", sagte er. "Und nun?" Er konnte ja nicht nur reimen. Er malte. Portraits. Der Menschen, denen er begegnete, die er zufällig sah und er malte seine Träume. Surreale, morbide Träume, mit denen er nicht umzugehen wusste, die so real waren, dass er nicht anders konnte, als sie auf Leinwand oder Papier zu bannen. Er hatte ja weder Geld für Staffelei noch teure Ölfarben, so zeichnete er meistens mit Kohlestift und auf billigem Papier. Ryou musste kreativ sein können, musste sich ausleben können, dann war das schwere Leben gleich weniger schwer. Als der Blick des Jungen so über die steinernen Mienen schweifte, blieb er plötzlich an einer bestimmten hängen. Er wusste nicht, wieso, immerhin war es eben ein solches steinernes Gesicht wie die anderen auch, aber er konnte seine Augen nicht mehr abwenden. Abwesend ließ Ryou seinen kleinen Seesack zu Boden gleiten, welchen er noch während des Sitzens auf seinem Schoß hatte ruhen lassen, stand auf und ging ein paar leise, platschende Schritte durchs Wasser, ehe er sich an der anderen Seite wieder hochzog, an der Hand der Figur, die ihn so in den Bann gezogen hatte. Es war ein Mann. Der Mann war nackt dargestellt, sitzend auf einer Art Thron, oder vielmehr Ruhesitz, wie ihn die alten Ägypter und die Griechen verwendet hatten, die Haltung gerade, die Arme in unterschiedlicher Höhe vom Körper abgewinkelt, die Haare einer Löwenmähne gleich, die leeren, steinernen Augen wirkten hart und das nicht nur des Steines wegen, um den Mund war ein kalter, verkniffener, oder höhnischer Zug und alles, aber auch wirklich alles in der Statur dieses steinernen Mannes strahlte Verachtung, Bosheit und Macht aus, so sehr, dass Ryou sich tatsächlich einen Moment erschreckte und daraufhin das Gleichgewicht verlor. Instinktiv griffen seine Arme aus, griffen ins Leere und fanden dann Halt an dem unteren ausgestreckten Arm der Statue. Ein stechender Schmerz schoss durch seine Hand und auch durch seinen Arm, als sich ein Teil seines Fingernagels des Zeigefingers ablöste und er zog scharf die Luft ein. Ryous Herz klopfte und um zur Ruhe zu finden, ließ er sich einfach auf den einladenden Schoß der Statue fallen und bemerkte dabei nicht, wie ein winziger Tropfen Blut, anstatt auf dem Stein abzuperlen, langsam von diesem eingesogen wurde, fast wie Haut eine Salbe aufsog. Ryou schloss einen Moment die Augen. "Das ist scheiße", sagte er rundheraus. Man hatte ihn als Kind immer gescholten, wenn er solche Worte in den Mund genommen hatte, aber nun schalt ihn keiner mehr und er fluchte bewusst, wie ihm der Sinn stand. "Das ist einfach nur scheiße." Abermals in die Stille hinein. Dann öffnete er die Augen wieder und sah aus der halb seitlichen Froschperspektive zu dem steinernen Mann hinauf. "Sei froh, dass du keine Ahnung vom Leben hast", teilte er diesem mutlos mit. "Ich wünschte, ich wär auch nur ein dummer Klotz aus Marmor, dann müsste ich mich nicht immer mit so einer Scheiße herumschlagen." Und dann geschah etwas Sonderbares. Ein leises Vibrieren ging durch den Stein und plötzlich fühlte er sich warm an, wärmer als zuvor, warm, wie sich Stein nicht anfühlen sollte und Ryou blinzelte verwundert, dann erschreckt und schließlich schrie er auf, als sich die steinernen Arme, an welchen er zuvor noch gelehnt hatte, um ihn schlossen und als er hinauf blickte, war da kein marmornes Gesicht, da waren bronzefarbene Haut, der Mund, welcher einen triumphierenden Zug angenommen hatte und unendlich dunkle, schwarze Augen, die ihn gierig und verlangend anstarrten. Eine sonore Stimme drang an das Ohr des Jungen und am liebsten hätte er sich die Hände an die Ohren geschlagen, wenn er sich denn aus seiner Starre hätte lösen können, doch er konnte nicht. Als wäre die Statue der Mensch und er nun die Statue. "Ein Kind haben sie mir geschickt, um mich zu erlösen ..." Eine grauenhafte Stimme. Sie ging durch und durch. "Weiß wie der Mond, so rein und wunderschön ..." Bildete er sich das ein, oder war da eine Spur Lüsternheit und Verlangen herauszuhören? Dann, plötzlich ein Lachen, als die zum Leben erwachte Statue Ryous entsetzte Mimik bemerkte. "Was, denn, mein Kind? Bereust du deine Worte von vorhin jetzt?" Ryou schnappte nach Luft, war unfähig, die Worte zu bilden, die eigentlich aus seinem Mund kommen sollten. Das war vollkommen surreal, das war ... wieder einer seiner Träume? Ja, so musste es sein. Stein wurde nicht lebendig. Das war nicht möglich. Steine waren Steine und Menschen waren Menschen. Ein amüsiertes Lachen drang an sein Ohr und dann spürte er einen Druck im Kreuz, der Mann hob ihn mühelos an und sein Kiefer senkte sich herab und für einen winzigen Augenblick sah Ryou zwei scharfe elfenbeinweiße Zähne aufblitzen und dann war da noch der Schmerz, als diese sich gnadenlos in der zarten Haut seines Halses vergruben. Ryou riss die Augen auf, dann senkten sich die Lider sacht herab, wie als wäre er in einer Trance gefangen und um die Lippen schlich sich ein entrücktes Lächeln. Er ließ los. Begab sich in die Willkür dieses Wesens, das nun seine Macht über ihn erhoben hatte, ihn zu seinem Besitz machte, zu einer Funktion im Zahnrad der Welt. Ein angenehm saugendes Gefühl an seinem Hals und er wusste, es war das Blut, sein eigenes, das ihm genommen wurde und währenddessen ließ er seine Gedanken frei, ließ sie strömen, sollte dieses Wesen doch alles von ihm wissen, was da war und viel gab es da nicht zu wissen, denn er hatte noch nichts Großes getan in seinem Leben. Tränen stiegen in den Augen des Jungen auf, Tränen von der Art, die jedes Wesen, jeden Menschen eigentlich berührt hätten, doch nicht so bei diesem. Er war das Böse. Der verbannte, gestürzte Pharao. Und er war zurückgekommen, weil es ihn nach Rache gelüstete und weil ihn dieses unendlich reine und köstliche Blut endlich von seinem Jahrtausende langen steinernen Fluch erlöst hatte. Und vielleicht war auch das Ryous Glück, denn das bedeutete, dass er ihn nicht töten durfte. Der Pharao erhob sich mit dem willenlosen Lamm auf seinen Armen und spürte, wie die verloren geglaubte Macht ihn neu durchströmte, ließ den Blick eine Sekunde schweifen und dann glitt er mit ihm in die Nacht, unbemerkt von irgendjemandem. ~ Oliviers Augen hatten begonnen zu strahlen und lieferten sich, seit er und Enrico den Louvre betreten hatten, einen Wettstreit mit den prunkvollen Kronleuchtern. Enrico schmunzelte, als er Olivier betrachtete, wie dieser gedankenverloren vor einem Kunstwerk stand, denn es wirkte fast so, als saugte er die Schönheit dieses Bildes in sich auf. Denn schön war es, ja. Schön und gleichsam einschüchternd. Luzifer und Michael, von Lorenzo Lotto. Es zeigte, wie der Feuerengel Michael Luzifer, den einstigen Lichtbringer, bezwang und hinab in die Hölle stieß. Enrico war aufgefallen, dass Olivier von den christlichen Motiven am meisten angezogen wurde. Und er musste zugeben, auch für ihn hatten sie einen gewissen Reiz, allerdings weniger aus religiösem Interesse, wie das wohl bei dem Knaben der Fall zu sein schien, sondern mehr aus Neugierde. Neugierde auf die Menschen, deren Theologie und den Bezug zur Kunst. Langsam und lautlos trat er näher an den Jungen heran. "Gefällt dir das?", wisperte er nahe dessen Ohr und Olivier erschauerte kurz, fühlte dann einen gehauchten Kuss auf seinen heißen Wangen, von denen Enrico annahm, sie seien so warm, weil die Raumtemperatur so hoch war. Aber dem Jungen schien der Kuss in diesem Moment sehr zu gefallen. "Ich finde es sehr beeindruckend", sagte Olivier leise, "wie Lotto mit dem Licht umgegangen ist. Nur Michael ist beleuchtet, es wirkt fast so, als sei es mehr das göttliche Licht als sein Feuerschwert, das Luzifer in die Hölle stößt. Und doch ist es eigenartig", fügte Olivier nach einer kurzen Pause hinzu und ergriff abwesend Enricos Hand, welche sich sanft um seine Schulter gelegt hatte, trippelte vorsichtig mit den Fingersitzen über dessen Handrücken. "Was meinst du, Täubchen?", raunte Enrico, da es ihm vorkam, als dachte Olivier seinen Satz zu Ende und er mochte nicht in dessen Gedanken lesen, denn das erschien ihm in diesem Moment nicht richtig. "Na ... Luzifer, ich meine ..." Er schien seine Worte abzuwägen. "In allen Geschichten wird er einem als das leibhaftige Böse beschrieben, als der Verdammte, der Gefallene, der sich von Gott abwandte, aber in dieser Darstellung sieht er gar nicht ... böse aus. Vielmehr ... verloren, einsam. Sieh mal, wie er die Arme schützend hebt. Als würde er sich wünschen ..." "... Dass ihn jemand aus der Finsternis errettet", murmelte Enrico abwesend und Olivier wandte das erste Mal den Blick vom Bild ab, weil in dessen Stimme etwas Bitteres mitgeschwungen war. Olivier sah sich einen Moment verstohlen um und dann küsste er ihn, keusch und vorsichtig und dennoch schmolz Enrico dahin, da es das erste Mal war, dass Olivier so etwas initiierte. Die blauen Augen des Knaben sahen ihn verständnisvoll an und auch um Verzeihung bittend, dass er diese Ähnlichkeit nicht bemerkt hatte. "Ich könnte es für dich kaufen, wenn du möchtest", wisperte Enrico und schmiegte sich einen Moment an die Handfläche Oliviers, der ihm zart über die Wangen streichelte. Dieser lächelte. "Ach, Enrico, das wäre ja so, als würde man der Welt dieses Bild stehlen." "Ich könnte es, wenn du wolltest." "Ich weiß. Aber ich will es nicht. Die Kunst ist für alle da. Leider auch für diejenigen, die sie nicht mehr zu würdigen wissen. Eine Schande." Sie gingen ein paar Schritte weiter. Um diese Zeit waren nicht mehr viele Menschen im Louvre und so blieben sie auch beinahe unbemerkt. Olivier hustete. Enrico warf ihm einen Blick zu, aber es schien nichts Ernsthaftes zu sein, denn es hatte bereits wieder aufgehört. Olivier selbst verzog nur das Gesicht. Diesen leichten Reizhusten, den hatte er in der letzten Zeit öfter. Vielleicht eine Stauballergie, er war ja für alles Mögliche empfänglich. Enrico war im Stillen froh darüber, dass es gelang, Olivier so gut von dieser Geschichte mit Zidler abzulenken, aber der Knabe schien wohl mental von zäherer Natur, als er zuerst angenommen hatte. Er hatte ja erst befürchtet, dass er sich wochenlang in sich zurückziehen würde und er ihn, wie bei einer verschüchterten Katze, mit Engelsgeduld und Streicheleinheiten mühsam wieder hervorlocken würde müssen. Er hoffte, Olivier verdrängte nicht nur, aber derlei Anzeichen konnte er in seinem Geist derzeit nicht lesen, also wollte er auch nicht den Teufel an die Wand malen. Und gerade war es schön so, wie es eben war. Sie verbrachten Zeit miteinander und Oliver vermochte es immer wieder, ihn aufs Neue zu entzücken, wo andere Sterbliche, die im Laufe der Jahrhunderte gekommen und gegangen waren, bald angefangen hatten, ihn zu langweilen. Aber Olivier ... das war etwas anderes. Etwas vollkommen anderes. Nachdenklich betrachtete er das Halbprofil des Jungen, welcher ihm ein paar Schritte vorausgelaufen war, um sich ein anderes Gemälde anzusehen. Er war so lieblich, so vollkommen, so wunderschön und so klug. Hatte er ihn anfangs doch mehr als verlockendes Spielzeug angesehen, so mochte er ihn jetzt nicht mehr missen. Abwesend glitt der Blick der dunklen, blauen Augen über die zarte Statur Oliviers, den schmalen Rücken, das verboten perfekt geformte Gesäß. Das seidige Haar und die reine Haut und als er ihm kurz über den Rücken ansah und ihm diesen Blick zuwarf, den er nicht beschreiben konnte, da machte sich ein eigenartiges Gefühl in ihm breit, ein Gefühl, das er lange nicht mehr auf diese Weise verspürt hatte. "Was siehst du mich denn so an?", meinte Olivier mit einem Lächeln und im nächsten Augenblick war Enrico bei ihm und schloss ihn in die Arme. Sog den Geruch seines Haares ein, küsste seine Wange, wanderte mit der Zunge zum Ohrläppchen und vergrub dann die Nase im Haaransatz im Winkel hinter dem Ohr, wo der süße Eigengeruch des Jungen am stärksten war. Olivier spürte, wie ein leichtes Zittern durch den Vampirkörper ging und wusste nicht, wie er es zu deuten hatte. "Was machst du nur mit mir, mein Täubchen?", flüsterte Enrico zart in sein Ohr und Olivier schloss einen Moment die Augen, genoss die Umarmung, genoss das zärtliche Flüstern, die Nähe und war plötzlich erfüllt von unendlicher Zuneigung für diesen Mann, ließ sich küssen und sie küssten sich heiß und innig und vergaßen dabei vollkommen, wo sie waren. Die wenigen Menschen, die an ihnen vorbeiliefen, warfen ihnen verstohlene Blicke zu, aber irgendetwas, das die beiden umgab, hielt sie davon ab, das Wort zu erheben über diese Ungehörigkeit. Als hätte es Enrico mit seinem Zauber vermocht, einen unsichtbaren Wall um sie zu ziehen. Als sie voneinander abließen, waren Oliviers Wangen leicht gerötet und er sah so unwiderstehlich aus in diesem Moment. Im nächsten Moment ergriff Enrico spontan das zarte Handgelenk des Jungen und zog ihn hinter sich her. "Komm mit", sagte er dabei bestimmt und Olivier lachte leise. "Wo willst du denn hin?" "Warte es ab." Sie näherten sich einem verschlossenen Aufgang, überflüssig zu erwähnen, dass es leise klickte, als Enrico eine Handbewegung ausführte und die Tür sacht aus dem Schloss sprang. Lautlos öffnete sie sich und ebenso lautlos schloss sie sich wieder, nachdem die beiden sie passiert hatten. "Rico!", wiederholte Olivier noch einmal atemlos, als sie eine große Wendeltreppe erklommen und kurz bevor sie am oberen Ende angekommen waren, hielt der Italiener inne und sah ihm direkt in die Augen. Zog ihn abermals in einen kurzen Kuss. "Ich zeige dir die Nacht jetzt, wie ich sie sehe", raunte er gegen die roséfarbenen Lippen, dann öffnete sich die Tür zum Dach und kühle Nachtluft schlug Olivier entgegen, als er an Enricos Hand nach draußen schritt. Der Zutritt war hier normalerweise verboten, weswegen die Fläche auch nicht sonderlich einladend wirkte, aber Enrico hatte ohnehin nicht vor, hier zu verweilen. "Vertraust du mir?", fragte er den Jungen leise und Olivier nickte, beinahe wie selbstverständlich. Wenn er Enrico nicht trauen konnte, wem dann? Und im nächsten Moment spürte Olivier, wie ihm die Beine unter dem Körper weggezogen wurden, fand sich in Enricos Armen wieder und als er gewahrte, dass sich selbiger zur Dachkante hinbewegte und schließlich sprang, stieß er automatisch einen leisen Schreckensschrei aus und kniff die Augen zusammen. Doch nichts geschah, kein Aufprall, kein Schmerz. Nur die kühle Nachtluft, die ihm durchs Haar wehte und seine Wangen rötete. Langsam öffnete er die Augen - und klammerte sich automatisch fester an Enrico, während ihm ein "Mon diéu!" entwich. Sie waren über der Stadt. Schwerelos, so wie Olivier es sich in seinen bangen Stunden immer erträumt hatte. Mit immer größer werdenden Augen nahm er die Lichter der Stadt in sich auf. Es war ein wahres Meer aus Lichtern, wie sie unterschiedlicher nicht hätten sein können und doch verschmolzen sie irgendwann in der Schnelligkeit des Fluges zu einer wunderbaren, hellen Masse. Und Olivier entspannte sich, fühlte sich befreit, wie er sich schon lange nicht mehr gefühlt hatte, und fühlte sich geborgen in diesen Armen. Weit in der Ferne sah er die roten Flügel der Mühle, aber sie jagten ihm keine Angst mehr ein, obgleich er letztens erst noch ihr Gefangener gewesen war. Enrico beschützte ihn, das wusste er. Vor allem und jedem, der ihm etwas antun wollte. "Das ist richtig", wisperte Enrico, so dass er es im Winde des Fluges gerade noch verstehen konnte. "Niemals würde ich zulassen, dass dir ein Leid geschieht." Olivier wurde seltsam zumute. Dann sah er den erleuchteten Eiffelturm, wie sie sich ihm näherten und kurz darauf glitt Enrico lautlos herab, bis er auf der höchsten Plattform des Turmes zum Stehen kam und stellte Olivier wieder auf seine eigenen Beine, schlang stattdessen einen Arm um seinen Rücken. Sie schwiegen. Und es war ein schönes, angenehmes Schweigen, während sie die Stadt betrachteten, die Lichter, wie manche von Ihnen erloschen, je weiter die Nacht fortschritt. "Manchmal in der Vergangenheit, ertappte ich mich dabei, wie ich sie beobachtete", murmelte Enrico irgendwann. "Wenn man so lange nicht mehr unter den Lebenden weilt, fängt man irgendwann an, sich zurückzuziehen, weil man kein Teil mehr ist von ihnen. Und es ist im Grunde gut so. Doch dann packt einen irgendwann die Sehnsucht nach dem Leben und man fängt an, sie zu beobachten und ehe man sich versieht, erliegt man seiner Sehnsucht und begeht irgendeine Narretei.” Enrico klang selbstironisch bei diesen Worten und während er sprach, strich sein Daumen sanft über den Oberarm Oliviers. Der Junge hatte sich an ihn gelehnt und lauschte seinen Worten. “Von welcher Narretei sprichst du?”, fragte Olivier leise. “Ich liebe dich, mein Täubchen.” Oliviers Herz hatte einen kurzen Aussetzer und er löste sich aus Enricos Arm, um ihm ins Gesicht sehen zu können. “Du - was?”, stotterte er, konnte das eben Gehörte nicht so recht begreifen. “Ich meine, ich ...” ... liebe dich auch? Olivier wagte es nicht, diese Worte auszusprechen. Er fürchtete sich vor ihnen. Fürchtete, dass er noch nicht reif, noch nicht alt genug war, diese Worte zu begreifen in ihrem ganzen Ausmaß und doch fühlte er im Innersten seines Herzens, dass er ihn auch liebte. “Ich ...”, begann er noch einmal hilflos, doch Enrico legte ihm einen Finger auf die Lippen. “Es ist in Ordnung”, sagte er leise. “Ich weiß doch, wie es um dich bestellt ist.” Olivier stiegen kurz die Tränen in die Augen. Ärgerlich blinzelte er sie fort. Er spürte, wie Enrico ihn auf die Stirn küsste und spürte, wie sein Herz sich plötzlich überschlug. Er wollte ihm auch etwas geben. Wollte ihm zeigen, dass er ihm vertraute und dass er ihm ergeben war. Und dann sagte er: “Enrico?”, blickte ihm dabei direkt in die Augen. “Ja, mein Engel?” “Ich ...” Die Wimpern senkten sich einen Moment herab, als er auf den Boden sah, hoben sich dann wieder. “... möchte dir mein Blut geben.” Enrico blinzelte, ehe ihm ein leicht krächziges “Was?” entfuhr. “Du hast mich richtig verstanden”, sagte Olivier leise. “Als Zeichen meiner Zuneigung und meiner Dankbarkeit. Ich bitte dich darum. Außerdem glaube ich, dass ... ich schrecklich eifersüchtig wäre, wenn du es dir jetzt von einem anderen nehmen würdest.” Der ehemalige Kaiser war tatsächlich sprachlos. Das erste Mal seit Jahrhunderten. Und er spürte einen Puls in der Höhe seines Adamsapfels, wie er ihn schon lange nicht mehr gespürt hatte, die Kehle wurde ihm trocken, wie als er damals als Knabe das erste Mal kurz davor gestanden hatte, mit einer betörenden Frau zu schlafen; er fasste Olivier bei den Wangen und versuchte, in dessen Gesicht irgendeinen Zweifel zu lesen, doch den fand er nicht. “Ist dir eigentlich klar, was du mir da offerierst? Nichts wird so sein wie vorher und ich weiß nicht, ob ich mich danach zurückhalten kann!” Olivier nickte, war dabei viel ruhiger, als Enrico es war und Enrico stieg plötzlich wieder der Duft dieses unendlich süßen und betörenden Blutes in die Nase, er hörte, spürte und roch, wie es unter der weißen Haut pulsierte und er erzitterte, als Olivier die Arme um ihn schlang und den Hals leicht neigte und dann konnte er nicht mehr an sich halten, denn das einzige, was er sah, war dieser unendlich schöne Schwanenhals und alles um ihn herum verschwand, als er endlich die weißen Dornen in der zarten Haut des Halses vergrub und Oliviers Körper erbebte in seinen Armen, als der erste Schwall Blut in seinen Mund pulsierte und er musste sich zurückhalten, nicht in großen Schlucken zu trinken, denn schaden wollte er Olivier auf keinen Fall. Er trank in kleinen, zurückhaltenden Schlucken und während er trank, wurde es Olivier in seinen Armen ganz anders. Er bekam weiche Knie und wenn Enrico ihn nicht mit festem Griff gehalten hätte, dann wäre er sicherlich zu Boden gesunken, weil seine Beine ihn nicht mehr trugen. Sein Gesichtsausdruck bekam etwas Entrücktes und er versuchte, nicht abzudriften, weil er dieses Gefühl wahrnehmen wollte, dieses unendlich betörende, saugende Gefühl, das Verbotene der Nacht und ja, er genoss es, ihm ausgeliefert zu sein und es erregte ihn und in jenem Moment war da keine Scham mehr für diese Erregung, nur Verlangen. Unbändiges sexuelles Verlangen nach diesem Mann, der ihm so den Kopf verdrehte und der machte, dass seine Welt Kopf stand, dass die Lichter des Eiffelturms über ihm verschwammen und dann ... hörte es auf. Enrico hatte sich lösen müssen, widerwillig zwar, aber die Angst, Olivier ernsthaft zu schaden, war zu groß, zu gegenwärtig. Er atmete flach, sah in Oliviers Gesicht, welcher einen Moment die Augen geschlossen hatte, da ihm wohl schwindelig geworden war und das Verlangen des Jungen war ihm kaum verborgen geblieben. Wortlos hob er ihn in die Arme, noch ganz berauscht von dem Blut, während die Erregung in seinen Lenden pulsierte und als er in die Nacht glitt, nachhause, wusste er, dass er ihn sich jetzt nehmen würde, egal, ob Olivier noch versucht hätte, ihn aufzuhalten. ~ “Wo sind wir hier?”, flüsterte Ryou, als er sich langsam von seinem Schock erholt hatte. Ein Knurren kam von seinem Entführer, ärgerlich darüber, dass man ihm so eine triviale Frage gestellt hatte. “Irgendwo, wo dieses Menschengewürm nicht auf die Idee kommt, nach einer fortgelaufenen Statue zu suchen.” Die Stimme klang spöttisch und kalt und Ryou schauerte es. “Wieso habt Ihr mich entführt? Wer seid Ihr?” “Weißt du, mein Kind, früher habe ich meinen Untertanen, wenn sie zu vorlaut waren, einfach die Zunge abgeschnitten. Vielleicht sollte ich das auch mit dir tun, du redest zuviel.” Ryou presste die Lippen zusammen. Einerseits hatte er wirklich Angst vor diesem Mann, doch andererseits war er nicht gewillt, seine Fragen unbeantwortet zu lassen. “Untertanen?” “Welches Jahr schreiben wir?”, drang die sonore Stimme an sein Ohr, ohne seine vorherige Frage zu beantworten. “Wir haben den 13. Oktober 1896.” Ryou konnte beinahe spüren, wie die Luft in dem kleinen Raum des Kirchturms in welchem sie sich offensichtlich befanden, herunterkühlte und abermals jagte es ihm eine Gänsehaut über den Körper. “Mehr als 2000 Jahre ...” Ryou war feinsinnig genug, zu bemerken, dass das eine Feststellung war und man ihn damit nicht angesprochen hatte. Aber eine kalte Wut schien von dem Mann auszugehen, der vor etwas weniger als einer Stunde noch aus Stein bestanden hatte. Und plötzlich drehte er sich zu Ryou um und dieser prallte zurück als er das Gesicht des Mannes sah, denn seine Miene war durchwirkt mit einer Mischung aus Wahnsinn, Zorn und unterschwelligem Schmerz. “2000 Jahre wurden mir gestohlen und einzig und allein der verdammte römische Thronräuber und dessen Schergen tragen die Schuld daran! Mein Volk fürchtete mich und meine Untergebenen verehrten mich, ich war legendär!” Die Luft fing an zu flirren und Ryou presste sich mit pochendem Herzen an die kühle Steinmauer des Zimmers. “Yalik nannte man mich und ich hätte die Welt beherrscht, wenn dieser Wurm mir nicht dazwischengefunkt hätte. Für diese Schmach wird er bluten. Er und alle, die ihm nahe sind!” Ein heißer Luftzug ging plötzlich durch den Raum und er war heiß, wie Wüstensand. Ryou kniff automatisch die Augen zusammen und als Yalik sich umwandte und auf ihn zuschritt, gaben ihm die Beine nach und er rutschte an der Mauer herunter, starrte angstvoll zu ihm hoch. “Du, mein Junge hast Glück”, sagte der ehemalige Pharao gefährlich sanft. “Ich brauche dich nämlich. Du bist mein Lebensspender und gleichsam wirst du das Privileg haben, mir zu dienen. Dafür lasse ich dich am Leben. Wie findest du das?” Dass er ihn gar nicht töten konnte, verschwieg er sorgsam. Und Ryou nickte. Denn er hatte keine Wahl. Kapitel 7: VII. --------------- Olivier glitt in die weichen, reinen Laken, der Duft der Frische umschmeichelte seine Nase und es schwindelte ihn leicht von dem Blutverlust. Sein glasiger Blick war auf den Liebhaber gerichtet, studierten fasziniert dessen überirdische Erscheinung, die ebenen Konturen von Augen, Nase und Mund, die typisch südländischen Gesichtszüge, die dennoch fein waren und irgendwie nicht so recht zu der marmornen Haut passen wollten. Olivier streckte wie mechanisch eine Hand aus und strich Enrico über die Wange, als hätte er es nie zuvor getan. Ein verschmitztes Lächeln zuckte um die Mundwinkel des ehemaligen Kaisers und er senkte sich herab, die zarten Lippen des Knaben zu verschließen, den betörenden, süßen Mund, der so nach seinem gierte, er spürte das Verlangen des Jungen und wusste, dass er nichts Falsches tat, wenn er ihn sich jetzt nahm. Selbst wenn er nicht seinem unsterblichen Zauber erliegen würde, wäre er ihm jetzt nun gefügig. Enrico spürte in sich selbst eine Aufregung, eine Vorfreude, die er schon lange vermisst hatte, denn wenn man zu oft etwas hatte, verlor man die Freude daran, doch bei Olivier war das nicht so, nein, es war, als nähme er sich das erste mal einen Knaben, nur dass er die Sicherheit hatte, die er damals als Bursche nicht gehabt hatte. Sie küssten sich. Lange und intensiv und Olivier versank in seiner eigenen kleinen Welt, in einer Welt, in der nur noch er und Enrico von Bedeutung waren und nicht all jene, die ihm jemals etwas zuleide getan hatten. Alles wurde bedeutungslos, bis auf sie beide. Olivier schloss genießend die Augen, als Enrico sich einen Weg an dem schwanengleichen Hals entlang knabberte, immer mal wieder spielerisch hineinbiss und Olivier, der gar so empfindsam war, jagte es dabei gelegentliche kleine Schauer über den Körper. Während er das tat, strich Enrico ihm in einer fließenden Bewegung den Jacquard von den Schultern und zog es geschickt unter seinem Körper hervor, dann machte er sich an den Knöpfen des Hemdes zu schaffen, währenddessen die Haut Oliviers kaum eine Sekunde in Frieden lassend. Auf eine Stelle am Hals konzentrierte er sich besonders, jene, von welcher er kurz zuvor diesen süßen Nektar hatte trinken dürfen, die Wunde war zwar wieder verschlossen, doch die Stelle färbte sich, da sie so malträtiert wurde, tiefrot und Olivier schrie irgendwann leise auf, vor Überreizung, aber gleichsam war es auch Lust, die sich in diesen leisen Schrei mischte. Enrico ließ die Stelle am Hals, fuhr dann weiter herab zum Schlüsselbein, dann weiter zur rosig harten Brustwarze, in welche er hinein kniff mit den Lippen, drückte mit der Zunge dagegen, erzeugte eine weitere Überreizung und als wäre das nicht genug, vergrub er wenige Augenblicke später die Zähne in der Haut um die Brustwarze, ließ ein paar Tropfen Blut auf seine Zunge perlen, saugte ein wenig und ließ dann ab, um mit leisem Stolz den kreisrunden, rötlichen Abdruck um die zarte Knospe zu begutachten. Oliviers Atmung hatte sich dabei beschleunigt - der Junge reagierte so empfindlich auf seine Zärtlichkeiten, es war ein wahrer Genuss. Enrico leckte sich unbewusst über die Lippen, küsste dann entschuldigend die wunde Stelle, was Olivier ein abgehacktes, zittriges Seufzen entlockte. Als Enrico den Kopf hob, bemerkte er, dass der Junge die Augen geschlossen hielt, sich ganz auf ihn einzulassen schien und eine kurze Weile betrachtete er liebevoll das reine, makellose Gesicht, wie ein Engel lag er da, ein Engel, den er gerade zu Fall brachte und der selbst hernach nicht von einer einzigen Sünde befleckt sein würde, weil er so rein war. Ein abermaliger Kuss, dann ließ er seine Lippen fahren, richtete sich kurz auf, sich seiner Oberbekleidung zu entledigen und fuhr dann fort die Brust und den Bauch Oliviers zu liebkosen. Er zuckte kurz zusammen, als die feuchte Zunge sich ihren Weg hinunter bahnte, wie sie kurz im Bauchnabel verschwand und Enrico konnte schließlich nicht widerstehen, die Zähne abermals in dem weichen Fleisch zu vergraben, diesmal um den Bauchnabel herum, weil es ihm gefallen hatte, wie empfindlich er gerade aufgrund seiner Berührung gezuckt hatte. Olivier bäumte sich tatsächlich kurz auf und er konnte bereits, die Erregung des Jungen spüren, dann sank der Junge überfordert zurück in das Laken, stöhnte leise und schloss abermals die Augen. "Was machst du nur mit mir?", flüsterte er dabei, "Mon Dieu, was machst du nur mit mir ...?" "Gott wird dir auch nicht mehr helfen", murmelte Enrico mit einem schelmischen Grinsen, wobei er Olivier so nahe kam, dass sie auf Gesichtshöhe waren. Olivier verzog missbilligend das Gesicht und ehe sich Enrico versah, hatte er ihn geohrfeigt und Enrico wusste, dass er fester zugeschlagen hätte, wenn es sein derzeitiger Zustand erlaubt hätte, aber so belächelte er diese schwache Gegenwehr nur. Seine Wange brannte nur leicht und er genoss das Gefühl der Leidenschaft, die trotz Oliviers Entkräftung in diesem Schlag gelegen hatte. Es war nicht die erste Ohrfeige, die er in seinem Leben aufgrund seiner Vorwitzigkeit kassiert hatte und er nahm sie lapidar als Strafe hin. "Ach, Olivier", flüsterte er verschmitzt und fuhr dem Jungen zwischen die Beine und der fragte sich, wieso er es nicht mitbekommen hatte, dass er ihn seiner Hosen entledigt hatte, ergriff das bereits steife Glied und erwies ihm die Gefälligkeit, ihn eine Weile zu massieren. Auf Oliviers Wangen flammte eine leichte Röte, die mehr von der Erregung zeugte als von Scham und Enrico betrachtete wohlwollend, wie die zarte Brust sich schneller, in kürzeren Abständen zu heben und zu senken begann. Er machte noch eine Weile so weiter, ließ dann von ihm ab und als Olivier fragend den Kopf hob, meinte er: "Nun du, mein Täubchen. Komm her." Oliviers Blick blieb an der aufgerichteten Erregung des ehemaligen Kaisers hängen und er schluckte trocken, denn es machte ihn an und beinahe, wie mechanisch, stets das pulsierende Glied dabei im Blick habend, kam er näher gekrochen. Er wollte ihn anfassen, wollte wissen, wie es sich anfühlte und als sich kurz darauf die zarte Hand um den leicht pulsierenden Schaft schloss, stöhnte Enrico leise und genießend auf. Olivier begann, die Hand zu bewegen, auf und ab, wie es Enrico bei ihm gemacht hatte, ein wenig zaghaft noch, sodass Enrico irgendwann neckend meinte: "Greif ruhig fester zu, ich will das irgendwann auch spüren können." Olivier errötete leicht, packte dann fester zu, fuhr in strammen Bewegungen über den harten, warmen, pulsierenden Schaft, wagte dabei einen scheuen Blick zu seinem Liebhaber, doch der hatte halb die Augen geschlossen, schien zu genießen und Olivier sah sich in seinem Tun bestätigt und wurde ein wenig selbstsicherer dabei, kroch näher zu Enrico hin, küsste ihn auf den Hals an der Stelle kurz bevor der Kiefer begann und er bemerkte zum ersten Mal den angenehm-herben Geruch, der von diesem Mann ausging, männlich-dominant und sinnlich zugleich, und Enrico schien es zu erfreuen, dass Olivier etwas Eigeninitiative zeigte, ließ ihn gewähren und war neugierig darauf, wie weit er gehen würde, wenn er ihn einfach ließ. Er hatte schon lange gespürt, dass Olivier jemand war, der mehr wollte, als er sich traute. Schließlich ließ Olivier von ihm ab, rutschte ganz über ihn und schlang die Arme in einem leidenschaftlichen Impuls um ihn, gierte nach den Lippen des Vampires, an denen er noch sein eigenes Blut schmecken konnte und es schwindelte ihn leicht, während dieses Kusses, doch es war ihm egal, er wollte mehr, mehr davon, mehr von Enrico, mehr von diesen Küssen, mehr ... alles ... Er spürte Enricos Hände an seinem Kreuz, wie er ihn so herabdrückte, dass dessen Glied nun zwischen den Pobacken lag. "Komm, beweg dich ein bisschen", flüsterte ihm der Vampir rau ins Ohr und Olivier, der sich plötzlich mit dem Schwanz zwischen seinen Pobacken so herrlich schmutzig fühlte, nickte, leistete diesem leisen Befehl Folge, spürte, wie sich die Finger Enricos in seine Hüfte krallten, spürte das Pulsieren an dieser unanständigen Stelle und stöhnte leise, während er sich an Enricos Schultern festhielt. Der ließ sich das eine Weile gerne gefallen, bis er mit einer Hand von Oliviers Hüfte abließ und sie um sein Glied legte, weil er dem Jungen die erste Erlösung verschaffen wollte und es dauerte tatsächlich nicht lange, Olivier intensivierte seine eigenen Bewegungen nochmal, fiel dann in sich zusammen, weil er spürte, dass es ihm gleich kommen würde und presste sich nur noch gegen diese herrlich reibende Hand, die ihm kurz darauf einen wundervollen Orgasmus bescherte - er schrie leise auf und die warme Flüssigkeit benetzte Enricos Hand, dann sank er kurz keuchend in sich zusammen, stützte die Stirn auf Enricos Schulter ab und der ließ ihn eine Weile verschnaufen, ihm mit der unbefleckten Hand durchs Haar streichelnd. Und Olivier spürte, dass das jetzt noch nicht alles gewesen sein konnte. Die Erregung war immer noch nicht zur Gänze aus ihm gewichen und wie zur Bestätigung berührte ihn Enrico scheinbar nur leicht am Oberkörper, sodass er das Gleichgewicht verlor und zurück in die Laken sank. Enrico kam über ihn, küsste ihn, biss ihm auf die Lippe dabei und der leichte Schmerz, der davon zeugte, schoss durch seinen Körper, bis hin zwischen seine Beine. Enrico ließ schnell ab von seinem Mund, glitt abermals nach unten und schließlich fühlte der Junge, wie eine heiße, feuchte Mundhöhle sein Glied umschloss, es wieder zur Gänze hart saugte und er stöhnte, konnte sich nicht zurückhalten und beinahe hätte er die Hand nicht bemerkt, die sich einen Weg zu seinem Eingang bahnte, zärtlich dagegen stippte und schließlich, noch mit seinem eigenen Samen auf der Hand, in ihn eindrang. Olivier war so von dem saugenden Gefühl an seiner Körpermitte eingenommen, dass er sich nur kurz verspannte, dann lockerließ, weil es unmöglich war, sich auf so viele Eindrücke gleichzeitig zu konzentrieren und dann wieder ein Biss, an der Innenseite seines Oberschenkels, dort wo die Aorta verlief und er spürte die großen Schlucke, die Enrico machte, spürte, wie ihm noch schwindeliger wurde und Enrico musste sich fast losreißen, da er sonst wohl zuviel genommen hätte, einzig die reißenden Hände die sich in seinem Haar vergraben hatten, brachten ihn wieder zur Besinnung. Noch während des Bisses hatte er einen zweiten Finger hinzugenommen, kaum bemerkt von Olivier und er sah ihn atemlos an, während er ihn weitete, er ließ sich trotz seiner ungeduldigen Geilheit Zeit, denn er wollte Olivier weder wehtun noch traumatisieren, dazu war er ihm zu kostbar. Olivier begann sich bald vor Lust unter seinen Fingern zu winden, entspannte sich mehr und mehr und als Olivier schließlich flehend "Nimm mich endlich, bitte, ich kann nicht mehr warten", murmelte, war es vorbei mit der Selbstbeherrschung. Er zog seine Finger zurück, kam über Olivier, verschloss dessen geschwollenen Lippen mit einem gierigen Kuss und während er ihn küsste, drang er in ihn ein und die Finger, die sich in seine Schultern krallten, erzählten ihm von dem Schmerz, den der Junge erlitt, aber er war so tapfer, denn kein Laut drang über seine Lippen. Enrico hielt inne, als er sich gänzlich in dieser betörenden Enge versenkt hatte, gab Olivier und auch sich selbst Zeit, sich daran zu gewöhnen. Enrico fühlte sich plötzlich von einem ganz anderen Gefühl überwältigt und einen kurzen Moment ließ er die Wange auf die weiche, warme Knabenbrust sinken, hörte den Herzschlag, spürte das Leben, dass durch diese Adern schoss und die Finger, die zart durch sein Haar streichelten, taten wohl und es war schön, einen Moment nur dazuliegen und sich diese Zärtlichkeit gefallen zu lassen. Er hob den Blick. Dunkles Saphirblau traf mattes Violett. Hatten Oliviers Augen schon immer diesen intensiven violetten Ton gehabt? Oder nahm er ihn jetzt nur so stark wahr, weil sie so sehr miteinander verbunden waren? Enrico schluckte trocken, dann begann er sich zu bewegen und zu seiner Freude ging Olivier in dieser fließenden Bewegung mit, als wüsste er genau, was er zu tun hatte und es schien ihm zu gefallen, denn Enrico konnte keinen Schmerz und kein Unwohlsein in dem schönen Gesicht finden, nur Lust, Verlangen und Hingabe. Olivier hatte ihn aufgenommen, als wäre er kein Fremdkörper, als gehöre er einzig und allein dorthin, als wären sie einzig und allein füreinander gemacht worden, eine Träne wand sich aus den Augenwinkeln, rann kristallen die Wange herab und Enrico fing sie mit seinen Lippen auf und der Blick, den sie danach tauschten, sprach mehr aus tausend Worte. Plötzlich ging ein kleiner Ruck durch Oliviers Körper, gefolgt von einem kurzen abgehackten Schrei und Enrico wusste, dass er wohl jenen Punkt gefunden hatte, nach dem er gesucht hatte, die einen anderen Knaben in den Wahnsinn treiben konnte, wenn man sie nur lange genug penetrierte. Er intensivierte seine Stöße und das Stöhnen tropfte wie Honig von Oliviers rosigen Lippen, er ließ sich gehen, ließ sich treiben von der Lust, genoss diese neue Art und Weise, seinen eigenen Körper zu spüren und dieses Geräusch drang an Enricos Ohren wie der schönste Glockenklang, den er je vernommen hatte. Heiseres, angestrengtes Keuchen drang über seine eigenen Lippen, als er langsam spürte, wie er sich dem Höhepunkt näherte, vergrub er die Nase in Oliviers Halsbeuge, sog den Geruch ein und erschauerte ob der Fingernägel, die sich tiefer in seinen Rücken gruben, ihm signalisierten, dass es bei Olivier auch nicht mehr lange dauern würde. Olivier sah schwarze Punkte vor den Augen tanzen und dann biss Enrico in seine Schulter, die weißen, scharfen Dornen gruben sich tief in das Fleisch, saugten noch mehr von seinem Blut und dieses Gefühl, dieser Schmerz gab ihm den letzten Kick, der ihn schlussendlich zu seiner Erlösung kommen ließ. Mit einem glockenhellen Schrei beugte er den Rücken durch, zuckte ein paar mal, während er sich ergoss und genau dieses spasmische Zucken um sein Glied, brachte Enrico schlussendlich ebenso zum Ende; mit einem inbrünstigen, unterdrückten Stöhnen kam er tief in Olivier, füllte ihn mit seiner heißen Essenz, erklärte ihn somit zu dem Seinen. Enrico ließ sich von Olivier gleiten und zog den keuchend atmenden Jungen in seine Arme, spürte die Erschöpfung, die von diesem ausging und lauschte einen Moment besorgt auf den Puls. Hatte er ihm vielleicht zuviel Blut genommen? Olivier hatte die Augen geschlossen und schien in den Schlaf zu gleiten. Enrico lächelte liebevoll, als er dessen Mimik besah. Fuhr ihm durch das seidene Haar, wickelte einzelne Strähnen über seinen Finger, ließ sie zurück gleiten. Murmelte dann: "Olivier?" "Mh?" "Ich ..." Er hielt inne. Lächelte dann und schüttelte kaum merklich den Kopf. Nicht jetzt. Nicht nach dem Sex. "Schon gut." Enrico hauchte Olivier einen Kuss auf die Stirn und lauschte dann den regelmäßiger werdenden Atemzügen, lauschte, wie er langsam in den Schlaf hinüber glitt. Fühlte sich das erste Mal seit hunderten von Jahren nicht mehr einsam, nicht verloren zwischen den Zahnrädern der Zeit, die ihn malmend zu zerquetschen drohten. Enrico selbst wurde bald schläfrig, driftete ab. Es war gut so, wie es war. Alles. Es - Mit einem Schlag wurde er hellwach und fuhr in die Aufrechte, wobei der schlummernde Olivier von ihm herabglitt, erwachte und ihn mit verwirrtem Blick ansah. Enrico ging schnellen Schrittes zum Fenster, stieß es auf und stierte in die Ferne. Die Augen weit aufgerissen, lauschend, tastend, nach der Macht, die er eben gespürt hatte, die Macht, die so böse, so niederträchtig war, dass er sie unter Millionen wieder erkannt hatte. Enrico fuhr sich durchs Haar. Anspannung hatte ihn befallen. Ein kurzes Aufglühen, doch jetzt war nichts mehr zu spüren. Einbildung? Nein, auch wenn es nur einen kurzen Moment gewesen war, so war es viel zu intensiv gewesen, viel zu eindeutig. War er etwa wieder erwacht? Wie war das möglich? Sein Blick glitt automatisch zu Olivier, der zwischen den seidenen Laken saß und ihn verwirrt ansah, beinahe besorgt, weil er solch ein Gebaren von Enrico nicht kannte und er wollte den Knaben nicht beunruhigen, doch die Sorge stand ihm wohl zu sehr ins Gesicht geschrieben, als dass er es noch hätte verbergen können. Wieder flackerte der Blick in die Ferne, die Aura tastend, doch jetzt war nichts mehr wahrzunehmen. Die Stadt lag beinahe friedlich da mit ihren Lichtern und Dachzinnen. Nein, unmöglich. Er musste sich überzeugen, musste sichergehen, dass er sich das alles nur eingebildet hatte, dass ihm seine Sinne einen Streich spielten, denn sollte es tatsächlich er sein, so schwebten alle, die ihm nahe waren, in höchster Gefahr, denn wenn er erwacht war, wenn ihn jemand von seinem Fluch erlöst hatte, so war sein Sinnen nach Rache so sicher wie das Amen in der Kirche. Sein Blick glitt abermals zu Olivier. Er musste für seine Sicherheit sorgen. Ein leises Husten kam von dem Jungen, diesmal mit einem unmissverständlichen, feuchten Rasseln durchsetzt. "Enrico, was ist denn?" Seine Stimme klang ängstlich. Mit schnellen Schritten kam der Vampir zum Bett zurück. Küsste ihn auf die Schläfe. "Nichts, mein Täubchen", murmelte er, "schlaf jetzt, erhol dich." Und gleich morgen würde er nach einem Arzt schicken lassen. Das Rasseln bereitete ihm doch Sorgen. Denn es war das Rasseln von Blut in der Lunge. Und diese Erkenntnis traf ihn wie ein Dolchstoß ins Herz. Kapitel 8: VIII. ---------------- Mit ernster Miene betrachtete Enrico Oliviers entspannte Züge. Das sanfte Rattern des Zuges hatte den Jungen bald in einen leichten Schlaf fallen lassen. Die glutrote Abendsonne drang nur gedämpft durch die zugezogenen Vorhänge. Enrico hätte es natürlich bevorzugt, den schnellen Luftweg zu nehmen, aber das hätte er Olivier unmöglich zumuten können. Nur zu deutlich waren ihm noch die Worte des Arztes im Gedächtnis, der schlussendlich das bestätigt hatte, was er befürchtet hatte. Olivier hatte die Schwindsucht und die einzige geringe Chance auf Heilung bestand darin, dass er sich in einem warmen Klima auskurieren konnte. Allerdings hatte der Arzt nur eine schwache Möglichkeit eingeräumt, doch Enrico wollte nichts unversucht lassen. So waren sie keine drei Tage später aufgebrochen. Nach Rom. La Bellissima citta. Enrico wurde ein bisschen wehmütig, als er daran dachte, wie lange er schon nicht mehr dort gewesen war und er wollte sich nicht ausmalen, was die Menschen aus seiner geliebten Stadt gemacht hatten. Eigentlich war er schon zu lange fort gewesen. Er hatte ein Abteil in der ersten Klasse reservieren lassen und gleichsam dafür bezahlt, dass sie den ganzen Waggon für sich hatten, Enrico hatte schlichtweg keinen Nerv auf lärmende Menschen. Und Lärm war es schon für ihn, wenn er irgendeinen Sterblichen zwei Abteile weiter flüstern hörte. Olivier hatte den einen Platz am Fenster – er selbst saß direkt neben ihm, bestrebt ihm nicht mehr von der Seite zu weichen. Malik, der sich quer gestellt hatte, Olivier irgendwo hin gehen zu lassen, wenn er nicht mitkommen konnte, hatte Olivier gegenüber am Fenster platz genommen und den Kopf auf die angezogenen Knie gebettet. Bakura saß am anderen Ende des Abteils, im Schatten, weil er das Kribbeln nicht mochte, das die Sonne auf seiner hellen Haut verursachte. Er hatte die Augen geschlossen und gelegentlich nahm Enrico schwache Gedankenschübe wahr, wenn Bakura so nachlässig war, einen durchdringen zu lassen. Enrico wandte seinen Blick wieder Olivier zu. Es war nicht nur das Blut in dessen Lungen, das ihm Sorgen bereitete, die innere Gefahr, nein, es war auch die Gefahr, die von außen kam. Je näher sie seiner Heimat kamen, desto stärker spürte er die Präsenz, die er am liebsten gänzlich ausgelöscht gesehen hätte. Er schloss die Augen. Die Erinnerung kam zurück, langsam und schleichend. Die Sonne brannte heiß auf die Tribünen des Circus Maximus hernieder. Schon seit Wochen war kein Regen gefallen und der Sand in der Arena war glühend heiß und stob bei jedem Fußtritt weit auf und er brannte den Gladiatoren wie Partikel heißen Eisens in den Lungen. Der gerade erst achtjährige Lucius Tarquinius saß an der Seite seines Vaters, des großen Imperator Caesar Divi Nerva Filius Nerva Traianus auf der Empore, die einzig und allein der Kaiserfamilie vorbehalten war, während zwei Sklaven mit Palmwedeln beständig für etwas Abkühlung sorgten. Es war das erste Mal, dass man Lucius mitgenommen hatte und dementsprechend groß war die Aufregung des Knaben. Seine Mutter, Flavia Lavinia,hatte sich die Jahre zuvor vehement dagegen gezeigt, dass ihr jüngstes Kind diesem barbarischen Schauspiel beiwohnte, doch nun war Lucius Tarquinius nach der Auffassung seines Vaters in einem Alter, in welchem er sich bei solchen öffentlichen Veranstaltungen ruhig zeigen konnte und sein Wort wog immer noch mehr, als das ihrige, auch, wenn er sie sehr respektierte. Lucius Tarquinius sollte nicht verweichlichen und seiner Meinung nach hatte er ohnehin viel zu lange gewartet. Die ozeanblauen Augen des Jungen waren gebannt in die Arena gerichtet. Schon seit einer halben Stunde standen sich die Männer mit den gestählten, von der Sonne braunen und glänzenden Oberkörpern in einem Zweikampf gegenüber. Noch schien keiner der beiden nachzugeben, auch wenn man ihnen die Erschöpfung bereits anmerkte. Der Hoplomachus hatte sein Schild schützend gehoben, das Kurzschwert in Angrifsstellung, während dunkle, schmale hinter einem visierten Helm verborgene Augen abschätzend seinen Gegner, den Thraker, der mit seiner leichten Panzerung und dem kleineren Rundschild auf den ersten Blick benachteiligt wirkte, musterten. Lucius verstand zunächst nicht, wieso man nicht beide mit den gleichen Vorraussetzungen in die Arena treten ließ. „Das ist eine gute Lektion, du du hier lernen kannst“, antwortete der Kaiser, sich zu seinem Sohn herabbeugend, „Auf den ersten Blick mag es tatsächlich so wirken, als sei der Thraker im Nachteil, ohne Zweifel die fehlende Panzerung macht ihn angreifbarer. Doch ist dir etwa entgangen, dass ebendiese seinen Gegner weitaus schwerfälliger macht? Sieh hin-“ Er deutete herab in die Arena, in welcher der Hoplomachus plötzlich, wie auf Befehl hin einen weiten Ausfallschritt tat, um seinen Gegner mit erhobenem Schwert anzugreifen. Ein kurzer Klingenabtausch folgte, untermalt mit dem erregten Geschrei der Zuschauer und zunächst schien es tatsächlich so, als seien die Kämpfer ebenbürtig, doch dann geschah etwas, das Traianus vorausgeahnt hatte – der Retarier ließ sich plötzlich fallen, schnellte unter dem Schild seines Gegners hindurch und hieb mit seinem Krummschwert nach der ungeschützten Wade des Hoplomachus. Tief schnitt das Eisen durch Fleisch und Sehnen. Selbiger hatte sich nicht schnell genug wenden können und mit einem schmerzerfüllten Aufschrei knickte er ein, während der Thraker seine Chance wahrnahm – er trat gegen den Arm mit der Waffe, sodass sein Gegner nun unbewaffnet war und schneller, als dieser seinen Schild heben konnte, hatte ihm der Thraker seine Klinge an die Kehle gesetzt. Der Kampf war vorbei. Die Zuschauer auf den Tribühnen johlten vor Vergnügen, es war klar ersichtlich, wer der neue Favorit war. Der Blick des Hoplomachus war starr und hasserfüllt zu seinem Bezwinger aufgerichtet. Sie wusste nun beide, dass es in der Willkür der Zuschauer war, ob der Unterlegene leben durfte, oder sterben musste. Der Imperator erhob sich und hob die rechte Hand , womit er dem Volk bedeutete, dass es nun abstimmen möge. Ein ohrenbetäubendes Geschrei erhob sich und als man einen Blick in die Reihen der Menschen warf, waren die meisten Daumen nach unten gestreckt. Ein eindeutiges Todesurteil. Lucius rutschte von seinem Stuhl herunter, um besser in die Arena spähen zu können. Der unterlegene Mann wirkte plötzlich sehr in sich zusammengefallen. Der Thraker riss dem Kauernden den Helm vom Haupt um ihn am Schopfe zu packen. Die Augen des Gladiators, von einem dunklen Braun, geisterten suchend, flehend über die Menschenmenge, doch er fand keine Erlösung, nur Hass, nur Schaulust, Verlangen nach Blut, denn man musste kein unsterbliches Monster sein, um dieses Verlangen zu spüren. Einen kurzen Augenblick lang begegneten sie den Kinderaugen Lucius' und dann ... wurde das Urteil gefällt. Und es hieß Tod. Das Haupt des Mannes fiel mit einem dumpfen Geräusch in den heißen Sand. Der Sieger hob seine Waffe und das Schild und stieß einen Schrei aus und man konnte nicht sagen, ob es ein Schrei des Triumphes war, oder des Schmerzes, weil er seinen Bruder erschlagen hatte ... "Ich möchte auch mal in der Arena stehen", sagte Lucius später verträumt zu seiner Mutter. Diese zog die Augenbrauen hoch und erwiderte sanft: "Das schickt sich aber nicht für den Thronfolger." Lucius verzog die Augen. "Aber, wenn ich später einmal Kaiser bin, darf ich darüber selbst bestimmen", sagte er bestimmt. Flavia Lavinia lächelte und wuschelte ihm durch den blonden Haarschopf. "Wenn es einmal soweit ist. Jetzt sei einfach noch eine Weile mein braver, kleiner Prinz", damit zog sie ihn in eine feste Umarmung. "Mutter, lass das, ich bin doch kein kleines Kind mehr!", erwiderte er lachend, diese Zuwendung seiner Mutter insgeheim genießend. Sie ließ von ihm ab. "Dein Vater wünscht, dich später noch zu sprechen." Als er die Augen wieder aufschlug, war die Sonne bereits am Horizont versunken. Olivier schlummerte friedlich an seiner Seite und Bakura und Malik sprachen leise miteinander. Das hatte ihn geweckt. Eigenartig. Warum kam das jetzt zurück? Dieses Geschehen in seiner frühesten Kindheit, etwas, an das er schon lange nicht mehr gedacht hatte. Jahrhunderte schon nicht mehr. Zuvor hatte er sich kaum an das Gesicht seiner Mutter erinnern können und jetzt war es so gestochen scharf vor seinem inneren Auge, dass es ihn schmerzte. Er seufzte lautlos und küsste Olivier, der seitlich an ihm lehnte, gedankenverloren auf die Schläfe. Soviel Zeit lag zwischen damals und jetzt und doch war ihm, als liefen die Vergangenheit und die Gegenwart gnadenlos aufeinander zu ... "Traian, er ist noch zu jung dafür! Ich werde nicht zulassen, dass mein einziger Sohn auf dem Schlachtfeld sein Leben riskiert!", hörte er, wie sich seine Mutter ereiferte. "Flavia, er ist bereits 12, er ist alt genug!", ertönte die donnernde Stimme seines Vaters. "Ich habe lange genug geduldet, wie du ihn verhätschelt hast. Mein Entschluss steht fest, Lucius wird mich aufs Schlachtfeld begleiten an meiner Seite." Ein Hochgefühl wallte in Lucius auf. Sein Vater zog bald mit der Armee los, um das Römische Reich noch weiter zu vergrößern. In Richtung Ägypten. Lucius kannte das Land nur aus Erzählungen. Er wusste, dass dort viel Sand war. Sehr viel Sand. Und es hieß, die Ägypter seien die besten Architekten der Welt und sie schmückten alles mit purem Gold. Seine Augen begannen zu leuchten, als er daran dachte. Allerdings lauschte er dann wieder mit Sorge auf die Stimme seiner Mutter. Er wusste natürlich, dass sein Vater Recht hatte - in der Tat war er bereits alt genug. Allerdings liebte und respektierte er seine Mutter zu sehr, als, dass er ihren Zorn riskieren oder sie traurig sehen wollte. Schließlich und endlich jedoch hatte Flavia Lavinia sich beugen müssen, wenn sie es auch nicht gern getan hatte. Traian hatte ihr versichern müssen, sollte es tatsächlich zu einer größeren Schlacht kommen, während ihres Feldzuges, persönlich auf ihren Sohn zu achten und ihm desweiteren einen Leibwächter zur Seite zu stellen. So kam es also, dass sie loszogen, mit einer Armee von 30 000 gut gerüsteten Kriegern und Lucius, der an der Seite seines Vaters und mehreren Generälen ritt, auf einem wunderschönen, muskulösen Schimmel und in einer Rüstung, die man ihm direkt auf den Leib geschneidert hatte, kam sich unglaublich wichtig dabei vor. Er hoffte im Stillen und in seinem kindlichen Denken, dass es tatsächlich mal zu einem Scharmützel käme, damit er seine Fähigkeiten unter Beweis stellen und in der Achtung der Soldaten und vor allem der Generäle und Hauptmänner stiege. Er war sehr geschickt mit dem Schwert, alle seine Lehrer lobten ihn dafür und der Umgang mit der Waffe und das Taktieren machten ihm großen Spaß. Zu diesem Zeitpunkt ahnte Lucius allerdings noch nicht, wie bald dieser Wunsch doch in Erfüllung gehen sollte. Die Nachricht, dass die Römer mit einem gut gerüsteten Heer ins Heilige Land vordrangen, hatte sich schnell verbreitet und so erwarteten die Ägypter sie bereits, als sie vor die Tore der Hauptstadt Alexandria traten. Zuvor hatten Späher die Lage auskundschaftet. Traian hatte seinem Sohn befohlen, sich vorerst bei der Nachhut aufzuhalten, der General Gaius sollte ein Auge auf ihn haben. Lucius war darüber zwar mehr, oder minder enttäuscht gewesen, aber der Tonfall seines Vaters hatte keinen Widerspruch geduldet. Man wollte die Ägypter vorerst dazu bringen, widerstandslos aufzugeben, doch ihr Pharao war ein grausamer und machthungriger Mann, der nicht daran dachte, irgendetwas in dieser Richtung zu tun. Schon bald drang das Kampfgeschrei, das Klirren der Waffen an das Ohr Lucius' - die erste Vorhut war auf bewaffneten Widerstand gestoßen. Unruhig rutschte er im Sattel seines Pferdes hin- und her. "Gaius, sollten wir nicht-?" Der gestandene General lächelte den Knaben nachsichtig an. "Noch sind die Ägypter uns in Kampf und Waffenführung unterlegen, ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass bereits jetzt ein Handlungsbedarf unsererseits besteht." Lucius schien mit dieser Antwort nicht zufrieden. Es machte ihn ganz kribbelig, nicht zu wissen, was genau dort vorging und er musste nur schwer der Versuchung widerstehen, seinem Pferd einfach die Zügel zu geben, um vom Rand des Geschehens einen guten Blick auf alles zu haben. Allerdings geschah plötzlich etwas, mit dem keiner gerechnet hatte. Die Ägypter hatten offensichtlich Hilfe von außen und wie auch immer sie es geschafft hatten, das Heer von etwa 5000 Mann, so schnell herbei zu ordern, es war trotz der zahlenmäßigen Überlegenheit der Römer eine plötzliche Bedrohung. Gaius Liberus brüllte seinen Männern etwas zu, das Lucius nicht ganz verstand - das einzige, was er mitbekam, dass sich da eine große Armada von berittenen Kriegern in beachtlicher Geschwindigkeit näherte. "Zieht Euer Schwert, mein Prinz, und gedenkt all dem, was Eure Lehrer Euch je gelehrt haben - Ihr werdet es brauchen!" Lucius schluckte und fasste die Zügel seines Pferdes kürzer, welches nervös schnaubte, ob des Tumultes, der sich ihnen näherte. Er spürte den angespannten Körper des Tieres unter sich und als Gaius einen ersten Trupp Männer den Ägyptern entgegenschickte, damit sie nicht im ersten unmittelbaren Aufprallpunkt mit den Gegnern waren, welcher immer der fatalste war, da hier Gewichte von Pferden, Waffen und Männern mit unglaublicher Geschwindigkeit aufeinanderprallten und sich allein Aufgrund dieser Fliehkraft eine unglaublich zerstörerische Energie freisetzte. Bereits als er das erste Klirren der Schwerter vor sich hörte, hatte er das eigene erhoben, mit klopfendem Herzen, aber grimmig entschlossen, seinem Vater keine Schande zu bereiten und dann ging alles wahnsinnig schnell. Er duckte sich leicht, damit ihn die Wucht seines Feindes nicht sofort aus dem Sattel riss und als im nächsten Moment das Schwert eines ägyptischen Kriegers das Seinige mit einer solch enormen Wucht traf, dass er beinahe das Gefühl hatte, man hätte ihm den Arm ausgerissen und er das Vibrieren tief in seinem Körper spürte und als er im nächsten Moment zu einem gezielten Gegenschlag ausholte, sich einen kurzen Schlagabtausch mit dem körperlich deutlich überlegenen Mann lieferte, spürte er plötzlich, wie die Angst und die Aufregung ihn verließen und er spürte, dass es das war, wofür man ihn geschaffen hatte. Lucius konzentrierte sich nur mehr auf seine Feinde und derer waren es viele, denn sie erkannten seine Position an seinem Kopfputz. Lucius, der durch die Übung von Kindsbeinen an ein außergewöhnliches Geschick und eine, für sein Alter, enorme Kraft ausgebildet hatte, verfiel ganz in einen adrenalingetriebenen und geschärften Zustand, der für einen Krieger in solchen Situationen absolut überlebensnotwendig war. Er schlug seine Feinde, er tötete, als hätte er nie etwas anderes getan und er hatte keine Scheu, keine kindliche Unschuld mehr und er hätte auch ewig so weiter gewütet, wenn ihn nicht plötzlich eine dunkle Vorahnung gepackt hätte, die ihn für den Hauch eines Momentes aus der Konzentration brachte. Er konnte gerade noch so zurückweichen, als ein ägyptischer Krieger mit einem Schrei auf ihn zuhielt, er hob sein Schwert zum Schutz, doch es war zu spät, die Wucht traf das Metall so sehr, dass es ihn aus dem Sattel riss - er sah im nächsten Moment wie sich sein Pferd über ihm aufbäumte und rollte sich gerade noch so zur Seite, dass er nicht von den schweren Hufen getroffen wurde. Trotz leichter Benommenheit war er in Windeseile wieder auf den Beinen, nur um seinen Angreifer erneut abzuwehren, der jetzt, beritten, wie er war einen enormen Vorteil hatte - Lucius musste jetzt nicht nur den Schwerthieben ausweichen, sondern auch den Hufen des, sich immer wieder aufbäumenden Pferdes. Gehetzt blickte er für den Bruchteil einer Sekunde in die Richtung, in welcher sein Vater wohl kämpfte. Hastig wandte er sich wieder seinem Gegner zu. Er musste zu seinem Vater, das spürte er irgendetwas ... doch man ließ ihn nicht durchkommen. Es war zum Verzweifeln. Doch Lucius hatte Glück. Offensichtlich hatte Gaius Liberus bemerkt, in was für einer misslichen Lage der junge Prinz sich befand und war zu ihm geeilt um seinem Gegner mit einem wütenden Aufschrei den Speer in die Brust zu bohren, den er trug. Lucius schaute sich nicht weiter um, sondern ergriff die Gelegenheit um flink zwischen den Kämpfenden hindurchzuhuschen und da war es tatsächlich ein Vorteil, dass er im Vergleich zu den anderen Kriegern noch relativ klein war. Unterwegs fing er sein Pferd wieder ein, auf welches er sich, ohne es anzuhalten mit letzter Kraft heraufschwang und dann lenkte er es in gehetzter Gangart in Richtung der Stadttore. Es war ein grausames Bild, das sich ihm bot - die meisten der Männer erschlagen im eigenen Blut, Felstrümmer, welche von Wurfgeschossen stammten hatten einen grausamen Brei aus Blut, Knochen und Gedärmen angerichtet und als seine Augen in fliegender Hast über das letzte Scharmützel glitten, erkannte er mit Entsetzen seinen Vater, der sich mit einigen wenigen gegen die wachsende Übermacht der Ägypter wehrte. Seine Augen weiteten sich. Sein Vater war doch unbesiegbar. Wie mochte es nur sein, dass man ihn derart in die Enge trieb? Wie hatte er das nicht voraussehen können? Sein Vater war doch der Kaiser, der fleischgewordene Gott! Lucius starrte wie paralysiert auf das Geschehen, unfähig sich zu rühren und dann - sein Vater lieferte sich gerade mit einem ägyptischen Krieger einen Zweikampf und dieser Krieger sollte ihm niemals aus dem Gedächtnis gelöscht werden. Er erschlug seinen Vater. Sein Säbel trennte den Torso Traianus' beinahe in zwei. Durch die Römer ging ein Aufschrei des Entsetzens, als der Krieger Traian, der zu Boden sinken drohte, die Eingeweide bereits aus dem Körper gleitend, als hätten sie keinen Halt mehr, den Helm vom Kopfe riss und ihm ins Haupthaar griff, nur um kurz darauf den Kopf rum Rumpfe zu teilen. Er hielt ihn hoch, wie eine Trophäe. Und dann lachte er. Lachte triumphierend, grausam und eisig kalt und als der Blick der lavendelfarbenen Augen Lucius begegnete, schwor er sich blutige Rache. "Lucius! Wir müssen uns unverzüglich zurückziehen!" Die Stimme Gaius' drang an sein Ohr. Lucius konnte sich zuerst nicht rühren. Er schüttelte den Kopf, ließ das Brennen in seinen Augen nicht zu. Dann zerrte er sein Pferd schroff am Zügel, und ließ es wenden und während er das tat, sprang Gaius hinter ihm auf sein Pferd. Und während sie in Richtung ihres Stützpunktes flohen, peitschte der heiße Wüstensand sein Gesicht und die Tränen rannen ungehemmt seine Wangen herab. Sein geschundener Körper schrie Rache. Rache! Enrico war es noch zu gut in Erinnerung, wie es war, als er damals heimgekehrt war. Als er nichtmal den Leichnam seines Vaters hatte mit führen können. Seine Mutter hatte schrecklich geweint, und sich die Haare ausgerissen und Enrico angeschrien, er solle seinen Vater bis aufs Blut rächen. Enrico hatte schweigend bei ihr gestanden und bald darauf hatten sich die Berater zurückgezogen, um zu bestimmen, wer nun die Führung übernahm. Enrico - Lucius damals - war zu jenem Zeitpunkt noch zu jung gewesen. Eigentlich. Doch, als er vor den Senat trat und mit Autorität in der Stimme sprach, die noch nicht einmal den Bruch zum Manne vollzogen hatte, als diese Männer das wilde Feuer in den Augen des Knaben sahen, da verneigten sie sich vor Ehrfurcht und schworen ihm, wie seinem Vater Traianus zuvor ewige Treue. Und so wurde Lucius Tarquinius zu Imperator Caesar Divi Nerva Filius Traian Lucius Tarquinius Superbus. Den Beinamen hatte er sich damals selbst eingehandelt. Nachdem sein Vater gestorben war, war er kalt geworden und hochmütig, schrecklich hochmütig und ja ... mit den Jahren auch despotischer und größenwahnsinnig. In dieser Welt war kein Platz gewesen für Schmerz. Vor allem nicht, wenn man der Sohn eines der größten Caesaren war, die jemals gelebt hatten. Olivier an seiner Seite regte sich. "Wie fühlst du dich?", wisperte er liebevoll. "Mh ... ausgeschlafen. Diese Bänke hier sind erstaunlich bequem." Ein Lächeln. Und dieses Lächeln wärmte Enrico das klamme Herz. Wortlos umfasste er Olivier an den Wangen und zog ihn in einen sanften Kuss. "Wie lange dauert es noch, bis wir da sind?", fragte der Knabe und blickte aus dem Fenster. Noch immer war es Nacht und er hatte sein Zeitgefühl verloren. "Sicher noch bis zum Mittag des nächsten Tages", erwiderte Enrico. "Hältst du noch so lange durch?" Abermals ein Lächeln. "Ich bin doch nicht aus Porzellan, auch, wenn du mich gerne so behandelst." "Verzeih mir, mein Engel", murmelte Enrico abwesend. Es sollte ganze sechs Jahre dauern, ehe Lucius zu seiner Rache kam. Er hatte sein Heer gerüstet, hatte überall aus dem Reich Kämpfer rekrutieren und sie in den Arenen ausbilden lassen, ehe er beschloss, einen weiteren Feldzug gegen Ägypten zu führen. Es war der heutige Pharao persönlich, der damals seinen Vater erschlagen hatte, also würde auch dessen Blut fließen. Lucius marschierte mit einer eisernen Armee in Ägypten ein, mit düsterem Blick und eisigem Grimm im Herzen. Alles, was sich ihm in den Weg stellte, wurde grausam niedergetrampelt, so grausam, dass er bald von seinen eigenen Leuten gefürchtet wurde. Doch Furcht war nichts Schlechtes. Furcht schürte den Gehorsam und erstickte jede Auflehnung bereits im Keim. Eine blutige Spur hinterlassend drang er so schließlich bis zum Herzen der Stadt vor und nach einem blutigen Kampf, der auf beiden Seiten mehr Opfer forderte, als je in der Geschichte zu verzeichnen gewesen war, musste sich der Pharao geschlagen geben. Keuchend und blutend und mit eisigem Hass in den Augen kniete der Mann vor ihm, in Ketten gelegt und von den Speeren der Römer in Schach gehalten. Lucius besah ihn sich das erste Mal genauer. Er war größer als er, das sandblonde Haar war sehr außergewöhnlich für einen Ägypter. Doch das, was ihn wirklich zeichnete waren seine Augen. Lucius hatte noch nie solche aufmüpfigen, hasserfüllten, lodernden Augen gesehen. Diese Augen sagten ihm, dass er zerfetzt würde, sollte er ihm nur eine winzige Gelegenheit lassen. „Ihr habt meinen Vater getötet“, sagte Lucius. „Ja, ich erinnere mich, dieser Schwächling, der glaubte, mich vom Thron stoßen zu können!“ Ein hämisches Lachen und Lucius schlug ihm wutentbrannt ins Gesicht, sodass er noch mehr Blut spuckte. „Wagt es noch einmal, das Andenken meines Vaters zu beschmutzen, Yalik und ich werde Euch langsam und qualvoll alle Gliedmaßen einzeln ausreißen und glaubt mir, ich werde mir dabei Zeit lassen.“ Seltsamerweise stieß diese Drohung nicht auf Entsetzen, sondern auf weitere Häme. Lucius beschlich das Gefühl, dass dieser Mann da vor ihm absolut verrückt war. Da würde nichts helfen, kein Drohen, kein Schmerz, doch vielleicht … Das Grinsen in Yaliks Gesicht wich nicht. „Was wollt Ihr jetzt tun, Römerkönig? Der größte Fehler wäre, mich am Leben zu lassen.“ Nun war es an Lucius Tarquinius, Häme zu zeigen. Er kam dem Ohr des Pharao ganz nahe. „Ich bin klug genug zu wissen, dass ich Euch damit noch einen Gefallen täte.“ Ein hasserfüllter Blick traf ihn. „Wenn du dich mit mir anlegst, Römerkönig, dann legst du dich mit der Finsternis an.“ Und etwas schwang in diesen Worten mit. Eine Warnung, die Lucius besser nicht als das Gewäsch eines in seinem Stolz zutiefst gekränkten Königs abgetan hätte. Denn, wenn es ein Wesen gab, das Lucius Tarquinius Superbus an Rachsucht noch um ein Weites übertraf, so weit, dass er dafür sogar bereit war, seine Seele zu verkaufen, so war es der Pharao Ägyptens mit seinem toten Herzen und seiner rabenschwarzen Seele. „Erhabener Lucius!“ Aufgebrachte Rufe schreckten den Kaiser drei Nächte später aus seinem Schlaf. „Dem Pharao ist es gelungen, zu fliehen!“ Lucius stand senkrecht in seiner Liegestatt und war kurz darauf aufgesprungen. „Was? Wie konnte das passieren, ich habe doch angeordnet, ihn so streng, wie möglich bewachen zu lassen!“, herrschte er den Hauptmann an, der ihm diese Nachricht überbracht hatte. „Wir können es uns nicht erklären – die Türen zu seinem Gefängnis standen plötzlich sperrangelweit offen – er war in Ketten gelegt, er hätte sich nicht so einfach selbst befreien können, vermutlich ein Verräter!“ Lucius verengte die Augen. Wut loderte in ihnen. Er war der mächtigste Kaiser, den es in der Geschichte seines Reiches je gegeben hatte, wer wagte es, IHN zu hintergehen? Wer auch immer es war, er würde es bitterlich bereuen. Aber jetzt galt es erst einmal den Entflohenen wieder zu finden, wenn der nicht schon längst über alle Berge war. Er würde sich persönlich darum kümmern. So legte er schnell Kleidung an und … Plötzlich war es eine Intuition, der er folgte. Er trat nicht nach draußen, vor die Wachen, wie er eigentlich beabsichtigt hatte, und seine Männer, er kehrte um und ging in Richtung Thronsaal. Dort war niemand. Sein Blick schweifte über die Wände aus Türkis und Gold, die ewig brennenden Fackeln, die dort standen und glitten schließlich zum Thron, welcher dort, vollkommen aus purem Gold auf einem Sockel stand und darauf wartete, dass sein Herrscher zurückkehrte. Lucius blieb einen Augenblick stehen und lauschte in die Finsternis. Dann schüttelte er den Kopf, warum bei den Göttern hatte er sich dazu hinreißen lassen, und kehrte um, in Richtung der riesigen Flügeltüren, doch – diese schlugen plötzlich mit einem ohrenbetäubenden Schlag zu, vor ihm, wie von Geisterhand und Lucius, der sonst nichts fürchtete, fuhr zusammen, sich erschreckend bis ins Mark, der Wind des Schlages hatte die Lichter gelöscht und er war nun hier im Dunkel. Lediglich die Sterne, die draußen schienen, schickten ein mattes Licht herein. „Was bei allen Göttern geht hier vor?“, wisperte er, während sich seine Nackenhaare aufstellten. Etwas lag in der Luft, etwas Böses. „Yalik, seid Ihr das?“, rief er laut, dabei die Unsicherheit überspielend, doch er bekam keine Antwort. Nur ein Wispern, ein Lachen und ein Flüstern, ganz dicht an seinem Ohr und plötzlich – wie, als führe der Blitz in sie hinein, gingen die Fackeln wieder an, doch sie brannten mit blauem Feuer und ein Knacken ertönte, wie das Bersten von Stein und als Lucius den Blick hob, erkannte er mit Schrecken, dass eine der Säulen bröckelte, barst mit einem lauten Knall und als er abermals dorthin blickte, weiteten sich seine Augen, denn er erkannte eine schwarze Schlange, mit einem Leib so dick, wie der Körper eines erwachsenen Mannes, die sich aus der Säule herabwand und, die lapislazulifarbenen Augen auf ihn gerichtet, auf ihn zukam. Lucius stolperte rückwärts, war nicht fähig, sein Schwert zu ziehen und irgendwann spürte er die Wand im Rücken. „Weiche von mir…“, brachte er mit erstickter Stimme hervor, doch die Schlange richtete sich vor ihm auf und öffnete das scharf bezahnte Maul und Lucius wusste, sollte sie zubeißen, so wäre sie ohne Weiteres in der Lage, ihm das Haupt vom Rumpfe zu trennen. „Dies sei deine letzte Warnung…“, erreichte ihn die Stimme, zischend und schmerzend in den Ohren und für einen Augenblick glaubte er, die Götter sprächen persönlich zu ihm. „Nimm deine Männer und zieh fort aus Ägyptenland und kehre nie mehr zurück. Sonst wird dich der Fluch der Dunkelheit treffen, deine Seele wird dazu verdammt, sich einsam bis in alle Ewigkeit am Blute der Unschuldigen zu laben und die Sonne wird niemals mehr über deinem Haupt scheinen!“ Die Schlange beugte ihren Kopf zurück, in der typischen S-Form, wie sie es immer tun, kurz bevor sie in blitzartiger Geschwindigkeit auf ihr Opfer zu schnellen, Lucius hob schützend die Armen, doch er spürte keinen Schmerz, nur einen eisigen Luftzug, der an der Schlange statt durch ihn ging und es verschlug ihm den Atem, einen Moment riss er vor Schreck die Augen weit auf, dann sank er ohnmächtig zusammen. Als er wieder erwachte, beugte sich einer seiner Ärzte über ihn. Er blinzelte verwirrt. Was war geschehen? „Wie fühlt Ihr Euch, Herr?“ „Was ist passiert…?“, murmelte er, sich sammelnd. „Eine der Wachen hat Euch bewusstlos im Thronsaal gefunden…“ Die Erinnerung kam mit einem Schlag zurück und Lucius erhob sich so ruckartig, dass der Mann erschrocken zur Seite sprang. Wut durchpulste ihn. Eiskalte, unbändige Wut und den Männern, die sich in dem Raum aufhielten, ging zur selben Zeit in Grausen über den Körper. Lucius sprang auf. „Ich will, dass Ihr alle ägyptischen und nubischen Sklaven hier an diesem Hof im Thronsaal zusammen kommen lasst. Stellt sie in eine Reihe und dann schneidet ihnen die Kehlen durch!“ Die Soldaten wechselten einen unsicheren, verständnislosen Blick, allerdings wagte es niemand, den Kaiser in Frage zu stellen. Man einigte sich im Stillen darauf, er sei wohl verrückt geworden. Doch auch dieses Blutbad an den Unschuldigen, zu dem er sich früher nie hatte hinreißen lassen, verschaffte ihm nicht die Genugtuung, die Befriedigung, die er sich erhofft hatte, der Zorn stieg weiter und so mussten weitere Menschen ihr Leben lassen und schon bald verbreitete sich in rasender Geschwindigkeit die Kunde vom Blutigen König im ganzen Land, den man fürchtete, wie einen Dämon aus der Hölle. Es geschah eines Nachts. Lucius hatte seit dem Tod seines Vaters keinen tiefen Schlaf mehr gehabt. Es war kein Geräusch, das ihn weckte, mehr ein Gefühl. Seine Augen starrten ins Leere, er lauschte atemlos. Doch nichts. Er blinzelte. Nur ein Traum? Nein, da waren keine Bilder, die in seinem Kopfe nachhallten. Er lauschte, ohne sich zu rühren. Lang lag er so da, sehr lange. Als er dieses Gefühl schon abtun und die Augen gerade wieder geschlossen hatte, geschah es. Die Wucht eines dumpfen Aufpralls presste ihm für einen Moment die Luft aus den Lungen und er konnte nicht so schnell reagieren, ehe ihn eine ungeheure Macht gepackt hatte und in Richtung des riesigen offenen Fensters zog, er spürte, wie ihn jemand gepackt hatte, eisern, ohne die Möglichkeit, diesem Griff zu entfliehen und seine Augen weiteten sich, als er merkte, wie das Wesen, das ihn gepackt hatte, zum Sprung ansetzte, aus dem Fenster, ein Fall, der einen normalen Mann sicher hätte töten können – doch nichts. Anstatt nach unten, ging es nach oben und noch während sie nach oben stiegen, spürte Lucius wie sich zwei spitze Dornen in seinen Hals bohrten, dann ein Saugen – es trank sein Blut! Seine Augen weiteten sich vor Schreck, nur unterbewusst spürte er, wie das Wesen auf dem Dach des Palastes, den er eingenommen hatte, landete, das Saugen, das Beißen, das Gefühl des pulsierenden Lebens, das aus seinem Körper gezogen wurde waren zu stark. Er war machtlos. Vollkommen machtlos! Eine Träne des Zornes rann ihm die Wange herab, sein Körper bewegungsunfähig. Ihm begann zu schwindeln und als es schließlich von ihm abließ und ihn schmerzhaft zu Boden fallen ließ, sah Lucius den Himmel, der zuvor noch nie so voller Sterne gewesen war und ein wehmütiges Lächeln schlich sich auf sein Gesicht. Er war geschlagen. So schnell. Ein bekannter Schemen schob sich in das Blickfeld des Kaisers. Yalik starrte schweigend und grausam auf ihn herab. Das wild abstehende sandblonde Haar wehte gespenstisch. Lucius lächelte. „Deine Rache für meine Rache, Pharao, was?“ Das Lächeln wurde erwidert. Er beugte sich zu ihm herab, flüsterte: „Natürlich, Kaiser, hast du etwas Anderes erwartet? Ich werde dich nicht töten. Ich habe einen Pakt mit Apophis. Verflucht wirst du sein, verflucht und gedemütigt wie ich.“ Dann spürte Lucius warme Tropfen auf seinen Lippen, unwillkürlich leckte er darüber und ehe er noch feststellen konnte, dass es Blut war, das man ihm zu trinken gab, war es schon zu spät, eine offen liegende Arterie pulsierte gegen seine Lippen und er musste trinken und während er es tat und ihn diese neue und ungeahnte Macht durchströmte, wusste er, dass er die Dunkelheit in seinem Leben ganz allein heraufbeschworen hatte und er nahm die Strafe auf sich, die man ihm zugedacht hatte. Die Kutsche, die die letzte Etappe ihrer Reise darstellen sollte, hatte endlich angehalten. Malik war überraschenderweise der Erste, der ausstieg, das lange Sitzen hatte ihm sehr zugesetzt und stöhnend streckte er die Glieder, während er zur Kutsche sah, aus welcher nach ihm Bakura stieg und schließlich Enrico, der Olivier auf die Arme gehoben hatte, um ihn persönlich zu der riesigen Villa zu tragen, die schon seit Jahren nicht mehr bewohnt worden war. Oliviers Blick suchte den Enricos, während dieser den Weg mit den schneeweißen Steinen entlang lief. „Was ist, mein Täubchen?“, ereilte ihn die Frage, ohne, dass Enrico ihn dabei hatte ansehen müssen. Den Blick hatte er auch so gespürt. Olivier ließ den Kopf wieder seitlich gegen Enricos Brust sinken. „Du warst während der Reise irgendwo anders“, sagte der Knabe leise. „An einem Ort, der dich schmerzt…“ Enrico antwortete nicht. Olivier spürte wohl, was in ihm vorging. Wie eigenartig. Dabei schaffte er es doch ansonsten so gut, Dinge, die wirklich in ihm vorgingen, zu verbergen. Es war wohl die Liebe. Malik und Bakura, der eine Kutte trug, die tief ins Gesicht gezogen war, um ihn vor der glutroten Abendsonne zu schützen, folgten in einigem Abstand. Maliks Blick schweifte nach vorne zu den anderen beiden, dann hakte er sich unbewusst bei Bakura unter. Dieser spürte, dass in Malik etwas vorging, denn diese Zutraulichkeit, wenn man es denn so nennen mochte, war ungewohnt, aber er stieß ihn nicht von sich. „Ist es wahr?“, sagte Malik leise und voller Bitterkeit in der Stimme, „Muss mein kleiner Olivier wirklich sterben?“ „Das Blut liegt schwer wie Öl in seinen Lungen“, sagte Bakura mit gedämpfter Stimme. Malik erwiderte nichts, aber Bakura spürte auch so, wie sein Inneres bei diesem Gedanken zerriss. Was Bakura allerdings verschwieg war, dass noch eine Möglichkeit blieb, Oliviers Leben zu retten. Und tief in seinem Inneren ahnte er, dass Enrico diesen Jungen viel zu sehr liebte, um ihm eine Wahl zu lassen. *Einen Traianus/Trajan gab es wirklich, allerdings hat dieser mit dem in meiner FF kaum etwas gemein - ich habe mir lediglich seinen Namen ausgeborgt. Kapitel 9: IX. -------------- „Wo willst du hin?“, fragte Malik misstrauisch, während er Bakura beobachtete, der Anstalten machte, die Villa zu verlassen. Bakura grinste schief. „Nefer, auch ich muss gelegentlich Nahrung zu mir nehmen.“ Malik folgte ihm mit den Augen. Irgendwie passte es ihm nicht, dass Bakura seine Zähne in einen anderen Hals vergrub. Er wusste nicht, wieso, aber das war eine Intimität zu einem anderen Geschöpf, die er nicht ertragen konnte. Er war … ja, er war eifersüchtig. Eine Eifersucht, die er sich nicht erklären konnte. Immerhin blieb er nur bei Bakura, weil er gerade keine anderen Möglichkeiten hatte, bis auf das eine Mal Sex, das mehr als entwürdigend für Malik gewesen war, waren sie sich auch nicht näher gekommen, bis auf wenige, harmlose Küsse. Vielleicht war er ihm zu harmlos? Er biss sich auf die Unterlippe. Er wollte Bakura gefallen. „Wieso trinkst du nicht von mir?“, sagte er schließlich, weil ihm ansonsten nichts einfiel, das Bakura dazu hätte bewegen können, die Villa nicht zu verlassen. Bakura sah ihn mit einem merkwürdigen Blick an. „Das willst du doch nicht wirklich.“ Dennoch hatte es ausgereicht, um ihn zum Innehalten zu bewegen. Malik hatte trotzig auf den Boden gestarrt, plötzlich spürte er, wie eine Hand sich an seine Wange legte, ihn dazu zwang, Bakura in die Augen zu sehen und ihm schauerte, als er in diese unendlich Tiefe seiner Augen blickte. „Aber ich mag es nicht, wenn du mich alleine lässt“, gestand Malik schließlich widerwillig, den dieser Blick schwach machte. „Olivier liegt im Sterben und du gehst fort und ich bleibe hier zurück.“ Bakura runzelte die Stirn, dann küsste er die karamellfarbenen Lippen, spürte, wie Malik unter diesem Kuss leicht erschauerte und sagte dann: „Ich verstehe zwar nicht, wieso du auf einmal so anhänglich bist, du dir meine Nähe doch vorher so zuwider war, aber wenn es sein muss, dann … nehme ich dich dieses Mal mit.“ Malik lächelte schwach. Nickte dann. Wenig später schritt er an der Seite des Vampirs durch die nächtlichen Straßen Roms und gleichsam, wie er diese Freiheit genoss, empfand er Scham. Denn ja, Bakura hatte es ausgesprochen, Olivier lag im Sterben und er, Malik fühlte Erleichterung darüber, ihm zu entkommen. Ihn nicht dahin siechen sehen zu müssen. Dieses Elend nicht ertragen zu müssen. Vielmehr genoss er die Nähe dieses Geschöpfes, die ihm auf einmal keine Angst mehr machte. Die Straßen waren trotz der späten Stunde sehr belebt, Musik drang an seine Ohren und er betrachtete mit Interesse die lärmenden, lachenden Menschen, die Musiker, die von Taverne zu Taverne zogen, den Strom der Stadt, der auch jetzt nicht nachgelassen hatte und bald ließ er sich sogar anstecken von dieser Heiterkeit, er fühlte sich hier plötzlich viel wohler, als in Paris, das seine Menschen kühl machten, die so abweisend und voller Vorurteile waren. Malik wandte sich zu Bakura um und wollte mit ihm über etwas plaudern, als ihm dessen steinerne Miene auffiel. Kalt. Abwesend. Und irgendwie wirkte er wie ein Geist zwischen diesen ganzen Menschen, wie ein Toter, der hier nicht her gehörte und Malik schauerte es, als ihm klar wurde, dass es im Grunde tatsächlich so war. Wenn Bakura etwas von diesem Gedanken aufgeschnappt hatte, so ließ er sich nichts anmerken und er führte ihn auch nicht die belebten Straßen entlang, sondern dorthin, wo es dunkler war, wo die Straßen enger wurden, wo es gefährlicher aussah – nur fürchtete er sich nicht, vielmehr betrachtete er diese Welt mit beinahe kindlichem Interesse, wie als könne sie ihm kein Leid zufügen. Da fiel ihm auch auf, wie unterschiedlich Bakura und Enrico sich eigentlich waren. Bakura war hell und weiß und so unendlich kühl, nicht an den Lebenden interessiert, während Enrico immer präsent war, Musik und Kunst liebte, gerne lachte und sich an Knaben und Mädchen labte, wie es ihm in den Sinn kam. Solche Gegensätze. Schwer vorstellbar, dass sie einmal das Bett geteilt hatten – mehr noch, dass Bakura Enrico zu Willen gewesen sein sollte. Auch, wenn Malik das Schweigen gelegentlich als angenehm empfand so lag ihm doch eine Frage auf der Zunge, die zurückzuhalten er nicht länger vermochte. „Bakura?“ „Mh?“ „Wie … hast du Enrico eigentlich kennengelernt? Ich meine, du … und er …“ Er brach ab, denn Bakura war stehen geblieben, sah etwas in dem Dunkel einer Gasse, das Malik nicht erkennen konnte, da er nicht so gute Augen hatte wie der Vampir. „Was?“, wisperte er, doch Bakura gebot ihm mit einer Geste Schweigen. „Warte“, sagte er dann und verschwand in der Gasse, wo das Dunkel ihn verschluckte. Malik trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Bakura würde ihn doch nicht hier stehen lassen, wenn er wüsste, dass ihm eine Gefahr drohte, oder? Er lauschte. Zuerst Stille. Dann eine empörte Männerstimme, die irgendwelche Flüche auf Italienisch schmetterte, dann ein Aufschrei, ein Gurgeln und dann wurde es still. Malik erschauerte. Zu gerne hätte er Bakura dabei zugesehen. Er wusste nicht woher er diese absurde Faszination nahm und woher diesen Wunsch, dass er es war, in den Bakura seine Zähne schlug. Er schluckte trocken. Wie sie sich wohl anfühlten, diese kleinen spitzen Dornen? Da trat Bakura wieder aus dem Schatten heraus und nichts ließ auf das schließen, was er soeben dort getan hatte, nichtmal der geringste Blutspritzer auf der Kleidung, oder am Mundwinkel, nichts. Malik starrte Bakura an, die Wangen waren hauchfein gerötet und verliehen der ansonst weißen Haut etwas unglaublich Schönes. Maliks Fingerspitzen zuckten, zu gerne hätte er ihn berührt, doch er ballte die Fäuste und ließ die Hände wieder an seine Seiten sinken. Dann fasste er einen Entschluss, griff Bakura am Arm und sagte bestimmt: „Wir werden uns jetzt in eine Taverne begeben. Du gibst mir ein Glas Wein aus, wir lauschen ein wenig der Musik und der Fröhlichkeit der Menschen, das ist viel aufregender als in dunklen Gassen verlorenen Seelen nachzujagen.“ Bakura war wohl zu erstaunt, dass Malik so die Initiative ergriff, obgleich er zuvor doch noch solche Angst und solchen Respekt vor ihm gezeigt hatte, vielleicht war das der Grund, warum er ihn ließ – Bakura kniff leicht die Augen zusammen, als sie die beleuchtete Schänke betraten – der Lärmpegel, der ihm entgegenschlug, war nahezu unerträglich für sein feines Gehör – Bakura zog die Stille der Gesellschaft, dem Tanz und dem Wein definitiv vor, doch irgendwie brachte er es gerade nicht über sich, Malik, der, sobald sie die Taverne betreten hatten, ein Leuchten in den Augen hatte, diesen Wunsch auszuschlagen – er hatte die letzten Tage so traurig ausgesehen und irgendwie gefiel ihm das an ihm nicht so besonders. Vor allem war Malik diese Unsicherheit, die sein Gemüt überschattet hatte, als er ihn kennengelernt hatte, als ein Ding, als ein Geschenk von Enrico, wie weggeblasen. Paris war kalt … wo hatte er diesen Gedankenfetzen her? Hatte Malik das vorhin gedacht? Langsam folgte er seinem Landsmann, welcher schon vor an die Theke gelaufen war und nahm missbilligend die Blicke zur Kenntnis, die man diesem zuwarf. Denn anders, als in Paris, wo Malik mit seiner dunklen Haut und dem hellen Haar sich von den Franzosen abhob, wie ein bunter Hund und teilweise noch angesehen und behandelt wurde, als sei er ein Sklave, so fiel er hier unter den Römern, die der heißen Sonne Mittelitaliens ausgesetzt waren, kaum mehr auf. Da war er, Bakura, der Exot, die Blicke die man ihm zuwarf, waren mehr verstohlen, angstvoll, als hätte sich ein Dämon unter sie gemischt und immer wenn Bakura sie bewusst aus dem Augenwinkel ansah, wandten sie so schnell es ging, die Blicke ab, wie aus Angst, sich den Zorn eines Dämonen zuzuziehen. Nein. Die Blicke, die man Malik zuwarf, waren vielmehr bewundernd, als verachtend, denn hier erkannte man ihn als die Schönheit, die er eigentlich war. Und das passte Bakura nicht. Er erhob Ansprüche auf Malik, er gehörte ihm. So gesehen. Malik versuchte gerade dem Wirt klar zu machen, was er wollte, als Bakura an seine Seite trat. Der Mann sprach selbstverständlich nur Italienisch und es war auch zu bezweifeln, dass jemand, der Wirt in so einem Viertel war, sonderlich lange zur Schule gegangen war, um wenigstens Englisch zu lernen. Der Mann sah Malik mit unverhohlener Neugier an, welcher sich abmühte, ehe Bakura sich entschloss, ihn zu erlösen. „La prego di scusarmi amigo scusi-“, dabei warf er einen Seitenblick zu Malik hin und rang sich ein Lächeln ab, „Due vino – prego.“ Der Wirt lächelte ein zahnloses, aber freundliches Lächeln und machte sich daran, dem Wunsch nachzukommen, während Malik ihn überrascht ansah. „Ich wusste ja gar nicht, dass du Italienisch kannst!?“ Bakura brachte so etwas, wie ein schiefes Lächeln zustande, dann sagte er leise: „Ich habe sehr lange Zeit mit Enrico verbracht. Er ist mein Schöpfer, ihm hab ich den Großteil der Bildung zu verdanken, die ich habe.“ Täuschte Malik sich, oder wirkte Bakura tatsächlich ein wenig verlegen? Sicher, für Bakura war das wohl nichts Besonderes, aber für Malik, der nur Arabisch und das nötigste Französisch sprach und das auch nur mit starkem Akzent, war das durchaus etwas Achtenswertes. Ehe Malik allerdings noch etwas erwidern konnte, reichte der Wirt ihnen die beiden Gläser, welche Bakura entgegennahm, den Geist des Mannes so manipulierend, dass er schlichtweg vergaß, auf die Bezahlung zu bestehen und deutete Malik dann, in eine bestimmte Richtung zu gehen – ein Tisch, relativ in der Ecke des großen Schankraumes, welcher zu zwei Seiten mit einer Trennwand abgeschirmt war, sodass man zwar das Geschehen überschauen konnte, wenn man wollte, aber doch ein bisschen Privatsphäre hatte. Bakura stellte mit einer fließenden Bewegung die Gläser auf den Tisch, während Malik auf die Bank rutschte, in die Ecke und ihm fiel dabei mal wieder auf, wie schön Bakura eigentlich war. Er seufzte unwillkürlich, als er sich einen Moment in dessen Erscheinung verlor und fragte sich, wie alt er wohl wirklich sein mochte. Wäre er ein Mensch, wäre er wohl ungefähr in Maliks Alter gewesen. Erst als Bakura ihm sein Weinglas hinschob, blickte Malik auf und er ergriff es, um ein zwei Schlucke daraus zu nehmen. Herrlich süß. Zum Glück war er inzwischen aufgrund der Schlechtigkeit in der Welt, die es unmöglich erklären konnte, dass es einen Gott gab, konfessionslos, sonst hätte ihm sein Glaube verboten, Alkohol zu trinken. Schließlich beschloss er, es noch einmal zu versuchen. „Nun sag … wie habt ihr euch kennengelernt, du und Enrico? Und erzähl mir doch von Ägypten – wie es früher war und…“ Bakuras Blick wurde leicht entrückt und er starrte in sein Weinglas. Er hatte bisher mit keinem darüber gesprochen, und Malik … Malik wollte es wissen, nur um es zu wissen, und nicht um ihm wehzutun, aber wollte er das? Dass Malik seine verletzliche, schwache Seite kannte? Bakura presste die Lippen aufeinander und Malik bemerkte, wie er offensichtlich mit sich rang. Dann legte er ihm unerwartet eine Hand auf den Arm. „Schon gut, du musst nicht…“, flüsterte er und Bakura wandte sich um, sie sahen sich direkt in die Augen, einen winzigen, folgenschweren Moment und dann hörte Bakura sich sagen, eher wispern: „Die neue Zeitrechnung gab es noch nicht, als ich geboren wurde, Kleopatra VII … war gerade in der Blüte ihrer Macht …“ Er rannte. Rannte um sein Leben, keuchend, er hatte bereits keine Luft mehr, der Körper schrie gepeinigt auf, gepeinigt von den Schmerzen der Vergewaltigung und den Schlägen und der Bestrafung, weil er etwas Schreckliches hatte und jetzt rannte er vor den wütenden Männern davon, die nassen Blutflecken überall auf seinem zerschlissenen Kaftan. Er wusste, wenn sie ihn in die Finger kriegten, dann würden sie ihn lynchen, dass er erst elf Jahre alt war, kümmerte dabei niemanden. Sie sahen nur den Dieb aus der Unterschicht, das vorlaute, freche Gör, das besser tot im Straßengraben liegen sollte, als unbescholtene Bürger zu belästigen. Bakura presste seine Beute, einen halben und schon trockenen Laib Brot, gegen seine Brust, als sei sie der kostbarste Schatz in ganz Ägypten, es gehörte jetzt ihm. Seine Beine krampften bereits, die Männer waren hartnäckig, doch langsam, ganz langsam Verhalten die Schritte – Bakuras Vorteil war, dass er die Gassen, wie seine Westentaschen kannte und außerdem wütete hier die Pest, da trauten sich selbst die wackersten Männer nicht her. Ihm selbst war es egal, ob ihn der Schwarze Tod erwischte, wenn er ihn erwischte, erwischte er ihn eben, wenn nicht, dann nicht. Keuchend und mit lautklopfendem Herzen presste sich der Knabe an eine kühle Steinmauer auf der Seite einer Sackgasse. Stille. Nur in der Ferne vereinzeltes Rufen, aber er hatte sie wohl endlich abgeschüttelt. Langsam versagten ihm die Beine und er sank an der kühlen Mauer herunter, immer noch mit rasselndem Atem. Das Blut in der Kleidung war bereits zur Hälfte wieder getrocknet, aber nun stank es metallisch und Bakura wurde leicht schlecht davon. Er hatte einen Mann getötet. Weil der ihn hatte vergewaltigen wollen und es war ihm auch gelungen – nur einem Zufall hatte er es zu verdanken, dass in dem heruntergekommenen kleinen Häuschen, in das man ihn gezerrt hatte, in der Nähe, in welcher man ihn zu Boden gedrückt und trocken gefickt hatte, eine kaputte, wertlose Vase gelegen hatte. Bakura hatte sie ergriffen und sie dem Mann über ihn mit aller Kraft, die er hatte aufwenden können über den Hinterkopf geschlagen und die scharfe Bruchstelle der Vase hatte ihm die halbe Schädeldecke aufgerissen. Ehe der Mann noch hatte begreifen können, was da geschehen war, hatte Bakura in seiner Angst noch fünf, sechs weitere Male zugeschlagen, wie von Sinnen, bis der Kopf und das Gesicht des Mannes nur noch ein blutiger Brei gewesen waren. Und er hätte wohl weiter gemacht, wenn sie nicht in diesem Moment entdeckt worden wären und seitdem war er auf der Flucht. Irgendwann begann er leise und ungewollt, zu schniefen. Er hatte so lange schon nicht mehr geweint, genauer gesagt, seitdem man seine Mutter im Wüstensand begraben hatte, weil sie sich kein ordentliches Begräbnis hatten leisten können. Er saß da und weinte, beinahe lautlos, weil er sich plötzlich so unendlich alleine und verloren vorkam auf dieser Welt. „Noli flere, mi fili…“ Bakura fuhr der Schreck bis in alle Glieder, als da plötzlich eine Stimme, wie aus dem Nichts an sein Ohr drang. Als seine Augen panisch aufflackerten, sah er die Gestalt eines fremden Mannes in geringer Entfernung vor sich stehen – er wusste vom Klang her, dass es Latein sein musste, das er gesprochen hatte, doch Bakura war dieser Sprache nicht mächtig. Der Fremde, der halb im Schatten der anderen Wand stand, lächelte, soviel konnte Bakura erkennen, dann sprach er so, dass Bakura ihn verstand. „Das ist doch kein Ort zum Weinen“, sagte der Mann sanft. „Ich wein doch gar nicht“, sagte Bakura und der altbekannte Trotz schwang in seiner Stimme mit. Zu seiner Verwunderung erhielt er ein Lachen als Antwort. „Wer seid Ihr?“, erwiderte er gereizt und wollte aufspringen, doch seine Glieder wollten ihm aufgrund der vorherigen Strapazen nicht gehorchen. „Wenn du mit mir kommst, verrate ich es dir vielleicht“, erwiderte der Mann und streckte ihm eine Hand hin, um ihm aufzuhelfen. Bakura starrte die Hand an, wie als sei er es nicht gewohnt, dass man freundlich zu ihm war, wie als erwarte er, dass man ihn sofort wieder schlüge, denn nach seiner Erfahrung konnten Erwachsenenhände nichts anderes, als zu prügeln. Doch nichts geschah. Und schließlich ergriff er sie und er spürte, wie der Mann ihn hochzog, dann mühelos hochhob in seine Arme, als wöge er nichts und dann spürte er, wie sie sich in die Lüfte erhoben und da war Akefia sich sicher, dass es ein Diener des Todesgottes war, der ihn geholt hatte, und da war irgendwie alles gut, er schloss die Augen und genoss die Stille und das Rauschen des Windes … Bakura starrte noch immer in sein Weinglas, während er an jene Nacht zurückdachte. Es war so seltsam, das mit jemandem zu teilen und doch … Er spürte eine Hand zärtlich auf seinem Unterarm, sah zur Seite und direkt in das Gesicht Maliks. Dieser hatte sein eigenes Weinglas bereits zur Hälfte geleert, während Bakura gedämpft zu ihm gesprochen hatte und nun glänzten ihm mitfühlende Augen entgegen. Und dann … konnte er nicht widerstehen, küsste die karamellfarbenen Lippen, fuhr dabei mit einer Hand ins einen Haaransatz, spürte, wie der Herzschlag Maliks plötzlich schneller ging, während die andere Hand abwesend nach Maliks tastete, die nach, wie vor locker auf seinem Unterarm lag. Er küsste ihn lang und intensiv, wanderte langsam den Kiefer herab zum Hals, gegen welchen er die Zunge presste, länger verweilte, was Malik ein leises Stöhnen entlockte, doch er widerstand dem Drang, die Haut zu durchstoßen, wanderte weiter herunter zur Schulter und in einer fließenden Bewegung hob er sich die Hand Maliks an die Lippen und küsste sie. Malik beobachtete das mit einem Schleier über den Augen und einem Kribbeln im Körper und als Bakuras Zähne sanft, wie, als wolle er ihm um keinen Preis wehtun, die Haut an seinem Handgelenk, Malik schloss die Augen, als er das Saugen spürte, das Ziehen und abermals rollte ihm ein leicht erregtes Stöhnen über die Lippen, ein Kribbeln machte sich in seinem Körper breit. Bakura ließ viel zu schnell wieder von ihm ab, auch wenn er sich am liebsten im Blute Maliks verloren hätte, so hatte er über die Jahrtausende genug Selbstbeherrschung gelernt, so etwas Törichtes nicht zu tun. Stattdessen sah Malik ihm nur mit lustverschleiertem Blick entgegen, wie gebannt, versuchte sich offensichtlich zu fangen, „Versuch es gar nicht erst“, raunte er ihm zu, „Mein Appetit ist längst nicht gestillt…“ Als Bakura wieder erwachte, fand er sich in einem wunderschönen Zimmer wieder. Es war hell und sauber und es roch irgendwie nach Zedern. Ein wenig verwirrt richtete er sich in dem Bett auf, in dem er lag. War das tatsächlich gestern passiert? So ganz konnte er das noch nicht begreifen – als schließlich eine Dienerin den Raum betrat und ihn mit einem freundlichen, respektvollen Guten Morgen grüßte, konnte er nicht anders, als die Frau anzustarren. „Was … soll das hier alles…?“, brachte er schließlich hervor. Die Frau lächelte nachsichtig, sie sprach mit leicht hebräischem Akzent, als sie antwortete, „Unser Herr hat dich hergebracht, er ist sehr gütig, du brauchst nun nichts mehr zu fürchten.“ Bakura kräuselte die Augenbrauen, so ganz konnte er sein Glück noch nicht glauben. „Und wer ist dein Herr? Ein Menschenhändler, oder ein Bordellbesitzer?“, zischte er, doch die Frau ließ sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen, während sie in aller Ruhe ein Frühstück vor Bakura auf den kleinen Tisch zauberte, der im Raum stand. „Hab Geduld, heute Abend wird er kommen, wir sehen ihn meistens erst, wenn es dunkel wird, er muss sich um viele Geschäfte kümmern am Tag.“ Bakura schwieg. Ein jüdischer Kaufmann vielleicht? Das würde auch erklären, warum er Latein gesprochen hatte. Außerdem waren Juden ja sehr bekannt für ihre Nächstenliebe. Trotzdem. Bakura hatte viel zu viel Schlechtes erlebt, als dass er an die Güte von anderen Menschen glauben wollte. Allerdings musste er auch zugeben, dass es ihm immer schwerer fiel, an eine böse Absicht zu glauben, als ihm der Geruch von frisch aufgeschnittenen Feigen und hellem Brot in die Nase stieg. „Bitte – iss“, sagte die Frau, „Mein Herr wäre mir sonst sehr böse, wenn er dich heute Abend so geschwächt vorfinden würde.“ Neben Feigen und Weißbrot eine Kanne mit herrlich duftendem Tee, ein Schälchen mit goldenem Honig, Gebäck und Apfelsinen – kurzum, Bakura fühlte sich, wie im Himmel und da ihm der Magen knurrte, wie ein elender Straßenköter, beschloss er seine Zweifel über Bord zu werfen und einfach zuzuschlagen. Schlimmer, als auf der Straße zu verhungern konnte das hier auch nicht sein. Die Frau sah ihm eine Weile zufrieden beim Essen zu, dann sagte sie, „Ich werde mal in der Zwischenzeit nach deinem Bad sehen.“ Bakura erwiderte nichts und folgte ihr nur mit den Augen, er hätte auch nichts sagen können, da er das Essen herunterschlang, als habe er Sorge, dass man es ihm gleich wieder wegnahm. Wenig später hatte er geendet und die Frau kam zurück und führte ihn in einen hellen Raum, in welchem mittig bereits ein ausladender Badezuber mit leicht dampfendem warmem Wasser bereit stand. Bakura konnte sich wirklich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal gebadet hatte, so beäugte er das Nass vorerst misstrauisch, von welchem angenehme Düfte ausgingen, doch dann überwand er sich, nur … „Dreh dich um“, sagte er zu der Frau. Er mochte nicht, dass sie die Spuren von dem sah, was man ihm gestern angetan hatte, zu groß die Scham darüber. Doch zu seiner Überraschung lächelte sie sanft, schien seinen Gedanken zu erraten. „Bitte hab keine Sorge, mein Junge. Als unser Herr dich gestern herbrachte, hat er alle fortgeschickt und dich selbst gewaschen, da ist nichts mehr, für was du vielleicht Scham empfinden müsstest.“ Bakura wandte den Blick leicht ab. Sie wusste es. Oder ahnte es. Aber es war im Grunde auch kein Geheimnis, was man mit verlorenen Straßenkindern machte – um die scherte sich ja niemand. Nun ließ er das weiche Baumwollhemd zu Boden gleiten, das man ihm anstelle des blutverschmierten, zerschlissenen Kaftans übergezogen hatte und ließ sich langsam hinein in das Wasser gleiten. Es war angenehm lauwarm – mehr wäre bei der ägyptischen Hitze derzeit auch nicht zu ertragen gewesen. Er bat die Frau noch einmal, ihn ein wenig alleine zu lassen – sie nickte und verließ den Raum, dessen Tür nur durch einen Vorhang geschlossen wurde. Langsam ließ er seine Arme durch das Wasser gleiten, überall Schrammen und blaue Flecken, die meisten von seiner halsbrecherischen Flucht gestern und die Verletzung, die daher stammte, als der Mann ihm sein Ding hinten reingerammt hatte, brannte, wie Feuer, es musste wohl ziemlich stark geblutet haben. Nur langsam verwandelte sich das Brennen in ein dumpfes Pochen. Bakura ließ sich langsam unter Wasser gleiten, der Schmutz und der Staub hatten sein weißes Haar stumpf und grau gemacht, nur langsam lösten sie sich. Eine Weile blieb der Junge unter Wasser. Es war angenehm, wie eine Blase, die einen umfing, abgeschirmt von dem Rest der Welt, keine Geräusche, keine Bilder, nur angenehme Wärme. Er tauchte erst wieder auf, als er schon schwarze Punkte sah, schnappte dann nach Luft, während die nassen Haarsträhnen ihm an der Wange klebten und ihm teilweise die Sicht nahmen. Später gab man ihm frische, äußerst kostbare Kleidung, sodass Bakura nicht aus dem Staunen herauskam, selbst wenn das Misstrauen dumpf in ihm pochte, dann gab man ihm eine Duftende Essenz ins Haar und kämmte es schließlich, bis es trocken und so seidig war, wie noch nie, die wunde Haut wurde mit Ölen eingerieben und als man schließlich fertig mit ihm war, fühlte er sich einen lächerlichen Moment fast, wie ein Prinz im Palast der Königin. Tagsüber erkundete er ein wenig das Haus, merkte jetzt erst, wie groß es wirklich war und dass es wirklich einem hohen Herrn gehören musste und einen kurzen Moment beschlich ihn der Verdacht, dass der Mann vielleicht einer von denen war, die sich herrenlose Jungen von der Straße holten, sie herausputzten und sich dann als Lustknaben hielten. Bakuras Blick verdüsterte sich. Einerseits saß ihm der Schock von gestern noch in allen Gliedern, andererseits hatte er gehört, dass diese Männer ihre Lustknaben meistens sehr zuvorkommend behandelten und oft sogar sehr verwöhnten und war das nicht allemal besser, als täglich auf der Straße ums nackte Überleben zu kämpfen? Seine Mutter hatte sich auch prostituiert, damit sie beide etwas zu Essen hatten, das wusste er, dennoch war sie eine stolze, schöne Frau gewesen. Bakura beschloss erst einmal abzuwarten, was auf ihn zukam. Plötzlich stach ihm etwas ins Auge – ein Schrank, auf dessen unterster Ablage einige Papyri lagen, doch in den Regalen darüber da ... Bakura zog eines der Dinger aus dem Regal, drehte es ein paar Mal in der Hand und schlug es dann auf – für Bakura, der noch nie in seinem Leben ein Buch gesehen hatte, war das eine völlig spannende Erfahrung und einen Moment vergaß er die Umstände, in denen er sich befand und blätterte verträumt die Seiten durch, betrachtete sich die Schrift, deren Bedeutung und Aussehen er nicht kannte – er hatte nur mal auf einem Papyrus die byzanthische Schrift gesehen, aber diese hier, die war vollkommen anders. Sie war geschwungen und schön und doch hatten die Buchstaben an sich viel kantigere Formen – so etwas hatte er noch nie gesehen. Mit leicht geöffneten Lippen fuhr er mit dem Zeigefinger die Schleifen und Ecken der Buchstaben nach – er hatte schon ein paar Papyrusrollen gesehen in seinem Leben – seine Mutter hatte selbst nicht wirklich lesen und schreiben können – aber noch niemals so viel Schrift in so einer Form. Bakura war so vertieft in seinem Tun, dass er gar nicht bemerkte, wie sich irgendwann jemand ins Zimmer bewegt hatte und ihn nun nach einer geraumen Weile mit fast väterlichem Interesse beobachtete. „Das ist lateinische Schrift“, sagte eine Stimme schließlich und Bakura erschrak so sehr, dass er das Buch fallen ließ. Mit schreckensgeweiteten Augen starrte er den Mann an, in welchem er gleichsam auch seinen Retter vom vorigen Abend erkannte. „D-das weiß ich doch!“, log Bakura, wobei er seine Überraschung überspielen wollte. Und ein bisschen auch seine Unbildung, die ihm plötzlich aus einem unerfindlichen Grund sehr unangenehm war. Der Mann kam näher und ließ Bakura damit einen kurzen Moment Zeit um ihn genauer zu betrachten. Er war kein Ägypter und auch kein Hebräer, dafür war er zu hell und das blonde Haar … nie zuvor hatte er einen Menschen mit so hellem Haar gesehen, auch, wenn es nicht so hell war wie sein eigenes – und seine Augen, so blau, das war vollkommen neu. Blau, wie der Himmel und der Ozean, zumindest stellte er sich den Ozean so vor, denn er hatte ihn noch nie gesehen. Gekleidet war er in die Kleidung dieses Landes, sehr teuer und kostbar und doch sah man ihm auf den ersten Blick an, dass die zu tragen für ihn nicht üblich war. „Bitte schließ den Mund, Bakura, und hör auf zu starren, so etwas gehört sich nicht.“ Bakura klappte wortlos den Mund zu, doch dann fiel ihm etwas anderes auf. „Ich habe Euch niemals gesagt, wie ich heiße“, sagte er kalt, seine Fassung wieder erlangend, „Woher also kennt Ihr meinen Namen? Und wer seid Ihr überhaupt und was wollt Ihr von mir?“ Das Lächeln des Mannes wich nicht. Stattdessen rief er, „Recha, bring uns Tee“, woraufhin die Dienerin von vorhin in den Raum kam, und ihnen beiden Tee in kleinen Schalen servierte, während sie Platz nahmen, Bakura wenn auch eher misstrauisch. Als die Frau wieder aus dem Zimmer war, sagte der Mann: „Mein Name ist Lucius Tarquinius Superbus, ich war einmal der Kaiser Roms.“ Bakura starrte ihn einen Moment an, dann brach er in schallendes Gelächter aus. „Das ist wirklich gut, wirklich – Ihr wollt mir sagen, dass ich mit dem König Roms zusammen in Ephesus sitze und Tee trinke?“ Das Lächeln blieb standhaft. „Ehemals. Man raubte mir meine Heimat, ebenso, wie dir.“ Schlagartig verstummte Bakura und seine Miene wurde von einem Schlag auf den anderen bitter. „Was wisst Ihr denn schon. Ihr lebt hier im Reichtum und im Glück, Ihr seid von den Leuten angesehen und habt Leibeigene – von dem Leben auf der Straße habt Ihr nicht die geringste Ahnung. Ihr wisst doch gar nicht wie es ist, sich täglich durchschlagen zu müssen.“ Verbitterung schwang ganz deutlich in diesen Worten mit und in diesem Moment wirkte er um zehn Jahre sicherlich gealtert. „Komm her, Bakura.“ Ein schlichter Befehl und Bakura, der noch nie jemandes Befehl gehorcht hatte, stand auf, wie von unsichtbaren Fäden gezogen und ließ sich in die Arme dieses Mannes sinken, den er nicht kannte und dann ließ er den bitteren Tränen, die sich all die Jahre in ihm gestaut hatten, freien Lauf und als der Mann, der ihn hielt, ihn streichelte, ohne ihn unsittlich zu berühren, ihn auf die Wangen küsste, ohne das wollüstig zu tun und ohne eine andere Absicht dahinter, als ihn zu trösten, da zweifelte er plötzlich keine Sekunde mehr daran, dass dieser Mann da wirklich ein Kaiser war, denn so großmütig, sich einem schmutzigen, dreckigen Straßenkind, wie ihm anzunehmen, konnte wahrlich nur ein Kaiser sein. Und er hatte auch keine Angst, als er plötzlich etwas an seinem Hals spürte, einen kurzen stechenden Schmerz, etwas Spitzes, das die Haut durchstieß, dann ein Saugen und ihm wurde leicht schwummrig, nein er fürchtete sich nicht. Geistesabwesend schob Bakura Malik das zweite Glas Wein hin, da dieser das seinige schon geleert hatte. „Du hattest Glück“, schnurrte Malik, welcher sich leicht an ihn gelehnt hatte, „Dass Enrico dich gerettet hat.“ „Findest du?“, murmelte Bakura teilnahmslos, dem es gerade so vorkam, als sei das alles keine 2000 Jahre, sondern lediglich 2 Tage her. Enrico, der sich zu dem Zeitpunkt noch Lucius Tarquinius genannt hatte, hatte ihn bei sich aufgenommen. Bakura hatte damals bald geahnt, was für ein Wesen Lucius war, dennoch hatte es für ihn irgendwie keine Rolle gespielt. Lucius Tarquinius war immer gut zu ihm gewesen, er hatte ihn Lesen und Schreiben gelehrt, hatte ihm Latein beigebracht und die Geschichte der Welt, hatte ihm von seinem Götterglauben abgebracht und dazu, sich selbst seine Gedanken über die Menschen und über das Leben zu machen und alles in einem anderen Licht zu betrachten. Und Bakura war ihm jahrelang hörig gewesen, die Aufsässigkeit war erst später gekommen … Wie, um sich abzulenken, vergrub er die Nase im Haaransatz Maliks, sog den betörenden Duft nach Lotusblumen ein, der dort am stärksten war, küsste ihn, was ihn leicht zum Aufschnurren brachte. Mit geschlossenen Augen murmelte Malik, „Du machst mich ganz schwindlig, Herr …“ Bakura schmunzelte gegen Maliks Hals, knabberte dann ein wenig an der Haut, ohne sie jedoch zu durchstoßen. „Der Wein macht dich schwindelig, mein Kätzchen“, raunte er. Der Wein und das bisschen Blut, das er ihm vorhin schon genommen hatte. Bakura wunderte sich, wie Malik ihm überhaupt noch folgen konnte – offensichtlich hatte der junge Mann gar nicht bemerkt, dass Bakura ihm mehr die Bilder direkt in seinen Geist übermittelte, als es ihm so zu erzählen. Er brauchte eine Pause und ein wenig Ablenkung, ehe er fortfahren wollte. Seine rechte Hand wand sich an Maliks Schultern vorbei, umgriff auf der anderen Seite leicht Halsseite und Wange, während die linke auf Wanderschaft ging – Malik war ohnehin schon leicht erregt, schon seit vorhin und als Bakura sich einen kleinen Spaß machte, ihn weiter zu reizen und durch den Stoff in eine der Brustwarzen kniff, war ein abermaliges Stöhnen zu vernehmen. Diese Laute gefielen ihm. Bakura war nie sonderlich sanft gewesen, aber bei Malik war das etwas vollkommen anderes. Er fühlte sich außerdem leicht schuldig, dass er ihn vor wenigen Wochen so überrumpelt hatte, auch wenn es ihm schwer fiel, das zuzugeben. Schließlich ließ er mit den Fingern von der gereizten Knospe ab und beugte sich leicht herab, um durch den Stoff daran zu saugen. „Hmmmh“, entkam es Malik nun langgezogen, er versuchte wahrlich, sich zusammenzunehmen, weil sie hier ja in der Öffentlichkeit waren, aber es gelang ihm einfach nicht. Als Bakura von ihm abließ, zeichnete sich unter dem dünnen Stoff der Kleidung in aller Deutlichkeit die harte Brustwarze ab, an welcher der nasse Stoff klebte. Bakura betrachtete Malik ein wenig, spürte, was in diesem vorging, spürte, dass er erregt war, ohne ihn berührt zu haben, leckte sich selbst dabei über die Lippen. Kaum vorzustellen, was für eine Raubkatze Malik gewesen war, als sie das erste Mal aufeinander getroffen waren und jetzt … Bakura fuhr mit der linken Hand zu Maliks Körpermitte und umgriff durch den Stoff das halbsteife Glied des jungen Mannes, massierte es gleichmäßig, während Maliks Kopf gegen seine Halsbeuge fiel und er ihm seinen heißen Atem stoßweise gegen den Hals blies – die Hände verkrallten sich in seinem Revers, mal fester, mal ließen sie wieder locker, während sich eine zarte Röte auf die dunklen Wangen legte, die nur jemand, wie Bakura wahrnehmen konnte. Als Bakura von ihm abließ, sah Malik auf, sah ihn sehnsüchtig flehentlich an, er möge doch weitermachen, doch Bakura dachte vorerst nicht daran. Lieber ließ er ihn noch eine Weile in seiner Lust schmoren. „Trink lieber noch etwas Wein“, raunte er, „Das lenkt dich ab…“ Bakura war 15 gewesen, als ihn Lucius das erste Mal in sein Bett holte. Im Laufe der Jahre hatte der Junge einen noch größeren Eigenwillen entwickelt, als er zuvor schon gehabt hatte und tatsächlich war es für den ehemaligen Kaiser ein kleiner Kampf – der ihn allerdings aufgrund seiner übernatürlichen Fähigkeiten nicht sonderlich viel Kraft kostete und als Bakura schließlich vor Lust unter ihm zerschmolz, warf er ihm in der höchsten Ekstase, die übelsten Flüche und Schimpfwörter entgegen, wie dass er seine Wolllust herausschrie. Danach begehrte Bakura das erste Mal gegen seinen Herrn auf und lief davon, Lucius hatte ihn gelassen und ihn einige Tage darauf wieder eingefangen, als er in Schwierigkeiten geriet, weil er etwas gestohlen hatte. Die Tracht Prügel, die er ihm damals verpasst hatte, spürte Bakura auch Jahrhunderte später noch. Warum er ihn verwandelt hatte, wusste Bakura damals nicht. Es war ungefähr eineinhalb Jahre später gewesen und als ihm damals endlich in aller Tragweite das bewusst geworden war, was er eben nun war, war die erste Reaktion gewesen, Enrico mit dem erstbesten Gegenstand zu bewerfen, der sich in seiner Reichweite befunden hatte, damit er ihn in Ruhe ließ und endlich aufhörte, auf ihn einzureden. So im Nachhinein konnte man darüber schmunzeln, aber für Bakura war damals eine Welt zusammengebrochen. Dann hatte er sich von Enrico gelöst und fast 200 Jahre lang nichts mehr mit ihm zu tun gehabt, ehe es sie dann doch wieder zueinander hingezogen hatte. Und so ging es seit jeher. Bakura hatte irgendwann gelernt, sich nicht mehr nach dem Gefühl der Sonne auf seiner Haut zu sehnen, denn etwas anderes gab es nicht, dass er mit dem Leben verband und vor allem hatte er gelernt, sich das, was ihm von Enrico gegeben worden war, zunutze zu machen. Natürlich hatte er auch schwache Momente gehabt, wie das eine Mal, es musste irgendwann im 16. Jahrhundert gewesen sein, als er versucht hatte, seinem Leben ein Ende zu setzen, indem er in die Sonne gegangen war – doch alles, was er davon hatte, waren unsägliche Schmerzen gewesen und eine gebräunte Haut, die erst nach fast 100 Jahren wieder so weiß geworden war, wie sie es jetzt war. Das Blut, das ihm von Enrico gegeben worden war, war zu mächtig. Das zweite Glas Wein war leer. Der Wein war süß und stark. Malik lehnte an seiner Seite, das Gesicht gerötet, weil er leicht angetrunken war und immer noch erregt, er hatte sich an ihn gepresst, seitlich und als Bakura aus seinen Gedanken aufmerkte, spürte er eine leichte Bewegung an seiner Seite. Malik rieb sich an ihm, ganz leicht, hatte sich dabei auf die Unterlippe gebissen. „Unanständiges Ding“, murmelte Bakura mit einem undeutbaren Lächeln und Malik hob den Kopf und ein Blick voller Unterwürfigkeit und flehentlichem Verlangen glänzte ihm entgegen, sodass es Bakura ganz anders wurde. „Bitte, Herr…“, kam die Stimme gewispert, woraufhin Bakura mit beiden Händen Maliks Wangen umschloss, um sein Gesicht zu ihm zu dirigieren und dann küsste er ihn abermals, leidenschaftlich und verlangen, während er ihn in einer fließenden Bewegung auf die Bank hinunterdrückte - hier in dieser Ecke waren sie abgeschirmt genug und die die einmal doch einen Blick riskierten, sahen schnell weg und taten, als hätten sie nichts gesehen, denn sie wussten, was die beiden da taten und es wurde hingenommen, immerhin war es doch ganz legitim einen schönen, jungen Mann, wie Malik als das Seinige zu kennzeichnen, indem man ihn öffentlich flach legte und dann war es natürlich noch Bakuras Wirken zu verdanken, dass niemand Anstoß an ihnen nahm. Flüchtig schob er den Maliks Kaftan nach oben, gerade so viel, dass er bequem zu seiner Körpermitte gelangen konnte, welche sich schon zuvor deutlich unter dem dünnen Stoff abgehoben hatte und als er wenig später in ihn eindrang, was ihm ein Stöhnen entlockte, lauter, als zuvor, während er seine Fingernägel tief in Bakuras Rücken schlug, als sie sich beide von der Lust tragen ließen und Bakura schließlich nicht mehr widerstehen konnte und die Dornen in den betörenden Hals schlug, da waren sie eins, nur sie, füreinander bestimmt und es brach Bakura das Herz, dass er ihn niemals in seine Welt würde holen können. Es ging bereits wieder auf den Morgen zu, ehe sie nachhause zurückkehrten. Bakura trug Malik in seinen Armen, denn der war betrunken und geschwächt vom Blutverlust und erschöpft vom Liebesakt. Bakura würde es nicht wundern, wenn der junge Mann sich am nächsten Morgen fragen würde, ob ihn ein Traum heimgesucht hatte, oder ob das alles wirklich passiert war. Zuhause legte er ihn sanft auf dem Bett ab, trat dann zum Fenster, um die Vorhänge zuzuziehen. Einen Moment hielt er inne und starrte nach draußen in den dämmernden Morgen. Eines wurde ihm klar. Er durfte nicht sein Herz an ihn verlieren, nicht wie Enrico damals an ihn und heute an Oliver, ihn hatte er in die Finsternis gezogen, Oliver stand es bevor und mit einem Mal wusste Bakura nicht, ob er es anders machen würde, wäre er in derselben Situation. Unbewusst krallte sich die Hand in den Vorhang. Nein. Malik sollte ihr Schicksal nicht teilen, das würde sein Geist nicht verkraften. Kapitel 10: X. -------------- Ryou fühlte sich wie ein Beutetier, das darauf wartete, die Schlange, die es gefangen hatte, möge zuschnappen. Yalik musterte ihn. Schon seit einer geraumen Weile. Und etwas in diesem Blick gefiel ihm nicht. Ganz und gar nicht. Hatte er irgendetwas falsch gemacht und ihn erwartete nun Bestrafung? Er konnte sich nicht vorstellen, was – die Kleidung, die er ihm zuvor besorgt hatte, schien auf Gefallen gestoßen zu sein und auch das Haus, in dem sie jetzt residierten, schien zu Yaliks vollster Zufriedenheit. „Du hast Angst“, schnurrte ihm plötzlich eine Stimme ins Ohr, sodass er zusammenzuckte. Wie war er nur so schnell … Natürlich. Er vergaß. Ryou schloss die Augen. Er zitterte. Er konnte nichts dagegen tun, er zitterte. Noch immer fürchtete er um sein Leben, doch er wagte es nicht, sich zu fragen, wie er von diesem Wesen fliehen konnte, denn er hatte das Gefühl, dass dieses seine Gedanken lesen konnte. Ein Kuss auf seiner Schläfe. Er erschauerte. “Mein wunderschönes Kind…“, säuselte der Mann und schob ihm das Hemd von den Schultern. „In meiner Zeit waren welche wie du als Lustknaben sehr gefragt…“ Ein weiterer Kuss auf die porzellanfarbene Schulter folgte und beinahe lag etwas Andächtiges darin. Hände, die seinen Körper umfingen und Ryou merkte, wie er schwach wurde, nur unter dieser Berührung. „Ich habe zu lange schon keinen Knabenkörper mehr genossen …“, wisperte er ihm sehnsüchtig ins Ohr und langsam dämmerte Ryou, dass sein Blut nicht der einzige Grund war, warum dieses Wesen ihn auserkoren hatte. „Bitte Herr“, murmelte er verzweifelt, die Hände auf seinem Körper spürend, welche sich ungeniert vorantasteten. Ein boshaftes Lachen. „Ich soll dich verschonen? Ich?“ Ryou biss sich auf die Unterlippe, um sie am Zittern zu hindern. Die Hände streiften ihm das Hemd von den Schultern, es zerriss, einfach so, ohne einen Laut und mit einem Mal wurde es ihm kalt, was nicht nur an der fehlenden Kleidung lag. Er spürte die Lippen, die an seinem Hals entlangtasteten, erschauerte einen Moment, denn ungewollt fühlte sich das schön an und es kam ihm völlig irrational vor, dann riss er erschrocken den Mund zu einem stummen Schrei auf, als sich zwei spitze Dornen in die Haut seines Halses bohrten und dann … dann kam da wieder dieser Schleier, der sich über seinen Blick legte. Olivier hustete und mit diesem Husten spürte er den metallischen Geschmack von Blut in seinem Mund, es drang über seine Lippen, er spuckte es aus, weil es so viel war, besudelte das weiße Nachthemd damit, hustete abermals und ließ sich dann stöhnend zurücksinken. Enrico, welcher solange am Fenster verharrt war, in Gedanken, bis der Junge eben von diesem Hustenreiz geweckt wurde, eilte besorgt an dessen Seite – sah das Blut, mit welchem er sich besudelt hatte und eine Welle aus Sorge und Angst überkam ihn. Er griff abwesend nach einem Leinentuch, um wenigstens den Großteil der Bescherung abzutupfen. Olivier ließ es über sich ergehen, als sei er eine Puppe. „Das schöne Nachthemd ist hinüber …“, murmelte der Junge. „Das Nachthemd ist meine geringste Sorge, Tesoro“, antwortete Enrico, während er zu Gange war und schickte in Gedanken nach Malik, welcher noch einmal einen heißen Kräutersud zum Inhalieren bringen sollte. Es handelte sich hierbei um eine arabische Zusammensetzung, die schon zuvor wahre Wunder gewirkt hatte. Zwar konnte sie Oliviers Schmerzen nicht heilen, aber zumindest lindern. „Enrico, was beschäftigt dich…?“, sprach Olivier mühsam, als er sich einigermaßen von dem Hustenreiz erholt hatte, die Tatsache versuchend zu ignorieren, dass es sich anfühlte, als habe ihm jemand heiße Eisenstäbe in die Lungen geschoben. Enrico hielt inne. „Was meinst du, Täubchen?“ Olivier legte den Kopf schief und lächelte schwach. „Ich spüre, dass dich irgendwas beunruhigt – und dieses … Irgendwas hat mit mir nichts zu tun.“ Enrico schwieg. Sah ihm jetzt schon ein kranker Sterblicher an, dass die Sorge um Oliviers Gesundheit nicht die einzige Sorge war, die auf ihm lastete? Er trug die Verantwortung um ihrer aller Sicherheit und es ging dabei um ein Wesen, von dem er nicht wusste, wie er ihm bei kommen sollte. Zumindest kein zweites Mal. Bereits einmal war Yalik zu Stein geworden. Wieso nur konnte er sich zwar daran erinnern, DASS es passiert war, aber nicht daran, wie? Das bereitete ihm Kopfzerbrechen. Aber er wollte Olivier auf keinen Fall beunruhigen, nicht in diesem kritischen Zustand. Natürlich könnte er ihn umwandeln, jetzt, um ihm weiteres Leiden zu ersparen, doch da war noch die geringe, lächerliche Hoffnung in ihm, der Junge möge, wie durch ein Wunder gesunden und die Qual der Ewigkeit bliebe ihm erspart. Zumindest für eine Weile. Denn Enrico musste sich plötzlich eingestehen, dass er Olivier so, oder so nicht hätte gehen lassen, ob er nun noch zehn Jahre gewartet hätte bis zu seiner Verwandlung, oder es jetzt tat. So würde der Junge nun sein puppenhaftes Äußeres bis in alle Ewigkeit behalten. Er verschwieg es ihm. Wer brachte es nicht über sich. Schließlich lächelte er und küsste den Jungen vorsichtig, die Krankheit machte ihm selbst ja schon längst nichts mehr aus. „Mach dir keine Sorgen, mein Täubchen“, wisperte er, während Olivier die Augen schloss. „Mach dir keine Sorgen, es ist nichts“, und fühlte sich seit Jahrhunderten das erste Mal bei einer Lüge abgrundtief schlecht. „Enrico…“ „Ja…?“ Ein abermaliges Husten sorgte für eine Art Kunstpause zwischen Oliviers nächsten Worten. „Auch, wenn das eben wahrscheinlich eine Lüge war, wollte ich dir nur sagen, dass … ich dich liebe …“ Enrico spürte, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen, das erste Mal nach so langer Zeit. Er ergriff Oliviers blasse Hand und hauchte ihm mit all der Ehrerbietung, die ein Kaiser einem so wundervollen Geschöpf nur entgegenbringen konnte, einen Kuss darauf, ließ seine Lippen auf der Haut verweilen, spürte, wie langsam und zäh das Blut unter ihr floss, wie der Herzschlag versuchte, konstant zu bleiben, und es wohl nicht mehr lange dauern würde, ehe der Tod Olivier holen wollte. Und dann weinte er. Die blutigen Tränen benetzten die schneeweiße Hand, welche behutsam tröstend ihm über die Wange strich und schließlich fasste Olivier ihm mit erstaunlicher Bestimmtheit an beide Wangen, damit er ihm in die Augen sehen musste, er betrachtete eine kurze Weile die blutigen Rinnsale auf der marmornen Haut, dann sagte er sanft: „Komm…“, und Enrico glitt, wie an einem unsichtbaren Seil gezogen zu Olivier auf das Bett, dieser zog ihn an sich und er bettete den Kopf an seiner Brust, in welcher das schwache flatternde Herz schlug, wie ein gefangenes Vögelchen. Und so lagen sie da gemeinsam auf dem blütenweißen Bett und nun war Enrico es, der sich schwach fühlte, der sich gehen ließ, er der immer die Fassung bewahrt hatte, er der immer stark gewesen war, er, der Jahrtausende überdauert hatte, er vergoss die bittersten Tränen, die er je in seinem Leben vergossen hatte, weinte um das Leben Oliviers und über das Schicksal, das er ihm aufbürden musste und, dass er zu schwach war es nicht zu tun, weil er Olivier all seiner Liebe ausgesetzt hatte, die er jemals einem Geschöpf gegenüber empfunden hatte. Olivier schwieg und ließ ihn weinen und war ergriffen darüber, dass Enrico ihn ebenso zu lieben schien, dass er ihm erlaubte, ihn so zu sehen, zu erleben, welch einen größeren Liebesbeweis mochte es wohl zu geben? Seine zarten Finger streichelten durch das seidige, goldene Haar, den Blick an die Decke gerichtet, traten ihm selbst die Tränen in die Augen, weil es ihm das Herz brach, zu wissen, dass er Enrico hier würde zurück lassen müssen und er wusste, allzu lang würde es nicht mehr dauern, das Atmen fiel ihm schwerer, Stunde um Stunde. Sie lagen eng aneinander, als Malik später mit dem Sud den Raum betrat. Er sah die beiden und ein schmerzvolles Lächeln schlich sich auf seine Züge, während er wortlos den Aufguss in die Vorrichtung goss, welcher Olivier das Inhalieren erleichtern sollte. Dann verließ er den Raum wieder. Enrico erhob sich schwer von Oliviers Seite, um nach dem Schlauch zu greifen, an dessen Ende sich eine Art Atemmaske befand und reichte es dem Jungen, half ihm, es sich vor Mund und Nase zu halten, weil er fast schon zu schwach war, die Hand aufrecht zu halten für eine längere Zeit. Olivier versuchte tiefe Atemzüge zu nehmen, der warme aromatische Dampf tat seinen geschundenen Lungen wohl und verschaffte ihm Linderung, wenn auch nur für eine Weile. Die darauf folgenden Tage und Nächte schloss Enrico sich bei Olivier ein, Stunde um Stunde an seinem Bette wachend, was Olivier, welchen inzwischen auch hohes Fieber plagte mit Kummer zur Kenntnis nahm. Auch einem Vampir merkte man irgendwann eine gewisse Erschöpfung an, wenn er nicht trank, so alt er auch sein mochte. Die wachen Stunden, die er nicht im Delirium verbrachte, wurden immer weniger, immer kürzer, schon bald war es ihm schwer, überhaupt etwas wahr zu nehmen, die Zeit hatte keine Bedeutung mehr, sie wurde nicht in Stunden gemessen, sondern in den Abständen, in welchem man ihm die Dampfbehandlung angedeihen ließ und alsbald war er auch dafür zu schwach. Und schon bald spürte Enrico, dass Oliviers Zeit gekommen war. Er saß an seinem Bette, wie er es immer tat, die letzten zwei Wochen, die erfüllt waren, von schwerem Blut, von Bangen und verlorenem Hoffen, er möge doch wie durch ein Wunder gesunden, aber Oliviers Körper war, wie erwartet zu schwach gewesen. Die Sonne ging gerade unter, sie warf Strahlen von glühendem Gold in das Zimmer. Oliviers Blick war erstaunlich klar, wie er so dalag, so schmal und zerbrechlich, wie nie zuvor, der Körper war nur mehr aus Haut und Knochen. „Es ist so … traurig …“, sagte der Junge leise, so leise, er konnte kaum sprechen, während Enrico seine Hand fest umgriffen hielt. „Ich hätte zu gerne … noch einmal … Rom gesehen …“ Ein Husten, der den entkräfteten Körper erbeben ließ, bei jedem qualvollen Atemstoß viel zu viel Blut. Hatte er überhaupt noch welches? „Das kannst du, mein Täubchen…“, sagte Enrico mit erstickter Stimme. „Du kannst hier bei mir bleiben … wenn du es willst und … ich werde dir die Stadt zeigen in ihrer ganzen Schönheit…“ Olivier schloss die Augen, woraufhin sich zwei klare Tränen lösten und lautlos über die blassen Wangen rannen. „Das wäre … zu schön …“ Enricos Finger krampften sich um die zarte Hand, die sie hielten. Noch konnte er einhalten in seinem Vorhaben, Olivier vor dem Fluch der Ewigkeit bewahren, der ihn womöglich härter zerbrechen konnte, als eine Krankheit es jemals vermochte. Aber Olivier war noch so jung! Er wusste doch kaum, wie schön das Leben auch sein konnte, welche Geheimnisse es einem noch offenbaren konnte. Er war gerade seit wenigen Tagen 15 Jahre alt, das war kein Alter, kein Alter … Enricos Blick wurde Ernst. Nein. Er konnte nicht. Konnte ihn nicht gehen lassen, ohne sich daraufhin selbst ins nächste Feuer zu stürzen, um seiner Qual über diesen Verlust Linderung zu schaffen. Behutsam zog er das dünne, blutbesudelte Laken von Oliviers hagerem Leib – ein Stich fuhr ihm in die Brust, als er ihn so sah, dann umfasste er den ausgemergelten Leib, der nichts mehr wog, und hob ihn an, stets den schwächer werdenden Atem gewahrend. Das Fenster schwang auf, er sprang auf das Sims, sein Blick ging für den Bruchteil einer Sekunde in die Ferne. Dann glitt er herab, landete geräuschlos inmitten des leicht verwilderten, doch noch immer wunderschönen, Gartens. Oliviers Lider flatterten und er sah direkt in die Sonne, auch wenn ihm die Augen davon schmerzen mochten, sog ihre helle, liebende Wärme ein letztes Mal in sich auf, ein letztes Mal die Schönheit dieser Welt, den Tag, das Licht, den Garten und er lächelte und sein Blick wurde matter. „Vergib mir“, wisperte der Kaiser, dem blutige Tränen in den Augen standen, dann senkte er die Lippen herab, und die weißen Dornen durchstießen die Haut, die so dünn war wie Pergament. Er wusste, dass er nicht viel nehmen durfte, so entkräftet, so blutleer, wie Olivier jetzt schon war, wenn er ihm so viel nahm, dass sein Herz aufhörte, zu schlagen, dann wusste er, war der Junge für immer verloren, dann konnte er ihn niemals wieder zurück holen und so trank er zwei Schlucke, drei vielleicht, saugte die Krankheit, die in Olivier wütete, aus, wie Schlangengift, dann hielt er inne. Sah auf den Jungen herab. Der sah ihn an, mit klaren, hellen Augen, war still, war ruhig, harrend dem Kommenden, harrend der Willkür dieses ewigen Wesens und das letzte, das Olivier von dieser Welt wahr nahm, war das Sonnenlicht, welches gerade am Horizont verschwand. Und dann … spürte er den süßen Nektar des ewigen Lebens auf den Lippen, einzelne, sanfte Tropfen, süßer als das Paradies und er konnte ihre Quelle nicht erkennen. Sacht leckte die Zunge nach draußen, erhaschte den ersten Tropfen und er erschauerte, begann schließlich instinktiv nach der Quelle dieses süßen Tropfens zu tasten und sie erschloss sich ihm bald, Enrico presste ihm sanft das Handgelenk gegen die Lippen – erst verweilte die Zunge leise kitzelnd auf der gerissenen Wunde, dann setzte ruckartig ein Saugen ein, Enrico gewahrte es mit steinerner Miene, er gab ihm so viel, er trinken mochte, denn sein Körper war noch immer so schrecklich entkräftet. Das Saugen wurde alsbald stärker, gieriger und Enrico spürte dieses leise Pochen, ein Zeichen dafür, wie verbunden sie schon waren, er spürte den erstarkenden Herzschlag des Jungen, den Willen mit aller Macht am Leben festzuhalten und bald begann ihm selbst zu schwindeln und so musste er sich fast losreißen, damit Olivier innehielt. Enrico sank erschöpft nach hinten, der Körper des Jungen war ihm entglitten, das nun Folgende musste Olivier nun alleine durchstehen. Und schließlich begann seine Verwandlung. Olivier fühlte sich, als flösse geschmolzenes Eisen durch seine Adern, der Puls wurde schneller, schneller, so schnell, bis er ihn als unerträglich lautes Dröhnen in den Ohren wahrnahm, die Augen waren weit aufgerissen und mit jedem Pulsschlag, der durch seinen Körper ging, sah Olivier sein Leben etappenweise vor seinem inneren Auge vorüberziehen, es wurde immer schneller, so schnell, dass ihm bald davon schwindelig wurde und das glühende, flüssige Eisen, das wurde immer heißer, so heiß, dass er von den Schmerzen beinahe wahnsinnig wurde, die Bilder, die Geräusche – seine eigenen Schreie – das alles wurde zu einer immer schneller wirbelnden Kakophonie, bis die Welt um ihn herum in einer Kaskade aus gleißend hellem Licht explodierte, er riss die Augen weit auf und die Sterne am Himmel waren so nah, sie stürzten auf ihn ein und dann glaubte er sterben zu müssen, während sein Körper sich noch aufbäumte, seine zarten Hände sich so tief ins Gras krallten, dass sie die Erde durchbrachen und Gras und Erde büschelweise ausrissen und dann … … ließ das Aufbäumen nach. Sein Körper lag still. Die Verwandlung war vollzogen. Mit schwer sich hebender und senkender Brust lag Olivier im Gras und starrte mit weit aufgerissenen Augen gen Firmament, an welchem längst die Sterne standen. Er hatte kein Zeitgefühl mehr. Zeit war mit einem Schlag bedeutungslos geworden. Enrico, der die Verwandlung still beobachtet hatte, ohne einzugreifen, jedoch nicht ohne Oliviers Schmerz am eigenen Leib spüren zu können und das war ihm beinahe unerträglich gewesen, gewahrte beinahe mit Ehrfurcht die Verwandlung, die mit dem Körper, der ihm bereits zuvor so wundervoll vollkommen gewesen war, vorgegangen; Der Körper, welcher zuvor so gezeichnet von Krankheit und Pein, war nun nicht minder zart, jedoch wirkte er kraftvoll und dynamisch und gesund, wie er sein sollte, die Zähne, so strahlend weiß sie zuvor schon gewesen sein mochten waren in eine perfekte Anordnung gerückt, gekrönt von zwei anmutigen, zierlichen Eckzähnen, wunderschöne Dornen, die Haut wie Porzellan, so makellos und rein und die zuvor blauen Augen hatten nun einen viel tieferen eigentümlichen, violetten Einschlag und das Haar … es war nicht mehr stumpf und matt, wie in der Zeit von Oliviers Krankheit, ein neuer Glanz hatte Besitz von ihm ergriffen, wie Seide, oder flüssiges Kristall. Enrico war sehr ergriffen. Mein Gott, welch ein perfektes Geschöpf hatte er da erschaffen. Beinah wollten ihm erneut die Tränen kommen, doch mit Mühe hielt er sie zurück. „Olivier …“, sagte er leise, andächtig, doch der Knabe schien ihn kaum zu hören, zu sehr mit sich selbst beschäftigt, mit seiner eigenen neuen Form. Olivier hatte sich erhoben, in eine sitzende Position und betrachtete versunken seine kristallen wirkenden Fingernägel, befühlte mit Zunge und Fingerspitzen vorsichtig die neuen Eckzähne, zuckte kurz zurück, weil sie so spitz waren. Noch wollte er nicht begreifen, was sein Verstand versuchte, ihm zu überbringen, zu schnell war all das gegangen. Hatte er nicht noch in seinem Krankenbett gelegen und seines Endes geharrt? Hatte nicht unerträglicher Schmerz seinen Körper geplagt und ausgezehrt, hatte nicht der Schnitter an seinem Bettende gestanden? Wieso war er jetzt hier unter den Sternen, wieso war er gesund, das war … nicht richtig. Mit unsicheren Gliedern stand der Knabe auf, überrascht über die neue Kraft, die es ihm ermöglichte, denn zuvor hatte er nicht einmal mehr alleine sitzen können, weil ihn das so sehr angestrengt hatte. Er blickte an sich hinunter, noch immer trug er das blutbesudelte, weiße Gewand, in dem der Geruch der Krankheit haftete, den er nun selbst das erste Mal so intensiv wahrnahm, wie Enrico es die letzten Wochen hatte ertragen müssen. Noch immer leicht benebelt schüttelte er den Kopf, ging ein, zwei unsichere Schritte, ehe Enrico ihn einfing und in die Arme schloss. „Es ist vorbei, mein Täubchen“, wisperte er, „Weder Tod, noch Krankheit können dich jetzt noch von mir fortreißen…“ Und schließlich begriff Olivier. „Du hast mich …“ „… verwandelt, ja…“ „… verflucht.“ Mit einem Ruck, der für sie beide unerwartet heftig ausfiel, machte Olivier sich von ihm los und blickte ihn so voller Verstehen und Klarheit und Schmerz an, dass Enrico einen Moment um Worte rang. „Du hast mich verflucht, zu einem, einem … Dämon gemacht!“ Entsetzen spiegelte sich auf den Zügen des Knaben wieder. „Olivier“, sagte Enrico bemüht sanft, “ich hatte keine Wahl, ich-“ „ICH, genau, das ist es! Du hättest mit mir darüber sprechen müssen, und stattdessen hast du auf den Moment gewartet, in dem ich nicht mehr WIDERsprechen konnte, du SCHEUSAL!“ Die Worte trafen den ehemaligen Kaiser hart und wider jeder Vernunft ereiferte er sich: „Sag mir, wolltest du mich etwa verlassen? Nennst du das denn Liebe?“ Olivier schnappte empört nach Luft, dieser Wortschinder, ging es ihm durch den Kopf und ehe er es sich versah, hatte sich Enrico eine Ohrfeige eingefangen, die einem Normalsterblichen wohl das Genick gebrochen hätte – er ruckte zur Seite, hatte einen Moment nicht mit solch einer Stärke gerechnet, genauso wenig, wie Olivier, der einen Augenblick lang erst ungläubig seine Hand und dann Enrico und wieder seine Hand anstarrte und schließlich auf dem Absatz kehrt machte und in Richtung des Hauses davon stürmte. „Himmel!“, knurrte Enrico, sich durch die Haare fahrend und einen Moment lang durchatmend, ehe er aufstand, um Olivier hinter her zu eilen, der, als er den Eingang durchschritt bereits am Ansatz der Treppe war. „So warte doch!“, rief er ihm hinterher. „Du sollst mich in RUHE lassen!“, schrie Olivier, wobei seine Lungen wider Erwarten herrlich kraftvoll wirkten, während er sich den nächstbesten Gegenstand griff, ein antiker, kupferner Teller, und ihn mit aller Kraft in Richtung Enricos schleuderte, der gerade noch den Kopf einzog, sodass das wertvolle Stück aufgrund der Wurfkraft einen Millimeter über seinem Haarschopf in einer Säule einschlug und mit einem leisen ‚Zing‘ nachvibrierte. „Oli…vier…?“, murmelte er perplex und starrte ein wenig verdattert und gerade mit einem Deja-vue, denn dieselbe Situation hatte er vor 2000 Jahren mit Bakura erlebt, zu seinem Feinsliebchen, welches sich drauf und dran machte, die Treppe zu erklimmen und so musste er wohl oder übel die Verfolgung weiter aufnehmen. Olivier war bereits an der Hälfte der Treppe, als er Enrico bemerkte und aus einem kleinen Seitenerker griff er sich eine kostbare Vase, welche zum nächsten Wurfgeschoss auserkoren wurde, holte aus und – Da war Enrico hinter ihm und hielt ihn am Handgelenk fest, sodass die Vase ihm überrascht aus der Hand fiel und Enrico sie mit der freien Hand auffing. „Ich wünschte, du würdest das lassen“, sagte er behutsam und führte Oliviers erhobene Hand neben seinen Körper zurück, „Weißt du, diese Gegenstände sind von einem unschätzbaren historischen Wert, ihr Verlust wäre wirklich ein Jammer.“ Olivier blickte ihn aus großen wütenden Augen an und durch diese Wut hindurch konnte Enrico sehr deutlich seine Verletztheit wahrnehmen. Er stöhnte innerlich. Bakura war damals nicht so schwierig gewesen. „Lass uns darüber reden“, bat Enrico. In Oliviers Augen standen Tränen, er mied seinen Blick. „Ich will jetzt überhaupt nicht reden“, sagte er, zog sein Handgelenk aus Enricos Griff, drehte sich um und stieg dann die Treppen hinauf, bis zu seinem Zimmer. Enrico widerstand dem Impuls, ihm nachzugehen. Er konnte verstehen, dass Olivier nun erst einmal Zeit für sich brauchte und so beschloss er, ihn erst einmal zu lassen, sodass er seine Gedanken sortieren konnte, auch, wenn es ihm missfiel. Olivier schloss die Türe hinter sich ab. Im Zimmer war es dunkel, doch die Dunkelheit beeinträchtigte nicht länger seine Sicht. Er sah den Raum in seiner ganzen Weite, alles scharf, alles deutlich. Er schloss die Augen. Öffnete sie dann wieder. „Das ist ein Traum“, murmelte er, trat dann vor einen Spiegel, um sich anzusehen. Angeblich hatten Vampire doch kein Spiegelbild. Er aber sah sich in aller Deutlichkeit und die Vollkommenheit, die er sah, erschreckte ihn. Olivier riss sich von seinem Spiegelbild los und ging hinüber zum Bett. Der Geruch von Blut stieg ihm in die Nase, es war sein eigenes, das er unlängst durch die Krankheit verloren hatte. Es roch widerlich metallisch und bitter, er verzog das Gesicht und unterdrückte einen Würgereiz, dann riss er abrupt das gesamte Bettzeug herunter und schleuderte es in den Kamin, welcher im Zimmer war und riss sich schließlich auch das blutbesudelte Nachthemd vom Leib und ließ es folgen und sah sich dann nach etwas um, mit dem er den Kamin anzünden konnte. Er fand auf dem Kaminsims Streichhölzer, nahm eines heraus, entzündete es und warf es in die Laken. Zuerst kokelte es nur leicht, doch dann entzündete er den Rest der Packung ebenfalls und schließlich umleckten keine zwei Minuten später mittelgroße Flammen die Laken. Das bisschen trockene Holz, welches sich noch im Kamin befunden hatte, knisterte leise. Olivier hockte sich vor den Kamin auf den Boden und stützte das Kinn auf die angewinkelten Knie, dabei stumpf in die Flammen starrend, die zwar auffallend grell waren, im Vergleich zu früher, aber dennoch etwas Tröstliches, Symbolisches hatten. Er war nackt, doch seine Nacktheit störte ihn nicht mehr. Er fror auch nicht. Unzählige Gedanken gingen Olivier durch den Kopf. Noch immer weigerte sich etwas in ihm, sich mit diesem neuen Zustand abzufinden. Vielleicht, wenn er einfach so tat, als hätte sich nichts verändert … Doch das war Blödsinn. Nichts würde mehr so werden, wie früher. „Hab ich nicht genug an Gott geglaubt, ist das meine Strafe?“, fragte er die Flammen und dann: „Gibt es überhaupt einen Gott? Stellt er mich auf die Probe, soll ich Buße tun?“ Olivier befiel der Wunsch, zu beichten. Und gleichsam befiel ihn eine eisigkalte Wut auf die Kirche, Wut auf Gott. Wut auf alles. Würde er nun Blut trinken müssen? Er verspürte Hunger. Schrecklichen Hunger und es kam ihm widerwärtig vor. Er konnte doch früher nicht einmal einer Maus etwas zuleide tun, die sich in einer Falle verfangen hatte. Jetzt sollte er Menschen … Er dachte diesen Gedanken nicht zu Ende. „Ich kann das nicht“, wimmerte er und ließ die Stirn auf die Knie herabsinken, sein Gesicht verbergend. „Ich kann das nicht, niemals.“ Schließlich kauerte er sich auf dem Boden zusammen, dort vor dem Kamin in Embryonalhaltung, kam sich verloren vor und schwach und hatte Angst vor dem, was er jetzt war. „Oh, Herr…“, wisperte er, „Wieso ….?“ Malik hatte sich während all das geschehen war, in jenem Zimmer aufgehalten, das er sich mit Bakura teilte. Bakura hatte ihm nicht gesagt, was Enrico da mit Olivier vor hatte, war er doch noch der festen Auffassung, Olivier, der ihm wie ein kleiner Bruder geworden war, verloren zu haben – umso mehr hatte ihn dann dieses laute Stimmengewirr auf der Treppe zutiefst verwirrt und er war sehr unruhig geworden. Bakura hatte es ihm verbieten wollen, doch er hatte sich nicht davon abbringen lassen können, nach Olivier zu sehen, und so schlich er vorsichtig zu dessen Zimmer, von welchem er das laute Türeschlagen vernommen hatte. Er blieb stehen und lauschte. Kein Geräusch drang durch die Tür, nichts, und für eine Weile überlegte er, ob er sich dies nicht doch nur eingebildet hatte, dann drang ein leises Aufschluchzen an sein Ohr. Doch das war alles, es war wieder still. „Olivier …?“, wisperte er und klopfte und er hatte keine Ahnung, was gerade allein durch seine Präsenz mit dem Jungen auf der anderen Seite der Türe vor sich ging. „Ich bin es…“ „Ich fürchte, dies ist kein guter Zeitpunkt“, ließ ihn Enricos Stimme zusammenzucken. Malik wirbelte herum und fühlte sich ertappt und als er Enrico erblickte, gewahrte er mit Erstaunen, dass dieser sehr müde aussah und irgendwie mitgenommen, einen Zug, den er bei dem Italiener zuvor noch nie bemerkt hatte. „Bitte sagt mir, was da los ist, was ist passiert? Ich weiß, dass etwas mit ihm passiert ist, obwohl ich viele schreckliche Momente dachte, ihn zu verlieren – ich bitte Euch; Lasst mich nicht länger im Ungewissen.“ Enrico schwieg, starrte einen Augenblick die Tür an, hinter welchem er Oliviers innere Qual und seinen Hunger spüren konnte, der ihn befallen hatte, als er Malik durch die Türe wahr genommen hatte. Dann sah er den Ägypter wieder an. „Er gehört jetzt zu meinesgleichen.“ Malik schloss einen Augenblick gequält die Augen. „Das ist nicht wahr…“ Aber kein Vorwurf lag in seiner Stimme und das erste Mal respektierte Enrico Malik für sein Wesen und nicht nur für seinen Körper. „Ich würde gerne irgendetwas für ihn tun“, sagte Malik leise, „Aber ich weiß nicht, was …“ Enrico schwieg wieder eine kurze Weile. Vielleicht war es gar nicht so verkehrt, wenn … „Du könntest in der Tat etwas für ihn tun …“ Wenig später öffnete sich das Schloss, wie durch Geisterhand und die Tür schwang auf – Malik sah Olivier auf dem Boden kauern und warf Enrico, der hinter ihm eingetreten war und vorerst an der Türschwelle stehen blieb, einen Blick zu. Dieser nickte. „Olli“, sagte er leise und kniete sich zu dem Knaben hinab, strich ihm dabei sanft über den Oberarm. „Komm, steh doch auf, bitte…“ „Lass mich allein, Malik“, kam es dumpf gemurmelt von der zusammengekauerten Gestalt. „Ich weiß, was passiert ist, er hat es mir gesagt. Bitte komm doch, lass dich wenigstens mal ansehen.“ Malik redete mit Olivier, wie mit einer verschreckten Katze, geduldig und liebevoll, obgleich er auch ein wenig Sorge, wenn nicht gar Angst verspürte. Tatsächlich regte Olivier sich, richtete sich zumindest auf und sah Malik an, welcher einen kurzen Augenblick im Flammenschein die gewahrte, die mit seinen Augen vorgegangen war. Aber das kümmerte ihn nicht. Olivier war Olivier, egal, ob Mensch, oder Vampir. Alleine die Traurigkeit in seinen Augen tat ihm weh. Schließlich zog er ihn einfach in seine Arme und war ein bisschen überrascht, als der Knabe die seinigen plötzlich um ihn schlang und bitterlich weinte. „Schh …“, machte er geduldig, „Enrico sagt, dass du … etwas zu dir nehmen musst, dann wird es dir sicherlich besser gehen …“ „Nein, nein, nein, das verstehst du nicht, Malik … ich kann nicht, ich-“ Malik fasste ihn bei den Schultern und drückte ihn sanft von sich weg, um ihn ansehen zu können. „Hör mir zu“, sagte er. „Ich weiß, dass du heute viel durchgemacht hast, zuviel, wenn man mich fragt-“ Ein vorwurfsvoller flüchtiger Blick über die Schulter, „Aber sieh‘, ich bin hier, um es dir einfacher zu machen. Du musst keine Angst haben, jemandem weh zu tun, denn ich will es dir freiwillig geben …“ Olivier starrte ihn an, schüttelte leicht ungläubig und verzweifelt den Kopf. „Das ist unmöglich, was, wenn ich …“ „Dafür werde ich sorgen“, sagte Enrico langsam, welcher Oliviers Angst, sich nicht kontrollieren zu können, jemanden ernsthaft zu verletzen, erahnte. Der Junge hatte so ein zartes Gemüt. Aber er war auch stark, das wusste er. „Ich werde die ganze Zeit hier sein und dir sagen, wann es genug ist, bevor du ihn ernsthaft verletzen würdest.“ Olivier starrte einen Augenblick zu Malik, dann zu Enrico und schließlich wieder zu Malik. Er öffnete die Lippen leicht und plötzlich nahm er wahr, wie das Leben in seinem Freund pulsierte und dieses Pulsieren zog ihn an. Abermals schlang er die Arme um Maliks Hals, ähnlich, wie in einer Umarmung, doch diesmal fanden seine Lippen ihr Ziel. Die Zähne durchstießen die bronzefarbene Haut und über Maliks Lippen drang kein Laut, auch wenn ihn das etwas an Selbstbeherrschung kostete, er wollte nicht, dass Olivier sich selbst bis an sein Lebensende verabscheute, weil er ihm wehtun musste. Und dann nahm Olivier das erste Mal bewusst das Blut als Nahrung wahr, er begann leicht zu saugen, weil ihm die wenigen Tropfen, die von selbst aus der Wunde flossen, nicht genug waren und schließlich trank er vorsichtig in kleinen Schlucken und mit jedem Schluck wuchs seine Gier und wurde mehr und mehr und … „Es reicht jetzt…“, drang Enricos Stimme an sein Gehör, aber Olivier wollte nicht aufhören, er hatte noch nicht genug, er … Dann spürte er eine Hand sanft ihm Nacken, die ihn dazu zwang von Malik abzulassen und mit leicht geröteten Wangen und verklärtem Blick starrte er seinen Freund an, welcher sich leicht benommen erhob und sich auf dem Sofa im Raum niederließ, um sich wieder zu sammeln. „Komm jetzt“, sagte Enrico und streckte ihm eine Hand hin, um ihm beim Aufstehen zu helfen, „Ich habe veranlasst, dir ein Bad einzulassen und dann kleiden wir dich neu ein. Diesen schrecklichen Streit lass uns meinetwegen zu einem späteren Zeitpunkt fortführen, aber bitte nicht jetzt.“ Olivier ergriff seine Hand schließlich und ließ es sogar nach kurzem Gegenwillen zu, dass Enrico ihn in eine Umarmung zog und so hielt der ehemalige Kaiser den nackten Jungen still an sich gedrängt, denn er spürte, dass er gerade das jetzt brauchte, allem äußeren Widerwillen zum Trotz. Ryou hatte mit Sorge beobachtet, wie sich ein gehässiges Lächeln auf Yaliks Züge geschlichen hatte, dann hatte dieser gemurmelt: „Sieh mal einer an, so gibst du diesen Fluch also weiter, werter Kaiser… Warte nur, bald werde ich dir das entreißen, was dir das Teuerste ist …“ „Herr...?“ Yalik reagierte nicht sofort auf die Ansprache, welche Ryou eine enorme Kühnheit abverlangte. Dann irgendwann, als hätte er eben erst bemerkt, dass Ryou mit ihm gesprochen hatte, erwiderte er verstimmt: „Hatte ich nicht gesagt, dass du mich nur anzusprechen hast, wenn ich es dir erlaube?“ Ryou presste die Lippen zusammen. „Ich möchte nicht anmaßend sein, aber gestattet Ihr mir bitte eine Frage?“ Yalik bedachte den Jungen, der ihn wenig zuvor beinahe hatte schwach werden lassen mit gelassener Teilnahmslosigkeit. „Sie sei dir gestattet.“ „Nun, es … ich weiß nicht, von wem Ihr da ständig sprecht und es geht mich nichts an, das weiß ich, aber wieso … seid Ihr so … versessen darauf, an diesem … wer immer er auch sein mag, Rache zu üben, ich meine, Ihr habt wohl tausende von Jahren im Schlaf verbracht, wieso seht Ihr Euch diese Welt nicht an, wie sie heute ist, wieso…“ Ryou brach ab, da er wohl merkte, dass er zu weit gegangen war, aber seltsamerweise verspürte er gerade jetzt keine Angst, als Yalik sich von seinem Platz erhob und vor ihn hintrat. Dann packte er ihn geschwind und grob mit einer Hand an den Wangen und riss seinen Kopf in die Höhe. „Du willst mir sagen, was ich zu tun habe?“, stellte er fest und Ryou versuchte mit aller Macht diesem Blick stand zu halten. „Nein, Herr“, presste er hervor, während ihm der Kiefer zu schmerzen begann, „Ich … dachte nur …“ „Ha, du denkst!“ Yalik versetzte ihm einen Stoß, sodass er stolperte und hinstürzte. „Sklaven haben nicht zu denken, Sklaven haben zu funktionieren!“ „Ich muss Euch enttäuschen, aber die Sklaverei ist bereits vor einigen Jahren abgeschafft worden.“ Einen Moment lang hielt Yalik verblüfft inne, dann brach er, sehr zu Ryous Verwirrung in schallendes Gelächter aus. „So, du willst diese Welt also so gut kennen, wie? Nun gut. Bis ich meine Rache vollziehe muss noch eine Zeit vergehen, also sehe ich kein Hindernis darin, dass du sie mir zeigst, diese Welt, von der du so redest. Schon allein der Mut, mit dem du da vor mich trittst, sollte belohnt werden.“ Warum eigentlich nicht? Sollte dieser Jüngling ihn ruhig ein wenig hier herumführen, vielleicht gab er ihm ein wenig Wein zu trinken, damit er lockerer wurde – Zuerst war es Yalik egal gewesen, er hatte in Ryou nur einen Lustknaben gesehen, wie es sie beliebige früher an seinem Hof gegeben hatte und selbst wenn sich ein Auserkorener, oder eine Auserkorene einmal geweigert hatten, so hatte er auch vor Vergewaltigungen nicht zurückgeschreckt, denn für Yalik hatten sie nie Gesichter gehabt, sie hatten nur Körper gehabt, schöne Hüllen, die ihm zu Willen sein sollten, wann immer er es verlangte, sie hatten niemals eine Seele für ihn besessen. Aber an diesem Jüngling war irgendetwas anders. Irgendetwas und irgendwie war er neugierig darauf, eben das zu ergründen. Und er wollte seinen Körper genießen, er wollte sich Zeit lassen, ihn zu nehmen, denn in Ryou schien viel mehr zu schlummern, als nur sein Liebreiz. Und auch, wenn er es sich in diesem Momente noch nicht eingestehen konnte, so spürte er, dass er etwas in der Seele hatte, das seiner so ähnlich war. Seine Rache konnte noch ein wenig warten. Das hier versprach noch interessant zu werden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)