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Ich glaube, dass ich schon lang nicht mehr so hyperaktiv war wie an diesem Tag. Das Grinsen wollte nicht aus meinem Gesicht verschwinden, als ob ich geistig leicht behindert wäre oder so. Franky stand neben mir und leckte an einem Eis. Die Sonne war unheimlich knallig und stark heute, ich stellte mir vor, wie sie mir ganz cool mit ihrer Sonnenbrille entgegengrinste und das Peace-Zeichen zeigte. Wie spät es wohl war? Entschlossen haute Franky mir auf den Arm.
„Du hast eben erst auf die Uhr geguckt. Mach mich nicht nervös.“
„Schweig still, erbärmlicher Statist!“, sagte ich mit erhabener Stimme.
Franky hatte mir damit in den Ohren gelegen, dass er unbedingt Fotos machen wollte. Nichts würde lebendiger und schöner aussehen als zwei sich liebende Menschen, die sich nach langer Zeit wiedersehen, hatte er gesagt. Oder irgendeinen ähnlichen Quatsch.
„Ich stell’s auch nicht auf meinen Blog“, grinste er.
Den hatte er mittlerweile sowieso gelöscht, aber nicht, ohne vorher alle Texte abzuspeichern. Dass ich ihm viele davon immer noch fast auswendig hätte aufsagen können, blieb mein Geheimnis. Auch Max würde ich nichts davon erzählen, schließlich wurde er weiterhin ein wenig patzig, wenn es um Franky ging. Ich war aber zuversichtlich, dass sich das legen würde. Der einst unerreichbare, schöne Junge aus der Parallelklasse war zu einem meiner besten Freunde geworden. Durch ihn hatte sich mein gesamtes soziales Umfeld rasch verbessert, denn Frankys Freunde waren auch meine Freunde, sagten sie zumindest, und ein paar von ihnen waren auch echt nett.
Als Franky grade zwei Mädchen mit bunten Haaren und aufwendigen Klamotten nachschaute, erhaschte ich einen schnellen Blick auf die Uhr. Der Zug müsste laut Plan seit zwei Minuten eingetroffen sein. Doch da hörte ich plötzlich eine tief betroffene Stimme durch die Halle sagen… Nein, Spaß. Diesmal meinte es das Schicksal gut mit uns. Als er dieselbe Treppe wie damals – damals, wie sich das anhörte. Es war grad mal einen Monat her – hochkam, war es ein bisschen wie ein Déjà-vu. Nur, dass er sich mit einem viel größeren Koffer abzurackern hatte und sich nicht suchend umblicken musste, um mich zu finden. Das Maxgrinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus und der große Koffer fiel zu Boden, als er auf mich zu rannte.
Momentan möchte ich mich einfach nur zurücklehnen und die Zeit genießen. Es steht noch nicht fest, ob Max tatsächlich zu seinen Großeltern geht, aber besucht hat er sie schon, und seine einzige Sorge ist, dass sie ihn mästen werden wie verrückt. Doch auch, wenn er es nicht zugibt, weiß ich, dass es ein paar Dinge gibt, die er nicht so leicht zurücklassen kann. Jen zum Beispiel. Oder seine Mutter. Ich dränge ihn nicht, höre mir seine Sorgen und Gedanken an und werde ihn selbst entscheiden lassen. Aber persönlich bin ich der festen Überzeugung, dass ihn das Leben dort nur kaputt macht. Dass er einen Ort braucht, an dem er so viel über Verschwörungstheorien, Schokolade oder Löwenzahn reden kann, wie er will. Und dass ich ihn genauso brauche.
Ich meine, klar, manchmal muss ich mich noch an die Blicke der Leute gewöhnen. Ich glaube, selbst, wenn wir einfach nur Freunde wären, würden sie ständig blöd gucken, weil Max, liebevoll gesagt, teilweise echt einen an der Klatsche hat. Wenn wir zum Beispiel in der Stadt sind und an breit grinsenden Straßenmusikern vorbeilaufen, die auf mir unbekannten Instrumenten orientalisch anmutende Musik spielen, und er plötzlich anfängt, dazu abzugehen wie ein Verrückter, und ich ein wenig blöd neben ihm stehe… Dann muss ich mich schon zusammenreißen. Bis auf einmal andere Typen grölend dazu springen und Max es geschafft hat, mal eben einen Mosh-Pit in der Innenstadt entstehen zu lassen.
Oder als er mich in ein Schuhgeschäft gezogen hat und sich erst mal ganz lange über meine kleinen Füße lustig gemacht hat. Bis er auf die geistreiche Idee kam, mich High-Heels anprobieren zu lassen, wobei ich aber doch anmerken muss, dass ich mich erst sehr tapfer gewehrt habe. Und dann stand ich da in diesen roten strassbesetzten Riemchenschuhen, beziehungsweise versuchte es zumindest. Ich fühlte mich so schon blöd genug, aber zu allem Überfluss kam auch noch diese Verkaufstante angewackelt und wies uns dezent darauf hin, dass dies Frauenschuhe seien. Da nahm Max die Hände in die Hüften und stellte sich beschützend vor mich.
„Also hören sie mal“, begann er pikiert und schaffte es, gerade so nasal zu reden, dass es echt und nicht lächerlich wirkte. „Wir sind hier in einem freien Land und wenn mein Freund für sein neustes Kleid auch die zugehörigen Schuhe braucht, finde ich es un-er-hört, ihm das verbieten zu wollen. Oder haben sie etwa was gegen Menschen, die ein wenig anders sind?“
Die Frau war total überfordert. „Nein, ich…“
Es hatten sich sogar ein paar Schaulustige versammelt. Hier und da hörte man Gekicher. Ich musste mir echt das Lachen verkneifen. Ich meine, wie muss das denn ausgesehen haben? Ich in Jeans, T-Shirt und roten High-Heels, die kleine Frau um Meter überragend und angestrengt, eine verletzte Miene aufzusetzen, und Max, der seine Rolle einfach nur perfekt spielte.
„Ich wollte Sie nicht beleidigen“, beteuerte sie. „Passen Sie bloß auf, dass Sie nicht umknicken.“
Sie streckte die Nase gen Höhe und stolzierte davon.
„Machen Sie sich keine Sorgen“, rief Max ihr nach. „Als Go-Go-Tänzer hat man es schnell drauf, auf solche Schuhen zu stehen.“
Spätestens da war er allerdings zu weit gegangen. Ich hätte ihn töten können.
Doch wenn ich dann wiederum daran denke, wie er den ganzen restlichen Weg nach Hause versuchte, sich zu entschuldigen… Sich alle paar Meter vor mir auf den Boden warf und ins Gesicht schrie, wie leid es ihm tat… Da kann man nicht ernst bleiben. Und genauso wenig wütend.
Oder wenn wir ins Kino gehen und er den Mädchen vor uns solange versucht, Popcorn in den Ausschnitt zu werfen, bis sie sich genervt umdrehen, und er dann die 3-D-Brille zurecht schiebt, einen Finger auf den Mund legt, sich vorbeugt und mit gedämpfter, tiefer Stimme sagt:
„Ich bin in geheimer Mission, geschickt von den PIAB. Das hier ist alles meine Aufgabe. Was denken Sie denn, wo immer das Popcorn im Ausschnitt nach dem Kinobesuch herkommt?“
Dann… Dann weiß ich, dass ich mir keinen besseren Freund vorstellen könnte. Also ist er sozusagen wortwörtlich immer noch mein bester Freund, oder?
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