Les Misérables von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 6: VI. -------------- Müde kühlte Ryou seine schmerzenden Füße in dem Wasser des Fontana di Trevi. Mittlerweile war es Abend geworden. Er war den ganzen Tag unterwegs gewesen. Und hier war er nun. Ein junger Bohemian, der von London nach Paris, von Paris nach Rom gereist war, in der vagen Hoffnung, endlich eine Zukunft zu finden, für die es sich zu kämpfen lohnte. Der Junge, welcher noch nicht einmal die Volljährigkeit erreicht hatte, ehe er das Elternhaus hatte verlassen müssen, ließ den Blick der dunklen, freundlichen Augen über die steinernen Statuen schweifen, welche den Brunnen säumten und auch in seiner Mitte ihren Platz gefunden hatten. Ein Seufzen schlich sich über seine zarten Lippen. "Sitzen vor den Pyramiden, zu der Völker Hochgericht - Überschwemmung, Krieg und Frieden - und verziehen kein Gesicht." Goethe. Ryou kannte viele Gedichte, viele Reime. Seine kleine Schwester hatte sie auch immer geliebt. Als Kinder hatten sie sich gegenseitig die Werke alter Künstler vorgelesen, die schönsten Reime, und hatten sich daraus ihre eigene kleine Welt erschaffen, da die Eltern sich selten um ihre Kinder gesorgt hatten und als der Vater gestorben war und die Mutter alkoholkrank wurde und sich einem Mann an den Hals warf und sie beide alleine ließ, nahm das tragische Schicksal seinen Lauf, denn auch die kleine Amane blieb bald nicht verschont von der garstigen Grausamkeit des Daseins. Der Tod holte sie schließlich. Und nichts mehr hatte Ryou in London gehalten. Das Versprechen Amane gegenüber hatten ihn stets getrieben. Das einzig Greifbare, das noch geblieben war. Seine Reise hatte so lange gedauert, weil er nie Geld gehabt hatte. Er hatte beinahe jede Arbeit angenommen, um zu etwas Geld zu kommen, um die Überfahrt von der Insel aufs Festland zahlen zu können und nach Rom war er per Billigexpress gefahren und während dieser Fahrt hatte er die Menschen mit seinen eigenen Gedichten so sehr bezaubert, dass sie ihm Geld gegeben hatten. Und nun war er schließlich hier, in Rom, hatte sich gerade soviel erarbeitet, dass es zum Leben reichte. Eine Existenz gründen? Ungewiss. Er hatte ja noch nicht einmal eine Bleibe für die Nacht und so, wie es aussah, würde er hier vor den Stufen des Brunnens nächtigen. "Da bin ich", sagte er. "Und nun?" Er konnte ja nicht nur reimen. Er malte. Portraits. Der Menschen, denen er begegnete, die er zufällig sah und er malte seine Träume. Surreale, morbide Träume, mit denen er nicht umzugehen wusste, die so real waren, dass er nicht anders konnte, als sie auf Leinwand oder Papier zu bannen. Er hatte ja weder Geld für Staffelei noch teure Ölfarben, so zeichnete er meistens mit Kohlestift und auf billigem Papier. Ryou musste kreativ sein können, musste sich ausleben können, dann war das schwere Leben gleich weniger schwer. Als der Blick des Jungen so über die steinernen Mienen schweifte, blieb er plötzlich an einer bestimmten hängen. Er wusste nicht, wieso, immerhin war es eben ein solches steinernes Gesicht wie die anderen auch, aber er konnte seine Augen nicht mehr abwenden. Abwesend ließ Ryou seinen kleinen Seesack zu Boden gleiten, welchen er noch während des Sitzens auf seinem Schoß hatte ruhen lassen, stand auf und ging ein paar leise, platschende Schritte durchs Wasser, ehe er sich an der anderen Seite wieder hochzog, an der Hand der Figur, die ihn so in den Bann gezogen hatte. Es war ein Mann. Der Mann war nackt dargestellt, sitzend auf einer Art Thron, oder vielmehr Ruhesitz, wie ihn die alten Ägypter und die Griechen verwendet hatten, die Haltung gerade, die Arme in unterschiedlicher Höhe vom Körper abgewinkelt, die Haare einer Löwenmähne gleich, die leeren, steinernen Augen wirkten hart und das nicht nur des Steines wegen, um den Mund war ein kalter, verkniffener, oder höhnischer Zug und alles, aber auch wirklich alles in der Statur dieses steinernen Mannes strahlte Verachtung, Bosheit und Macht aus, so sehr, dass Ryou sich tatsächlich einen Moment erschreckte und daraufhin das Gleichgewicht verlor. Instinktiv griffen seine Arme aus, griffen ins Leere und fanden dann Halt an dem unteren ausgestreckten Arm der Statue. Ein stechender Schmerz schoss durch seine Hand und auch durch seinen Arm, als sich ein Teil seines Fingernagels des Zeigefingers ablöste und er zog scharf die Luft ein. Ryous Herz klopfte und um zur Ruhe zu finden, ließ er sich einfach auf den einladenden Schoß der Statue fallen und bemerkte dabei nicht, wie ein winziger Tropfen Blut, anstatt auf dem Stein abzuperlen, langsam von diesem eingesogen wurde, fast wie Haut eine Salbe aufsog. Ryou schloss einen Moment die Augen. "Das ist scheiße", sagte er rundheraus. Man hatte ihn als Kind immer gescholten, wenn er solche Worte in den Mund genommen hatte, aber nun schalt ihn keiner mehr und er fluchte bewusst, wie ihm der Sinn stand. "Das ist einfach nur scheiße." Abermals in die Stille hinein. Dann öffnete er die Augen wieder und sah aus der halb seitlichen Froschperspektive zu dem steinernen Mann hinauf. "Sei froh, dass du keine Ahnung vom Leben hast", teilte er diesem mutlos mit. "Ich wünschte, ich wär auch nur ein dummer Klotz aus Marmor, dann müsste ich mich nicht immer mit so einer Scheiße herumschlagen." Und dann geschah etwas Sonderbares. Ein leises Vibrieren ging durch den Stein und plötzlich fühlte er sich warm an, wärmer als zuvor, warm, wie sich Stein nicht anfühlen sollte und Ryou blinzelte verwundert, dann erschreckt und schließlich schrie er auf, als sich die steinernen Arme, an welchen er zuvor noch gelehnt hatte, um ihn schlossen und als er hinauf blickte, war da kein marmornes Gesicht, da waren bronzefarbene Haut, der Mund, welcher einen triumphierenden Zug angenommen hatte und unendlich dunkle, schwarze Augen, die ihn gierig und verlangend anstarrten. Eine sonore Stimme drang an das Ohr des Jungen und am liebsten hätte er sich die Hände an die Ohren geschlagen, wenn er sich denn aus seiner Starre hätte lösen können, doch er konnte nicht. Als wäre die Statue der Mensch und er nun die Statue. "Ein Kind haben sie mir geschickt, um mich zu erlösen ..." Eine grauenhafte Stimme. Sie ging durch und durch. "Weiß wie der Mond, so rein und wunderschön ..." Bildete er sich das ein, oder war da eine Spur Lüsternheit und Verlangen herauszuhören? Dann, plötzlich ein Lachen, als die zum Leben erwachte Statue Ryous entsetzte Mimik bemerkte. "Was, denn, mein Kind? Bereust du deine Worte von vorhin jetzt?" Ryou schnappte nach Luft, war unfähig, die Worte zu bilden, die eigentlich aus seinem Mund kommen sollten. Das war vollkommen surreal, das war ... wieder einer seiner Träume? Ja, so musste es sein. Stein wurde nicht lebendig. Das war nicht möglich. Steine waren Steine und Menschen waren Menschen. Ein amüsiertes Lachen drang an sein Ohr und dann spürte er einen Druck im Kreuz, der Mann hob ihn mühelos an und sein Kiefer senkte sich herab und für einen winzigen Augenblick sah Ryou zwei scharfe elfenbeinweiße Zähne aufblitzen und dann war da noch der Schmerz, als diese sich gnadenlos in der zarten Haut seines Halses vergruben. Ryou riss die Augen auf, dann senkten sich die Lider sacht herab, wie als wäre er in einer Trance gefangen und um die Lippen schlich sich ein entrücktes Lächeln. Er ließ los. Begab sich in die Willkür dieses Wesens, das nun seine Macht über ihn erhoben hatte, ihn zu seinem Besitz machte, zu einer Funktion im Zahnrad der Welt. Ein angenehm saugendes Gefühl an seinem Hals und er wusste, es war das Blut, sein eigenes, das ihm genommen wurde und währenddessen ließ er seine Gedanken frei, ließ sie strömen, sollte dieses Wesen doch alles von ihm wissen, was da war und viel gab es da nicht zu wissen, denn er hatte noch nichts Großes getan in seinem Leben. Tränen stiegen in den Augen des Jungen auf, Tränen von der Art, die jedes Wesen, jeden Menschen eigentlich berührt hätten, doch nicht so bei diesem. Er war das Böse. Der verbannte, gestürzte Pharao. Und er war zurückgekommen, weil es ihn nach Rache gelüstete und weil ihn dieses unendlich reine und köstliche Blut endlich von seinem Jahrtausende langen steinernen Fluch erlöst hatte. Und vielleicht war auch das Ryous Glück, denn das bedeutete, dass er ihn nicht töten durfte. Der Pharao erhob sich mit dem willenlosen Lamm auf seinen Armen und spürte, wie die verloren geglaubte Macht ihn neu durchströmte, ließ den Blick eine Sekunde schweifen und dann glitt er mit ihm in die Nacht, unbemerkt von irgendjemandem. ~ Oliviers Augen hatten begonnen zu strahlen und lieferten sich, seit er und Enrico den Louvre betreten hatten, einen Wettstreit mit den prunkvollen Kronleuchtern. Enrico schmunzelte, als er Olivier betrachtete, wie dieser gedankenverloren vor einem Kunstwerk stand, denn es wirkte fast so, als saugte er die Schönheit dieses Bildes in sich auf. Denn schön war es, ja. Schön und gleichsam einschüchternd. Luzifer und Michael, von Lorenzo Lotto. Es zeigte, wie der Feuerengel Michael Luzifer, den einstigen Lichtbringer, bezwang und hinab in die Hölle stieß. Enrico war aufgefallen, dass Olivier von den christlichen Motiven am meisten angezogen wurde. Und er musste zugeben, auch für ihn hatten sie einen gewissen Reiz, allerdings weniger aus religiösem Interesse, wie das wohl bei dem Knaben der Fall zu sein schien, sondern mehr aus Neugierde. Neugierde auf die Menschen, deren Theologie und den Bezug zur Kunst. Langsam und lautlos trat er näher an den Jungen heran. "Gefällt dir das?", wisperte er nahe dessen Ohr und Olivier erschauerte kurz, fühlte dann einen gehauchten Kuss auf seinen heißen Wangen, von denen Enrico annahm, sie seien so warm, weil die Raumtemperatur so hoch war. Aber dem Jungen schien der Kuss in diesem Moment sehr zu gefallen. "Ich finde es sehr beeindruckend", sagte Olivier leise, "wie Lotto mit dem Licht umgegangen ist. Nur Michael ist beleuchtet, es wirkt fast so, als sei es mehr das göttliche Licht als sein Feuerschwert, das Luzifer in die Hölle stößt. Und doch ist es eigenartig", fügte Olivier nach einer kurzen Pause hinzu und ergriff abwesend Enricos Hand, welche sich sanft um seine Schulter gelegt hatte, trippelte vorsichtig mit den Fingersitzen über dessen Handrücken. "Was meinst du, Täubchen?", raunte Enrico, da es ihm vorkam, als dachte Olivier seinen Satz zu Ende und er mochte nicht in dessen Gedanken lesen, denn das erschien ihm in diesem Moment nicht richtig. "Na ... Luzifer, ich meine ..." Er schien seine Worte abzuwägen. "In allen Geschichten wird er einem als das leibhaftige Böse beschrieben, als der Verdammte, der Gefallene, der sich von Gott abwandte, aber in dieser Darstellung sieht er gar nicht ... böse aus. Vielmehr ... verloren, einsam. Sieh mal, wie er die Arme schützend hebt. Als würde er sich wünschen ..." "... Dass ihn jemand aus der Finsternis errettet", murmelte Enrico abwesend und Olivier wandte das erste Mal den Blick vom Bild ab, weil in dessen Stimme etwas Bitteres mitgeschwungen war. Olivier sah sich einen Moment verstohlen um und dann küsste er ihn, keusch und vorsichtig und dennoch schmolz Enrico dahin, da es das erste Mal war, dass Olivier so etwas initiierte. Die blauen Augen des Knaben sahen ihn verständnisvoll an und auch um Verzeihung bittend, dass er diese Ähnlichkeit nicht bemerkt hatte. "Ich könnte es für dich kaufen, wenn du möchtest", wisperte Enrico und schmiegte sich einen Moment an die Handfläche Oliviers, der ihm zart über die Wangen streichelte. Dieser lächelte. "Ach, Enrico, das wäre ja so, als würde man der Welt dieses Bild stehlen." "Ich könnte es, wenn du wolltest." "Ich weiß. Aber ich will es nicht. Die Kunst ist für alle da. Leider auch für diejenigen, die sie nicht mehr zu würdigen wissen. Eine Schande." Sie gingen ein paar Schritte weiter. Um diese Zeit waren nicht mehr viele Menschen im Louvre und so blieben sie auch beinahe unbemerkt. Olivier hustete. Enrico warf ihm einen Blick zu, aber es schien nichts Ernsthaftes zu sein, denn es hatte bereits wieder aufgehört. Olivier selbst verzog nur das Gesicht. Diesen leichten Reizhusten, den hatte er in der letzten Zeit öfter. Vielleicht eine Stauballergie, er war ja für alles Mögliche empfänglich. Enrico war im Stillen froh darüber, dass es gelang, Olivier so gut von dieser Geschichte mit Zidler abzulenken, aber der Knabe schien wohl mental von zäherer Natur, als er zuerst angenommen hatte. Er hatte ja erst befürchtet, dass er sich wochenlang in sich zurückziehen würde und er ihn, wie bei einer verschüchterten Katze, mit Engelsgeduld und Streicheleinheiten mühsam wieder hervorlocken würde müssen. Er hoffte, Olivier verdrängte nicht nur, aber derlei Anzeichen konnte er in seinem Geist derzeit nicht lesen, also wollte er auch nicht den Teufel an die Wand malen. Und gerade war es schön so, wie es eben war. Sie verbrachten Zeit miteinander und Oliver vermochte es immer wieder, ihn aufs Neue zu entzücken, wo andere Sterbliche, die im Laufe der Jahrhunderte gekommen und gegangen waren, bald angefangen hatten, ihn zu langweilen. Aber Olivier ... das war etwas anderes. Etwas vollkommen anderes. Nachdenklich betrachtete er das Halbprofil des Jungen, welcher ihm ein paar Schritte vorausgelaufen war, um sich ein anderes Gemälde anzusehen. Er war so lieblich, so vollkommen, so wunderschön und so klug. Hatte er ihn anfangs doch mehr als verlockendes Spielzeug angesehen, so mochte er ihn jetzt nicht mehr missen. Abwesend glitt der Blick der dunklen, blauen Augen über die zarte Statur Oliviers, den schmalen Rücken, das verboten perfekt geformte Gesäß. Das seidige Haar und die reine Haut und als er ihm kurz über den Rücken ansah und ihm diesen Blick zuwarf, den er nicht beschreiben konnte, da machte sich ein eigenartiges Gefühl in ihm breit, ein Gefühl, das er lange nicht mehr auf diese Weise verspürt hatte. "Was siehst du mich denn so an?", meinte Olivier mit einem Lächeln und im nächsten Augenblick war Enrico bei ihm und schloss ihn in die Arme. Sog den Geruch seines Haares ein, küsste seine Wange, wanderte mit der Zunge zum Ohrläppchen und vergrub dann die Nase im Haaransatz im Winkel hinter dem Ohr, wo der süße Eigengeruch des Jungen am stärksten war. Olivier spürte, wie ein leichtes Zittern durch den Vampirkörper ging und wusste nicht, wie er es zu deuten hatte. "Was machst du nur mit mir, mein Täubchen?", flüsterte Enrico zart in sein Ohr und Olivier schloss einen Moment die Augen, genoss die Umarmung, genoss das zärtliche Flüstern, die Nähe und war plötzlich erfüllt von unendlicher Zuneigung für diesen Mann, ließ sich küssen und sie küssten sich heiß und innig und vergaßen dabei vollkommen, wo sie waren. Die wenigen Menschen, die an ihnen vorbeiliefen, warfen ihnen verstohlene Blicke zu, aber irgendetwas, das die beiden umgab, hielt sie davon ab, das Wort zu erheben über diese Ungehörigkeit. Als hätte es Enrico mit seinem Zauber vermocht, einen unsichtbaren Wall um sie zu ziehen. Als sie voneinander abließen, waren Oliviers Wangen leicht gerötet und er sah so unwiderstehlich aus in diesem Moment. Im nächsten Moment ergriff Enrico spontan das zarte Handgelenk des Jungen und zog ihn hinter sich her. "Komm mit", sagte er dabei bestimmt und Olivier lachte leise. "Wo willst du denn hin?" "Warte es ab." Sie näherten sich einem verschlossenen Aufgang, überflüssig zu erwähnen, dass es leise klickte, als Enrico eine Handbewegung ausführte und die Tür sacht aus dem Schloss sprang. Lautlos öffnete sie sich und ebenso lautlos schloss sie sich wieder, nachdem die beiden sie passiert hatten. "Rico!", wiederholte Olivier noch einmal atemlos, als sie eine große Wendeltreppe erklommen und kurz bevor sie am oberen Ende angekommen waren, hielt der Italiener inne und sah ihm direkt in die Augen. Zog ihn abermals in einen kurzen Kuss. "Ich zeige dir die Nacht jetzt, wie ich sie sehe", raunte er gegen die roséfarbenen Lippen, dann öffnete sich die Tür zum Dach und kühle Nachtluft schlug Olivier entgegen, als er an Enricos Hand nach draußen schritt. Der Zutritt war hier normalerweise verboten, weswegen die Fläche auch nicht sonderlich einladend wirkte, aber Enrico hatte ohnehin nicht vor, hier zu verweilen. "Vertraust du mir?", fragte er den Jungen leise und Olivier nickte, beinahe wie selbstverständlich. Wenn er Enrico nicht trauen konnte, wem dann? Und im nächsten Moment spürte Olivier, wie ihm die Beine unter dem Körper weggezogen wurden, fand sich in Enricos Armen wieder und als er gewahrte, dass sich selbiger zur Dachkante hinbewegte und schließlich sprang, stieß er automatisch einen leisen Schreckensschrei aus und kniff die Augen zusammen. Doch nichts geschah, kein Aufprall, kein Schmerz. Nur die kühle Nachtluft, die ihm durchs Haar wehte und seine Wangen rötete. Langsam öffnete er die Augen - und klammerte sich automatisch fester an Enrico, während ihm ein "Mon diéu!" entwich. Sie waren über der Stadt. Schwerelos, so wie Olivier es sich in seinen bangen Stunden immer erträumt hatte. Mit immer größer werdenden Augen nahm er die Lichter der Stadt in sich auf. Es war ein wahres Meer aus Lichtern, wie sie unterschiedlicher nicht hätten sein können und doch verschmolzen sie irgendwann in der Schnelligkeit des Fluges zu einer wunderbaren, hellen Masse. Und Olivier entspannte sich, fühlte sich befreit, wie er sich schon lange nicht mehr gefühlt hatte, und fühlte sich geborgen in diesen Armen. Weit in der Ferne sah er die roten Flügel der Mühle, aber sie jagten ihm keine Angst mehr ein, obgleich er letztens erst noch ihr Gefangener gewesen war. Enrico beschützte ihn, das wusste er. Vor allem und jedem, der ihm etwas antun wollte. "Das ist richtig", wisperte Enrico, so dass er es im Winde des Fluges gerade noch verstehen konnte. "Niemals würde ich zulassen, dass dir ein Leid geschieht." Olivier wurde seltsam zumute. Dann sah er den erleuchteten Eiffelturm, wie sie sich ihm näherten und kurz darauf glitt Enrico lautlos herab, bis er auf der höchsten Plattform des Turmes zum Stehen kam und stellte Olivier wieder auf seine eigenen Beine, schlang stattdessen einen Arm um seinen Rücken. Sie schwiegen. Und es war ein schönes, angenehmes Schweigen, während sie die Stadt betrachteten, die Lichter, wie manche von Ihnen erloschen, je weiter die Nacht fortschritt. "Manchmal in der Vergangenheit, ertappte ich mich dabei, wie ich sie beobachtete", murmelte Enrico irgendwann. "Wenn man so lange nicht mehr unter den Lebenden weilt, fängt man irgendwann an, sich zurückzuziehen, weil man kein Teil mehr ist von ihnen. Und es ist im Grunde gut so. Doch dann packt einen irgendwann die Sehnsucht nach dem Leben und man fängt an, sie zu beobachten und ehe man sich versieht, erliegt man seiner Sehnsucht und begeht irgendeine Narretei.” Enrico klang selbstironisch bei diesen Worten und während er sprach, strich sein Daumen sanft über den Oberarm Oliviers. Der Junge hatte sich an ihn gelehnt und lauschte seinen Worten. “Von welcher Narretei sprichst du?”, fragte Olivier leise. “Ich liebe dich, mein Täubchen.” Oliviers Herz hatte einen kurzen Aussetzer und er löste sich aus Enricos Arm, um ihm ins Gesicht sehen zu können. “Du - was?”, stotterte er, konnte das eben Gehörte nicht so recht begreifen. “Ich meine, ich ...” ... liebe dich auch? Olivier wagte es nicht, diese Worte auszusprechen. Er fürchtete sich vor ihnen. Fürchtete, dass er noch nicht reif, noch nicht alt genug war, diese Worte zu begreifen in ihrem ganzen Ausmaß und doch fühlte er im Innersten seines Herzens, dass er ihn auch liebte. “Ich ...”, begann er noch einmal hilflos, doch Enrico legte ihm einen Finger auf die Lippen. “Es ist in Ordnung”, sagte er leise. “Ich weiß doch, wie es um dich bestellt ist.” Olivier stiegen kurz die Tränen in die Augen. Ärgerlich blinzelte er sie fort. Er spürte, wie Enrico ihn auf die Stirn küsste und spürte, wie sein Herz sich plötzlich überschlug. Er wollte ihm auch etwas geben. Wollte ihm zeigen, dass er ihm vertraute und dass er ihm ergeben war. Und dann sagte er: “Enrico?”, blickte ihm dabei direkt in die Augen. “Ja, mein Engel?” “Ich ...” Die Wimpern senkten sich einen Moment herab, als er auf den Boden sah, hoben sich dann wieder. “... möchte dir mein Blut geben.” Enrico blinzelte, ehe ihm ein leicht krächziges “Was?” entfuhr. “Du hast mich richtig verstanden”, sagte Olivier leise. “Als Zeichen meiner Zuneigung und meiner Dankbarkeit. Ich bitte dich darum. Außerdem glaube ich, dass ... ich schrecklich eifersüchtig wäre, wenn du es dir jetzt von einem anderen nehmen würdest.” Der ehemalige Kaiser war tatsächlich sprachlos. Das erste Mal seit Jahrhunderten. Und er spürte einen Puls in der Höhe seines Adamsapfels, wie er ihn schon lange nicht mehr gespürt hatte, die Kehle wurde ihm trocken, wie als er damals als Knabe das erste Mal kurz davor gestanden hatte, mit einer betörenden Frau zu schlafen; er fasste Olivier bei den Wangen und versuchte, in dessen Gesicht irgendeinen Zweifel zu lesen, doch den fand er nicht. “Ist dir eigentlich klar, was du mir da offerierst? Nichts wird so sein wie vorher und ich weiß nicht, ob ich mich danach zurückhalten kann!” Olivier nickte, war dabei viel ruhiger, als Enrico es war und Enrico stieg plötzlich wieder der Duft dieses unendlich süßen und betörenden Blutes in die Nase, er hörte, spürte und roch, wie es unter der weißen Haut pulsierte und er erzitterte, als Olivier die Arme um ihn schlang und den Hals leicht neigte und dann konnte er nicht mehr an sich halten, denn das einzige, was er sah, war dieser unendlich schöne Schwanenhals und alles um ihn herum verschwand, als er endlich die weißen Dornen in der zarten Haut des Halses vergrub und Oliviers Körper erbebte in seinen Armen, als der erste Schwall Blut in seinen Mund pulsierte und er musste sich zurückhalten, nicht in großen Schlucken zu trinken, denn schaden wollte er Olivier auf keinen Fall. Er trank in kleinen, zurückhaltenden Schlucken und während er trank, wurde es Olivier in seinen Armen ganz anders. Er bekam weiche Knie und wenn Enrico ihn nicht mit festem Griff gehalten hätte, dann wäre er sicherlich zu Boden gesunken, weil seine Beine ihn nicht mehr trugen. Sein Gesichtsausdruck bekam etwas Entrücktes und er versuchte, nicht abzudriften, weil er dieses Gefühl wahrnehmen wollte, dieses unendlich betörende, saugende Gefühl, das Verbotene der Nacht und ja, er genoss es, ihm ausgeliefert zu sein und es erregte ihn und in jenem Moment war da keine Scham mehr für diese Erregung, nur Verlangen. Unbändiges sexuelles Verlangen nach diesem Mann, der ihm so den Kopf verdrehte und der machte, dass seine Welt Kopf stand, dass die Lichter des Eiffelturms über ihm verschwammen und dann ... hörte es auf. Enrico hatte sich lösen müssen, widerwillig zwar, aber die Angst, Olivier ernsthaft zu schaden, war zu groß, zu gegenwärtig. Er atmete flach, sah in Oliviers Gesicht, welcher einen Moment die Augen geschlossen hatte, da ihm wohl schwindelig geworden war und das Verlangen des Jungen war ihm kaum verborgen geblieben. Wortlos hob er ihn in die Arme, noch ganz berauscht von dem Blut, während die Erregung in seinen Lenden pulsierte und als er in die Nacht glitt, nachhause, wusste er, dass er ihn sich jetzt nehmen würde, egal, ob Olivier noch versucht hätte, ihn aufzuhalten. ~ “Wo sind wir hier?”, flüsterte Ryou, als er sich langsam von seinem Schock erholt hatte. Ein Knurren kam von seinem Entführer, ärgerlich darüber, dass man ihm so eine triviale Frage gestellt hatte. “Irgendwo, wo dieses Menschengewürm nicht auf die Idee kommt, nach einer fortgelaufenen Statue zu suchen.” Die Stimme klang spöttisch und kalt und Ryou schauerte es. “Wieso habt Ihr mich entführt? Wer seid Ihr?” “Weißt du, mein Kind, früher habe ich meinen Untertanen, wenn sie zu vorlaut waren, einfach die Zunge abgeschnitten. Vielleicht sollte ich das auch mit dir tun, du redest zuviel.” Ryou presste die Lippen zusammen. Einerseits hatte er wirklich Angst vor diesem Mann, doch andererseits war er nicht gewillt, seine Fragen unbeantwortet zu lassen. “Untertanen?” “Welches Jahr schreiben wir?”, drang die sonore Stimme an sein Ohr, ohne seine vorherige Frage zu beantworten. “Wir haben den 13. Oktober 1896.” Ryou konnte beinahe spüren, wie die Luft in dem kleinen Raum des Kirchturms in welchem sie sich offensichtlich befanden, herunterkühlte und abermals jagte es ihm eine Gänsehaut über den Körper. “Mehr als 2000 Jahre ...” Ryou war feinsinnig genug, zu bemerken, dass das eine Feststellung war und man ihn damit nicht angesprochen hatte. Aber eine kalte Wut schien von dem Mann auszugehen, der vor etwas weniger als einer Stunde noch aus Stein bestanden hatte. Und plötzlich drehte er sich zu Ryou um und dieser prallte zurück als er das Gesicht des Mannes sah, denn seine Miene war durchwirkt mit einer Mischung aus Wahnsinn, Zorn und unterschwelligem Schmerz. “2000 Jahre wurden mir gestohlen und einzig und allein der verdammte römische Thronräuber und dessen Schergen tragen die Schuld daran! Mein Volk fürchtete mich und meine Untergebenen verehrten mich, ich war legendär!” Die Luft fing an zu flirren und Ryou presste sich mit pochendem Herzen an die kühle Steinmauer des Zimmers. “Yalik nannte man mich und ich hätte die Welt beherrscht, wenn dieser Wurm mir nicht dazwischengefunkt hätte. Für diese Schmach wird er bluten. Er und alle, die ihm nahe sind!” Ein heißer Luftzug ging plötzlich durch den Raum und er war heiß, wie Wüstensand. Ryou kniff automatisch die Augen zusammen und als Yalik sich umwandte und auf ihn zuschritt, gaben ihm die Beine nach und er rutschte an der Mauer herunter, starrte angstvoll zu ihm hoch. “Du, mein Junge hast Glück”, sagte der ehemalige Pharao gefährlich sanft. “Ich brauche dich nämlich. Du bist mein Lebensspender und gleichsam wirst du das Privileg haben, mir zu dienen. Dafür lasse ich dich am Leben. Wie findest du das?” Dass er ihn gar nicht töten konnte, verschwieg er sorgsam. Und Ryou nickte. Denn er hatte keine Wahl. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)