122 Tage... von abgemeldet (122 Tage, die alles zerstörten.) ================================================================================ Kapitel 22 ---------- Tag 86 T.O.P “Sie wirken so nachdenklich heute. Möchten Sie über das, was Sie beschäftigt, mit mir sprechen?” Der Herr, der mir gegenübersitzt, schiebt seine Brille ein Stückchen nach unten, um mich mit neugierigen Augen mustern zu können. Was erwartet er von mir? Dass ich ihm dankbar um den Hals falle, weil er sich angeblich für meine Probleme interessiert? Dass ich ihm mein Herz ausschütte und ihn um seine Hilfe anflehe? Davon, dass er nickt und sich Stichworte auf seinem Notizblock notiert, wird unsere Beziehung auch nicht gerettet. “Es ist nichts.” “Nun gut… Ich kann Sie nicht zwingen, mir etwas über sich zu erzählen. Allerdings müssen wir die Zeit irgendwie ausfüllen.” Ich nicke und lasse meinen Blick auf die Uhr schweifen. Erst fünf Minuten sind vergangen und der Psychiater hat zu Beginn der Sitzung verlauten lassen, dass das heutige Treffen etwa eine Stunde andauern wird. “Hätten Sie Interesse daran, dass wir darüber sprechen, wie Sie Wut unterdrücken können?” “Ich habe doch schon gesagt, dass das damals ein Ausrutscher war.” “Das weiß ich doch. Aber nehmen wir an - ganz theoretisch nur - Sie hätten erneut ein solches Problem. Wäre es nicht gut zu wissen, wie Sie gegen Ihre Gefühle ankämpfen können?” Ein aufgesetztes Lächeln ziert die Lippen des Psychologen, während er Stift und Notizblock zur Seite legt und mit seinem Stuhl ein Stückchen näher an mich heran rückt. “Versuchen Sie, sich zurück in die Situation zu versetzen. Was fühlen Sie?” “Ähm…” “War es, als würde Ihnen jemand die Luft zum Atmen nehmen? Haben Sie einen starken Druck in Ihrem Inneren gespürt und hatten Sie das Gefühl, als würden Sie jeden Moment explodieren?” “Kann sein… Ich weiß es nicht, ist blöd zu beschreiben.” Ein leises Seufzen entfährt dem Mund des älteren Mannes, ehe er sich von seinem Stuhl erhebt und sich vor mich stellt. “Verstehen Sie nicht, dass ich Ihnen helfen möchte? Warum machen Sie es mir so schwer?” “Ich habe mehrmals gesagt, dass ich keine Hilfe brauche… Ich bin nur hier, weil die Richterin es angeordnet hat. Ich komme zu den Sitzungen, höre mir Ihr Gerede an und werde anschließend mein ganz normales Leben weiterleben.” “Wenn Sie das so sehen…” Kopfschüttelnd geht der Psychologe zu dem Regal, das hinter seinem Schreibtisch platziert ist und zieht ein dünnes Buch heraus. Mit einigen geschickten Handgriffen blättert er es durch, bis er schließlich auf der Seite landet, die er scheinbar gesucht hat. Während ich erneut auf die Uhr blicke und hoffe, dass die Zeit bald vorbei ist, drückt er mir das Buch in die Hand. “Ich wüsste nicht, warum ich meine Zeit damit verschwenden soll, mit Ihnen zu sprechen, wenn Sie gar kein Interesse daran haben, dass Ihnen geholfen wird. Ich schlage vor, dass Sie dieses Kapitel lesen, bis die Stunde vorbei ist…” Irritiert lasse ich meinen Blick über die Seite schweifen - “Abbau aggressiver Gefühle”. Ich blicke den Psychologen fragend an, erwarte, dass er gleich etwas dazu sagt, doch er geht einfach zurück an seinen Platz, setzt sich hin und beginnt, in seinen Patientenakten zu blättern. Ein drittes mal fällt mein Blick auf die Uhr. Noch immer mehr als zwanzig Minuten. Seufzend beginne ich, ein paar der Tipps zu überfliegen. Die meisten davon erscheinen mir völlig lächerlich. Einen eiskalten Waschlappen ins Gesicht drücken, versuchen, laut ein Gedicht rückwärts vorzutragen oder eine Prise Salz auf der Zunge zergehen lassen. Welche Idioten haben diesen Mist verfasst? Wenn mich jemand beleidigt, renne ich sicher nicht erst in die Küche und salze meine Zunge, ehe ich antworte. Lediglich ein paar der Vorschläge kommen mir zumindest einigermaßen hilfreich vor. In Gedanken bis zehn zählen und versuchen, sich an glückliche Momente zu erinnern. Nach einer gefühlten Ewigkeit unterbricht mich der Psychologe endlich. “Vielleicht überlegen Sie sich bis nächstes mal, ob Sie nicht ein bisschen kooperativer sein möchten…?” “Mal sehen… Wiedersehen.” Tag 86 G-Dragon ”[…] kommt es aufgrund eines Verkehrsunfalls zu zähfließendem Verkehr und einigen Staus. Deshalb sollten Sie diesen Bezirk noch mindestens für die nächste halbe Stunde meiden. Und für die, die bereits mit ihrem Wagen im Stau stehen, kommt nun “Sorry Sorry” von Super Junior. Gute Fahrt!” Noch ehe die ersten Töne des Liedes erklingen, habe ich das Radio ausgeschalten und meinen schmerzenden Kopf genervt auf dem Lenkrad gebettet. Wäre ja auch zu schön gewesen, wenn einmal etwas geklappt hätte. Ich wollte einfach nur kurz in die Stadt fahren, ein paar Lebensmittel kaufen und anschließend schnell wieder nach Hause fahren, doch stattdessen stehe ich nun seit fast einer Stunde im Stau. Hinter mir ertönt ein lautes Hupgeräusch. Eilig hebe ich den Kopf und fahre ungefähr einen, vielleicht auch zwei Meter weiter, ehe der Verkehr erneut stockt. Ich winke entschuldigend in den Spiegel, um meinem Hintermann zu zeigen, dass ich von nun an aufmerksamer sein werde und beschließe, meinen Kopf nun oben zu halten. Wenn ich zumindest etwas zu Trinken im Auto hätte. Hätte ich vorhin gewusst, wie lange der Einkauf dauern würde, hätte ich vor der Abfahrt die Medikamente eingenommen, die du mir gebracht hast. Ob du wohl schon zu Hause bist? Mein Blick schweift auf die Uhr - 12:09 Uhr. Wahrscheinlich bist du gerade auf dem Heimweg. Hoffentlich bist du schlau genug und läufst, statt in eine der Straßenbahnen zu steigen, sonst würdest du früher oder später auch im Stau stecken bleiben. Erneut fahre ich wenige Meter weiter. Ob ich versuchen soll, bei der nächsten Möglichkeit abzubiegen oder zu wenden? Schließlich kenne ich mich hier aus. Aber ob die anderen Fahrer nicht die selbe Idee haben werden? Dann würde ich schon wieder im Stau stehen, nur in einer anderen Straße. Die nächste halbe Stunde verbringe ich damit, immer wieder ein paar Meter zu fahren, mir die Nase zu putzen und alle paar Minuten auf die Uhr zu sehen, ehe sich der Stau endlich lockert und die Fahrt zumindest einigermaßen flüssig möglich ist. So schnell es mir möglich ist, fahre ich zu unserer Wohnung und stelle den Wagen vor der Einfahrt ab. Hoffentlich bin ich vor dir zu Hause und habe noch ein bisschen Zeit, um mit dem Kochen anzufangen. Eilig packe ich die Einkaufstasche und steige die Treppen hinauf, die zu unserer Wohnung führen. Sobald ich die Wohnung betreten habe, sehe ich mich um. Deine Schuhe stehen nicht vor der Türe und kein Geräusch dringt an meine Ohren, scheinbar bist du wirklich noch nicht zurück. Erleichtert ziehe ich meine Jacke aus, hänge sie an den Kleiderhaken und schlüpfe aus den Schuhen. Am liebsten würde ich mich einen Moment hinlegen aber der Stau hat meine Zeitplanung bereits ziemlich durcheinander gebracht und eine weitere Verzögerung kann ich mir nicht leisten. Gähnend ziehe ich die Tasche hinter mir her, während mein Blick auf die Tüte mit den Medikamenten fällt, die du mir heute Morgen gebracht hast. Es wäre sicher gut, wenn ich sie einnehmen würde, ehe ich zu kochen beginne. Als ob mein Körper mir beipflichten möchte, ergreift mich ein heftiger Hustenreiz, der in meinem Hals das Gefühl hinterlässt, als hätte diesen jemand mit Schleifpapier bearbeitet. Seufzend lasse ich die Tasche sinken und greife nach der kleinen Tüte, aus welcher ich die Schachteln herausholen möchte, als mich plötzlich jemand von hinten packt und herumwirbelt. “Ich sagte, du sollst hier bleiben… WO WARST DU?!” Tag 86 T.O.P So schnell es mir möglich ist, eile ich die Straßen entlang, um möglichst schnell wieder bei dir sein zu können. Wenn ich dir keine Zeit gebe, um dich mit deinem neuen Freund zu treffen oder zu unterhalten, kann eure Liebe nicht sprießen und du bist gezwungen, dich erneut in mich zu verlieben. Also muss ich lediglich dafür sorgen, dass wir immer zusammen sind oder die Momente, in denen einer von uns etwas zu erledigen hat, möglichst kurz sind. Beinahe rennend erreiche ich schließlich die Wohnung. Was du wohl gerade machst? Wahrscheinlich liegst du vor dem Fernseher und isst Süßigkeiten. Dabei solltest du eigentlich viel mehr im Bett liegen und dich auskurieren. Leise schließe ich die Türe auf und betrete die Wohnung. Falls du vernünftig bist und dich tatsächlich ein bisschen hingelegt hast, will ich dich nicht aufwecken. “Ji-Yong?” Leise, gerade laut genug, dass du mich hören könntest, wenn du den Fernseher nicht zu laut geschalten haben solltest, sage ich deinen Namen in die Stille und verweile einen Augenblick. Nichts passiert, scheinbar hast du dich wirklich Schlafen gelegt. Seufzend gehe ich zum Schuhschrank, um meine Schuhe abzustellen, als mir auffällt, dass deine Schuhe fehlen. Hast du sie irgendwo anders hingelegt? Aber eigentlich bist du ziemlich ordentlich, zumindest, was deine Klamotten angeht. Ob du…? Ein kurzer Blick auf den Kleiderhaken bestätigt meine Befürchtung. Deine Jacke hängt nicht dort, wo sie hängen sollte. Ein beklemmendes Gefühl macht sich in mir breit, während ich die einzelnen Zimmer nach einem Notizzettel oder einer kurzen Nachricht von dir absuche, in welcher du mir versicherst, dass du nur kurz zum Arzt gegangen und gleich wieder zurück bist, doch nichts dergleichen fällt mir auf. Mit zittrigen Fingern ziehe ich mein Handy aus der Hosentasche und wähle deine Kurzwahl, doch bereits nach wenigen Sekunden lässt ein lautes Klingeln mich erkennen, dass dieser Versuch, dich zu erreichen, sinnlos sein würde. Du hast dein Handy nicht mitgenommen. Entweder, du hast es vergessen oder du willst schlicht und einfach nicht, dass ich dich anrufen kann. Mit einem wütenden Aufschrei packe ich dein klingelndes Mobiltelefon und werfe es gegen die Wand. Was soll ich ohne dich tun? Schon alleine die Vorstellung, dass das eben das letzte mal gewesen sein soll, dass ich dich in meinen Armen gehalten habe, bringt mich beinahe um. Noch immer ertönt aus deinem Handy das klingelnde Geräusch, inzwischen allerdings mit einem leicht verzerrten Unterton. Beinahe mechanisch klicke ich bei meinem Telefon auf ‘Abbruch’, ehe ich mich neben deinem auf den Boden sinken lasse und mein Gesicht in die Hände sinken lasse. Ich weiß nicht, wie lange ich auf dem Boden gesessen, dein kaputtes Handy in den Händen gehalten und versucht habe, die Bilder, die sich in meinen Kopf eingeschlichen haben, zu vertreiben. Ich möchte mir nicht vorstellen, wie du jetzt gerade im Moment in den Armen eines Anderen liegst oder diesen küsst. Ich möchte nicht daran denken, dass alles vorbei ist. Erst, als ich ein lautes Husten im Flur höre, erwache ich aus meiner Starre. So schnell es mir möglich ist, rapple ich mich auf und stürze auf den Flur. Es dauert einige Sekunden, ehe mein Gehirn verarbeiten kann, was meine Augen sehen. Du stehst im Flur, hast mir den Rücken zugewandt und scheinst mich noch nicht gehört zu haben. Ich weiß nicht, ob ich glücklich, erleichtert oder einfach nur wütend sein soll. Glücklich, dass du wieder hier bist, erleichtert, dass du dich scheinbar dazu entschlossen hast, mich noch nicht zu verlassen oder wütend, weil du die Dreistigkeit besitzt, dich scheinbar ständig hinter meinem Rücken mit einer anderen Person zu treffen. Fester als eigentlich beabsichtigt, packe ich dich an den Schultern und drehe dich in meine Richtung. Du gibst ein erschrockenes Geräusch von dir und siehst mich überrascht an. Überrascht oder ertappt? “Ich sagte, du sollst hier bleiben… WO WARST DU?!” Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)