Stille. von lady_j (Im zweiten Teil geht es um Boris. Und um andere Russen.) ================================================================================ Prolog: DeJaVu und Bez Tebya ---------------------------- Wie gesagt, diese beiden Lieder haben mich inspiriert, deswegen möchte ich euch die Texte auch nicht vorenthalten. Die Übersetzung ist von mir. Bez Tebya Ohne dich Снова зовет тебя ночь Снова уходишь ты вдаль Кто мне сумеет помочь Снова теряю тебя Вновь одинокий закат Вновь эти ночи без сна Слезы текут по щекам Вновь я осталась одна Wieder rufe ich nachts nach dir Wieder gehst du fort Wer kann mir helfen? Wieder verliere ich dich Wieder ein einsamer Sonnenuntergang Wieder diese endlosen Nächte Tränen fließen über meine Wangen Wieder bleibe ich allein zurück Ты снова далеко от меня. от меня Мне снова нелегко без тебя, без тебя Du bist wieder fern von mir Ich hab es wieder schwer ohne dich Кто-то играет в любовь Знаю что точно не я Сладко мне было с тобой Но видно такая судьба Ты отпускаешь меня В бездну лечу без тебя Слезы не смогут помочь Теперь между нами стена Einer von uns spielt mit der Liebe Ich weiß, ich bin es sicher nicht Schön war es, als ich mit dir zusammen war Aber dieses Schicksal war absehbar Du lässt mich los Ich falle in den Abgrund ohne dich Tränen können mir nicht helfen Jetzt steht eine Mauer zwischen uns Дежавю Deja-vu Бабочкой лечу, в плен твоих ресниц Из серых будней на блеск огня. Прочь прохладных фраз равнодушных лиц. Туда, где твой свет позвал меня. Schmetterlinge fliegen im Käfig deiner Wimpern Aus dem grauen Alltag in den Glanz des Feuers Fort ist der kühle Ausdruck der gleichgültigen Gesichter Dort, wohin dein Licht mich ruft Нас усталый город тихо обнимал, На тесной кухне. Звенела ночь. Кофе и метро, дождь следы сметал, осколки утра сгоняя прочь. Простая история. Unsere müde Stadt ruht leise In der kleinen Küche. Die Nacht erklingt Kaffee und die Metro, der Regen spült die Spuren weg Treibt die Überreste des Morgens fort Eine einfache Geschichte И пускай я не зажгу свою звезду, Мы в движенье, тебя люблю. И в ванили нежных губ я пропаду, Я все знала -Дежавю. Дежавю Und wenn ich auch nicht deinen Stern entfamme Sind wir in Bewegung, ich liebe dich Und in den vanillezarten Lippen vergehe ich Ich kenne alles - Deja-vu Kapitel 1: Stille. ------------------ Der Sozialistische Realismus ist eine Mischung aus Romantik und Realismus, kann jedoch eher in Verbindung mit dem Klassizismus gebracht werden. In der Architektur nennt man ihn unter anderem „Stalinschen Zuckerbäckerstil“. Bei „Zuckerbäcker“ musste Yuriy immer an Torten denken, was seiner Meinung nach herzlich wenig mit den sozialistischen Bauten, die er kannte, gemein hatte. Jemand hatte vergessen, die Tür zum Dach abzuschließen. Nun stand er hier und rauchte. Er mochte die Aussicht, rechts von ihm verlief der breite Prospekt einmal quer durch die Stadt wie ein Riss, flankiert von eben jenen Stalinschen Zuckerbäckerbauten, symmetrisch, klar verstuckt, mit vielen langgezogenen Fenstern und den scharfen Kanten überall. Links gleißten die vergoldeten Spitzen der Zwiebeltürme in der Sonne; es waren ungefähr fünfzehn, so dass es bald wie ein kleiner, stilisierter Wald wirkte, der sich dort über die Straßenzüge erhob. Ein paar hundert Jahre russischer Geschichte auf einen Blick. Es war warm, obwohl, oder gerade weil schwere Wolken tief über der Stadt hingen. Ein warmer Tag Anfang Herbst, mit dunklem Himmel und ewigem Landregen. In der Ferne verschwammen die hellen Hochhäuser. Bei guter Sicht konnte man weit über das platte Land sehen und der Himmel erschien dann groß und überwältigend. Yuriy meinte, er müsse sich freuen, wieder hier zu sein. Er konnte sich noch nicht entscheiden. Schon bemerkte er wieder einzelne Tropfen, die auf seinen Ärmeln glitzerten, drückte die Zigarette aus und schaffte es noch vor dem nächsten Schauer wieder im Treppenhaus zu sein. Eine große Spinne saß dicht neben seinem Fuß auf dem Boden. Beinahe hätte er sie zertreten. So machte er nur einen großen Schritt über sie hinweg und nahm zwei Stufen auf einmal, bis er im dritten Stock war, wo Boris‘ Wohnung lag. Dumpfer Bass klang aus einem der hinteren Räume, als dieser ihm öffnete und ins Wohnzimmer winkte. „Schön, dass du vorbei kommst. Tee?“ Er goss etwas von dem starken Schwarztee aus der Kanne in zwei Gläser und füllte mit heißem Wasser aus dem friedlich in der Ecke brodelnden Samowar auf. Gegen das kahle Fenster schlug der Regen. „Danke.“ Yuriy nahm ihm ein Glas ab und setzte sich auf das schmale Sofa. Gleich gegenüber, über dem Fernseher, war ein kleiner Altar in der Schrankwand errichtet worden, ein paar Ikonen und Räucherwerk. Ach ja, Sergeij war orthodox. „Na, ihr habt es euch hier ja schon gut eingerichtet“, stellte er fest. Boris grinste verschwommen. „Großmutter sei dank. Sie hat ein paar Teppiche von ihrem Dachboden geholt und mir den Samowar in die Hand gedrückt.“ „Schön“, meinte Yuriy und stieß die Zehen in den dicken roten Teppich, den ein altmodisches, ockerfarbenes Muster schmückte. Boris hatte damit einen großen Teil der alten Auslegware überdeckt. „Hast du schon alle Möbel?“, fragte er nun. Yuriy schüttelte den Kopf. „Aber es gibt da ein günstiges Möbelhaus in der Sabjelina, da geh ich demnächst mal hin.“ „Also wenn du nen Teppich brauchst...“ Boris machte eine einladende Handbewegung und er lachte. „Ich komm drauf zurück.“ Der Tee war wirklich gut. Der Geschmack erinnerte ihn an lang vergangene Winter, in denen sie das Zeug literweise getrunken hatten. Er sollte vielleicht auch einmal über einen Samowar nachdenken. Den konnte man bestimmt irgendwo gebraucht kaufen. Heißes Wasser war schließlich immer gut; und Pulverkaffee konnte man ja auch damit machen. „Mal was anderes“, sagte Boris, „Sergeij und ich haben überlegt, ob wir nächstes Jahr zur Piratskaja Stanzya fahren. Nach Sankt Petersburg. Bist dabei?“ Yuriy runzelte die Stirn. „Das ist aber noch ziemlich lange hin. Wisst ihr überhaupt schon, ob ihr da Zeit habt?“ „Was sollen wir denn sonst vorhaben? Da wird sich ein Tag Urlaub genommen und dann hat sich das.“ Das war natürlich ein Argument. Er dachte nach. Zwar war Drum And Bass jetzt nicht wirklich seine Musikrichtung, aber er konnte es sich schon anhören; außerdem war die Piratskaja Stanzya einfach eine der größten Partys die man sich vorstellen konnte. Aber nächstes Frühjahr, wenn sie stattfand, konnte ja alles schon wieder ganz anders aussehen, als jetzt, und dann würde er vielleicht auf der Karte sitzenbleiben. „Na, kannst ja noch mal drüber schlafen“, meinte Boris. Durch die dünne Wand hörten sie eine Tür schlagen, der Bass hallte jetzt nur noch gedämpft durch die Wohnung. Kurz darauf lugte Sergeij ins Wohnzimmer. „Ah, Yuriy“, sagte er, „Willst du noch zum Essen bleiben, dann mache ich etwas mehr.“ „Äh, nein danke.“ Er schüttelte den Kopf und stellte sein Glas neben den Samowar auf das kleine Tablett, das zu dem Set gehörte. Musste wohl auch ein Erbe von Boris‘ Großmutter sein. „Ich wollte eh gerade gehen.“ Boris hob die Augenbrauen, zuckte dann aber die Schultern, als wolle er sagen „Wie du meinst“. Sie brachten ihn zur Tür, Sergeij sagte noch, er solle Bescheid sagen, falls die Musik ihm einmal auf die Nerven ging, dann stand er wieder allein im Treppenhaus. Draußen war es dunkel geworden und die Lampe flackerte, als er sie anschaltete. Langsam stieg er einen Stock hinauf und zählte die Stufen; eins, zwei, drei...achtzehn, neunzehn, zwanzig. Eine Treppe hatte zehn Stufen, es gab zwei Treppen zwischen den Stockwerken, eine zum Dachboden, elf Treppen insgesamt, das waren einhundertundzehn Stufen. Er hatte mal gelesen, dass Stufenzählen ein Anzeichen für Zwangsneurosen sein konnte. Seine Wohnung lag genau über der von Boris und Sergeij. Er hatte nicht mit ihnen zusammenziehen wollen, aber ihre Nähe war beruhigend. Als er eintrat, empfingen ihn Staub und das dumpfe Donnern von Sergeijs Musik, das jedoch bald verstummen würde, wie er wusste. Es gab einen schmalen Flur, von dem das Bad abging, und einen größeren Raum mit Kochnische. Den Boden bedeckte die gleiche kratzige Auslegware, wie in allen Wohnungen im ganzen Haus. Hier und da hatte sich Flecken in den grauen Stoff gefressen, die sich nicht mehr heraus bürsten ließen. In einer Ecke des Wohnraumes lag eine Matratze, und natürlich war da die einfache Küchenzeile, aber ansonsten war es leer. Von der Decke hing eine Glühbirne, spärlich verdeckt von einem lächerlichen Lampenschirm aus Porzellan. Yuriy schaltete das Licht ein, hängte den Mantel an der Tür auf, so dass er das Guckloch verdeckte und setzte sich auf die Arbeitsfläche in der Küche. So war es jedesmal. Einmal die Woche besuchte er die beiden unten. Beobachtete, wie sie sich einrichteten und begannen, sich richtig heimisch hier zu fühlen, und dann ging er nach oben und starrte die Raufasertapete an. Er lud sie nicht zu sich ein. Niemand musste wissen, dass seine Wohnung noch so leer war, wie am ersten Tag, wie vor zwei Monaten also. Wirklich schon zwei Monate. Boris und Sergeij hatten eine Zweizimmerwohnung. Sergeij hatte das Schlafzimmer bekommen und Boris schlief auf dem Sofa im Wohnzimmer. Sergeij war Gerüstbauer und Boris setzte seine Ausbildung zum Elektriker fort. Er fuhr jeden Tag mit einem Kollegen kreuz und quer durch die Stadt, um kaputte Fernsehgeräte zu reparieren. Yuriy war halbtags im einzigen Kino der Stadt angestellt, wo er Karten abriss, Popcorn in Tüten füllte und nach den Vorstellungen im Saal wieder zusammen kehrte. Die andere Hälfte seiner Arbeitszeit füllte er mit Nebenjobs. Das Geld reichte für die Miete, den Einkauf, ja, würde sogar für ein paar günstige Möbel reichen, aber er konnte sich einfach nicht dazu überwinden, sich einzurichten. Das hier konnte es doch jetzt nicht gewesen sein. Nicht, nachdem er die ganze Welt gesehen hatte. Nicht nachdem...ah, die Musik war aus. Manchmal schlich er sich heimlich in den Saal und sah sich die Filme an. Das war eigentlich verboten, aber wer sollte es schon kontrollieren? Sie waren nur zu zweit und der Kinobesitzer saß zu dieser Zeit in der kleinen Kammer neben der Filmrolle und passte auf, dass der alte Projektor das Material nicht ankokelte. Nicht viele Filme schafften den langen Weg bis hierher. Den ganz großen Hollywoodproduktionen gelang es natürlich, außerdem einigen einheimischen; das Angebot war jedoch mehr als dürftig. Meistens spielten sie zwei Filme im Wechsel, seltener drei, und das über Monate. Seit Yuriy hier arbeitete war erst ein neuer Streifen hinzugekommen. Aber er sah sie gern mehr als einmal. Er achtete einfach jedes Mal auf etwas anderes. Die Frisur des Helden. Die Kleider der Frau. Die Asynchronen Mundbewegungen. Manchmal konnte er den Englischen Originaltext von den Lippen der Schauspieler ablesen. Neben ihm saß meistens ein sich küssendes Liebespaar, überhaupt war das Kino voll von Liebespaaren, je länger ein Film gezeigt wurde, desto mehr wurden es. „Wie immer bar, Ivanov?“ Es war Anfang Oktober. Michail Alexandrovič, der Kinobetreiber, griff in die Kasse und gab ihm eine Hand voll Rubel. „Danke.“ Yuriy steckte das Geld in sein Portmonee und dieses in die Gesäßtasche seiner Jeans. Michail warf ihm einen nachdenklichen Blick zu und brummte. „Komm mal mit und setzt dich hin“, forderte er auf, winkte ihn zu einer Sitzecke im Empfangsbereich des Kinos und drückte ihn dort auf ein versifftes Sofa. „Du bist ein komischer Junge, weißt du das?“, meinte er. „Erzähl mal, was bedrückt dich?“ „Nichts.“ „Ach, hör auf! Ich kenne so einen Blick. Hast mehr vom Leben erwartet, hm?“ Jetzt sah Yuriy doch von seinen Knien auf. „Vielleicht.“ Michail nickte. „Was hast du noch gleich gemacht? Sport?“, fragte er. „Irgend so eine Amateurweltmeisterschaft, nicht wahr? Ja, na da versteh ich dich. Einmal die ganze Welt gesehen, alles bezahlt gekriegt und ein schönes Leben für ein paar Wochen lang. Ist klar, dass man dann erst einmal enttäuscht wird, wenn man wieder nach Hause kommt.“ „Ja. Kann sein.“ Michail hatte doch keine Ahnung. „Aber so ist das nun mal. Du kannst nicht immer der junge, knackige Sportler sein. Wenn du das kapierst, kannst du auch ein ordentliches Leben führen, sogar hier.“ Und er beugte sich vor, um Yuriy auf die Schulter zu klopfen. „Machste das?“ „Ja...“, seufzte Yuriy. „Schön. Willst ein Gläschen trinken?“ Michail wartete nicht auf eine Antwort, sondern ging los und holte eine Flasche Wodka und zwei Gläser. Er goß ihnen ordentlich ein. „Man muss trinken, wenn man Entscheidungen trifft!“ Drei Tage später war Yuriy besoffen. Es wurde immer schneller dunkel, wahrscheinlich wäre es letzte Woche um die Zeit noch eine Stunde länger hell gewesen, überlegte er, und außerdem würde es sicher auch bald kalt werden. Er wankte den Prospekt entlang, wo noch Verkehr herrschte, ein Autofahrer hatte ihn schon angehupt. Noch eine Straße, dann musste er abbiegen. Neben ihm ragte ein Zuckerbäckerhaus auf, so ein hässliches Ding, das aussah, wie eine Cyborg-Torte. Der Sozialistische Realismus wird auf den Klassizismus...Ach, und er wäre so gern Architekt geworden. Wären nicht das Reisen und der Sport gewesen, er hätte es vielleicht geschafft. Hätte hier sitzen und sich seines Lebens freuen können. Hätte nicht gewusst, was und wen er verpassen könnte. Was hatte Michail gesagt? Er solle sich damit abfinden. Yuriy lachte laut; die alte Frau, die ihm entgegen kam, beachtete ihn gar nicht. Er musste jetzt abbiegen. In der Seitenstraße war es noch dunkler. Der Abstand zwischen den Häusern war nicht mehr so groß. Jaja, man kann sich halt nur eine Prachtstraße leisten. Der Sozialistische... „Scheiße“, murmelte Yuriy, als er sich an einer Laterne anlehnen musste. Er presste die Stirn an das kalte Metall. „Scheiße, Scheiße, Scheiße.“ Mit einem tiefen Atemzug stieß er sich ab, stolperte wieder über das verwitterte Pflaster. Noch ein paar Minuten, dann war er zu Hause, dann konnte er sich auf die Matratze fallen lassen und seinetwegen auch alles vollkotzen; es gab schließlich nichts in seiner Wohnung, das zu schade dafür war. Inzwischen hangelte er sich von Laternenpfahl zu Laternenpfahl. Er hatte das Gefühl, dass der Schwindel in seinem Kopf noch schlimmer wurde. War ja klar, er hatte schließlich zu schnell getrunken. Aber das war doch sein Ziel gewesen, oder? Das Haus kam in Sicht. Kahl, rechteckig, schmutzig. Unter den Fensterbrettern zogen sich graue Schlieren nach unten. Die sah man im Dunkeln zwar nicht, aber er wusste ganz genau, dass sie da waren. Der Knauf an der Tür zu seinem Aufgang glänzte bronzefarben, weil der Lack vom vielen Benutzen schon abgerieben worden war. Kurz darüber hatten Kinder etwas mit einem schwarzen Stift auf den Rahmen gekritzelt. Er schwankte die Treppen hoch, ohne Licht zu machen, eins, zwei...Ach, das war doch jetzt auch egal. Vor seiner Tür blieb er schwer atmend stehen, kramte nach seinem Schlüssel, fand ihn in der Gesäßtasche unter dem Portmonee, traf tatsächlich das Schlüsselloch. Es klemmte. Er drehte nach links und rechts, aber der Schlüssel bewegte sich nicht. Yuriy runzelte die Stirn. Auf einmal ging die Tür auf und Boris stand ihm gegenüber. Mit einem Blick sah er, wie es um ihn stand. Yuriy verfluchte sich dafür, dass er die Stufen nicht gezählt hatte. „Du solltest rein kommen“, meinte Boris und zupfte ihn am Ärmel. Wieder saß er auf dem Sofa, das Boris schon für die Nacht ausgeklappt hatte. Dort waren ein Kissen und eine Decke in einem alten, geblümten Bezug, die sehr weich aussahen. Am Liebsten hätte er sich hingelegt, aber das würde Boris nicht zulassen. Der brachte ihm jetzt ein Glas Wasser und setzte sich neben ihn, bevor er ihn ansah. „Erzähl“, forderte er auf. Yuriy hob die Schultern und das Glas an die Lippen. Er trank es fast aus, das tat gut, um den Nachgeschmack des Alkohols wegzuspülen. „Nein, ich mein es ernst“, sagte Boris. „Was ist los?“ „Nichts. Ich bin betrunken. Das macht man hier so“, fügte er hinzu. Sein Gegenüber schnaubte. „Tut man nicht.“ Wieder hob er die Schultern. Daraufhin blieb es eine Weile still. Yuriy trank langsam aus, woraufhin sein Freund ihm das Glas abnahm. Er ging damit in die Küche, und man hörte kurz den Wasserhahn. Dann war er wieder da und gab ihm das gefüllte Glas zurück. „Du, wir sind nicht blind“, fing er noch einmal an. „Wir sehen, wenn es dir scheiße geht. Brauchst du Geld oder so was? Du kannst dir was von uns leihen, ist kein Problem, wir wissen ja, dass wirs zurück bekommen.“ Yuriy grinste verschwommen. „Nein, lass, ich hab genug.“ „Aber irgendwas ist doch los!“ „Boris, lass, ich bin total dicht!“ „Ja, das ist es doch“, murmelte Boris. Yuriy verstand ihn nicht richtig, er konnte sich einfach nicht auf seine Stimme konzentrieren, statt dessen sah er die Muster auf dem Teppich an, die hin und her tanzten. „Yuriy, es ist mitten in der Woche, und du bist besoffen, das passt einfach nicht zur dir!“ Er nahm sich zusammen und runzelte die Stirn, als er versuchte, sich voll und ganz auf Boris zu fixieren, zumindest so lange, wie er für seine Antwort brauchte: „Boris. Lass mich einfach in Ruhe. Es geht mir gut.“ Daraufhin zuckte Boris‘ Hand, als wolle er ihn schlagen, er sah es ganz genau. „Ich glaube dir nicht“, sagte Boris, und wieder einmal hob Yuriy nur die Schultern. Ihm war schwindlig. Die Muster auf dem Teppich machten ihn ganz irre. Sie schwiegen sich einige Minuten lang an, Boris ganz in Gedanken und Yuriy den Teppich anstarrend. Hier war es schön warm. Er wollte schlafen. „Sag mal“, begann Boris vorsichtig. Yuriy sah ihn fragend an; er brauchte eine Weile, um sich ihm zuzuwenden. Wenn er jetzt den Kopf still hielt drehte sich die Welt nicht mehr ganz so schnell. „Hattest du jetzt eigentlich was Ernstes mit Kai?“ Für einen kurzen Moment drehte sich gar nichts mehr. Für einen kurzen Moment war alles leer gefegt. Yuriy starrte Boris an, der seine Frage, nun, da sie einmal heraus war, beharrlich wiederholte. Aber er konnte nicht antworten. Er konnte nicht einmal den Mund öffnen. Statt dessen wollte er den Blick lösen, drehte den Kopf weg und alles drehte sich noch schneller als vorher. Er verlor das Gleichgewicht und landete auf der Seite, das Gesicht in dem weichen Kissen. Nichts würde ihn dazu bewegen können, sich wieder aufzusetzen. Er presste die Lider aufeinander und zog ganz automatisch die Beine an den Körper. „Yuriy“, sagte Boris und strich ihm über den Arm. „Hier ist doch gar kein Platz.“ Er hätte sich gern bei ihm entschuldigt, aber er konnte nicht. Sein Körper gehorchte ihm nicht mehr; nicht einmal den kleinen Finger konnte er mehr rühren. Schon fühlte er, wie er einschlief, obwohl er das gar nicht wollte. Seine Glieder zogen ihn nach unten. „Yuriy!“ Boris rüttelte an seiner Schulter. Aber das half jetzt auch nicht mehr. Er hatte sich ein Radio gekauft. Seine erste wirkliche Anschaffung, seitdem er hier war. Boris war mit ihm in der Sabjelina gewesen und hatte bei fast jedem Möbel versucht, es ihm anzudrehen. Geschafft hatte er es natürlich nicht, aber dieses Radio hatte es Yuriy dann doch angetan. Sergeij hatte sogar einen seiner Kollegen gebeten, ein paar von seinen CDs zu brennen. Selbstverständlich Drum And Bass, jetzt konnte er zurückschlagen, wenn ihm die Musik von unten zu laut wurde. Yuriy war richtig erstaunt, wie tiefgründig die Texte sein konnten, manchmal war es fast unheimlich, wie gut sie zu ihm passten. Ob Sergeij das gewusst hatte? Eine Tasse Kaffee in der Hand saß er auf der Anrichte seiner Küche und strich über die Knöpfe seines Radios. Er fühlte den Bass in dem Kunststoff widerhallen. Gestern hatte er wieder einen seiner Nebenjobs beendet, nun wurde es Zeit, einen neuen zu suchen. In einem Supermarkt suchten sie jemanden zum Einräumen der Regale, und in verschiedenen Cafés wurden Aushilfen gebraucht. Aber vielleicht sollte er erst einmal ein paar Vormittage lang nichts tun. Er summte das Lied mit. Natürlich hatte Boris auch versucht, ihn auf Kai anzusprechen. Dachte wohl, damit hätte er neulich voll ins Schwarze getroffen. Aber Yuriy ließ ihn gegen eine Wand laufen. Das war schließlich alles nicht Boris‘ Problem, der hatte genug zu tun mit den aberduzenden Fernsehgeräten, die überall gleichzeitig den Geist aufgaben. Er drehte hier und da ein paar Knöpfe an dem Radio. Die Musik wurde lauter. Das gefiel ihm, er ließ den linken Fuß im Takt wippen und trank Kaffee. Bis irgendwann jemand an seine Tür klopfte. „Hören Sie, ich hab da oben ein Kind, das seinen Schlaf braucht.“ Die Frau redete auf ihn ein, sobald er geöffnete hatte. Erst dann hob sie den Kopf und sah ihn an, als wären sie einander noch nie begegnet. Anja Orlowa, sie wohnte direkt über ihm und lief jeden Morgen hektisch und ohne zu grüßen an ihm vorbei. „Entschuldigung“, sagte Yuriy, machte kehrt ohne die Tür wieder zu schließen und schaltete das Radio aus. Als er zurück kam war Anja immer noch da. „Sind Sie neu hierher gezogen?“, fragte sie. „Ich wohne seit zwei Monaten hier“, antwortete er. „Oh.“ Sie war eine zierliche Frau und recht klein. Hatte runde, dunkle Augen, wie die Mädchen in den Märchen, die er als Kind gesehen hatte. Ihre Lippen und Wangen waren kräftig geschminkt, und sie trug goldene Ohrringe. „Macht doch nichts“, meinte Yuriy. „Sind Sie allein mit dem Kind?“ „Nein, nicht so, wie Sie meinen. Mein Mann ist Kraftfahrer. Er ist selten zu Hause.“ Sie machte eine Pause, in der sie sich unschlüssig ansahen. „Ich wusste bis heute gar nicht, dass überhaupt jemand hier wohnt“, sagte sie dann, „Sie haben gar kein Schild an ihrer Klingel.“ Überflüssiger weise sah Yuriy hin, er wusste genau, dass das Schild wirklich leer war, aber es schien ihm jetzt zum ersten Mal aufzufallen. „Das sollte ich wohl ändern.“ Oder auch nicht. Eigentlich war es doch nicht wichtig. „Dann sind Sie wohl auch allein, hm?“, fragte Anja, die aus irgend einem Grund nicht mehr ganz so genervt von ihm zu sein schien. „Möchten Sie vielleicht einen Tee mit mir trinken?“ Ihre Wohnung hatte den gleichen Schnitt wie die von Boris und Sergeij. Zwei große Räume, die links vom Flur abgingen, und rechts erst das Bad und dann eine kleine Küche. Im Wohnzimmer war es behaglich warm, in einer Ecke lag Kinderspielzeug. „Sie schläft drüben“, sagte Anja, als sie seinen Blick sah. „Wie heißt sie denn?“ „Darya. Sie ist drei.“ Anja kochte den Tee in einer Kanne, die sie auf dem kleinen Tisch abstellte. Dazu brachte sie zwei große Tassen. Während sie an der ersten nippten, kamen sie langsam ins Gespräch. Anja erzählte von ihrem Mann, Oleg, der mit seinem LKW durch ganz Russland fuhr und sie ständig allein lassen musste. Manchmal lieferte er bis in winzig kleine, sibirische Dörfer; dann hatte er einen ganz speziellen Lastwagen, der auch mit den schlammigen Wegen dorthin fertig wurde, ohne stecken zu bleiben. Sie selbst verstand nicht viel von Technik, sagte sie. Sie arbeitete im Nahen Supermarkt an der Kasse. Darya ließ sie den halben Tag bei einer Tagesmutter, aber die würde in nächster Zeit eine Woche Urlaub nehmen, und sie wusste noch nicht wohin mit dem Mädchen. „Wenn Sie möchten, passe ich auf die Kleine auf“, sagte Yuriy plötzlich. Das war ein spontaner Einfall. Er hatte noch nie mit Kindern zu tun gehabt. Wahrscheinlich hielt Anja ihn jetzt auch für pervers. Tatsächlich erwiderte sie: „Ich glaube, dazu kennen wir uns noch nicht gut genug. Und, Verzeihung, aber Sie sind ein Mann.“ Yuriy konnte nur nicken. „Ja“, sagte er, „Daran scheitert es oft.“ „Aber Sie können ja noch mal vorbei kommen“, schlug sie vor und sah ihn an. Yuriy kannte diesen Blick von irgendwo her. Wieder nickte er. Sie lächelte verlegen. Michail hatte endlich wieder einen neuen Film bekommen. Beinahe andächtig hob er ihn aus dem großen Paket, in dem er geliefert worden war. „Hilf mir mal“, forderte er Yuriy auf, der gerade den Tresen säuberte und die Popcornmaschine angeworfen hatte. Gemeinsam hievten sie die schwere Rolle hinauf in die Kammer hinter dem Vorführraum. „Worum geht es denn?“, fragte Yuriy, während Michail den Film an den Projektor anschloss. „Eine Liebesgeschichte“, antwortete dieser, „Es geht um einen kleinen Jungen, der sich in ein Mädchen aus seiner Klasse verliebt. Dann kommen aber seine Mutter und ihr Vater zusammen, sie sind also praktisch Geschwister. Trotzdem werden sie ein Paar. Sie verbergen es aber vor ihren Eltern. Irgendwann trennen sich die Eltern aber wieder, und sie verlieren sich aus den Augen. Sie werden erwachsen und wohnen in der gleichen Stadt, wissen es aber nicht, und dann wird der Junge irgendwann am Bahnhof aufgehalten, und so wird die Stunde Zeit überbrückt, um die sie sich ansonsten immer verpasst haben und sie treffen sich wieder.“ „Aha.“ Das klang wahrscheinlich komplizierter, als es war, aber man konnte sicher sein, dass ein Film gut war, wenn Michail ihn so gut kannte. Kurz vor Feierabend stand Yuriy mit dem Staubsauger in der leeren Empfangshalle und der Film fiel ihm wieder ein. Auf der Straße draußen war nicht mehr viel los; anders als im Sommer, wo viele noch endlos rauchten, bis sie den Weg nach Hause einschlugen, verschwanden die Leute immer schneller, sobald es gegen Winter ging. Ab und an fuhr ein Auto vorbei, aber ihr Kino lag nicht an einer Hauptstraße, also kamen auch die vorbei holpernden Lichtkegel immer seltener. Yuriy verstaute den Sauger und ging noch einmal zum Tresen. Dort nahm er sich zwei Karten für den neuen Film und legte das Geld dafür in die Kasse. Dann schob er die Hände, die rechte mit den Karten, tief in die Manteltaschen und machte sich auf den Weg nach Hause. Sein Klingelschild war noch immer leer, aber Anja hatte seit ihrem ersten Treffen nichts mehr dazu gesagt. Er lief an seiner Tür vorbei und blieb ein Stockwerk höher – achtundneunzig, neunundneunzig, einhundert – vor ihrer stehen. „Komm rein“, sagte sie freundlich. „Ich habe was zum Trinken in der Küche, aber du musst noch kurz warten.“ Sie ging zurück ins Bad. Er lehnte sich in den Türrahmen und sah zu, wie sie sich abschminkte. Unter der Tusche waren ihre Wimpern ganz hell, wie ihr Haar. Die Haut wurde uneben, aber die Lippen blieben so rot wie zuvor. Er konnte ihre Sommersprossen und die weißen Flecken an ihrem Kinn sehen. Und die kleinen Fältchen um ihre Augen, von denen er sich fragte, ob er sie auch schon hatte und bis jetzt einfach nicht bemerkt hatte; schließlich war sie nur ein paar Jahre älter als er und rauchte nicht. „Kannst du mir die Bürste geben?“, fragte sie und er ging zu ihr, um sie ihr zu bringen. „Vergiss nicht, mir meine Jacke zurück zu geben“, meinte er, als er bemerkte, wie ihr kleiner Körper von dem Kleidungsstück verschlungen wurde. „Ich möchte keinen Ärger mit deinem Oleg.“ Er hatte die Jacke vor ein paar Tagen bei ihr vergessen. Warum sie sie trug, wusste er nicht; wahrscheinlich fand Anja sie bequem. „Ach ja.“ Sie schlüpfte aus den Ärmeln. „Hier, nimm sie, bevor ich’s vergesse.“ Wie immer setzten sie sich dann ins Wohnzimmer. Anja schloss die Tür, und mit der Zeit wurde es sehr warm in dem vollgestellten Raum. „Ich hab noch was für dich“, fiel Yuriy ein. Er gab ihr die Kinokarten. „Du kannst ja mit Oleg hingehen, oder so. Der kommt doch morgen wieder, nicht wahr?“ „Ja, morgen früh“, sagte sie. „Mal sehen, ob er Lust hat. Ansonsten komm ich allein oder mit Darya. Danke, Yuriy.“ „Sag mal“, fing sie kurz darauf wieder an. „Willst du eigentlich gar nicht mit mir schlafen?“ Yuriy musste die Tasse, die er gerade erst angehoben hatte, wieder abstellen. Irritiert sah er sie an. „Nein, eigentlich nicht. Wieso?“ „Naja, ich dachte, wenn ein Mann schon riskiert, dass man schlecht über ihn redet, dann hat er auch einen triftigen Grund.“ Er wusste, wovon sie sprach. Nachbarn waren weder blind noch taub. Wenn er, der alleinstehende junge Mann, regelmäßig zur einsamen Anja nach oben stieg, sah es nach einer eindeutigen Sache aus. „Du kannst ihnen ja erzählen, dass ich schwul bin“, meinte er grinsend, aber Anja sah ihn forschend an. „Bist du?“ Er hob die Schultern. „Ich bin gerade nicht in einer Beziehung, das ist alles.“ „Aber du wärst gerne.“ „Findest du?“ Endlich nahm er seine Tasse und trank sie aus. Am Boden blieben ein paar Krümel kleben. „Ich finde tatsächlich, dass es dir guttun würde“, meinte sie. „Damit du endlich mal zur Ruhe kommst.“ „Du willst mich wohl loswerden, was?!“, scherzte er. „Quatsch, niemand will dich loswerden!“, entgegnete sie so heftig, dass er erschrak. Er hatte nicht vergessen, Sergeij und Boris zu besuchen. Ein Tag der Woche war für sie reserviert, für sie und den starken, schwarzen Tee und für Drum And Bass im Hintergrund. Dieses Mal hatte sogar der ewige Regen einmal aufgehört, vielleicht würde es ja noch einen goldenen Herbst geben, zumindest eine Zeit lang. Am Vormittag war er Oleg begegnet, der mit der kleinen Darya vor dem Haus einen winzigen Drachen steigen ließ. Der Mann hatte ihm zugenickt und sich kurz an die Mütze getippt, als hätten sie nichts weiter miteinander zu tun. Vielleicht hatte Anja ihm nichts erzählt, aber das hielt Yuriy für unwahrscheinlich; schließlich war es in diesem Falle besser, sie sagte von sich aus etwas, anstatt dass Oleg es von irgendeiner Nachbarin in einer zum dritten Mal verfälschten Version erfuhr. „Na, woran denkst du?“, fragte Boris aufgeräumt und drückte ihm etwas in die Hand. „Omas hausgemachte Kekse, probier mal!“ Yuriy betrachtete das eckige Gebäck und kostete. „Von wegen Kekse, Boris, das ist Honigkuchen! Macht sie den etwa schon jetzt?“ „Naja, der Teig muss jetzt schon gemacht werden. Und da hat sie halt auch gleich welche gebacken. Extra für mich“, fügte er hinzu und grinste unverschämt unschuldig. Inzwischen besuchte Boris seine Großmutter beinahe an jedem Wochenende. Bevor sie hierher gezogen waren, war es schwer für ihn gewesen, den Kontakt zu halten, aber jetzt hatten die beiden sich richtig lieb gewonnen. Oder jedenfalls hatte Yuriy noch nie erlebt, dass Boris sich für einen anderen Menschen so erwärmen konnte. „Du und deine Oma...“, murmelte er und biss ein größeres Stück von dem Honigkuchen ab. Der weihnachtliche Geschmack wollte gar nicht zu der Herbstsonne passen. Schließlich war bis dahin noch ewig Zeit. Boris hatte ihn natürlich über Anja ausgefragt. Ob er denn wisse, was er da tue, wenn er mit einer älteren, verheirateten...und da hatte er ihm erklärt, dass es so nicht lief zwischen ihnen. Das gefiel Boris aber genauso wenig, denn kurz darauf hatte er begonnen, ihn den Frauen vorzustellen, die er kannte. Maria, Jelena, Natascha, irgendwie so hatten sie geheißen. Und sie waren auch irgendwie hübsch und nett und attraktiv gewesen, musste sogar Yuriy zugeben, und während dieser Zeit hatte Boris auch aufgehört, ihn über Kai auszufragen, aber trotzdem hatte keine es geschafft. Und so hatte Boris aufgeben müssen. „Hey, Sergeij, setz dich zu uns!“, rief Boris, als dieser an der Wohnzimmertür vorbei kam. Es raschelte noch einmal draußen auf dem dunklen Flur, und Sergeij fluchte leise, weil er wahrscheinlich wieder über einen Schuh gestolpert war, dann betrat er den Raum. Das Teeglas sah zerbrechlich in seiner riesigen Hand aus, als er es nahm und sich schwer auf das Sofa fallen ließ. „Ist das etwa Honigkuchen?“, fragte er und nahm sich ein Stück. „Das kann deine Oma doch nicht machen, Boris!“ Es entstand ein kleines Wortgeplänkel zwischen den beiden, bei dem Yuriy nicht einmal mehr so tat, als würde er zuhören. Er fragte sich, ob Menschen einen Hang dazu hatten, sich über die kleinsten Missstände des Alltags so auszulassen, wenn sie erst einmal irgendwo Wurzeln geschlagen hatten. Für ihn hing das alles zusammen, die Wohnung, die Oma, das aufreizend harmonische Verhalten seiner Freunde. So kannte er sie gar nicht. Manchmal fühlte er sich schon richtig fremd in ihrer Nähe. Er schnaubte und hielt sich das Teeglas an den Mund, als wolle er trinken, um es zu verbergen. Das Geräusch hallte unangenehm wider, denn kurz zuvor war es still geworden. Sie sahen ihn an. „Was?“, fragte er gereizt. „Ach, nichts“, meinte Boris und seufzte betont. „Sag mal, was ist nun eigentlich mit der Piratskaja Stanzya? Kommst du nun mit?“ „Äh“, machte Yuriy. Das hatte er völlig vergessen. Nein, ehrlich gesagt hatte er nie in Erwägung gezogen, weiter darüber nachzudenken. „Ich weiß nicht, am Ende kommt irgendwas dazwischen und ich bleib auf der Karte hocken, das kann ich mir nicht leisten.“ Boris hob die Augenbrauen. „Alter, so eine Karte wirst du garantiert immer los.“ „Naja. Ach, ich weiß halt nicht. Das ist doch noch so lange hin.“ Da griff Boris nach einem der kleinen, bunten Kissen, die auf dem Sofa verstreut lagen und warf es nach ihm. „Könntest du mir bitte mal sagen, was dir an diesem Wochenende dazwischen kommen sollte? Deine Arbeit wird es ja wohl kaum sein!“ „Wieso, kann doch sein! Schließlich ist am Wochenende immer am meisten los.“ „Als ob Michail sein blödes Popcorn nicht selbst machen kann, das hat er die ganzen letzten Jahre schließlich auch geschafft!“ „Gott, ich hab halt meine Gründe!“ Er hielt das Kissen in den Händen, knetete es, bis die alberne Blumenstickerei ganz zerknautscht aussah. Boris folgte den Bewegungen seiner Finger, bis er plötzlich aufsprang und ihn am Arm packte. „Komm mit, na los!“ Er zerrte ihn auf die Beine und hinaus ins Treppenhaus. Yuriy blieb nicht einmal die Zeit, das Kissen fallenzulassen; er hatte jedoch noch gemerkt, dass selbst Sergeij völlig perplex war. Boris schubste ihn die Stufen hinauf, wobei er ununterbrochen vor sich hinfluchte. Schließlich blieben sie vor Yuriys Tür stehen. „Nun schließ schon auf“, sagte Boris und stieß ihn nach vorne. „Was zur Hölle soll das?“, fuhr Yuriy ihn endlich an, doch Boris verdrehte nur die Augen und griff ihm in die Hosentasche. „Boris, hör auf!“ Sein Freund hielt den Schlüssel in der Hand und schnaubte triumphierend. „Alter, gib mir den Schlüssel wieder! Boris! Lass das!“ Aber zu spät: Boris schloss auf und griff erneut nach Yuriy, um ihn mit sich in die Wohnung zu ziehen. „Hab ich’s doch gewusst“, sagte Boris. Er stand inmitten des großen, leeren Raumes und sein Blick wanderte über das Telefon, das einsam an der kahlen Wand hing, die nackte Birne an der Decke mit ihrem schiefen Porzellanlampenschirm, die Matratze und das zerwühlte Bettzeug und schließlich die fleckige Auslegware. Yuriy lehnte sich an der Wand im Flur an und sah auf seine Schuhspitzen hinab. Er schämte sich fürchterlich. Ihm hätte doch klar sein müssen, dass er vor Boris, gerade Boris, keine Geheimnisse haben konnte. Irgendwann, vor ein paar Tagen erst, vielleicht, war ihm wohl alles entglitten. Nach einer Weile tauchte Boris‘ Hand in seinem Blickfeld auf, griff nach dem Kissen, in das sich die Finger seiner Linken gegraben hatten, und nahm es ihm weg. „Yuriy.“ Er antwortete nicht. „Und ich hab immer gedacht, du hättest bloß ein Bisschen Liebeskummer.“ Boris hörte sich so anders an, als sonst, er stammelte richtig. Yuriy wollte ihn nicht in diesem Tonfall reden hören, und noch weniger wollte er der Auslöser dafür sein. „Warum hast du nie was gesagt?“ Er konnte es nicht erklären, darum nicht. Es ging ihm einfach nur scheiße. Und jetzt bekam er den Mund nicht auf, es ging nicht. Boris lies das Kissen fallen und umarmte ihn. Yuriys Stirn stieß gegen seine Schulter. Mit einem Mal fühlte sich sein Körper tonnenschwer an. Er hockte auf der Anrichte, eine leere Tasse vom Morgen und das Radio neben sich, und äugte zum Telefon. Das war ein gebrauchtes Teil aus billigem, weißen Plastik. Die Schnur, die den Hörer mit dem Gerät verband, hing schlaff herunter. Er hatte das Ding kaum benutzt, denn alle Menschen, mit denen er näheren Kontakt pflegte, wohnten gleich in der Nähe. Er hasste Telefonieren. Das war für ihn keine Art, ein Gespräch zu führen. Er konnte es nicht leiden, nur die Stimme zu hören und nicht das dazugehörige Gesicht zu sehen. Doch er würde es tun. Jetzt. Er rutschte von der Anrichte und zog eine Schublade auf, in der sich mit der Zeit einige wichtigere Papiere angesammelt hatten. Nach kurzem Wühlen fand er die Klarsichthülle mit den Zetteln darin, auf deren Kopf der Name seines Teams bei den Weltmeisterschaften stand. Hülle und Zettel waren völlig zerknittert und hatten Eselsohren, weil er sie ständig hatte vorzeigen und bei sich tragen müssen. Auf einem, genau auf dem, den er jetzt herauszog, war sogar ein Fettfleck. Langsam streckte er den Arm aus und griff nach dem Telefonhörer. Sein Blick wanderte nervös zwischen dem Zettel und der Tastatur hin und her, während er eine Ziffer nach der anderen eintippte. Dann ein letztes Zögern, der Daumen schwebte über dem „Wählen“-Knopf. Er drückte und hob den Hörer ans Ohr. Einen Augenblick lang herrschte Stille, dann kam das Freizeichen. „Ja?“ Das klang müde. „Ja, äh, hallo Kai.“ „Yuriy?“ Am anderen Ende raschelte es. „Gott, hast du die Zeitverschiebung vergessen? Bei mir ist es ein Uhr früh.“ „Oh, ja, hab ich tatsächlich vergessen. Entschuldige.“ Yuriy setzte sich auf den Boden und lehnte den Rücken gegen die Wand unter dem Telefon. „Was willst du denn?“, fragte Kai, dessen Stimme immer noch wirkte, als würde er gleich wieder einschlafen wollen. „Mit dir reden“, antwortete Yuriy schlicht. „Boah Yuriy, du machst mich fertig, echt. Was haste denn?“ „Ich kann auch wieder auflegen.“ „Nein, nein. Lass. Ich bin wach“, sagte Kai schnell. „Ich freu‘ mich ja, von dir zu hören.“ „Ach ja?“ „Ja.“ Yuriy merkte, dass er grinste. „Aber du hättest dich doch auch bei mir melden können.“ Daraufhin lachte Kai kurz, was durch das Telefon seltsam blechern klang. „Aber Yuriy“, sagte er, „Ich hab deine Nummer nicht.“ Genau in diesem Moment fiel es ihm ein. Natürlich hatte Kai seine Nummer nicht. Er besaß kein Handy oder eine Email-Adresse, und da sie umgezogen waren, besaß er nicht einmal mehr seine aktuelle Anschrift. „Oh, stimmt ja.“ „Na, ich hab sie ja jetzt“, meinte Kai. „Ist alles in Ordnung bei dir?“ „Es geht“, antwortete Yuriy. „Ich glaube, ich vermisse dich. Ein Bisschen. Unter Anderem.“ Er hatte das Gefühl, das klarstellen zu müssen. Wieder das Lachen. Kai lachte nie länger, als ein paar Sekunden, und immer sehr leise. „Das ist schön“, sagte er dann. „Sag mal, wir könnten uns doch irgendwann mal wieder treffen, oder? Also, das ist jetzt keine spontane Idee, ich hab schon länger daran gedacht. Soll ich dich vielleicht mal besuchen kommen?“ „Besuchen?“, stotterte Yuriy, „Echt?“ „Auf jeden Fall! Ich beneide euch drei sowieso. Ihr habt jetzt euer eigenes Leben. Ich fühl‘ mich immer noch so abhängig. Ihr müsst mir dann unbedingt eure Wohnungen zeigen; ihr wohnt doch nicht zusammen, oder? Und dann könnte ich ja bei dir pennen, und wenn du arbeiten musst, seh‘ ich mir derweil die Stadt an, oder so.“ „Äh. Äh, ja, also, wenn du meinst?“ Yuriy hatte nur noch mitbekommen, wie Kai gesagt hatte, dass er ihn beneidete. Um diese Ranzbude, die sich seine Wohnung schimpfte. Um diese irre Mixtur aus Einsamkeit und Stress, die sein Leben war. „Ja, natürlich“, entgegnete Kai. „Aber das muss ja nicht sofort sein. Wir können auch erst mal nur telefonieren. Also, tut mir leid, wenn ich so mit der Tür ins Haus falle. Ich freu‘ mich halt.“ „Ja. Ich, äh, ich muss das erst mal verdauen, glaube ich“, murmelte Yuriy. „Klar. Wir sollten eh noch mal tagsüber darüber reden. Wenn wir klar denken können. Also, ich könnte morgen Abend anrufen. Ich meine, wenn es bei mir Abend ist. Also nachmittags für dich.“ „Ja, mach das.“ „Gut. Dann, würd‘ ich jetzt auflegen. Du hörst dich leicht überfordert an. Und außerdem muss ich früh raus. Du hast doch nichts dagegen?“ „Oh, nein, kein Problem.“ Er war tatsächlich viel zu verwirrt, um das Gespräch noch mehr in die Länge zu ziehen. Kai hatte ihn gerade völlig überfallen. Sie verabschiedeten sich und Yuriy hängte den Hörer wieder auf. Dann setzte er sich auf die Anrichte und schaltete das Radio an. Jemand hatte vergessen, die Tür zum Dach abzuschließen. Yuriy lag neben Anja auf der Decke und sonnte sich. Oleg saß auf einem Klappstuhl, Darya auf dem Schoß, und sah ein Kinderbuch mit ihr an. „Du bekommst sogar langsam Farbe“, meinte Anja und stieß ihm mit dem Zeigefinger in die Wange. „Oh, das ist Sonnenbrand!“ „Wirklich?“ Er hatte gar nicht mitbekommen, wie er sich verbrannt hatte. Der Wind war kalt, deswegen trugen sie schon dicke Mäntel, deren dunkle Stoffe sich im Licht aufheizten. „Pass auf, das verträgt sich nicht mit deinen Haaren!“, kam es von Oleg. Mit einem Grinsen leuchteten seine krummen, jedoch überraschend weißen Zähne in dem schwarzen Bart auf. Yuriy fand das immer wieder faszinierend, was daran liegen könnte, dass er selbst peinlich auf eine gute Rasur achtete. Er war inzwischen gut mit Oleg befreundet. Anja hatte da wirklich ganze Arbeit geleistet. Er hatte keine Ahnung, mit welchen Argumenten sie ihren Mann davon hatte überzeugen können, dass Yuriy nicht mit ihr ins Bett ging, aber ihr Geplänkel über Schwulsein konnte sie dabei nicht erwähnt haben. Oleg war nicht so einer, der das tolerieren konnte. „Kannst du mal die Kleine nehmen?“, fragte er jetzt und hob Darya von seinem Schoß. „Na komm her, Dascha“, sagte Yuriy und winkte sie zu sich. Sie liebte seine roten Haaren und streckte gleich die Hände nach ihnen aus, als er sie auf den Arm nahm und an die Balustrade trat. „Sieh mal, da hinten“ Er streckte den Arm aus und deutete in die Ferne, achtete gleichzeitig darauf, dass er das Mädchen fest im Griff hatte. Heute war die Luft glasklar. „Siehst du, wie es da glitzert? Da ist der See, wo du im Sommer immer baden warst, erinnerst du dich?“ Darya sah hin und nickte schließlich, bevor sie den Kopf wieder zu ihm drehte und ihn anhimmelte. „Die findet dich richtig schick!“, meinte Anja lachend. Darya bekam endlich eine Haarsträhne zu fassen und bearbeitete sie mit ihren klebrigen Fingerchen. „Ich weiß ja, wer sich heute die Haare waschen darf“, meinte Oleg. „Das war übrigens ein schöner Tisch, den ihr da neulich in deine Wohnung getragen habt“, fing Anja kurze Zeit später wieder an. „Ja, fand Boris auch, der hat sich beinahe einen Bruch an dem Teil gehoben“, antwortete er und konnte sich ein gehässiges Grinsen nicht verkneifen. „Massives Kiefernholz. Dazu gibt’s auch Stühle, aber für die muss ich erst wieder sparen. Bis dahin müssen die Leute zum Essen halt auf dem Sofa sitzen. Und hast du eigentlich schon mein Klingelschild gesehen?“ Sie warf ihm einen vielsagenden Blick zu. „Ich wusste gar nicht, dass du Ivanov mit Nachnahmen heißt. Ja, hast du gut gemacht, das Schild. Aber woher der Sinneswandel?“ Er hob die Schultern. So richtig erklären konnte er es nicht. Er dachte an Boris und seine Oma, an Sergeij und seinen Musiktick, an Kai, der so neugierig auf diese Stadt war. Und an die kleine Familie, die sich mit ihm hier versammelt hatte und für die es gerade nichts schöneres gab, als diesen sonnigen Herbsttag. Rechts von ihm klaffte der Prospekt, links glitzerten die Zwiebeltürme. Ja, dachte er, er würde dem hier eine Chance geben. ____________________________________________________________________________ (Es wird wahrscheinlich noch einen kleinen Feinschliff geben. Aber so lange wollte ich nicht mehr warten.^^) Kapitel 2: Klänge. ------------------ Er wartete, bis das Wasser heiß wurde und das Spülmittel im Topf aufschäumte. Dann nahm er den Lappen und fing an zu schrubben. „Scheiße“, murmelte er dabei, „Scheiße, Scheiße, Scheiße.“ Das Fenster hatte er schon geöffnet, von draußen kam ein kalter Luftzug herein. „Boris?“ Die Küchentür ging auf. „Was machst du denn hier?“ Sergeij stieß ihm die Klinke in den Rücken und schob sich herein. Jetzt wusste Boris, warum er sich beim Einzug so darüber aufgeregt hatte, dass sich das Waschbecken direkt hinter der Tür befand. „Hast du etwa versucht, zu kochen?“, fragte Sergeij belustigt. Boris schrubbte verbissen weiter. Schwarz verfärbte Essensreste hatten sich tief in den Boden des Topfes gebrannt. Er legte den Lappen weg, der jetzt voller dunkler Flecken war, und griff nach der Drahtbürste. Die Borsten quietschten auf dem Metall. Sergeij sah ihm über die Schulter. „Wenn du es nicht sauber kriegst, stell’s mir hin, dann probiere ich es mit Fitwasser auszukochen. Oder wir kaufen halt einfach mal einen neuen, mit Beschichtung, dann passiert da nichts mehr.“ In diesem Moment klingelte es an der Tür. Sergeij ging, um zu öffnen, und kurz darauf hörte Boris, wie er sich im Flur mit Yuriy unterhielt. „Was macht ihr denn hier unten? Ich hab gerade oben das Fenster aufgemacht, und da kam ein Geruch, als hättet ihr einen Teppich in Brand gesteckt, oder so was.“ Zum zweiten Mal wurde Boris die Türklinke in den Rücken gedrückt. „Boris? Wolltest du etwa kochen?“ „Herrgott, ja!“, rief er und spritzte Yuriy mit der Bürste Wasser ins Gesicht. Davon ließ der sich aber nicht vertreiben, sondern setzte sich auf die Anrichte und sah ihm beim Schrubben zu. „Ihr könntet euch auch einfach einen neuen kaufen, meinst du nicht?“ Boris ließ Topf und Bürste aus seinen Händen ins Wasser sinken. „Ist ja gut, ist ja gut!“, rief er und trocknete sich die Hände ab. „Ich werde nie wieder etwas in dieser Küche anfassen!“ „Find ich gut“, sagte Sergeij, der noch einmal zu ihnen hinein sah. „Ich wollte eh gerade los. Yuriy, pass bloß auf ihn auf!“ Yuriy salutierte nachlässig. „Viel Spaß. Wo auch immer du hingehst.“ Sergeij antwortete nicht. Sie hörten nur noch, wie die Haustür hinter ihm zufiel. „Hat er eine Freundin?“, fragte Yuriy. Boris hob die Schultern. Ja, das dachte er auch. Seit zwei Wochen ging Sergeij regelmäßig aus dem Haus, ohne ihm zu sagen, wohin genau, und das war gar nicht seine Art. Natürlich hatte Boris ihn darauf angesprochen, aber eine richtige Antwort hatte Sergeij ihm nie gegeben. „Na, ich finde, wenn er eine hat, könnte er sie schon mal mitbringen“, meinte er. „Meinetwegen kann sie auch potthässlich sein. Ist ja nicht mein Mädchen.“ Von Yuriy kam ein kurzes Schnauben. Er rutschte von der Anrichte und schloss das Fenster. „Schneit schon wieder.“ Kai würde am Wochenende kommen. Boris sah auf den Kalender und legte den Kopf schief. Tatsächlich. Dieses Wochenende. „Wollt ihr eigentlich irgendwas machen?“, fragte er. Yuriy hob die Schultern. „Hab nichts geplant. Wir können ja alle zusammen kochen.“ Dabei grinste er ihn an und Boris verdrehte die Augen. Dann wandte er sich vom Kalender ab, der im Flur hing, und setzte sich zu Yuriy auf das Sofa. Seit neuestem stand in der Ecke ein winziger Fernseher, auf dem man zwar kaum etwas erkennen konnte, der aber trotzdem immer angeschaltet war, wenn Yuriy zu Hause war. Es lief Werbung. Seit Sergeij immer öfter durch Abwesenheit glänzte, ging er fast jeden Tag hoch zu Yuriy. Um der Gesellschaft willen, sagte er, denn meistens ging jeder von ihnen seinen eigenen Beschäftigungen nach. Er entwickelte Schaltpläne und Yuriy las irgendwelche Bücher über Architektur, die er aus der Bibliothek mit brachte, und machte sich Notizen. Auch jetzt hatte er schon wieder einen dicken Bildband vor sich aufgeschlagen. Boris sah ihm neugierig über die Schulter. „Steht das nicht in Moskau?“, fragte er und deutete auf eines der Bilder. Yuriy schob seine Hand weg. „Ja. Du, tut mir leid, aber ich muss mich konzentrieren.“ „Schon gut.“ Boris stützte den Kopf in die Hand und sah über Yuriys roten Schopf hinweg zum Fernseher. Die Werbung war von Musikvideos abgelöst worden. Eine dürre, halbnackte Frau bewegte sich, als wollte sie ihm das Kamasutra beibringen. Das Kratzen von Yuriys Bleistift übertönte die Musik. „Kommt Kai mit dem Zug?“, fragte er. „Hmhm.“ „Holst du ihn ab?“ „Ja.“ „Vielleicht sollten wir wirklich kochen. Ich kann ja Gemüse schneiden, da kann ich nicht viel falsch machen.“ Yuriy setzte sich plötzlich auf. Sein Gesicht verdeckte den Fernseher. „Boris, es nervt, wenn du immer dazwischen redest, während ich arbeite.“ Das Bleistiftkratzen hatte aufgehört und Boris hörte das leise, verzerrte Dudeln der Musik vom Fernseher. „Soll ich dich lieber in Ruhe lassen?“, fragte er und Yuriy verzog den Mund auf eine Weise, die ja meinte, aber nicht sagte. Boris stand auf und ging hinaus. Im Treppenhaus war es furchtbar kalt, und er hatte keine Jacke mitgenommen. Waren ja nur zwanzig Stufen. Die Arme fest vor dem Oberkörper verschränkt beeilte er sich, wieder in seine Wohnung zu kommen, schloss schnell auf und ließ seine Schuhe irgendwo im Flur liegen. Wirklich saukalt. Das Sofa war ordentlich eingeklappt, aber einer der Teppiche warf eine große Falte. Boris trat sie glatt. Dann ging er zum Fenster hinüber, stützte sich auf die Fensterbank und spähte nach draußen. Auf der Außenseite hatte sich schon eine dicke Schicht Schnee angesammelt. Flocken schlugen gegen die Scheibe; manche blieben kleben und tauten. Es war seltsam ruhig. Der Bass aus Sergeijs Anlage fehlte. Boris konzentrierte sich und versuchte, irgendetwas in der Wohnung, oder auch nur im Haus, zu hören. Nur, um sicherzugehen. Alles war still. Keine lachenden Nachbarn, kein Kindergeschrei, kein Regen gegen das Fenster, wie noch vor drei Wochen. Er hörte etwas. Ein Rascheln, von irgendwo her, vom Flur. Vom Flur? Er runzelte die Stirn, durchquerte das Zimmer erneut, öffnete die Tür. Im Halbdunkel erkannte er die massige Gestalt Sergeijs, die sich gegen die Wand lehnte, mit dem Rücken zu ihm. Vor ihm ein Mädchen, das sich gerade die Schuhe anzog. „Macht euch doch Licht“, sagte Boris und griff an die Wand, wo sich der Schalter befand, betätigte ihn. Die nackte Birne ging an und Sergeij blinzelte gegen das Licht. „Hab gar nicht gehört, wie du gekommen bist“, sagte er. „Das ist Irina.“ Boris gab ihr die Hand. Sie war ein richtiges Vorzeige-Mädchen. Langes, dunkles Haar, glatte Haut und fast schwarze Mandelaugen. Die Lippen sorgfältig mit einem dunklen Stift nachgezogen. Weiße Lederstiefel, die im schummrigen Licht leuchteten. Die Schuhe hatte er eben gar nicht bemerkt. „Na, die hättest du nun wirklich schon früher mal mitbringen können“, meinte er und grinste sie an. „Freut mich.“ „Du bist Boris, ja?“, fragte sie. Tiefe Stimme. Tatsächlich, ein Vorzeige-Mädchen. Er musste Sergeij unbedingt fragen, wo er die her hatte. Vielleicht gab es da ja noch mehr davon. Irina erwiderte sein Grinsen noch kurz, bevor sie sich auf die Zehenspitzen stellte und Sergeij einen Abschiedskuss gab. „Gehst du etwa allein nach Hause?“, fragte Boris, doch sie meinte, ihr Bruder würde sie abholen. Kurz darauf ging sie, man hörte ihre hohen Hacken auf jede einzelne Treppenstufe knallen. Dann schallte das Geräusch der zuschlagenden Tür zu ihnen herauf. Sergeij drehte sich um und ging in die Küche, wo er im Kühlschrank wühlte. Boris meinte, ein leises Summen zu hören, aber eigentlich summte Sergeij nie. Er war vollkommen unmusikalisch. Boris lehnte sich in den Türrahmen und sah ihm dabei zu, wie er die Pfanne auf den Herd stellte und ein paar Eier aufschlug. „Kai kommt am Wochenende“, sagte er. „Ach so?“ „Wir haben gedacht, vielleicht sollten wir alle zusammen kochen.“ „Ja. Dann sollten wir Pelmeni machen. Du weißt schon: so jung kommen wir nicht mehr zusammen.“ „Dabei kann ich dir aber nicht helfen. Wenn ich Pelmeni mache, endet es im Chaos.“ „Kein Problem. Irina ist ja da.“ Daraufhin nickte Boris nur. Die Eier in der Pfanne fingen an zu stocken. „Willst du mit essen?“, fragte Sergeij. Bis zum Wochenende waren sie vollkommen eingeschneit. Das Dorf, in dem Boris‘ Großmutter wohnte, war, wie jedes Jahr, von der Außenwelt abgeschnitten, sodass er sie in den nächsten Wochen nicht würde besuchen können. An den Straßenrändern in der Stadt türmten sich Schneeberge, doch irgendwie hatte man es geschafft, dass der Verkehr zu einem großen Teil fast uneingeschränkt lief. Trotzdem hatte Kais Zug dreiundvierzig Minuten Verspätung. Boris stand neben Yuriy auf dem Bahnsteig und wippte auf und ab. Die Kälte drang langsam durch seine Sohlen. Er hatte sich dazu entschlossen, ihn zu begleiten, weil er ansonsten bei Sergeij und Irina geblieben wäre, die schon fleißig Pelmeni formten und sich gegenseitig mit Mehl bewarfen. Endlich fuhr der Zug ein. Sobald die Türen aufgingen füllte sich der Bahnsteig mit Leuten. Yuriy reckte den Kopf, doch Boris sah Kai zuerst und zupfte ihn am Ärmel. Sobald sich die Blicke der beiden trafen, fingen sie an zu grinsen. Kai begrüßte sie, wie es sich gehörte, mit Umarmung und Kuss, wie sie es seit dem ersten Kneipenabend noch vor der letzten Weltmeisterschaft hielten. Seine Lippen waren warm an Boris Wange, und genau in diesem Moment fragte er auch schon, ob sie denn lange hatten warten müssen. Yuriy winkte ab, also schickte Boris noch ein mürrisches Brummen hinterher. Auf dem Heimweg redete Yuriy ungewöhnlich viel. In Kais Gegenwart war das ein untrügliches Zeichen für Nervosität. Boris ging hinter den beiden her, da auf den Fußwegen nur ein schmaler Gang geräumt worden war. In den Seitenstraßen liefen sie auf der Fahrbahn. „Ob du’s glaubst, oder nicht, Sergeij hat eine Freundin!“, sagte Yuriy und Kai machte ein ungläubiges Geräusch. „Ja, ja! Du wirst sie gleich kennenlernen. Sie hilft ihm nämlich schon in der Küche.“ Sie rückten enger zusammen, weil ihnen ein Auto entgegenkam. Nachdem sie Kais Koffer in Yuriys Flur abgestellt hatten gingen sie hinunter zu den anderen. Von dem Durcheinander, das immer entstand, wenn man Pelmeni machte, war schon nichts mehr zu sehen, stattdessen stand ein riesiger Topf auf dem Herd, in dem von Mehlresten trübes Wasser köchelte. Irina stand daneben und rührte ab und an mit einem Holzlöffel, damit sich die Pelmeni nicht am Boden festsetzten. Auch sie wurde von allen gebührend begrüßt und schien sich zunehmend wohl in Gesellschaft der vier Männer zu fühlen, die einen kleinen Wettkampf um das beste Kompliment ausfochten. Sergeijs Hemd schien kurz vorm Platzen, so geschwollen war seine Brust. Yuriy und Kai lehnten, näher beisammen, als es nötig gewesen wäre, an der Anrichte, wobei Yuriy den Arm hinter Kais Rücken aufgestützt hatte. Boris stand mit verschränkten Armen vor der Tür und blickte vom Herd zur Anrichte, bevor er, um, wie er sagte, den Tisch im Wohnzimmer zu decken, hinausging. Sobald die Stimmen der anderen gedämpft waren, wurde es angenehmer. Er schloss auch noch die Wohnzimmertür hinter sich, dann räumte er einige seiner Sachen aus dem Weg und nahm Geschirr aus der Schrankwand. Aus der Küche schallte Gelächter zu ihm herüber. Irgendwie vergriff er sich und bekam den letzten Teller nicht zu fassen. Mit einem dumpfen Geräusch landete er auf dem Boden, blieb jedoch heil. Boris hob ihn auf und sah ihn kurz an, bevor er weit nach oben ausholte und ihn auf den Teppich schleuderte. Dieses Mal ging er kaputt. „Hatten wir nicht mal fünf von dieser Sorte?“, fragte Sergeij später, als sie aßen, und deutete auf seinen Teller. Er hatte gesehen, dass der von Boris ein anderes Muster hatte. Der hob nur die Schultern. Als die Stille lästig wurde, fing Irina an, Kai auszufragen. Boris hörte nicht wirklich hin, bekam nur so viel mit, dass Kai wohl Medizin studierte und auf ein Stipendium spekulierte, da er von seinem Großvater kein Geld für eine Ausbildung bekam, die nicht erwünscht war. Studium. Stipendium. Ja, das passte zu Kai. „Wie läuft es denn bei dir, Yura?“, fragte Kai, und als der Name des Angesprochenen fiel, hörte Boris wieder hin. „Hat es nun geklappt mit der Uni?“ „Welche Uni?“, fragte Boris. „Ah, nein, ich hab’s nicht geschafft“, sagte Yuriy. „Aber ich denke, ich werde jetzt einfach zur Abendschule gehen oder so etwas. Irgendwie werde ich schon noch ein Hintertürchen finden.“ „Hey, welche Uni?“, wiederholte Boris, woraufhin Yuriy ihn verwirrt anblickte. „Na, ich hab mich doch in Moskau beworben. Für Architektur. Du hast doch neben mir gesessen, als ich den Antrag ausgefüllt hab.“ Plötzlich wurde Boris ganz heiß. Stirnrunzelnd starrte er auf seine Gabel hinunter und spürte gleichzeitig, wie die anderen ihn alle ansahen; aber er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, wann Yuriy das getan hatte. Er ließ die Gabel auf den Teller sinken. „Ach so“, nuschelte er, rieb sich über die Stirn und stand auf. „Ich, äh, entschuldigt mich kurz.“ „Was ist denn los?“, fragte Yuriy, doch Boris winkte ab. „Bleib sitzen, ich bin gleich wieder da.“ Und Yuriy hörte auf ihn. Er kam ihm nicht nach. Immer, wenn ein Auto vorbei fuhr, stach das Scheinwerferlicht durch das Fenster und pinnte die Gardinenmuster auf die gegenüberliegende Wand, wo sie von links oben nach rechts unten wanderten, bis es wieder dunkel wurde. Das geschah nicht oft, dazu war es zu spät. Boris saß auf dem aufgeklappten Sofa, die Decke bis zur Hüfte gezogen und lauschte. Irina war bei Sergeij geblieben, doch man hörte nichts, kein Geräusch aus seinem Zimmer, obwohl es genau an die Wand in Boris‘ Rücken anschloss. Wenn Boris ein Mädchen wie Irina hätte, würde er dafür sorgen, dass alle Nachbarn davon erfuhren. Sergeij brauchte sich gar nicht zurück zu halten, schon gar nicht aus Höflichkeit. Er griff nach dem kleinen Wecker, der vor dem Samowar auf dem Schränkchen stand. Kurz nach vier. Eine Weile lang starrte er die Anzeige an, als wollte er ihr nicht recht glauben, dann schlug er die Decke auf die Seite und stand auf. Warf sich ein paar Sachen über und ging hinaus. Jemand hatte vergessen, die Tür zum Dach abzuschließen. Es war beißend kalt, aber windstill. Rechts von ihm zog sich der Prospekt wie ein leuchtendes Band durch die Stadt, links wurden die Zwiebeltürme der Kirche von unten angestrahlt. In seiner Manteltasche fand er Zigaretten und ein Feuerzeug, die Yuriy vor einiger Zeit bei ihm hatte liegen lassen. Doch weil er nie wieder danach gefragt und Boris ihn auch nicht mehr mit Zigaretten gesehen hatte, war die Packung dort geblieben, hatte sich mit der Zeit seinem Körper angepasst. Rauchend verfolgte er mit den Augen die strahlende Linie des Prospekts, die sich in der Ferne ausdünnte und als glühender Faden durch das Tal schnitt. Beinahe unnatürlich gerade. In dieser Richtung lag Moskau. Warum war es nur so verdammt still? Boris räusperte sich, doch das Geräusch wurde vom Schnee gedämpft. Es war, als befände er sich in einem Stummfilm. Er sah sogar, wie dort unten auf dem Prospekt ein Auto entlang fuhr, doch er hörte nichts. Ihn fröstelte. Er konnte sich nicht entscheiden, ob er schnell oder langsam rauchen wollte, nach drinnen oder hier draußen bleiben, Stille oder Stille. Mit einem derben Fluch schleuderte er die Kippe in den Schnee, nahm Anlauf und trat kräftig gegen das Eisengeländer, das zur Sicherheit angebracht worden war. Es gab einen viel zu leisen, klingenden Laut von sich. Er trat es noch einmal, wieder und wieder, bis sein Fuß in einem ungünstigen Winkel auf die Querstange traf und der Schmerz in seinem Zeh seine Augen tränen ließ. „Boris? Hey, Boris, du verschläfst gerade!“ Er fuhr hoch, als mit einem Mal eine Flut aus Geräuschen auf ihn niederging: sein Wecker piepste schrill, Sergeij klopfte an die Tür und rief irgendetwas und durch die Wand hörte man das schnelle Wummern seiner Anlage. Helles Tageslicht kam durch das Fenster und blendete ihn. Einen Augenblick lang saß er benommen da, bis der fiepende Wecker die Oberhand gewann und Boris sich zur Seite lehnte, um ihn auszuschalten. Dabei bemerkte er, dass er noch eine halbe Stunde hatte, bis er vor der Tür des Elektrogeschäfts stehen musste, in dem er seine Ausbildung machte. Mit einem Fluch schwang er sich vom Sofa. Als er, notdürftig geduscht und mit einem Rest Zahnpasta an der Wange, in die Küche stolperte, deutete Sergeij nur auf eine Tasse Kaffee, die auf der Anrichte stand, denn er wusste nur zu genau, dass Boris sich sowieso nicht setzen würde. Für sich und Irina hatte er den Tisch gedeckt. Sie, bereits frisiert und geschminkt, zeigte kurz auf ihre eigene Wange, damit er sich die Zahnpasta weg wischte und machte dann ein positiv wertendes Handzeichen. Er schaffte es tatsächlich, auf die Minute pünktlich zu sein. Sein Chef sah ihn zwar fragend an und machte einige linkische Bemerkungen über lange Nächte, doch letztendlich begann der Tag, wie jeder andere: Boris setzte sich zu Alexei in den Firmenbus, und sie fuhren los, um eine lange Liste von Haushalten mit kaputten Fernsehgeräten abzuarbeiten. Boris war im zweiten Lehrjahr, Alexei stand kurz vor seiner Prüfung. Er war ein „langer Lulatsch“, wie Boris‘ Großmutter sagen würde, noch ein Stück größer, als Sergeij, aber höchstens halb so breit, wie Yuriy. Das immer fettige Haar und die große Brille machten den Anblick nicht gerade besser. Aber eines musste man ihm lassen: mit Elektronik kannte er sich aus, wie kein Zweiter, denn in seiner Freizeit nahm er jede Maschine auseinander, an die er kommen konnte. Wobei das nicht implizierte, dass er sie auch wieder zusammensetzen konnte. „Sag mal, Joschi, hast du ne Freundin?“, fragte Boris und übertönte das Radio und den Lärm, den der Wagen machte. Alexei grinste, wandte den Blick jedoch nicht von der Straße ab. „Du meinst, außerhalb meiner Träume? Nee, wieso?“ „Nur so.“ Jetzt wanderten Alexeis Pupillen doch kurz in die Augenwinkel. „Was’n? Willst eine klarmachen?“ „Nein.“ Boris machte eine Pause, dann redete er doch weiter: „Stell dir mal vor, du würdest mit einem Paar zusammen leben...“ „Tu ich nicht. Ich würd Wässerchen kaufen und zu meinem besten Kumpel ziehen.“ „Und wenn der auch ne Freundin hat?“ „Wie, der? Dieser komische Kerl, von dem du erzählt hast?“ Leider war Alexei auch sehr gut im Kombinieren. Natürlich war er nicht auf den alten Trick „dem Freund meines Freundes ist das und das passiert, was sagst du dazu?“ hereingefallen. „Yuriy ist nicht komisch...er ist eigen“, nuschelte Boris deshalb wahrheitsgemäß. Verstecken war sinnlos geworden. „Schon klar. Sieht seine Olle denn gut aus?“, fragte Alexei neugierig, „Ich mein, das interessiert mich, echt. Vielleicht besteht ja noch Hoffnung für mich, wenn selbst so einer wie dieser Yuriy was Hübsches aufreißen kann.“ „Yuriy hat keine Olle!“, sagte Boris laut, woraufhin Alexei eine Augenbraue hob, so dass er seinen Tonfall schon bereute. „Ich meine...ich weiß nicht. Könnte sein, er macht sie grad klar. Und aussehen tut sie...“ Er dachte an Kai, wie er lässig neben Yuriy in der Küche gestanden hatte. „...naja, gut halt. Nicht gerade mein Geschmack, aber ich versteh schon, was er an ihr findet.“ „In dem Falle, Borislaw, würde ich dir dringend raten, bei deiner Großmutter zu wohnen.“ „Hm.“ Boris langte hinüber, zog ihm die Kappe vom Kopf und warf sie hinter den Sitz. „Hey!“ „Hör auf mit Borislaw“, sagte er. „Dann hör du auf mit Joschi“, entgegnete Alexei. Selbst das vorteilhafte Licht im Supermarkt schaffte es nicht, das Obst noch frisch aussehen zu lassen. Boris suchte eine Weile, bis er noch ein paar einigermaßen knackige Äpfel fand. Die weich gewordenen Südfrüchte würdigte er keines Blickes. Sergeij hätte zwar gern Kiwis gehabt, das konnte er aber wohl vergessen. Dafür war der Kohl, den er auch auf die Liste geschrieben hatte, im Angebot. So kurz vor Ladenschluss war nicht mehr viel los. Aus versteckten Lautsprechern kam eintönige Musik. Die Kühltruhen summten. Milch, Butter, Käse. Wer hatte denn das Schokoeis aufgeschrieben? Er war schon ewig nicht mehr einkaufen gewesen. Die letzten Wochen hatte es mit seinen Schichten nicht gepasst, und Sergeij hatte das alles erledigt. Boris musste unbedingt herausfinden, wann frische Ware geliefert wurde, damit er nicht jedes Mal einen solchen Reinfall erlebte, wie heute. Missmutig schob er den ratternden Wagen vor sich her, den Einkaufszettel in einer Hand. Kurz vor der Kasse bemerkte er, dass er für eingelegte Gurken noch mal durch den halben Laden zurück musste. Als er endlich bezahlen konnte, saß Anja vor ihm. „Du bist doch ein Freund von Yuriy, oder?“, fragte sie. Boris brauchte eine Weile, bis ihm wieder einfiel, wer sie war. Er hatte nie viel mit ihr zu tun gehabt, nur kurz, als er dachte, Yuriy würde mit ihr ins Bett gehen, was sich ja als falsch erwiesen hatte. „Du bist mein letzter Kunde heute.“ Sie lächelte und stellte schwungvoll das „Kasse geschlossen“-Schild auf, nachdem er bezahlt hatte. Boris steckte das Wechselgeld in seine Tasche, klimperte ein wenig damit herum. „Ähm, soll ich vielleicht auf dich warten? Dann können wir zusammen nach Hause gehen. Ist ja schon dunkel.“ „Das ist lieb, danke. Ich beeile mich.“ Es war nicht weit bis zum Haus, doch der Weg war nur spärlich beleuchtet. Schneegeriesel wirbelte durch die Luft. Sie gingen schweigend nebeneinander her, Anja zog sich irgendwann ihre Mütze tiefer ins Gesicht und Boris wechselte ein paar Mal die Hand, in der er den Beutel trug. Unter ihren Schritten knirschte der Schnee, ansonsten wurde jedes Geräusch geschluckt, wie immer. Sie waren gerade in die Seitenstraße eingebogen, und es waren nur noch wenige Meter, als Anja plötzlich ausrutschte und fiel. „Warte“, sagte Boris, stellte den Beutel ab und half ihr hoch. „Hast du dir weh getan?“, fragte er, doch Anja fing bloß an zu kichern. Sie klopfte sich den Schnee von ihrem Mantel. „Ist schon in Ordnung“, meinte sie und sah sich um. „Hauptsache, es hat keiner –oh, sieh mal, ist das nicht Yuriy?“ Boris drehte sich um und folgte ihrem Blick. Tatsächlich, dort kamen Yuriy und Kai auf sie zu geschlendert, die Hände in den Taschen und offenbar in ein Gespräch vertieft. Sie sahen ihn und Anja nicht, wahrscheinlich, weil sie im Schatten zwischen zwei Straßenlaternen standen. Anja schien Boris‘ Miene bemerkt zu haben, denn sie tat nichts, um sich bemerkbar zu machen, sondern wartete, wie er, einfach ab. Die beiden gingen zu ihrem Aufgang und man hörte ein leises Klimpern, als Yuriy sein Schlüsselbund aus der Tasche zog. Sie standen nebeneinander unter der schwach leuchtenden Türlampe, Kai blickte zu Yuriy hoch und sagte irgendetwas, das ihn innehalten ließ. Boris konnte sein Gesicht nicht sehen, doch Kai fing an zu grinsen. Yuriy warf einen flüchtigen Blick über die Schulter, dann streckte er den Arm aus und zog Kai zu sich heran, und es war nur noch zu sehen, wie der die Augen schloss, bevor sein Gesicht hinter Yuriys Haaren verschwand. Seine Hand wanderte um Yuriys Taille herum und krallte sich in seinem Mantel fest. „Wusst ichs doch, dass er schwul ist“, meinte Anja. „Aber wir sollten dafür sorgen, dass er sich die öffentliche Knutscherei verkneift; wenn eine von den Nachbarinnen das sieht, kann er eigentlich gleich ausziehen.“ Boris nickte, konnte noch immer nicht wegsehen und beobachtete, wie Kai Yuriy nach drinnen folgte und die Tür endlich ins Schloss fiel. Verdammt, dachte er nur. Verdammt. „Danke, dass du mich begleitet hast“, meinte Anja, als sie schließlich auch nach drinnen gingen und die erste Treppe hoch stiegen. „Mein Mann holt mich oft ab, wenn er Zeit hat. Aber im Moment muss er wieder fahren.“ „Kein Problem“, murmelte Boris zerstreut, „Können wir jetzt öfter machen, ich bin demnächst dran mit einkaufen.“ Er kramte den Wohnungsschlüssel hervor. „Also dann.“ „Ja. Wenn ich mich irgendwie revanchieren kann, sag Bescheid“, sagte sie noch, bevor sie kurz winkte und sich umdrehte. Die Wohnung war still. Während Boris die Lebensmittel einräumte, zeigte sich niemand, und er wollte auch nicht an Sergeijs Tür klopfen, um zu sehen, ob er und vielleicht auch Irina da waren. Nachher störte er noch bei irgendetwas. Kurz überlegte er, ob er hoch zu Yuriy gehen sollte, entschied sich aber schnell dagegen. Wahrscheinlich machte der Kai gerade richtig klar, wie er selbst heute vor Alexei prophezeit hatte. Blieb nur noch der Fernseher. Seufzend warf Boris sich auf das Sofa und schaltete das Gerät ein. Beobachtete auf einem Musiksender einmal mehr halbnackte Frauen, die sich grotesk räkelten. War das das gleiche Video, das er neulich schon gesehen hatte oder nur dessen Trittbrettfahrer? Er konnte nicht einmal mehr die Mädchen auseinander halten, schließlich sahen die auch irgendwie alle gleich aus, als hätte man einen Standartkörper mit verschiedenen Köpfen, wie bei Barbiepuppen. Es war zum kotzen. Genau in dem Moment, als er das dachte, hörte er es. Ein leises Ächzen. Stirnrunzelnd schaltete er den Fernseher auf lautlos und lauschte. Das Ächzen wurde zu einem eindeutigen Stöhnen, das hinter ihm durch die Wand drang. Boris konnte nicht verhindern, dass ihm kurz der Mund offen stand. In den nächsten Minuten steigerte sich das Stöhnen. Anscheinend wussten die beiden nicht, dass er schon wieder hier war. Boris schaltete den Fernseher aus und warf die Fernbedienung in eine Ecke des Sofas, bevor er die Hände zu Fäusten ballte. Er stand auf, ging zum Fenster, zum Schrank, zur Tür, ließ sich wieder auf das Sofa fallen, stand wieder auf. Die Geräusche aus dem Nebenzimmer waren nicht zu ignorieren. Als er erneut eine Wand erreichte, holte er aus, stoppte seine Faust jedoch kurz bevor sie die Tapete berührte. Verdammt, dachte er noch einmal. Hals über Kopf verließ er die Wohnung, ohne auch nur eine Jacke anzuziehen, stürmte die Treppen hoch und blieb schließlich keuchend vor einer Tür stehen. Ein paar Mal atmete er tief ein und aus und drückte den Klingelknopf. Anja blickte ihn überrascht an, als sie öffnete. Dann verschränkte sie die Arme und grinste, was jedoch nicht halb so selbstsicher aussah, wie es wahrscheinlich sein sollte. „Na, was hast du?“, fragte sie. „Ich hätte da eine Idee, wie du dich revanchieren könntest“, antwortete Boris. Die Sache mit Anja machte es nicht besser, aber erträglicher. Wenn sie ihm morgens ihren warmen Atem auf den Rücken hauchte, war es nicht mehr ganz so unangenehm, dass er wegen des Schnees weder Sergeij und Irina, noch Yuriy und Kai aus dem Weg gehen konnte. Zwangsläufig trafen sie sich immer alle irgendwann in ihrer Küche, zwischen sich auf dem Tisch wahlweise Kaffee, Tee oder Wodka. Keiner der anderen ahnte auch nur etwas von Boris‘ Ausflügen, sie waren alle viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Als er an diesem Tag die Tür öffnete, rechnete er schon wieder mit einer Flut aufgeregter Stimmen, die ihn ausgelassen begrüßten. Doch es war still, der Raum leer, nur ein leichter Geruch nach Spülmittel hing in der Luft, als hätte jemand Geschirr abgewaschen ohne vorher Essen zubereitet zu haben. Das Fenster war ein schwarzes Loch in der Wand, das zum Spiegel wurde, sobald er das Licht anschaltete. Von weitem schien es, als läge in seinem Gesicht mehr Ausdruckskraft, als er sich zugetraut hätte. Normalerweise übte er sich in stoischem Halblächeln, das zu unauffällig war, um Aufmerksamkeit zu erregen oder sein Verlangen, mit der flachen Hand auf die Anrichte zu schlagen, damit es einen schönen, knallenden Laut gab, zu verraten. Seit die heimliche Stille eindeutigen Geräuschen gewichen war, kam es ihm vor, als hätte er sich dicke Pfropfen Watte aus den Ohren gezogen: alles war unnatürlich laut und hatte ein leichtes Echo, wie zu scharf eingestellte Tonspuren. Fast begrüßte er, dass es jetzt leise war. Weit entfernt summte ein Gerät, vielleicht der Kühlschrank. Er hielt es nur wenige Minuten am Herd lehnend aus. Obwohl sein Magen leise knurrte, konnte er sich nicht dazu bewegen, etwas zu essen. Probehalber ließ er ein paar Lebensmittel an seinem inneren Auge vorbeiziehen, mit dem Resultat, das er sich mit jedem Ding nur noch mehr ekelte. Wer wusste schon, wo die anderen blieben; womöglich war Sergeij mit Irina ins Kino gegangen oder so etwas. Er war schon spät. Dann konnte er jetzt auch zu Anja gehen. Weiter oben im Treppenhaus war eine Lampe kaputt; ihr flackerndes Licht und das leise Klirren, das bei jedem An und Aus erklang, drangen bis zu ihm hinunter. An seinen Unterarmen stellten sich die Härchen auf, er rieb sie mit den Händen glatt und nahm zwei Stufen auf einmal, um möglichst schnell wieder ins Warme zu kommen. Dann stand er im fünften Stock und streckte die Hand nach dem Klingelknopf aus. Bevor er ihn berühren konnte, ging die Tür auf und er sah in Yuriys Gesicht. In dessen Augen spiegelte sich, schneller, als es Boris lieb war, ein plötzliches Verstehen wider. Anja tauchte hinter Yuriy auf, sagte irgendetwas, aber er konnte sie weder richtig sehen, noch verstehen. Yuriy achtete nicht auf sie, sondern zog die Tür hinter sich zu und bedeutete ihm mit einem Kopfnicken, dass er ihm folgen sollte. Kurz hintereinander betraten sie Yuriys Wohnung; der Raum war in blaues Licht getaucht, das vom Fernseher ausging. Kai kam aus der Küchenecke und sah sie fragend an. „Würdest du uns einen Augenblick allein lassen?“, sagte Yuriy. Kai stellte das Glas Wasser, das er sich wohl gerade erst geholt hatte, auf dem Tisch ab und griff nach seiner Jacke. „Reicht euch eine Stunde?“ „Ja, vollkommen. Danke.“ Auch nachdem er hinausgegangen war, blieben sie stehen. „Er hat nicht mal gefragt, warum“, nuschelte Boris, womit er Yuriys Blick zum ersten Mal wieder auf sich lenkte. „Natürlich nicht“, sagte der. „Setz dich.“ Sie sanken nebeneinander auf das Sofa, doch Yuriy sprang gleich wieder auf, um mit einer unwirschen Handbewegung den Fernseher aus- und das Licht einzuschalten. Die Birne, die über ihnen schwebte, hatte dieses Zimmer schon beleuchtet, als es noch nichts weiter gab, als versiffte Auslegware und eine Matratze in der Ecke. So kann es sich wenden, dachte Boris. „Und?“, fragte er, „Wie ist es mit ihm?“ „Er tut mir sehr, sehr gut“, antwortete Yuriy, der sich wieder gesetzt hatte, ein Bein über das andere geschlagen und den linken Arm über der Lehne hängend. „Läuft da was Ernstes?“ Ein Schnauben. „Darüber reden wir nicht.“ „Weißt du, du solltest dich da nicht so reinsteigern. Ich meine, wie lange bleibt er denn? Zwei Wochen? Dann ist er wieder weg, und was willst du dann machen?“ Boris sah Yuriy an und stieß auf eine Miene, die fest und glatt war, wie die Wand, vor der sie saßen. „Du weißt, dass du nicht hier bist, um mir gute Ratschläge zu erteilen“, sagte Yuriy. „Und ich will nicht, dass es wieder endet, wie damals, als du in dieser Bude fast verkommen wärst“, fuhr Boris unbeirrt fort. Während er das sagte, bildete sich zwischen Yuriys Augenbrauen eine tiefe, senkrechte Falte. Er kannte sie, als schmalen Strich, der sich seit einiger Zeit hell abzeichnete und einfach nicht mehr verschwinden wollte. Genauso, wie sich Sergeijs Mundwinkel immer tiefer eingegraben zu haben schienen, oder Kais Gesicht über die Jahre immer schärfer geworden war, als hätte man eine Fotoaufnahme richtig eingestellt. Das Alter stand allen dreien; wahrscheinlich würde Yuriy mit jeder feinen Linie, die in seinem Gesicht blieb, besser aussehen, und in zwanzig Jahren würden die kühlen Geschiedenen noch einmal nervös werden, wenn sie ihn sahen und würden die jungen Mädchen sich wünschen, er wäre ihr Vater –dieser Gedanke kam Boris, als er die Bewegung auf Yuriys Stirn sah, und doch verkannte er die Warnung, die in ihr lag, vollkommen. „Anja hat mir erzählt, dass sie Oleg betrügt“, sagte Yuriy. „Aber wenn ich gewusst hätte, dass sie es mit dir treibt…“ Er schüttelte den Kopf, ohne den Blick von Boris‘ Gesicht abzuwenden. Der fühlte sich ausgeleuchtet. „Wie bist du nur auf die bescheuerte Idee gekommen, mit ihr ins Bett zu gehen?“ Bei diesen Worten durchzuckte ihn kurz das Bild von Yuriy, wie er mit Kai unter der Eingangsleuchte vor dem Haus gestanden hatte. Bei diesen Worten hörte er Irinas vergeblich unterdrücktes Stöhnen hinter der Wand. „Was interessiert dich das überhaupt?“, entgegnete er, woraufhin Yuriy die Augenbrauen hob. „Anja kann tun und lassen, was sie will, genauso, wie du und ich und jeder andere hier. Hast du mal darüber nachgedacht, wie einsam sich eine Frau fühlen kann, wenn ihr Mann sie laufend mit einem Kind und einem Haushalt alleine lässt?“ „Ach, und du bist jetzt der große Frauenversteher, oder was?“, höhnte Yuriy. „Ja, meinetwegen!“ Als Boris den leichten Spott in Yuriys Stimme gehört hatte, war Wut in seiner Brust aufgestiegen wie Säure. Yuriy schien das bemerkt zu haben, denn er löste seine lockere Haltung auf und spannte sich merklich an. Er nahm den Arm von der Sofalehne, wodurch der Abstand zwischen ihnen vergrößert wurde. Für Boris war das, als hätte er ihn persönlich beleidigt. Er sprang auf. „Und du, Yuriy Alexandrovič, was ist mit dir? Seit wann spielst du dich so auf? Hast du nicht genug damit zu tun, dein eigenes Leben in den Griff zu bekommen?“ Yuriy beugte sich leicht vor, wie ein Raubtier vor dem Sprung, und sah ihn von unten an. Obwohl Boris höher stand, fühlte er nichts von Überlegenheit. Doch das machte keinen Unterschied; nur die vielen Worte, die unausgesprochen auf seiner Zunge lagen, hinderten ihn daran, Yuriy zu schlagen. „Was hast du gesagt?“, zischte Yuriy. Automatisch ballten sich Boris‘ Hände. „Wie jetzt, hab ich da etwa einen wunden Punkt getroffen?“, stichelte er. „Ich erinnere mich an Zeiten, da hast du hier gehaust wie der letzte Penner. Und immer diese Leidensmiene, als ob du nur darauf gewartet hast, dass man dich bedauert. Anstatt mal selbst den Arsch an die Wand zu kriegen. Das hat genervt, weist du?! Das hat mich total angekotzt. –Und jetzt, wo du deinen kleinen Spielgefährten hast, willst du mir plötzlich vorschreiben, was ich zu tun oder zu lassen habe?“ Wie von selbst verzerrte sich sein Mund zu einem Grinsen. „Du bist so armselig, weist du das?!“ Das Licht grub unerbittlich jede noch so kleine Falte in Yuriys Gesicht. Seine Miene war nicht zu deuten. Warum schlug er ihn nicht endlich? Doch er stand einfach nur auf, war ganz dicht vor Boris, und sah ihn geradeaus an. „Hör auf, mit Anja zu schlafen“, sagte er. „Und jetzt verschwinde!“ Boris stieß zischend die Luft aus, dann wandte er sich um und stürmte hinaus. Er hatte keine Gedanken mehr, er wollte nur die zu Fäusten geballten Hände endlich nutzen. Das erste, was er draußen sah, war Kai, der am Treppengeländer lehnte und offensichtlich wartete, bis die Stunde, die er ihnen versprochen hatte, um war. Er blickte ihn verwundert an. „Was war denn los, Boris?“, fragte er, und erschreckend plötzlich wurde Boris klar, wie sehr er ihn hasste. Wie konnte er in dieser Situation nur so eine bescheuerte Frage stellen? Noch dazu in diesem Ton: als könne er nichts dafür. Dabei war er doch der Auslöser. Boris wünschte sich die Zeit zurück, in der Yuriys Wohnung noch leer und verlassen gewesen war, egal, was er gerade behauptet hatte. Alles war in Ordnung gewesen, als Yuriy ihn noch gebraucht hatte, als verlässliche Verbindung zur Außenwelt. „Halts Maul“, sagte Boris, und Kais Miene verdüsterte sich. „Alter, wenn du ein Problem mit mir hast…“, fing er an, doch Boris war schneller: Er holte aus und schlug nach Kai, doch der konnte knapp ausweichen, sodass seine Faust nur die Schulter traf. „Boris, was soll der Scheiß?“, rief er, während er ein paar Schritte zur Seite stolperte. Boris setzte nach und stieß ihn weg. Dann hob er wieder die Hand, denn dieses Mal wollte er wirklich treffen, doch Kai war nicht mehr da. Als Boris ihn geschubst hatte, hatte er das Gleichgewicht verloren und war hintenüber gefallen. Die Treppe hinunter. Sein erschrockener Aufschrei erreichte Boris‘ Ohren erst viel später. Plötzlich stand Yuriy neben ihm. „Was machst du hier für einen Lärm?“ Dann folgte er Boris‘ Blick. „Scheiße, verdammte!“ Und lief die Treppe hinunter. Kai setzte sich auf und stieß ein scharfes, schmerzerfülltes Zischen aus. Boris sah die beiden da unten nur schemenhaft in der Dunkelheit. Niemand hatte das Licht eingeschaltet. „Platzwunde“, hörte er Yuriy murmeln. „Wir müssen zum Arzt.“ Er wollte Kai aufhelfen, aber gerade, als er stand, knickten seine Beine weg und Yuriy schlang ihm schnell einen Arm um die Hüfte, damit er nicht wieder zu Boden sackte. Erst jetzt konnte Boris sich wieder bewegen. Wie gesteuert ging auch er nun hinunter und wollte nach Kai greifen, doch Yuriy hielt ihn davon ab. „Geh und hol Sergeij“, sagte er, „und ruf ein Taxi.“ Boris warf trotzdem noch einen Blick auf Kai. Er war kreidebleich, und Yuriy presste seinen Ärmel auf seine Stirn; dort verfärbte der Stoff sich rot. Kai schwankte. Wahrscheinlich war er ordentlich mit dem Kopf aufgeschlagen. Doch noch immer konnte Boris nicht sagen, was er fühlte. Ob es ihm Leid tat oder ob er gar geschockt war. Seit seine Wut jäh verflogen war, war er leer. Kai hatte eine leichte Gehirnerschütterung, und seine Wunde musste mit ein paar Stichen genäht werden. Sie wollten ihn über Nacht zur Beobachtung im Krankenhaus behalten. Das erzählte Yuriy ihnen, als er wieder aus dem Gebäude gekommen war. Sergeij, Irina und Boris saßen draußen auf einer Bank. Bis zu diesem Moment hatten sie sich angeschwiegen; Sergeij hatte die Entscheidung getroffen, dass es besser war, Boris nicht nach den genauen Umständen zu fragen, und Irina hielt sich an diesen Entschluss, auch wenn er unausgesprochen geblieben war. Jetzt ließ Yuriy sich neben Boris auf die Bank fallen. „Hast du Kippen?“, fragte er, und Boris wühlte kurz in seiner Tasche, bevor er ihm die Packung gab, die ihm eigentlich auch gehörte. Sergeij wartete, bis er die ersten Züge genommen hatte, bevor er fragte: „Was ist denn jetzt eigentlich passiert zwischen euch?“ Das schloss nicht nur Kai und Boris ein, sondern auch Yuriy. „Hattet ihr Streit oder so was?“ Boris schwieg beharrlich. Es wollten sich einfach keine Worte auf seiner Zunge bilden, die doch vor einer Stunde noch so voll gelegen hatte. Seltsamerweise schwieg auch Yuriy sich aus, sodass Sergeij schließlich ein missbilligendes Schnauben hören ließ. „Ihr seid manchmal solche Arschlöcher, wisst ihr das?!“ „Boris, wir müssen reden“, sagte Yuriy beinahe gleichzeitig mit Sergeijs letztem Wort. Er stand auf, und Boris verstand, dass er ihm folgen sollte. Nebeneinander gingen sie ein Stück von den anderen weg und schlugen einen Weg durch den kleinen Park ein, der zum Krankenhaus gehörte. Vereinzelt leuchteten dürre Lampen durch die schwarzen Äste der Bäume hindurch. Die Kälte biss ihm in jeden Zentimeter Haut, der nicht bedeckt war. Sie kamen an einer mit Frost überzogenen Bank vorbei, und Boris zupfte Yuriy am Ärmel und deutete auf sie. Spontan hatte er beschlossen, dass er bei diesem Gespräch nicht einfach neben dem anderen hergehen wollte, und ihm nur Blicke zuzuwerfen, die nur Bruchteile von Sekunden andauern konnten. Er wollte Yuriy ins Gesicht sehen, geradeaus, bei konstantem Licht. Sie setzten sich auf die Bank, einander zugewandt, und musterten sich eine Weile gegenseitig. „Du siehst schlecht aus“, sagte Yuriy auf einmal. Es klang beinahe erstaunt. Boris hob die Schultern. „Es geht mir auch nicht sonderlich gut“, entgegnete er, woraufhin er ein Schnauben erntete. „Das hab ich gemerkt. Was ist los?“ Jetzt drehte Boris doch den Kopf weg, sah nach oben, wo außerhalb des Lichtkreises der Laterne und zwischen den schwarzen Baumkronen nur die hellsten Sterne blitzen konnten. Er suchte nach Worten für all das, was er die letzten Tage hindurch gefühlt hatte; aber ihm war klar, dass er darin nur versagen konnte. Sein Wortschatz hatte plötzlich ungekannte Grenzen. „Es war auf einmal so anders mit euch“, begann er schließlich vorsichtig. „Dass Sergeij mit Irina zusammen ist, war am Anfang schon seltsam genug.“ Yuriy machte ein zustimmendes Geräusch. „Er hätte es uns einfach sagen können. Wir reißen ihm ja nicht den Kopf dafür ab“, meinte er. „Trotzdem. Es bleibt seltsam. Wir mussten ihn vorher noch nie mit jemandem teilen. Sergeij war immer da; und jetzt ist er es auf einmal nicht mehr.“ „Aber es ist sein gutes Recht, Boris“, sagte Yuriy leise. Boris nickte gezwungen und presste die Lippen zusammen. „Damit wär ich ja auch klargekommen“, sagte er. „Es ist erst alles so schlimm geworden, seit Kai da ist. Ich meine…ach, das wird sich jetzt bescheuert anhören!“ Yuriy schwieg. „Es hat mich geärgert, dass er überhaupt da war. Ich weiß nicht mal…doch, ich weiß warum. Ich dachte, dass, wenn Sergeij Irina hat und du Kai, ihr nur noch mit euch selbst beschäftigt sein werdet. Und dann schien Kai auch noch besser Bescheid über dich zu wissen, als ich. Wo er doch nicht einmal hier wohnt! Das hat mich so scheiße wütend gemacht. Ich war so verdammt wütend…“ Er wiederholte sich, als würde dieser Satz als Erklärung reichen. Doch es fühlte sich ganz gut an, jetzt, wo zumindest das wichtigste einmal gesagt wurde. „Naja, musst du nicht verstehen…“, nuschelte er. „Doch, ich verstehe das aber“, entgegnete Yuriy prompt. Boris sah ihn erstaunt an. „Du bist so ein Idiot“, sagte Yuriy. „Wir kennen uns schon ein Leben lang, und du traust dich immer noch nicht, es einfach auszusprechen, wenn du etwas scheiße findest. Natürlich kann ich verstehen, warum du so drauf bist. Du hattest einfach Angst, dass du Sergeij und mich an andere Leute verlierst. Aber Boris“ Und dabei sah er ihn fest an, musste wie immer ein Stück zu ihm aufblicken, obwohl Boris nie auffiel, dass Yuriy eigentlich kleiner war, als er, „Du weißt doch ganz genau, dass wir immer da sein werden.“ Nach diesem Satz hielt er inne, als müsste er selbst jetzt nach Wörtern suchen, aber für Boris hatte er schon genug gesagt. Yuriy hatte Recht. In dem ganzen Durcheinander der letzten Jahre waren sie doch immer beieinander geblieben. Wahrscheinlich würden sie es allein nicht einmal weit bringen. Und ihm fiel ein, dass selbst Yuriy, als er seine und Sergeijs Gesellschaft nicht lange hatte ertragen können, doch in ihrer Nähe geblieben war. Natürlich wusste Yuriy, wie es ihm ging. Er musste diese Situation kennen. Boris konnte nicht verhindern, dass er kurz aufstöhnte, als ihm bewusst wurde, wie idiotisch er sich verhalten hatte. Er fuhr sich übers Gesicht und durch die Haare. „Verdammt, das war so bescheuert.“ „Ja“, stimmte Yuriy zu, „und ich wäre dir dankbar, wenn du das nächste Mal den Mund aufmachst, bevor wieder irgendwer im Krankenhaus landet.“ Er stand auf und erklärte das Thema damit für beendet. Schon hatte er ein paar Schritte zurück in Richtung des Krankenhauses gemacht, als Boris ihm schnell nachlief. „Yuriy!“ „Ja?“ Er streckte den Arm aus und umarmte ihn kurz. „Danke“, murmelte er, bevor er sich wieder löste. „Sieh dir diesen Schneesturm an. Gut, dass wir gestern noch den Kühlschrank gefüllt haben. Wenn es ganz schlimm kommt, sind wir jetzt zwei Tage eingeschneit.“ Kopfschütteln trat Sergeij vom Fenster zurück und schob die Gardine vor. Draußen war nichts zu erkennen, außer wirbelndem Weiß. Die anderen hatten es sich auf dem Sofa bequem gemacht; Boris spielte mit Irina Karten und Yuriy las ein dickes Buch über Architektur, wobei er fahrig über Kais Schulter strich, weil der an ihn gelehnt döste. Er war auch der einzige, der Sergeijs Worten Beachtung schenkte, denn er hob kurz die Schultern, während er umblätterte. „Letzten Winter wars schlimmer.“ „Ja, aber da haben wir noch östlicher gewohnt. Pass auf, sonst sabbert er auf deinen Pullover.“ Yuriy sah kurz zu Kai und stieß ihn an, damit er nicht gänzlich einschlief. In diesem Moment reckte Irina beide Fäuste in die Luft, weil sie die Partie gewonnen hatte. Boris ließ sich aufseufzend nach hinten fallen. „Glück im Spiel und in der Liebe gleichzeitig geht nicht“, maulte er, „Merk dir das doch endlich!“ Irina streckte ihm die Zunge raus. „Sergeij, deine Freundin ärgert mich.“ „Dann hat sie sicher einen triftigen Grund dafür. Komm mit.“ Boris brauchte eine Weile, ehe er begriff, dass er gemeint war. „Wohin?“, fragte er argwöhnisch. „Küche“, brummte Sergeij. „Ich kann es nicht mitansehen, wie du alles, aber auch wirklich alles, was du an kochbaren Lebensmitteln anfasst, verbrennen lässt. Zum Abendbrot gibt es Rührei. Das ist leicht zu erlernen und fordert nicht einmal viel Talent. Also genau richtig für dich.“ Boris warf einen ungläubigen Blick zu Yuriy, damit der ihm bestätigte, dass Sergeij seine Worte gerade wirklich ernst gemeint hatte. Doch Yuriy richtete seine Aufmerksamkeit schnell wieder auf das Buch und tat, als habe er nichts bemerkt. Hätte da nicht der Hauch eines Lächelns in seinen Mundwinkeln gelegen. Sergeij hatte sich mit verschränkten Armen vor dem Sofa aufgebaut. Boris seufzte. „Jaja, ist gut.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)