Wie in Hollywood
Charaktere: Tobias, Raphael, Felix, Samir
Challenge: Unüberbrückbare Differenzen"
Warnungen: Uhm... Raffi. Raffi ist eine Warnung für sich. *drop*
Wörter: ~1300
Vorwort: Tja. Keine Ahnung. Mein ursprüngliche Intention war eine andere, aber Raffi hat sich in die Geschichte gedrängt und alles an sich gerissen. Deswegen geht es jetzt im Prolog überwiegend um ihn. Meine Fresse, die kleine Rampensau.
Eines Abends stand Raffi vor unserer Tür.
Eine Geschichte mit Raffi anzufangen, ist eigentlich keine gute Idee.
Wenn Raffi bei uns auftauchte, kam er nie ‚einfach nur so‘ vorbei. Nein, Raffi hatte immer einen großen Auftritt.
Wie das eine Mal, als er nachts (mit Sirenen und Blaulicht) von der Polizei vorbeigebracht wurde, weil er sich nackt an einen Baum gekettet hatte. Das war überhaupt nicht peinlich.
Ich weiß nicht, wieso er immer unsere Adresse angibt, wenn er von der Polizei aufgegriffen wird. Es ist ja nicht so, als ob er nicht auch eine eigene Studenten-WG hat, wo sie ihn nackt und mit Blaulicht abliefern könnten.
„Ich war nicht nackt.“
„Du hattest Turnschuhe an und eine Federboa.“
„Die strategisch wichtig platziert war. Dementsprechend war ich nicht nackt!“
„Von wem war überhaupt die Federboa?!“
Oder als er mit einer Kolonne von siebenunddreißig Meerschweinen bei uns auftauchte. Während ich noch stumm auf die Fellknäule starrte, die hinter ihm über unseren Rasen purzelten, hatte er sich schon an mir vorbei nach drinnen gedrängelt und angefangen wild mit den Armen zu fuchteln.
„Das sind politische Flüchtlinge! Du musst ihnen Asyl gewähren!“
„Raffi … das sind Meerschweinchen.“
„Aus einem Versuchslabor der Uni! Ich konnte sie doch nicht da lassen!“ Er klang schockiert.
Ich presste beide Hände auf das Gesicht. „Du hast Eigentum der Uni geklaut?“
„Du verstehst das nicht! Es ist ein Statement!“
Ein Meerschwein kackte hinter ihm auf unsere Fußmatte. Das war auch irgendwie ein Statement.
Der Grund wieso ich Raphael ertragen muss, ist die Tatsache, dass alle Gentests, trotz sämtlicher Gegenbeweise eisern behaupten, dass er mein Bruder ist. Lustigerweise ist er noch nicht mal mein komplizierter Bruder.
Das wäre dann Felix.
Das mit Felix ist schwer zu erklären.
Es hat etwas mit Neuronen in seinem Kopf zu tun, die seit dem Unfall einfach nicht mehr richtig funktionieren und die ihn manchmal im Supermarkt vergessen lassen wie er wieder nach Hause kommt.
Er ist nicht verrückt, okay? Er ist auch nicht zurückgeblieben. Es ist nur so, dass viele Dinge … eben nicht mehr so funktionieren wie früher.
Sein Gedächtnis ist vermutlich das schlimmste. Unser ganzes Haus ist gepflastert mit Notizzetteln, weil er sonst ständig den Schlüssel vergessen oder den Herd anlassen würde.
Für mich ist das eine immerwährende Katastrophe.
Raffi dagegen nimmt das, wie alles im Leben, ziemlich locker hin.
„Hey Kleiner, wie geht’s?“ Er wuschelte ihm im vorbeilaufen durch die Haare. „Immer noch gehirntot?“
„Immer noch schwul wie eine Puderquaste?“, erwiderte Felix ohne aufzusehen.
„Hey, das war gemein! Das war kalt und grausam. Hier kommt keine Liebe an!“
„Lass los … du erdrückst mich.“
Vielleicht ist das der Grund wieso sie sich so gut verstehen, und wieso Felix ihn lieber hat als jeden anderen Menschen auf der ganzen Welt.
Nicht, dass Felix und ich uns nicht auch gut verstehen. Wir wohnen immerhin zusammen. Es ist nur eben … anders. Vielleicht weil Raffi eigentlich immer nur zu Besuch da ist.
Manchmal, in Augenblicken geistiger Umnachtung, stelle ich mir vor, Raffi und ich sind geschiedene Eltern, die gemeinsam ein Kind aufziehen. Ich bin die strenge Mutter, die Felix ständig irgendwas verbieten muss und ihm das Taschengeld kürzt und Raffi ist der coole Dad, der immer nur am Wochenende auftaucht, Alkohol mitbringt und Felix mit seinem Auto durch die Gegend fahren lässt.
„Er ist sechzehn, du Vollidiot! Kannst du nicht rechnen?! Abgesehen von all den anderen Gründen wieso er kein Auto fahren darf!“
„Das war doch nur Traumabewältigung! Das war total psychologisch und wichtig!“
„Er hat kein Trauma! Wieso sollte er ein Trauma haben?! Er kann sich ja nicht mal mehr an den Unfall erinnern! Der einzige, der hier ein Trauma hat, bist du!“
So ungefähr läuft das.
Raffi ist der coole große Bruder und ich bin eben der langweilige große Bruder, der versucht verantwortungsvoll zu sein und die Rechnungen zu bezahlen. Ja sorry, aber wir können uns nicht alle nackt an Bäume ketten.
„Ich war nicht nackt!“
Mit Federboa.
Und Raffi hat total ein Trauma von dem Unfall, egal was er sagt. Er zieht es nur vor, es anderen Leuten in die Schuhe zu schieben. In dem Fall Felix.
Das macht Raffi immer so. Weil es so viel leichter ist, sich um die Probleme anderer Leute zu kümmern. Wahrscheinlich rettet er darum Meerschweine, kettet sich an Bäume und setzt sich für Frauenrechte im nahen (und fernen) Osten ein.
Mein Leben ist nicht einfach. Man könnte es sogar eindeutig als kompliziert einstufen.
„Hast du deswegen keine Freunde?“
„Halt die Klappe, Raffi.“
„Ey, es ist doch so!“
„Nur weil ich im Gegensatz noch nicht mit der halben Uni geschlafen habe, heißt das nicht, dass ich keine Freunde habe.“
Ich habe einfach nur nie Lust, das irgendjemandem zu erklären. Felix. Raffi. Wieso überall kleine bunte Zettel mit Erinnerungen kleben, unser Badezimmerschrank randvoll mit Medikamenten ist, Meerschweinchen durch unser Wohnzimmer laufen oder wieso in regelmäßigen Abständen die Polizei bei uns auftaucht, um Raffi abzuliefern. Und wieso es keine Eltern gibt, die sich darum kümmern.
Das war alles ein empfindliches Gleichgewicht. Raffi und ich funktionieren einfach nur in einem gewissen Abstand. Mit gewissen Regeln.
Das alles macht mich möglicherweise zu einem nicht besonders sozialen Menschen. Aber wer braucht schon Freunde, wenn er so eine Familie hat.
Unter uns gesagt, bin ich relativ froh, dass Raffi an einer anderen Uni herumhurt. Er ist vielleicht ein Meerschweinchenrettender Spinner, aber er ist immer noch mein kleiner Bruder. Es verführt einen sehr in das Gesicht von Leuten zu schlagen, die damit angeben mit deinem kleinen Bruder gevögelt zu haben.
Ich bin Pazifist und daher froh.
Einer der wenigen, die regelmäßig bei uns herumhängen und dem ich es irgendwann wohl oder übel erklären musste, ist Samir.
Nicht dass er jemals von sich aus nachgefragt hätte.
Samir und ich kennen uns, seit ich nach dem Abitur mal ein paar Monate lang mit seiner Schwester ausgegangen bin.
Ich gebe zu, als Pinar damals sagte, ihr großer Bruder will mich kennenlernen, dachte ich spontan nur ‚uh oh‘. Und das nicht im positiven Sinn. Ich hatte ich felsenfest damit gerechnet, dass er mich zuerst verprügelt und dann ersticht oder umgekehrt. Ich hatte immerhin genug Reportagen über brutale Ehrenmorde im Fernsehen gesehen.
Offensichtlich hatte ich damit ziemlich weit daneben gelegen. Kann passieren.
Das Ganze endete damit, dass wir zu dritt Pizza aßen, und Samir und ich den ganzen Abend über mehr miteinander redeten als mit Pinar, was sie verständlicherweise ziemlich sauer machte. Es hing aber nicht nur daran, dass wir uns kurze Zeit später trennten.
Pinar ist schon in Ordnung. Sie studiert inzwischen irgendwo in Würzburg und unser Kontakt ist eher sporadisch, aber mit Samir bin ich immer noch befreundet. Was vor allem deswegen so gut funktioniert, weil er einer der unkompliziertesten Menschen ist, die ich kenne.
Samir wundert sich über gar nichts.
Samir ist der Typ Kumpel, den du nachts um drei anrufst und sagst „es gab da einen Zwischenfall mit Sprühsahne, alten Autoreifen und hochexplosiven Farben, kannst du Raffi bei der Polizei abholen, während ich versuche die Kaution zusammenzukratzen?“ und der dir danach nicht die Freundschaft kündigt.
Deshalb war Samir weniger geschockt als ich, als Raffi unangekündigt vor unserer Tür stand. Sonntagmorgens um zehn.
Im Regen. Ohne Koffer und ohne Schirm, aber mit einer aufgeplatzten Lippe und dem Handgelenk in Gips.
„Jo“, sagte er. Er lehnte am Türrahmen und kaute auf seinem Daumennagel herum. Wasser tropfte aus seinen Haaren und er sah gleichzeitig sehr entspannt und sehr nervös aus. „Ich musste kurzfristig umdisponieren. Du hast doch nichts dagegen, wenn ich die Semesterferien hier verbringe, oder?“
„Huh …“, sagte ich nicht sonderlich kohärent. Ich glaube, wir starrten alle.
Raffi wischte sich selbstbewusst einen Schwung nasser Haare aus der Stirn, bevor er an uns vorbei nach drin lief. „Ist doch cool. Wie früher. Hi Samir, hi Flix. Gib mir fünf. Hat jemand Hunger auf Chinesisch? Ich könnte chinesisch essen. Leiht mir jemand was zum Anziehen? Wieso hängt Samir hier rum? Um die Zeit? Ich schlaf nicht auf der Couch.“
Wenn Raffi und ich wirklich geschiedene Eltern wären, wäre diese Wiedervereinigung in einem Hollywoodstreifen sehr romantisch. So ist das alles einfach nur daneben.
Mir war gleich klar, dass die nächsten Wochen sehr stressig werden würden. Denn unser empfindliches Gleichgewicht ...? Das geriet mit diesem Moment ganz gehörtig ins Wanken.
Fortsetzung folgt
..... vielleicht. Möglicherweise.