122 Tage... von abgemeldet (122 Tage, die alles zerstörten.) ================================================================================ Kapitel 47 ---------- Tag 100 G-Dragon Durch einen plötzlichen Schmerz in meiner Hand und ein lautes Poltern geweckt, schrecke ich hoch. Es dauert einige Sekunden, ehe mir bewusst wird, dass ich wohl im Schlaf mit der Hand ausgeschlagen und dabei den Wecker vom Nachttisch gestoßen habe. Während ich sanft mit der anderen Hand die betroffene Stelle massiere, versuche ich, tief durchzuatmen, um das beklemmende Gefühl, das noch immer meinen Körper beherrscht, zu vertreiben. Können die Probleme mich inzwischen nicht einmal mehr nachts verschonen? Ist es nicht schlimm genug, dass mein normaler Tagesablauf nur noch aus Missverständnissen, Problemen und Streitereien besteht? Schon der Gedanke daran, dass mich in wenigen Stunden ein weiterer dieser Tage erwartet, an denen wir eigentlich nur von einem Problem ins nächste stolpern, lässt mich erschöpft zurück ins Kissen sinken. Nur mühsam gelingt es mir, meine Augen offnen zu halten. Beinahe bleiern drücken meine Lider sich immer wieder nach unten und irgendwie fühle ich mich zu schwach, als dass ich gegen den Druck ankämpfen könnte. Wie lange es wohl noch dauert, bis die Sonne aufgehen wird? Noch liegt das Schlafzimmer komplett im Dunkeln, scheinbar habe ich also noch nicht allzu lange geschlafen. Zumindest würde das erklären, warum ich mich noch immer völlig ausgelaugt fühle. Quälend langsam setze ich mich schließlich auf und horche in die Dunkelheit. Im Gegensatz zu mir scheinst du friedlich schlafen zu können. Obwohl ich mich nicht gerade leise verhalten habe, machst du keine Anzeichen, dich gestört zu fühlen. Nicht einmal das laute Poltern, dass der Wecker beim Aufprall verursacht hat, scheint dich aus dem Schlaf gerissen zu haben. Außer den leisen Geräuschen der Stadt, die gedämpft durch das Fenster dringen, ist das Schlafzimmer in eine tiefe Stille getaucht. Vielleicht sollte ich ein Glas Milch trinken und anschließend versuchen, noch einmal einzuschlafen? Schwerfällig befreie ich mich von der Decke und erhebe mich aus dem Bett. Für einen kurzen Moment habe ich das Gefühl, als würden meine Beine mein Gewicht nicht halten können, weshalb ich mich vorsichtig zurück auf die weiche Matratze sinken lasse. Was ist heute nur los mit mir? Natürlich - ich war schon immer ein ziemlicher Morgenmuffel und das Aufstehen ist für mich beinahe täglich ein kleiner Kampf aber so dermaßen kraft- und antriebslos fühle ich mich sonst nicht. Dabei sollte ich mich doch eigentlich glücklich schätzen - du liegst neben mir, hast mir gesagt, dass du mich liebst und wir haben uns darauf geeinigt, den gestrigen Vorfall einfach zu vergessen. Aber kann man so etwas einfach vergessen? Ist das wirklich so einfach, wie wir es uns vorstellen? Scheinbar ja schon… Würdest du ansonsten so seelenruhig neben mir liegen und schlafen? Aber warum liege ich dann wach? Schließlich war das alles sogar meine Idee. Sollte ich also nicht ebenfalls tief und fest schlafen, den Kopf an deine starke Schulter gebettet und meinen Arm über deine Brust gelegt, um dein Herz schlagen zu spüren und zu wissen, dass du noch immer hier bist? Ich atme tief durch, ehe ich mich erneut von der Bettkante abstoße und einige Schritte in Richtung Flur schleiche. Ob es dich wecken würde, wenn ich das Licht im Flur anschalte? Eigentlich wirkt es auf mich so, als würdest du tief und fest schlafen aber was, wenn der Schein trügt? Was, wenn du aufwachst und von mir wissen möchtest, warum ich mitten in der Nacht durch die Wohnung geistere? Ich wüsste nicht einmal, was ich darauf antworten sollte. Weil ich nicht müde bin? Natürlich bin ich müde. Wenn ich ehrlich bin, fühle ich mich geradezu erschlagen und würde am liebsten einfach nur auf der Stelle einschlafen und erst wieder aufwachen, wenn sich all unsere Probleme von alleine gelöst haben. Weil ich Durst habe? Eigentlich nicht wirklich. Viel eher kommt es mir so vor, als würde ich mir das lediglich einreden, um das Gefühl zu haben, dass ich einen plausiblen Grund dafür habe, im Dunklen durch den Flur zu schleichen und nicht einfach nur wach liegen zu müssen. Eine leise Stimme reißt mich aus meinen Überlegungen. Hast du etwas gesagt? Verwirrt drehe ich mich um und taste mich an der Wand entlang zurück ins Schlafzimmer, in deren Türrahmen ich schließlich stehen bleibe und in die Stille lausche. Nichts. Wahrscheinlich drehe ich allmählich wirklich durch. Meine Schläfen massierend mache ich auf dem Absatz kehrt, als erneut einige Gesprächsfetzen die Stille der Nacht durchbrechen. Woher kommen sie? Auf jeden Fall nicht aus unserem Schlafzimmer. Vielleicht vom anderen Ende des Flures? Ob der Fernseher im Wohnzimmer noch läuft? Oder streiten sich irgendwelche Jugendlichen vor unserem geöffneten Küchenfenster? Vorsichtig suche ich mir einen Weg durch den Flur, als mir auffällt, dass durch die angelehnte Küchentüre ein Lichtstrahl fällt. “… Angst, dass er daran kaputt geht… Er… er steht doch bereits so kurz vor einem totalen Zusammenbruch!” Verwirrt lasse ich die Worte auf mich wirken. Das war deine Stimme. Aber warst du nicht…? Und mit wem sprichst du überhaupt? Wer ist bei dir - jetzt, mitten in der Nacht? Immerhin bin ich mir ziemlich sicher, zu wissen, worüber ihr sprecht. Ihr unterhaltet euch über mich, scheint euch völlig ungeniert über mein allerheiligstes Privatleben auszulassen. Warum erzählst du anderen Menschen solch persönliche Dinge? Keinen außer uns geht es etwas an, wie es mir geht, wie ich mich fühle und wie es um unsere Beziehung steht. Keinen, nur uns. “Heute Morgen zum Beispiel hat er plötzlich zu Weinen angefa-…” Den Rest kann ich nicht mehr hören, will ihn auch gar nicht mehr hören. So schnell es mir ohne zu stolpern möglich ist, entferne ich mich von der Küche. Ich will nicht weiter anhören müssen, für wie schwach du mich hältst, möchte gar nicht wissen, was du sonst noch alles von mir preisgibst. Ich möchte nicht einmal mehr wissen, mit wem du sprichst. Ist das nicht auch eigentlich unwichtig? Ist es nicht völlig egal, welcher Person du so sehr vertraust, dass du mit ihr über deine geheimsten Sorgen sprechen kannst? Fakt ist, dass es eine solche Person für dich gibt und dass es sich dabei nicht mehr um mich zu handeln scheint. So geräuschlos es mir im Dunkeln möglich ist, taste ich mich an der Wand entlang, bis ich schließlich das kühle Metall des Türgriffes der Badezimmertüre in meiner Hand spüre. Eilig drücke ich ihn herunter und schlüpfe in das Zimmer. Eigentlich weiß ich nicht einmal, warum ich mich in dieses Zimmer geflüchtet habe. Vielleicht ist es die Stille. Vielleicht ist es das Wissen, dass in klaren Nächten der Mond durch das Fenster scheint und den Raum mit seinem sanften, beruhigenden Licht erfüllt. Vielleicht ist es der knapp bemessene Platz, der einem irgendwie das Gefühl von Geborgenheit vermittelt. Vielleicht ist es der große Spiegel, der gegenüber von der Türe steht und der es so wirken lässt, als wäre man nicht völlig alleine in diesem Raum. Vielleicht ist es aber auch einfach nur die Macht der Gewohnheit, die mich dazu verleitet hat, mich ins Badezimmer zu flüchten? Wie oft habe ich mich in dieses Zimmer zurückgezogen, wenn ich ein wenig Abstand gebraucht habe, wenn ich einen kurzen Moment für mich gebraucht habe um etwas zu verarbeiten, mich zu beruhigen oder einfach nur, um ungestört weinen zu können, ohne mich dafür rechtfertigen zu müssen? Wie oft saß ich mit dem Rücken an die Türe gelehnt und habe den Tränen, die ich im Laufe des Tages so tapfer zurückhalte, freien Lauf gelassen? Wie oft habe ich mein Antlitz im Spiegel betrachtet, versucht, für dich das Beste daraus zu machen oder einfach nur hilflos dabei zugesehen, wie mein Blick immer verschwommener wurde? Auch jetzt spüre ich, wie sich in meinen Augen Tränen sammeln. Beinahe trotzig reiße ich einige Blätter von der Toilettenpapierrolle ab und tupfe mir damit über die Augen. Eigentlich habe ich überhaupt keinen Grund zu Weinen. Dass du dich neuerdings ständig mit geheimnisvollen Fremden triffst, ist schließlich keine wirkliche Neuigkeit. Und auch das Gefühl, dass du für mich eigentlich nur noch Mitleid empfindest und dich lediglich noch mit mir abgibst, weil du Angst davor hast, dass ich einen endgültigen Schlussstrich nicht verkraften könnte, habe ich schon länger. Habe ich mir dieses Wissen nicht sogar zu Nutze gemacht, indem ich dir eine Erkrankung vorgegaukelt habe? Ein zynisches und bitteres Grinsen, das mein verheultes Spiegelbild geradezu grotesk und unheimlich erscheinen lässt, umspielt meine Lippen, als mir bewusst wird, dass wir uns in einem einzigen, riesigen Teufelskreis befinden. Du triffst dich mit anderen Personen - um das zu verhindern, mime ich den geschwächten Freund - weil dich das inzwischen sicher nur noch langweilt und nervt, brauchst du jemandem, dem du all deinen Frust von der Seele reden kannst - weswegen ich versuchen werde, dich mit irgendwelchen fadenscheinigen Ausreden noch fester an mich zu binden - irgendwann wirst du allerdings eine freie Minute finden und erneut Zuflucht bei dieser anderen Person suchen - und immer so weiter. Über mich selbst erschrocken presse ich meine Lippen aufeinander, als mir bewusst wird, dass ich zu Lachen begonnen habe, während ich mir vor Augen geführt habe, dass wir uns eigentlich nur noch im Kreis drehen. Doch selbst, als wieder völlige Stille im Bad herrscht, habe ich immer noch das Gefühl, als würde mein Spiegelbild mir ein verzerrtes, fratzenhaftes Grinsen zuwerfen, als würde das Lachen noch immer spöttisch und irgendwie unwirklich in meinen Ohren dröhnen, so als würde es sich über mich und die gesamte Situation lustig machen wollen. Sogar, als ich meine Hände schützend über meine Ohren lege und die Augen schließe, hört es nicht auf. Tag 100 T.O.P Irritiert blicke auf die leere Matratze neben mir. Aber lagst du nicht vorhin noch hier? Oder habe ich mich getäuscht und du hast auf dem Sofa im Wohnzimmer geschlafen? Ich lasse meine Hand vorsichtig über die Decke schweifen, die zurückgeschlagen auf deiner Matratze liegt. Nein, du hast auf jeden Fall bis vor wenigen Minuten noch hier gelegen, die Decke fühlt sich noch warm an. Wahrscheinlich bist du nur auf der Toilette. Seufzend lasse ich meinen Finger erneut über dem Knopf schweben. Ob ich das Licht wieder löschen sollte? Wenn ich Schritte um Flur höre, könnte ich das Licht ja jederzeit wieder einschalten, um dir den Weg zurück ins Bett zu erleichtern. Allerdings hast du es ja auch scheinbar geschafft, im Dunkeln das Zimmer zu verlassen. Vielleicht willst du gar kein Licht? Schließlich hast du bis eben noch geschlafen - wer wird schon gerne kurz nach dem Aufstehen geblendet? Noch während meine Hand über dem Schalter schwebt, lässt mich ein merkwürdiges Geräusch zusammenzucken. Was war das denn? Wüsste ich es nicht besser, hätte ich schwören können, jemanden lachen gehört zu haben. Irritiert schwinge ich mich aus dem Bett und versuche, den Lauten zu folgen, doch bereits nach wenigen Sekunden verstummen sie. Verwirrt spitze ich die Ohren, doch nun ist es wieder vollkommen still. Ob ich es mir nur eingebildet habe? Vielleicht war es auch einfach nur der übliche Lärm der Stadt, den ich gehört habe? Mehrere Sekunden verharre ich an der gleichen Stelle, ehe ich lautstark aufseufze und mir mit beiden Händen über die Augen reibe. Wahrscheinlich wäre es wirklich langsam an der Zeit für mich, zu schlafen. Gerade, als ich mich wieder umdrehen möchte, fällt mir auf, dass durch das Schlüsselloch der Badezimmertüre kein Licht fällt. Bist du doch nicht im Bad? Aber wo kannst du dann hingegangen sein? Neugierig durchquere ich den Flur. In der Küche kannst du nicht sein, da habe ich schließlich telefoniert. Auch das Wohnzimmer scheint verlassen zu sein. Ob du einen Moment an die frische Luft wolltest? Vielleicht bist du aufgewacht, weil du eine Übelkeit verspürt hast und hast dich zu einem kleinen Spaziergang entschlossen? Eilig schlüpfe ich in ein Paar herumliegende Turnschuhe und taste die Haken der Garderobe nach einer unserer Trainingsjacken ab. Der Gedanke, dass du alleine draußen bist, gefällt mir nicht. Ich möchte zumindest einen kurzen Blick auf dich werfen um beurteilen zu können, wie es dir geht. Ob du wohl an eine Jacke gedacht hast? Bestimmt hast du lediglich ein dünnes T-Shirt an. Erneut lasse ich meine Hände über die Haken schweifen, als plötzlich ein lautes Klirren die Stille zerreißt. “Ji-Yong, warst du das? Bist du irgendwo hier?” Ich spüre, dass ich einige der Jacken und Taschen vom Haken gerissen habe, als ich mich ruckartig in die Richtung gedreht habe, aus welcher der Krach ertönt ist, doch ich versuche nicht einmal, sie wieder ordentlich aufzuhängen. Darum kann ich mich auch kümmern, wenn ich weiß, was das gerade für ein Geräusch war. Hat sich angehört, als wäre etwas zerbrochen. Eine Flasche, ein Teller - oder ein Fenster! Ob jemand ein Fenster eingeworfen hat? Eigentlich gilt dieser Stadtteil als relativ sicher aber irgendwann muss schließlich immer das erste mal sein. Hektisch stolpere ich über die herumliegenden Jacken, als plötzlich erneut ein lautes Geräusch die Stille der Nacht durchbricht, dieses mal allerdings eher ein dumpfes Poltern, kein Klirren. Außerdem bin ich mir dieses mal ziemlich sicher, dass es aus dem Bad gekommen ist. Aber warum sollte jemand durch das Badfenster in unsere Wohnung einbrechen? Das Fenster ist ziemlich klein, sich hindurch zu quetschen wäre sicher mit großen Anstrengungen verbunden und nur wenige Meter daneben befindet sich das große Küchenfenster, das wir über Nacht sogar meist gekippt lassen, um ein wenig zu lüften. Ob es leichtsinnig wäre, einfach die Badezimmertüre zu öffnen und selbst nach dem Rechten zu sehen? Eine Person, die zierlich genug ist, um durch das kleine Fenster zu klettern, sollte eigentlich keine allzu große Gefahr für mich darstellen aber andererseits kann man ja nie wissen, ob diese Person eine Waffe bei sich trägt. Allerdings hätte ich den Überraschungsmoment auf meiner Seite, wenn ich einfach die Türe aufreiße und den Täter auf frischer Tat ertappe. Tief durchatmend lege ich meine Hand auf den kühlen Türgriff. Ich stoße ein erstauntes Geräusch aus, als mir bewusst wird, dass etwas - oder wohl eher jemand - die Türe zuhält. So viel also zum Thema Überraschungsmoment, wirklich super. Noch während ich mich und meinen Übermut verfluche und mich gedanklich auf das Schlimmste gefasst mache, wird mir bewusst, dass die andere Person scheinbar gar nicht wirklich versucht, mich am Hineinkommen zu hindern. Sie blockiert zwar die Türe, allerdings drückt sie nicht wirklich dagegen. Erleichtert wird mir klar, dass es sich wahrscheinlich wirklich nur um einen halbstarken Jugendlichen handelt, wahrscheinlich ein Ausreißer, der sich einfach nur kurz aufwärmen wollte und nun, da er ertappt wurde, nicht weiß, was er tun soll. Noch ein letztes mal tief durchatmend stemme ich mich mit ganzer Kraft gegen die Türe. “Was zum…?! … oh Gott! Alles in Ordnung? Das tut mir so leid… Ji-Yong? Ji-Yong, steh doch auf… Sag etwas!” Erschrocken lasse ich mich neben dir auf den Boden sinken und tätschle sanft über deine bleiche Wange, doch du machst keine Anzeichen, die Augen zu öffnen. Regungslos liegst du noch immer in der gleichen Position, in der ich dich vor wenigen Sekunden vor der Türe aufgefunden habe. Ob du gestürzt bist und bereits seit Längerem vor der Türe liegst? Oder hat erst mein energisches Drücken dich zu Boden geworfen? Noch ehe ich mir darüber Gedanken machen kann, ob ich zu unüberlegt gehandelt habe, reißt dein leises Stöhnen mich zurück in die Gegenwart. “Oh, Gott sei Dank… … Ist… ist alles in Ordnung? Geht es dir gut?” “W-warum…? Mein Kopf…! Das Lachen… … d-der Spiegel! Was…? Au…” Lachen? Spiegel? Ich werfe dir einen verwirrten Blick zu, während du dich langsam aufrappelst und mit schmerzverzerrtem Gesicht zurückzuckst, als du dich mit der Hand vom Boden abstoßen möchtest. Ob du dich beim Sturz am Handgelenk verletzt hast? Vorsichtig helfe ich dir, dich aufzusetzen, ehe ich mich erhebe, um das Licht einzuschalten. Es dauert keine drei Sekunden, ehe mir bewusst wird, warum deine Hand dir weh tut. Ein dünnes Blutrinnsal läuft deinen Arm entlang und tropft schließlich auf den Boden, der irgendwie merkwürdig glitzert. Sind das Glasscherben? “Achtung, pass auf! Hier liegen überall Glasscherben… Oh, der Spiegel - das meintest du…? Was ist passiert?” Als wüsstest du selbst nicht, wie du es mir in Worten erklären könntest, zuckst du lediglich mit den Schultern und senkst den Blick, während ich ein Handtuch um deine Hand wickle und mich anschließend aufrichte, um mir einen besseren Überblick über das angerichtete Chaos verschaffen zu können. Vorsichtig suche ich mir einen Weg durch das Scherbenmeer und bringe den umgeworfenen Standspiegel wieder in eine aufrechte Lage, doch bereits ein kurzer Blick macht deutlich, dass es hier mit ein bisschen Kleber nicht getan ist und wir uns wohl um einen Ersatz kümmern müssen. “Ich bin gestolpert… Aber i-ich bringe das wieder in Ordnung! Ich bringe das… Ich… …” “Nein, lass nur… Ich mach das! Gestolpert? Einfach so? Oder war dir schwindlig? Hattest du wieder einen Schwächeanfall so wie gestern Morgen?” “Schwä-…? Oh… Ja, das… das wird es wohl gewesen sein…” Stammelnd sammelst du ein paar der größeren Bruchstücke auf, während ich einige der kleineren Scherben vorsichtig mit dem Fuß zur Seite kehre, um zumindest den Weg zur Toilette einigermaßen betretbar zu machen. Immer wieder fallen einige von ihnen leise klirrend aus deinen zitternden Händen. Vorsichtig nehme ich dir auch die wenigen Scherben, die du noch in der Hand hältst weg, um zu verhindern, dass du dich erneut an ihren scharfen Kanten schneidest. Tag 100 G-Dragon Wenn ich ehrlich bin, weiß ich selbst nicht, was eigentlich wirklich passiert ist. Ich erinnere mich noch an das Lachen, daran, dass ich es nicht mehr ertragen habe. Ich weiß noch, dass ich den Spiegel umgeworfen habe und dass das höhnische Gelächter dennoch nicht verstummt ist, dass es einfach weiter gemacht hat, obwohl ich meine Ohren so fest ich konnte zugedrückt habe. Die restlichen Erinnerungen sind verworren und irgendwie unwirklich. Ich bin mir nicht einmal mehr sicher, ob diese Bruchstücke überhaupt der Wahrheit entsprechen. Ich erinnere mich lediglich noch an einen dumpfen Schmerz in meinem Kopf und dann war es plötzlich still, bis ich schließlich vor wenigen Minuten auf dem Fußboden aufgewacht bin. Aber so werde ich es dir ganz sicher nicht erzählen. Du würdest mich ja für einen vollkommenen Psychopathen erklären, wenn ich dir solch eine Geschichte auftische. “Ich bin gestolpert… Aber i-ich bringe das wieder in Ordnung! Ich bringe das… Ich… …” Ich verstumme und widme meinen Blick dem Fußboden, auf dem die Einzelteile des Spiegels verstreut liegen. Wenn ich jetzt mit dieser brüchigen Stimme herumstottere, hätte ich dir auch gleich die Wahrheit sagen können, das hätte auch nicht jämmerlicher gewirkt. Außerdem macht es überhaupt keinen Sinn, wenn ich immer und immer wieder den gleichen Satz sage. Vor allem, weil er bereits beim ersten mal völliger Schwachsinn war. Man muss nun wirklich nicht in einer Glaserei angestellt sein, um zu bemerken, dass es für diesen Spiegel keine Rettung mehr gibt. Dennoch sammle ich einige der Scherben ein, obwohl sie immer wieder vor meinen Augen verschwimmen. “Nein, lass nur… Ich mach das! Gestolpert? Einfach so? Oder war dir schwindlig? Hattest du wieder einen Schwächeanfall, so wie gestern Morgen?” “Schwä-…? Oh… Ja, das… das wird es wohl gewesen sein…“ Welch Ironie, dass ausgerechnet eine Lüge mir nun aus der Patsche hilft. Natürlich - der erfundene Schwächeanfall von gestern, der lediglich dazu dienen sollte, dass du dich nicht traust, mich alleine zu lassen. Beinahe hätte ich erleichtert aufgelacht, als mir klar wird, dass an dieser Situation eigentlich überhaupt nichts lustig ist. Dennoch kann ich nicht verhindern, dass ich dankbar dafür bin, dass ich mir nun keine Ausrede einfallen lassen muss. Um ehrlich zu sein, bezweifle ich, dass ich überhaupt dazu in der Lage gewesen wäre, mir eine weitere Lüge auszudenken. Mein gesamter Körper fühlt sich noch immer völlig kraftlos an und in meinem Kopf herrscht völlige Leere, wahrscheinlich wäre außer sinnlosem Gestammel sowieso keine anständige Erklärung zustande gekommen. Auch auf dich scheine ich noch ziemlich angeschlagen zu wirken, da du aufhörst, die kleineren Glasteilchen mit dem Fuß aufzukehren und dich stattdessen zu mir auf den Boden sinken lässt und mir sanft aber fordernd die wenigen Glasscherben, die ich bereits aufgesammelt habe und die nicht wieder zu Boden gefallen sind, aus meiner Hand nimmst. “Leg dich lieber wieder hin… Wir räumen einfach auf, wenn wir ausgeschlafen sind. Sieh doch, wie deine Hand zittert… und ganz bleich bist du auch noch! Ich schau mir schnell den Schnitt an deiner Hand an und dann legst du dich hin. Oder willst du gleich noch einmal umkippen?” Ich schüttle mit dem Kopf, während du mir vorsichtig aufhilfst. Sofort breitet sich ein Schwindelgefühl in meinem gesamten Körper aus, das auch nach wenigen Sekunden nicht abflaut. Obwohl du dir Mühe gibst, mich bestmöglich zu stützen, kostet es mich unheimlich viel Kraft, mich auf den Beinen zu halten. Am liebsten würde ich mich einfach wieder zurück auf den Boden sinken lassen und dort schlafen. Auch das unangenehme Brennen in meiner Hand, das du verursachst, als du das Handtuch von der Schnittstelle nimmst, trägt nicht gerade dazu bei, dass ich mich wohler in meiner Haut fühle. “… Glück gehabt!” “Hm…?” “Ist nur ein minimaler Schnitt… Nicht viel schlimmer, als hätte dich ein kleines Tier gekratzt. Das sah viel schlimmer aus, als es wirklich ist. Ich tupf es nur kurz ab und kleb dann ein Pflaster darüber, okay? Nicht erschrecken, wenn es jetzt kurz brennt!” Ich bin mir nicht wirklich sicher, ob ich alles richtig verstanden habe aber ich nicke dir dennoch zu. Dein Blick wirkt erleichtert, also wird es schon nichts Schlimmes gewesen sein. Ich bin einfach zu müde, als dass ich dich darum bitten könnte, dich zu wiederholen. Ich lasse dich einfach machen, halb am Waschbecken abgestützt und halb in deinem Arm hängend, der mich jedes mal behutsam auffängt, wenn ich für einen kurzen Moment die Kraft verliere, mich selbst zu halten. “So… Tat doch gar nicht so arg weh, oder? Bis du ausgeschlafen bist, sollte das Pflaster auch auf jeden Fall halten und sobald du wieder wach bist, lassen wir einen Arzt kommen… Und keine Widerworte, du hast es mir versprochen! Also… meinst du, du schaffst den Weg ins Schlafzimmer, wenn ich dich halte?” Ich werfe dir einen verständnislosen Blick zu. Doch, weh, Pflaster, wach, Arzt, keine, versprochen, schaffst, Schlafzimmer… beinahe fühle ich mich, als würden die vielen Wörter mich erschlagen. Warum kannst du mich nicht einfach loslassen, damit ich mich wieder auf den Boden sinken lassen kann? Wo ist der Unterschied, ob ich hier oder im Bett schlafe? Und warum einen Arzt? Ich will nicht zum Arzt! Scheinbar verstehst du meinen erschrocken Blick falsch, da du den Griff um meine Hüfte noch ein wenig mehr verstärkst und mich eindringlich anblickst. “Du brauchst keine Angst zu haben, dass du stürzen könntest… Ich halte dich doch! Ich lass dich auch ganz sicher nicht los, ehe du nicht sicher im Bett liegst. Oder soll ich lieber gleich einen Arzt rufen? Der könnte sich dann auch gleich deine Hand noch einmal genauer ansehen und wüsste vielleicht auch etwas gegen deine Erkältung…?” Warum sprichst du ständig von einem Arzt? Ich möchte nicht untersucht werden! Und schon gar nicht, wenn du zuvor mit dem Arzt sprichst und ihm erzählst, dass ich angeblich an Fieber, Schnupfen, Schwächeerscheinungen und sonstigen Dingen leide, die ich mir lediglich ausgedacht habe. Jeder halbwegs geschulte Doktor würde diese Lügen sicher sofort durchschauen und dir erklären, dass ich dich die ganze Zeit über nur getäuscht habe. Nein, auf keinen Fall sollst du es so erfahren! Ich möchte es dir selbst beichten, möchte zumindest den Hauch einer Chance haben, es dir zu erklären. “Alles in Ordnung? Du bist so blass… Kipp bloß nicht noch einmal um! Du musst mir Bescheid sagen, wenn dir schwindlig wird!” “K-kein Arzt…” “Och man, Ji-Yong… Es war abgemacht, dass wir einen Arzt alarmieren, wenn es bis heute nicht besser wird. Du hast es mir versprochen! Außerdem sehe ich doch, wie miserabel es dir geht… Du kannst dich kaum auf den Beinen halten. Ich bring dich jetzt ins Bett und dann rufe ich einen Arzt, ganz egal, ob du das willst oder nicht!” Ich spüre, dass du versuchst, deine Hand so zu platzieren, dass du mir den bestmöglichsten Halt bieten kannst, fühle, dass du anschließend behutsam aber dennoch fordernd versuchst, mich zum Gehen zu bewegen aber ich bin wie gelähmt. Habe ich das gerade richtig verstanden? Hast du gesagt, dass du auf jeden Fall einen Arzt anrufen wirst? Oder war es anders gemeint? Aber was ist, wenn du tatsächlich in wenigen Minuten einen Doktor alarmieren wirst und dieser alles offenbart? Alles wäre verloren! Ich kann spüren, dass mein Herz zu rasen beginnt, dass sich Tränen in meinen Augen sammeln aber verhindern kann ich es nicht. Auch dir scheint dies nicht zu entgehen, da das fordernde Ziehen wieder nachlässt. “Ich meine es doch nur gut… Jetzt komm schon…” “D-dann… dann bitte… bitte k-keinen Arzt… Bi-bitte!” “Aber du musst zum Arzt, versteh das doch… Glaub mir, danach geht es dir viel besser, wirst du schon sehen… Und jetzt Schluss mit dieser Diskussion! Ich weiß, du wirst jetzt dann gleich gewaltig sauer sein aber wenn es dir erst wieder gut geht, wirst du mich verstehen…” Noch während ich überlege, was du damit meinst, spüre ich, wie du mich behutsam anhebst und vorsichtig einen Weg durch die herumliegenden Glasscherben suchst. Du kannst mich doch nicht einfach…?! Was soll das denn? Fassungslos mobilisiere ich meine letzten Kraftreserven und versuche, mich aus deinen Armen zu winden, ehe ich mich erschöpft wieder sinken lasse. Du kannst mich doch nicht einfach wie ein kleines Kind behandeln, das man einfach nach Lust und Laune herumtragen, ins Bett bringen und herumkommandieren kann! Wenn ich keinen Arzt sehen möchte, kannst du mich doch nicht einfach dazu zwingen. Doch natürlich ist mir bewusst, dass du das sehr wohl kannst. Wie sollte ich dich daran hindern? Du wirst mich bis ins Bett tragen, mich dort hineinlegen und zudecken, anschließend dein Telefon holen und nicht von meiner Seite weichen, bis der Arzt gekommen ist - mal vollkommen davon abgesehen, dass ich nicht gerade das Gefühl habe, als wäre ich dazu in der Lage, abzuhauen, sobald du mich eine Sekunde aus den Augen lässt. Es gibt absolut nichts, das dich davon abhalten könnte. Der Arzt wird dir alles erzählen. Er wird dir jede noch so kleine Lüge offenbaren. All die Sorgen, die netten Worte, die liebevollen und fürsorglichen Taten - er wird dir sagen, dass du das alles völlig umsonst gemacht hast. Du wirst so wütend sein, wirst völlig ausrasten. Ob es noch etwas an der Lage ändert, wenn ich jetzt sofort mit der Wahrheit herausrücke, ehe der Doktor es tun kann? Ob du dann wohl weniger böse auf mich wärst, wenn ich es dir selbst beichte und du es nicht von jemand anderem erfahren musst? Aber wie soll ich anfangen? Was sind die richtigen Worte, um ein solches Gespräch einzuleiten? Wenn doch nur mein Kopf nicht so furchtbar leer wäre… Wenn mir nicht gleich etwas einfällt, wird es zu spät sein. Es wird einfach zu spät sein. Immer und immer wieder gehen mir diese Worte durch den Kopf, legen sich wie eine Schlinge um meinen Hals, die mit jedem mal, wenn ich die Worte denke, enger und enger wird, mir beinahe die Luft zum Atmen nimmt. Ich würde einfach nur im Bett liegen und zusehen müssen, wie alles kaputt geht, was mir etwas bedeutet. Das hier ist die letzte Chance für mich, es selbst zu beichten, dann wäre es zu spät, einfach zu spät. “Jetzt bist du sauer auf mich, nicht wahr? Natürlich bist du sauer, war ja klar… Aber du darfst dich nicht so aufregen! Du zitterst ja schon vor Wut… Und wie schnell dein Herz klo-… Oh!” Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)