Les Misérables von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 3: III. --------------- Olivier wurde von einem Strahl hellen Sonnenlichtes geweckt. Verschlafen blinzelte er und zog sich missmutig die Decke über den Kopf, um nicht geblendet zu werden. So verging eine Weile, ehe er realisiert hatte, dass er sich gar nicht mehr im Moulin Rouge befinden konnte, denn da hatte er ein Westzimmer gehabt. Wobei ... Es war doch Morgen, oder? Er musste sich eingestehen, dass er momentan gar kein Gefühl mehr hatte für die Zeit oder welcher Wochentag heute war. Wenig später gab er sich einen Ruck und ließ die Decke wieder von seinem Gesicht gleiten und unter kleiner Anstrengung - er fühlte sich furchtbar ausgelaugt - setzte er sich schließlich auf. Rieb sich die Augen dabei. Nein, dieses Zimmer kannte er definitiv nicht. Es war auch viel luxuriöser eingerichtet als das im Moulin Rouge. Die Wände erstrahlten in einem schönen Azurblau (Es erinnerte an Meer) und eine Art Bordüre, in welche blaues, türkises und weißes Spiegelglas eingearbeitet war erstreckte sich in einer geraden Linie an den Wänden entlang. Den Möbeln, die im Raum standen, sah man auf den ersten Blick an, was sie einmal gekostet haben mussten, sie waren ohne Zweifel antik und als er seinen Blick zur Decke gleiten ließ, bemerkte er sofort den Leuchter aus Kristallglas. Das Bett, in dem er lag, hatte die Größe eines Doppelbettes, kunstvoll geformte Metallstangen und einen kleinen Baldachin. Der Fußboden war aus Holz und verteilt lagen mehrere weiße Lammfellteppiche im Raum. Olivier ließ nach kurzem Zögern die Beine aus dem Bett baumeln und stellte fest, dass der Schlafanzug, den er im Moulin Rouge getragen hatte, mit einem weißen Nachthemd ausgetauscht worden war und einen Moment wunderte er sich, seit wann er so einen festen Schlaf hatte, dass er so etwas nicht mitbekam. Ein wenig wanderte sein Blick weiter durch den Raum, blieb dann an einem Klavier, einem sehr teuren, hängen und ein kleines Lächeln schlich sich auf seine Züge. Im nächsten Moment klopfte es leise an der Tür und ohne ein 'Herein' abzuwarten, öffnete selbige sich und Olivier, der schon sonst etwas befürchtet hatte, bemerkte, dass es nur Malik war, der, als er ihn erblickte, eine sehr freudige Miene machte. Ehe er noch irgendetwas sagen konnte, fand der junge Franzose sich in eine stürmische Umarmung gezogen, während sich ein Schwall Arabisch über ihn ergoss. "M-Malik...", keuchte er, "du erdrückst mich und außerdem verstehe ich kein Wort!" Nachdem er ihm noch auf jede Wange einen Kuss gedrückt hatte, ließ Malik ihn wieder los, kratzte sich im nächsten Moment peinlich berührt am Kopf. "Verzeih. Ach, Olli, ich bin nur so glücklich, so dankbar ... Tornatore sagte, das hab ich dir zu verdanken!" Abermals drückte Malik ihn an sich und als er ihn wieder losließ sah Olivier, dass dessen Augen feucht geworden waren. "Ich ... Also, ich meine, das ist doch ... selbstverständlich..." Malik, welcher sich ebenfalls auf dem Bett niedergelassen hatte, machte plötzlich eine ernste Miene, während er sich über die Augen wischte, dann sah er ihn intensiv an. "Olivier, in unserer Welt ist das alles andere als selbstverständlich. Ich verdanke dir mein Leben." Nun war es an Olivier, leicht rot zu werden und abwehrend hob er die Hände. "Malik, du übertreibst wirklich!" Der Ägypter legte ihm beide Hände auf die Schultern. "Glaub mir. Ich weiß nicht, wie lange ich das da noch ausgehalten hätte, früher oder später hätte ich sicherlich..." Er brach ab, in seinen Augen blitzte kurz etwas Schmerzhaftes auf. Olivier wusste auch so, was er hatte sagen wollen. "Also...", nahm Malik den Faden wieder auf, "was ich sagen will, ist, dass ich im Gegenzug alles für dich tun will, damit du dich wohl fühlst - nicht nur, weil Monsieur Tornatore es mir aufgetragen hat, es ist mein Wunsch.” Olivier schluckte leicht, war überwältigt von so viel Hingabe. Aber er vermutete, es lag wohl wirklich an Maliks arabischen Wurzeln. Soviel er mitbekommen hatte, waren die Menschen in den südlichen Ländern viel warmherziger zueinander, viel aufopfernder und gingen respektvoller miteinander um. “Na schön, ich...”, nahm er schließlich den Faden auf, als ihm etwas an Malik auffiel. Der ältere Junge trug auf einmal andere Kleidung ... Bunter, orientalischer und nicht mehr so zwanghaft europäisch, worin er immer ausgesehen hatte, als fühle er sich nicht wohl. Und die Stoffe, sie wirkten sehr kostbar. “Was wolltest du sagen?”, durchdrang die warme Stimme Maliks seine Gedanken und seine ursprüngliche Frage vergessend, meinte er: “Wie lange habe ich geschlafen, dass du dir in der Zwischenzeit eine völlig neue Garderobe leisten konntest?” Malik grinste daraufhin schief. “Der Herr des Hauses hat eine eigene Schneiderin und die sich dem mit Freuden angenommen ... Du wirst übrigens auch noch neu eingekleidet, du hattest ja kaum eigene Sachen im Moulin Rouge dabei. Aber ... Sag mal, möchtest du nicht gerne ein Bad nehmen?” Olivier blinzelte, sagte dann: “Das wäre ... der Himmel auf Erden.” Zu seiner Überraschung schritt Malik im nächsten Moment zur Tür, um sie aufzureißen. Allerdings wurde ihm die Frage, die ihm auf der Zunge lag, schon von selbst beantwortet. Er musste sich ein Lachen verkneifen, als er ein Hausmädchen halb ins Zimmer stolpern sah, während das andere erschrocken zurückwich. “Ihr habt es gehört, schätze ich”, sagte Malik feixend und blickte eines der Mädchen an, welches daraufhin leicht errötete. “Lasst ein Bad ein und die andere kann der Schneiderin Bescheid sagen, dass sie nachher gleich ein paar Sachen anpasst. Und der Koch sollte beizeiten etwas auf den Tisch zaubern.” Das eine Mädchen nickte leicht und machte einen Knicks, der wohl eher Olivier galt als ihm und zog die andere am Handgelenk mit sich weg, um das Aufgetragene zu erledigen. Wenig später ließ Olivier sich in das heiße, duftende Badewasser gleiten, wobei er wohlig seufzte und halb die Augen schloss, während Malik neben ihm auf einem Schemel platz genommen hatte. “Sag mal...”, begann der Jüngere schließlich, “ich möchte nicht unhöflich sein, aber muss es sein, dass ich sogar hier beaufsichtigt werde?” Malik verzog entschuldigend das Gesicht. “Ich weiß auch nicht wieso, aber Tornatore sagte, ich sollte aufpassen, dass du ... Naja, nichts Dummes anstellst.” Damit meinte er wohl weglaufen. Dass der Italiener dabei vielleicht auch um seine Sicherheit besorgt war, kam ihm dabei nicht in den Sinn. Naja, es hätte schlimmer sein können, dachte er bei sich. Hier lief er wenigstens nicht mehr in Gefahr, von einem widerlichen Mann vergewaltigt zu werden. Außerdem wäre es hier sicherlich einfacher, seine Familie zu kontaktieren und schließlich nachhause zu kommen. Ein wenig wohler fühlte er sich nun doch, die Schrecken der letzten Tage lösten sich gerade mit dem Wasserdampf in Luft auf. Entspannt ließ er den Kopf zurücksinken und schloss die Augen. “Wo ist Enrico eigentlich?” Maliks rechte Augenbraue zuckte erstaunt in die Höhe. Soso, da nannte er ihn schon beim Vornamen? Malik legte den Kopf schief. “Ich weiß es nicht, tagsüber scheint er meistens beschäftigt zu sein ... Also rechne so in den frühen Abendstunden mit ihm”, fügte er dann schulterzuckend hinzu. Und tatsächlich, es war bereits Abend geworden, als Enrico Olivier mit seiner Aufwartung beehrte. Er wirkte sichtlich erfreut, dass Olivier wieder zu Bewusstsein gekommen war. "Hast du dich eingelebt?", fragte er höflich und ließ seinen Blick über die zierliche Gestalt seines Gastes gleiten, welcher daraufhin zögerlich nickte. "Monsieur, ich ... Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, ich möchte keinesfalls undankbar erscheinen, aber ich ... Ich möchte gerne meine Familie sehen, sie machen sich sicher Sorgen und sollen wissen, dass es mir gut geht." "Sind deine Eltern nicht auf Geschäftsreise, Olivier?", wagte Enrico nachzufragen und hoffte, Olivier möge es nicht auffallen, dass er das seinen Gedanken entnommen und nie danach gefragt hatte. "Ja, das ist richtig. Aber ... Naja, diejenigen, die für die Weile auf mich achtgeben sollen, sind auch so etwas wie ein Teil meiner Familie, sie ... sahen mich praktisch aufwachsen..." Wäre Enrico weniger beherrscht gewesen, hätte er sich wohl auf die Unterlippe gebissen. "Du solltest dich erst noch ein wenig erholen", sagte er schließlich ausweichend. "Du warst sehr krank die letzten Tage. Aber ich verspreche dir, dass ich sehe, was ich tun kann. Wir können ihnen eine Nachricht schicken, dass es dir soweit gut geht..." Enrico bezweifelte zwar, dass das noch irgendeinen Sinn hatte, aber er wollte Olivier vorerst nicht allzu sehr aufregen, der Junge hatte schon genug mitgemacht, die Geschichte mit der Entführung musste ihm noch in allen Knochen stecken. Allerdings sollten keine zwei Tage vergehen, bis Olivier es nicht mehr aushielt und Enrico regelrecht dazu drängte, endlich seine Familie aufzusuchen, zurückzukehren. "Ich kann dich unmöglich alleine gehen lassen, Olivier", protestierte der mit einem schiefen Blick Richtung Fenster, sah die Sonne untergehen, den Himmel in einem schönen Abendrot erstrahlen. "Dann soll Malik mich begleiten", hielt der Junge dagegen. "Ach, und du glaubst allen Ernstes, dass der ein sicherer Schutz ist für dich, oder?" Olivier verengte die Augen und sah Enrico böse an. "So langsam glaube ich, dass du mich gar nicht hier weggehen lassen willst, kann das sein?" "Himmel", stöhnte der Ältere resignierend und fuhr sich durch das hellblonde Haar. "Na schön, du kleiner Quälgeist, ich werde dich selbst begleiten, das erscheint mir am sichersten." Damit schien Olivier sich zufrieden zu geben und Enrico hielt es auch für das Beste. Wenn Malik wirklich wehrhaft gewesen wäre, dann hätte er sich gar nicht erst so lange im Moulin Rouge einsperren lassen, außerdem traute er dessen Gesinnung noch nicht ganz über den Weg. "Wann machen wir uns auf den Weg?" "Geduld ist eine Tugend, Signorino", tadelte Enrico leise, gab dann einem Diener den Auftrag, die Kutsche fertig zu machen. Immerhin lag Oliviers Heim ein gutes Stück weg von hier und zu Fuß brauchten sie wohl eine Ewigkeit. Außerdem hätten sie dann wohl bei Dunkelheitseinbruch gehen müssen, da Enrico es nicht mochte, wenn das Licht der Sonne ihm unangenehm in die Haut zwickte. Auch wenn es ihn schon lange nicht mehr verbrennen ließ, die roten Flecken waren äußerst unschön und Enrico ein von Grund auf eitles Wesen. Während Enrico verborgen im Schatten der zugezogenen Vorhänge saß, blickte der Jüngere immer wieder ungeduldig aus dem Fenster, während die schlanken Finger miteinander spielten, nervös, und keine Ruhe fanden. Olivier war angespannt, wer würde es ihm verdenken? Der Junge zuckte zusammen, als er plötzlich die Hand Enricos auf seiner eigenen spürte, das Spiel der Finger erstarb und ein wenig unsicher blickte er den Anderen an. Für den Moment war vergessen, was zwischen ihnen geschehen war, was Enrico mit Olivier gemacht hatte, für den Moment war Olivier im Stillen unendlich dankbar, dass er nicht alleine war. Auch wenn sie sich kaum kannten. "Kann diese Kutsche denn nicht schneller fahren?", murrte er leise. "Schh." Der Vampyr hauchte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Schläfe. "Es wird nicht besser, wenn du dich nervös machst. Erzähl mir doch lieber ... etwas von deiner Familie." Er wollte den Jungen ein wenig ablenken. "Nun ja ... Also mein Vater ist Importeur für Tee, er reist in der ganzen Welt umher. Ich weiß nicht, ob er schon zurück ist, ich hab das Zeitgefühl verloren, aber wenn nicht, dann müsste er jetzt noch in China sein. Er ... er sagte, dass er der erste ist, der mit China direkten Handel treibt..." Olivier lächelte schwach. "Mein Vater ist ein Mensch, der manchmal übers Ziel hinausschießt und was er anpackt, wird entweder die reine Katastrophe oder stellt sich als wahre Goldmine heraus. Er hat öfter Glück, als er eigentlich verdient hat, sagt er immer ... Und meine Mutter ... Sie ist diejenige, die darauf bestanden hat, mich in allem Möglichem und Unmöglichem zu unterrichten. 'Wo dein Vater doch nur seine getrockneten Kräuter im Kopf hat'. Das sagt sie ziemlich oft. Ich hab schon mit vier angefangen Klavier zu lernen, ich habe das Gefühl, sie wollte einen zweiten Mozart aus mir machen...” Interessiert lauschte Enrico der Erzählung des Jüngeren. Schließlich rückte der Zeitpunkt ihrer Ankunft näher. Die Läden waren dicht. Das wunderte Olivier, denn seine Mutter bestand immer darauf, dass möglichst viel Licht ins Haus gelassen wurde und die Diener hielten sich meistens auch daran. Das nervöse Gefühl machte sich wieder in der Magengegend breit. Enrico war im Schatten der Kutsche stehengeblieben, als allerdings die letzten Strahlen der Sonne verschwanden, stieß er sich ab, um dem Jungen zu folgen, welcher gerade die Türklingel betätigt hatte. Nichts. Es blieb still. Olivier lauschte angestrengt. Da waren keine Schritte, die sich eilten, den Besucher hereinzulassen. Keine aufgeregten Stimmen, einfach nur Stille. Die Tür war verschlossen. Der Kloß in Oliviers Hals wuchs. Enrico trat wortlos an ihn heran und mit einem Schwenk seiner Hand klickte es, die Tür öffnete sich. Der Knabe hatte momentan anderes im Sinn, als sich darüber zu wundern. Ihm gingen die Augen auf, als er in das Haus hineintrat. "W-was zum...", entfuhr es ihm fassungslos. Die Möbel waren abgedeckt, mit weißen Tüchern, ebenso die Bilder an den Wänden. Hier sah es aus, als ... Sei die Familie für eine sehr, sehr lange Zeit in Urlaub gefahren. "Wo sind denn alle...", flüsterte Olivier, der die Welt nicht mehr verstand, und ging ein paar hastige Schritte in das Haus hinein, Enrico folgte ihm lautlos. "Hallo? Sebastián? Nanette?" Seine Schritte trugen ihn zur Treppe und mit jedem Schritt, den er nach oben machte, sank sein Mut etwas weiter hinunter. Enrico spürte, wie Oliviers Herz in seiner Brust flatterte, wie das eines gefangenen Vögelchens. Es machte ihm Sorgen. Er spürte, was hier vor sich gegangen war. Nur warum brachte er es nicht über sich, Olivier einfach die falschen Hoffnungen zu ersparen und ihm die Wahrheit zu sagen? Er seufzte und setzte an, die Treppe nach oben zu steigen. So auch in seinem Zimmer. Abgedeckt mit weißen Planen. Was in aller Welt...? Was war mit seinen Eltern? Waren sie etwa nicht zurückgekehrt? Aber wer war dann hierfür verantwortlich? Sollte etwa Zidler...? Wut stieg in ihm auf. Das war so utopisch, dass es zu diesem ekelhaften Mann zu passen schien. Seine Eltern hätten ihn niemals einfach so zurückgelassen ... Oder doch? Einen Moment stand er still da, ließ die Eindrücke auf sich wirken, dann wallte Wut in ihm auf und energisch und mit einem kleinen Aufschrei riss er die nächstbeste Plane von einem Gegenstand herunter. Sein Bücherregal. Wie er es zurückgelassen hatte. Er riss ein Buch aus dem Regal und Brehms 'Tierwelt' sauste mit einem gewaltigen Schlingern durch die Luft, ehe es von er Wand zum Stillstand gebracht wurde und daran herunterfiel. Seiten verknickten. Olivier starrte das Buch an, wie es da lag. Dann packte er ein weiteres, diesmal ohne auf den Titel zu achten. Wie konnten sie hier nur stehen, als sei nichts gewesen? Als sei alles so, wie immer? Tränen stiegen dem Jungen in die Augen. "Verflucht!", schrie er. "WO sind sie? Wo sind sie?" Die Tränen strömten ihm über die Wangen und ihm wurde schlecht. "Das kann nicht sein! Das kann, darf nicht- lass mich los!" Ohne dass er es bemerkt hatte, war Enrico an ihn herangetreten und hatte ihm eine Hand auf die sich schnell hebende und senkende Schulter gelegt. Olivier hatte sie schwer atmend und mit Abscheu in der Stimme weggeschlagen. "Du bist doch kein Stück besser! Du hättest mir helfen können, ich wette, du wusstest ganz genau, dass ich sie nicht wiedersehen würde, oder? Du wusstest es!" Enrico wandte den Blick nicht ab, als Olivier ihn so anklagend anfunkelte, er wusste, er hatte den Zorn das Knaben verdient, wenigstens zum Teil. Er tat ihm so Leid. Er spürte den Schmerz, der den Jungen innerlich zerriss und überlegte nicht lange, sondern zog ihn an sich. Auch wenn er sich wehrte. Olivier warf ihm alles Mögliche an den Kopf, wehrte sich, zappelte wie eine Katze, die einem Tierfänger in die Falle gegangen war. Aber davon ließ der Italiener sich nicht beeindrucken, er hatte in seinem Leben schon viele Katzen beruhigt und gezähmt. Irgendwann erlahmte die Gegenwehr Oliviers und machte einem verzweifelten Schluchzen platz. Enrico spürte die Finger, die sich in sein Hemd krallten, panisch, verzweifelt, spürte, dass der Knabe gefallen wäre, hätte er ihn nicht gehalten. Sanft kraulte er durch den seidenen Haarschopf. "Enrico...", erreichte ihn die Stimme Oliviers, "sind ... sind sie tot?" Die Mimik des Vampyrs blieb ausdruckslos. "Ich weiß es nicht. Aber ich vermute es. Es tut mir so leid, Olivier." Für Olivier war eine Welt zusammengebrochen. Seine Eltern waren weg - tot? Die Bediensteten wie vom Erdboden verschluckt, keine Nachricht, nichts. Man könnte die Leute fragen, aber mit Leuten ist das so eine Sache. Vielleicht war es auch besser, man dachte, Olivier sei nicht mehr am Leben. Sonst würde man ihm das Leben schwermachen. Olivier wusste ganz genau, dass er eigentlich das Erbe antreten musste in so einem Fall, aber er konnte nicht. Er brachte es nicht über sich. Wie sollte er denn in einem Haus leben, das so tot und kalt war? Eine Woche. Es war höchstens eine Woche gewesen. Innerhalb einer Woche war sein Leben zerstört worden. Und er hatte niemanden mehr. Er war ganz alleine. Ganz allein. Eine Gänsehaut überzog seinen Körper. Eine beängstigende Vorstellung. Doch halt ... Allein? Da war noch Enrico, aber den kannte er so gut wie gar nicht, im Grunde wusste er doch nichts über den charmanten Italiener. Wer wusste es, vielleicht hatte dieser sogar ... Nein, das war zu utopisch. So wenig er Enrico auch kannte, so wenig konnte er sich vorstellen, dass dieser so subtil vorgehen würde, um ihm zu schaden. Wenn er ihm schaden hätte wollen, dann hätte er ihn doch erst nicht umwerben brauchen. Trotzdem. Ob er es nun wahrhaben wollte oder nicht. Außer Enrico hatte er erstmal niemanden mehr, der für ihn sorgen konnte. Gut, er hatte Malik, aber der war auch in gewissem Maße von Enrico abhängig. Das Schluchzen wurde langsam weniger, stattdessen verfiel der Junge ins Starren und nur der sanfte Druck um seine Schultern brachte Olivier dazu, aufzusehen. "Vielleicht wäre es besser, wenn wir gehen würden?" Er nickte wortlos. "Möchtest du irgendetwas mitnehmen? Ich kann ... will für dich sorgen, das bin ich dir schuldig..." "Ich ... möchte nichts mitnehmen ... Es soll so bleiben wie es ist. Ich ... ertrag das hier nicht mehr, dieser Anblick ist grässlich." Auch wenn er sich auf nichts Genaues bezogen hatte, so wusste Enrico doch genau, was er meinte. Diese Unberührtheit. Als wäre niemals jemand hier gewesen, als wäre hier nie ein Junge aufgewachsen, umgeben von der liebevollen Fürsorge seiner Eltern und der Aufmerksamkeit seiner Diener. Die Stille konnte einen durchaus wahnsinnig machen, das wusste Enrico am Besten. Und wenn man erstmal 3000 Jahre lebte, dann machte einem der Zerfall der Welt mehr und mehr zu schaffen. Besonders wenn man ihm immer und immer wieder entfliehen muss und einem nichts bleibt, als tatenlos zuzusehen, dass sich alles verändert, nur man selbst nicht. Mit sanftem Druck legte der Italiener Olivier den Arm um die Schultern und führte ihn, da diesem schon wieder die Tränen den Blick vernebelten, Richtung Treppe nach unten. Die milde Spätsommernacht mochte nicht so ganz zu der niedergedrückten und wehmütigen Stimmung passen, die ihnen beiden nun anhaftete. Sie sprachen nicht, aber instinktiv suchte Olivier, als sie später wieder in der Kutsche saßen, Enricos Nähe und dieser verwehrte sie ihm nicht. Den Arm nun um die schmale Taille spürend, presste sich Olivier an die Seite des Anderen. Die Nähe gab ihm das Gefühl, nicht völlig allein zu sein. Der Tränenfluss versiegte irgendwann, die Augen brannten ihm unangenehm, deshalb schloss er sie. Öffnete sie sogleich wieder, da die Bilder seiner Eltern vor seinem inneren Auge auftauchten, die er jetzt nicht ertrug. Er fühlte sich so müde, dabei war es noch gar nicht so spät in der Nacht, aber schlafen wollte er nicht. Ein jeder kennt wohl dieses Gefühl, dass man sich den Schlaf herbeisehnt, sich aber gleichermaßen vor seiner Stille und Finsternis fürchtet. Sich fürchtet, wehmütig zu träumen. Enrico musste Olivier wenig später zum Haus zurücktragen, da dieser sich nicht rühren mochte, und er tat es gern. Er mochte das Gefühl, gebraucht zu werden und er ... Ja, er genoss die Nähe des Jungen, auch wenn es eher unglückliche Umstände waren, die sie zusammengeführt hatten, und er kam sich ein wenig schlecht dabei vor, beim Gedanken daran, dass er froh darum war, dass sich ihre Wege gekreuzt hatten. Schon jetzt hatte er eine spürbare Schwäche Olivier gegenüber entwickelt. "Warum isst du denn schon wieder nicht", stieß Malik aus, als er den nicht angerührten Teller Oliviers ins Visier nahm. Er machte sich Sorgen. Und gleichsam nervte es ihn irgendwie, dass es niemand für nötig zu halten schien, ihn mal irgendwie ins Bild zu setzen. Das einzige, das er mitbekommen hatte, war, dass Olivier trauerte. Nur die genauen Umstände teilte ihm keiner mit. Allerdings sah der junge Franzose so angeschlagen aus, dass er es nicht über sich brachte, ihn danach zu fragen und womöglich noch Sand in die Wunde zu streuen. "Ich hab keinen Hunger", murmelte Olivier überflüssigerweise. "Das sehe ich", erwiderte Malik kategorisch. "Möchtest ... du darüber reden? Wenn nicht, ist das völlig in Ordnung, ich..." Olivier sah ihn an, versuchte dabei zu lächeln. Es misslang. "Schon gut, ich ... habe nur meine Wurzeln verloren und überlege, wie es weitergehen soll..." Malik legte den Kopf schief. Dann ging er zu Olivier und setzte sich zu diesem an das kleine Tischchen, an welchem er gesessen hatte, den Ellebogen abgestützt. Sanftes Flieder traf auf Blau. "Hör mir mal zu", sagte er sanft, "ich weiß, wie schwer es ist, seiner Heimat Lebewohl zu sagen. Nach vorne in eine ungewisse Fremde zu blicken. Und ich kenne auch die Gedanken, die man dabei hat. Olivier." Er legte seine Hand auf die des Franzosen, die nicht aufgestützt war und auf dem Tisch ruhte. "Deine Wurzeln kann dir niemand nehmen. Wie sehr man dich auch quälen und verletzen mag. Du bist, was du bist. Daran wird sich nie etwas ändern." Diesmal lächelte Olivier leicht, dafür aufrichtig. "Danke, Malik...", sagte er. Auch wenn der Schmerz über den Verlust tief saß, hatte er gerade begriffen, dass er ihn nicht alleine verarbeiten musste. Seine Gedanken schweiften einen Moment wieder zu Enrico. Wie so häufig in der letzten Zeit. Es war ihm immer noch ein Rätsel, wohin dieser des nachts verschwand. Da war eine kleine Sache in seiner Erinnerung, eine Sache, die nicht stimmte ... Aber er kam nicht darauf, was es war. Er sollte es noch früh genug merken. Lautlos glitt das Opfer zu Boden, dessen Blut er sich gerade einverleibt hatte. Er ließ sie niemals am Leben, genoss es, den letzten Tropfen zu trinken. Es gab ihm Macht. Er aalte sich gerne in dem Gedanken, dass er allein es vermochte, jemanden das Leben aushauchen zu lassen. Die Menschen fürchteten Geschöpfe wie ihn, auch wenn ihr Glaube daran im Lauf der Jahrhunderte abgeschwächt war. Einen Moment hielt er inne, auf einem Dachgiebel stehend, das weiße Haar schimmerte im Mondlicht eigentümlich Sein Durst war gestillt, die Sinne geschärft. Er hatte sich nicht getäuscht. Es war tatsächlich er. Ein schmales Grinsen zierte plötzlich sein Gesicht. Er hatte sich tatsächlich hier niedergelassen. Ein anderer Bluttrinker hätte wohl seine Mühe gehabt, ihn aufzuspüren, nicht so er. Sie waren verbunden durch ihr Blut, Enrico hatte ihn schließlich zu dem gemacht, was er heute war. Keinem von ihnen war es möglich, den anderen auf lange Zeit von sich wegzusperren, auch wenn sie sich in den letzten Jahrhunderten gemieden hatten. Das hieß, er hatte Enrico gemieden, wie es um selbigen bestellt war, wusste er nicht und es war ihm auch egal Mit geschmeidigen Bewegungen huschte der filigran gebaute Vampir von Dach zu Dach, bis er schließlich an seinem Ziel war. Ein vornehmes Anwesen in dem Nobelviertel der Stadt, ganz Enricos Stil. Als er sich dem Haus näherte, stieg ihm ein weiterer Geruch in die Nase, sein Grinsen wurde einen Augenblick breiter. Es roch unmissverständlich nach Sex. Das war gut, denn so war der Überraschungsmoment auf seiner Seite. Enrico wurde während des Liebesspieles meistens ein wenig nachlässig, da er es als lästig empfand, sich um etwas Anderes zu kümmern als seinen derzeitigen Bettpartner. Schließlich ließ er sich lautlos auf dem Sims nieder, blickte, im Dunkel verborgen, in das helle Zimmer hinein. Er sah nicht allzu viel, nur Enricos Geruch war allgegenwärtig und wurde mit einem anderen vermischt. Einem, den er nicht kannte, aber er gefiel ihm. Er war süß, orientalisch und sinnlich und irgendwie vertraut. Es roch ein wenig nach ... Heimat? Bakura wurde neugierig und schließlich hielt er es nicht mehr aus und er beschloss, sich bemerkbar zu machen. Einem Windstoß gleich glitt schließlich das große Fenster auf, brachte Kälte mit hinein, und nachdem der Vampyr zu Boden geglitten war, richtete er sich auf und schnurrte amüsiert, "Dein Geschmack hat sich nicht geändert, Kaiser." Enrico, welcher sich für eine Weile Malik zugewandt hatte, lächelte in sich hinein. Natürlich hatte er Bakuras Anwesenheit in der Stadt bemerkt, allerdings hatte er nicht die Scham, sich dadurch von seinem Vorhaben - nämlich dem Stillen seiner Lust, da er sich bei Olivier zurückhielt - abbringen zu lassen. Jedoch hatte er zumindest innegehalten, wandte dann langsam das Gesicht. “Und wie ich sehe, hast du immer noch keine Manieren, Prinz der Diebe.” Trotzdem hatte der andere Vampyr in einem Punkt recht behalten, nämlich dass er während des Liebespieles zu abgelenkt gewesen war, um das Näherkommen zu bemerken. Bakura ließ ein kurzes, süffisantes Lachen hören und kam dann langsam näher. Allerdings galt sein Augenmerk weniger Enrico sondern vielmehr demjenigen, mit dem dieser sich beschäftigt hatte - unmissverständlich die Quelle dieses betörenden Geruches. Enrico folgte seinem Blick zu Malik, welcher immer noch ziemlich erstarrt unter ihm lag und Bakura anstarrte wie eine Erscheinung, und er beschloss leicht ärgerlich, dass es vorerst keinen Sinn mehr hatte. So zog er sich aus Malik zurück, welcher für einen Moment scharf die Luft einzog und sofort die Beine zusammenpresste, versuchte, sich zu bedecken. Der Blick Bakuras, der nun interessiert auf ihm lag, war ihm unangenehm, er machte ihn nervös. Wer war der Fremde, wo war er plötzlich hergekommen? Und wieso wirkte der so ... Ja, überirdisch? Mehr noch als Enrico. Die Haut, welche die Farbe von Elfenbein hatte, wirkte so glatt und makellos und er ertappte sich dabei, wie er den Wunsch hegte, sie zu berühren, ob sie sich auch genau so anfühlte. Und das Haar ... So weiß wie Schnee, in welchem kleine Kristalle saßen, die vom Licht reflektiert wurden. "Er ist hübsch", kommentierte Bakura, nachdem er sich am Bettrand niedergelassen hatte, während er der Versuchung nicht widerstehen konnte, mit dem Zeigefinger über die leicht geröteten Lippen Maliks zu streichen. Wie sie wohl schmeckten? Und das war es, was Malik wieder aus seiner Starre holte, und als er ihn berührte, war er kurz versucht, auszuholen und ihm eine gepfefferte Ohrfeige zu geben, allerdings hielt er sich im letzten Augenblick zurück. Die beiden waren zu zweit und Malik wusste schon allein von Enrico, dass dieser mühelos mit ihm fertig wurde. Nicht dass er jemals einen größeren Aufstand gewagt hätte, immerhin wurde er so in Oliviers Nähe geduldet, aber dennoch. “Wo hast du ihn her?” Er warf Enrico einen Blick zu und im Stillen waren sie sich einig, wie auch schon Jahrhunderte zuvor. Malik zitterte vor unterdrückter Wut und vor allem vor Scham. Dieser Mann sprach über ihn, als sei er ein wertvolles Ausstellungsstück oder ein Haustier, das man sich neu zugelegt hatte. Enrico, dem das Zittern Maliks nicht entgangen war, erwiderte mit einer hochgezogenen Augenbraue: “Wieso? Gefällt er dir?” Malik würde er gerne teilen. Warum auch nicht? An ihm hing er nicht sonderlich, er diente nur als Mittel zum Zweck und leistete Olivier ein wenig Gesellschaft, wenn er keine Zeit für diesen hatte. Wer wusste es, vielleicht machte er Malik Bakura später einmal zum Geschenk. Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel, als er sich einen dünnen Morgenmantel griff, um sich nachlässig etwas anzuziehen, dabei ließ er Bakuras Mimik nicht aus den Augen. Er wusste auch so, dass Malik ganz seinen Geschmack traf. "Eifersüchtig?", gurrte der Vampyr und löste sich einen Moment von den ihm zweifelsohne schmeichelnden Blicken Maliks, um Enrico in einen Kuss zu verwickeln. Nicht fordernd, dennoch bestimmend, seine Zunge strich über die geöffneten Lippen. Enrico ließ es geschehen, begrüßte es sogar, zu lange hatte er die Nähe Bakuras missen müssen. Zum Abschluss biss der Weißhaarige ihm leicht in die Unterlippe, dann ließ er seinen Blick wieder auf Malik ruhen. Er war sich sehr wohl der Wirkung bewusst, die er auf den jungen Ägypter ausübte. Dann sprach er leise ein paar Worte auf Altägyptisch an Malik gewandt, zu gespannt, ob er verstand, was er zu ihm gesagt hatte, während er sich gemächlich ein paar Knöpfe seines Hemdes öffnete. Enricos linke Augenbraue zuckte arrogant in die Höhe, während er sich mit vor der Brust locker verschränkten Armen gegen einen kleinen Tisch lehnte und Bakuras Tun dabei nicht aus den Augen ließ. “Sehr sogar”, antwortete er halb im Scherz, halb im Ernst. Durch den Kuss der beiden Männer so in den Bann gezogen, hätte Malik fast vergessen zu antworten. Auch wenn es ihm widerstrebte, folgsam und unterwürfig zu tun, so ahnte er, dass diese Taktik erst einmal gesunder war. “Malik Ishtar”, antwortete er leise und fragte sich im Stillen, ob der Weißhaarige aus Ägypten stammte - er sprach akzentfrei und flüssig, aber sein Aussehen erinnerte so gar nicht an einen Araber. Mit den Bewegungen einer Katze näherte er sich Malik, kam seinem Gesicht näher und blies ihm seinen kalten Atem auf die erhitzte Haut. Malik schnappte nach Luft und erschauerte, sein Körper kribbelte und er konnte es sich nicht erklären. Das einzige, das er wusste, war, dass er sich ausgeliefert fühlte. Er wandte den Blick ab vor Scham darüber, dass es ihn leicht erregte. "Nicht doch", sagte Bakura nun wieder auf Ägyptisch, wohl wissend, dass sich Enrico im Stillen darüber ärgerte, der es noch nie hatte leiden können, wenn man in einer Sprache sprach, die er nur lückenhaft beherrschte. Dabei fuhr er mit einer Hand leicht zwischen ihre Körper, berührte das halbaufgerichtete Glied des Jüngeren dabei, umschloss es schließlich mit festem Griff. "Nichts wofür man sich schämen müsste, Nefer", wisperte er ihm nun ins Ohr. Äußerst anregend - er spürte das Blut in dem jungen Körper rauschen und leckte sich daraufhin leicht über die Lippen. Er warf Enrico einen leichten Seitenblick zu, der behielt seine ausdruckslose Miene bei, allerdings sah er tief in dessen Blick verborgen etwas aufblitzen. Und Bakura wusste, dass das Spiel beginnen konnte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)