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Die Chronik der gefallenen Engel

von

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Komm mit mir

Fade schien der Mond durch die neblig-graue Nacht und kaum weiter als bis zum Ende seines ausgestreckten Armes konnte man sehen. Die letzten Regentropfen rannen an von den Dächern hinab und sammelten sich in kleinen Pfützen auf dem matschigen Lehmweg. Es war totenstill, nur das gurgelnde Plätschern des Baches war aus der Ferne zu hören und schien doch so laut wie das tosende Rauschen eines mächtigen Flusses, dass die Stille durchbrach. Lautlos glitten Fledermäuse auf der Jagd durch die schwüle Sommerluft und irgendwo im Geäst eines Baumes sang eine Nachtigall ihr trauriges Lied ...

Yoshiko lief indessen, einen hölzernen Eimer in der Hand, durch das kleine Dorf von Hütten aus Bambus und Eichenholz. Trostlos schien alles zu sein in dieser Nacht, genauer betrachtet so trostlos wie an jedem anderen Tag auch. Er verfluchte sein eintöniges Leben und sehnte sich danach, durch das Land zu reisen und Abenteuer zu erleben.

Doch er hatte keine Wahl. Als Sohn eines Reisbauern war es ihm nicht vergönnt, frei durch die Lande zu ziehen. Er konnte seine Familie nicht im Stich lassen und musste das traurige Los seines Vaters fortführen. So hatte man es ihm viele Male gesagt, doch der Gedanke an die Freiheit ließ ihn nicht los. Tief in Gedanken versunken lief der Junge langsamen Schrittes weiter zum Bach, um Wasser zu holen. Er bemerkte nicht, dass einige Leute in einer dunklen Gasse standen, leise tuschelten und ihn misstrauisch beäugten, ihm aber keine weitere Beachtung schenkten.

Am Bach angekommen setzte sich Yoshiko zunächst auf einen großen Stein, um etwas auszuruhen und die Gedanken schweifen zu lassen. Er schloss die Augen und schien über weite Felder zu gleiten, die im rötlichen Dämmerlicht der Abendsonne leuchteten, während bunte Wildblumen sachte wankend vom Wind gestreichelt wurden. An einer Seite von sich sah er mächtige Berge mit schneebedeckten Spitzen an sich vorbeiziehen.

Doch plötzlich war ihm, als spürte er einen eisigen Hauch und er wurde aus seinen Gedanken gerissen. Es war ungewöhnlich kühl geworden und zum Himmel hinaufblickend sah Yoshiko, durch den dichten Nebel schimmernd, den Mond, der schon weit gewandert war.

Er schrak auf, sollte er doch schon längst wieder zurück sein, um seinem Vater das frische Wasser zu bringen und füllte den Eimer mit dem klaren Quellwasser. Eilig lief der Junge durch´s Dorf, an den Leuten in der Gasse vorbei, die er nun zwar nicht gesehen, aber flüstern gehört hatte, und kam bald an der kleinen Hütte an, die er mit seiner Familie bewohnte.

Alt und ranzig wirkte sie, das Eichenholz war stark verwittert und das Dach aus Bambusreisig schien, als hätte es auch schon bessere Zeiten erlebt. Im Innern war das flackernde Licht einiger Kerzen zu erkennen und Yoshiko wusste, dass ihm Ärger bevorstand.

Mit angespannter Mine trat er ein und stellte Eimer auf den Holzboden.

„Wo warst du so lange? Habe ich dir nicht beigebracht, eine Aufgabe zügig zu erledigen?“, sagte Matzuda, Yoshikos Vater mit einem grimmigen Gesichtsausdruck.

„Verzeiht Vater“, murmelte Yoshiko und verneigte sich, „ich habe wohl die Zeit vergessen.“

„Das geschieht dir recht oft mein Sohn eh?!“, lachte Matzuda. „Nun gut, ich will diesmal von einer Strafe absehen, aber das dir das ja nicht zur Gewohnheit wird!“

Er machte eine Handbewegung, die Yoshiko bedeutete in sein Zimmer zu gehen und das tat dieser, äußerst erleichtert, auch sogleich.

„Er muss wohl wieder dem Sake verfallen sein“, dachte er sich, „sonst hätte er sicher nicht so reagiert. Sei es drum, dann kann ich jetzt wenigstens ausruhen.“

Er entkleidete sich, legte sich auf seinen Futon, deckte sich zu, denn immer noch war die Nacht ungewöhnlich kühl für diese Jahreszeit und versank schnell in einem tiefen Traum.

Kühler Nebel umhüllte ihn, legte sich auf seine nackte Haut, ein Schauer lief ihm über den Rücken und alles um ihn herum war stockfinster. Langsam lichtete sich der Nebel, sodass er zumindest die Umgebung erkennen konnte, er war wieder draußen auf der Straße, doch irgendetwas war verändert.

Er konnte sich nicht rühren und zu seinem großen Entsetzen war er vollkommen unbekleidet; er wollte schreien doch kein Ton kam ihm über die Lippen. Wieder hörte er dieses Gemurmel aus einer Gasse, doch nun kamen die Personen hervor, sahen sich hastig um und liefen dann auf ihn zu. Yoshikos Herz begann zu rasen, Panik machte sich in ihm breit, er zappelte, brüllte, rannte fort und doch konnte er sich nicht bewegen, war nicht zu hören und immer näher kamen die finsteren Gestalten.

Ein Rauschen durchschnitt die Luft über ihm und ließ einen kühlen Lufthauch über seinen Körper streifen, als wenige Augenblicke später eine bizarre Kreatur zwischen ihm und der Gruppe auftauchte. Ein Wesen, halb Mann, halb Vogel mit menschlichem Körper, doch mit schwarzen Flügeln auf dem muskulösen Rücken, obwohl Yoshiko sich der Farbe nicht sicher war, denn in dem nebligen Dunkel, war es wohl kaum möglich etwas anderes als Schwarz und Grau wahrzunehmen. In der Hand hielt es ein langes, schmales Schwert, wahrscheinlich länger als Yoshiko an Größe maß, das sich wie eine Schlange in Windungen bog. Der Anblick ließ Yoshiko das Blut in den Adern gefrieren, doch irgendwo in seinem Innern, löste es noch etwas anderes aus. „Bei allen Göttern“, japste einer der Männer, zog einen Dolch aus seinem grauen Kimono hervor und hielt ihn schützend vor sich, „was ist das für eine Teufelei?“ Die anderen Drei griffen ebenfalls zu den Waffen, jedoch schienen sie weniger von Angst als von Hass gegen diese Kreatur erfüllt zu sein.

„Was willst du Kuroi Tenshi?“, zischte der Größte der Vier und hob drohend sein Schwert.

„K-Kuroi Tenshi?“, stotterte der Ängstliche und wich so hastig zurück, dass er auf dem matschigen Lehmweg ausrutschte und platschend in einer Pfütze landete. „Er … er ist einer der schwarzen Engel?“, stotterte er weiter und stand zitternd wieder auf.

„Sei nicht so ein Feigling Matzuda, die Geschichten über diese abartigen Launen der Natur sind durchweg übertrieben, sie sind weder unsterblich noch unbesiegbar“, rief der Große grimmig, jedoch ohne den schwarzen Engel aus den Augen zu lassen.

Yoshiko stand weiterhin wie gelähmt da und war vollkommen verwirrt. Keiner der Gestalten vor ihm schien ihn zu bemerken, obwohl er doch nur wenige Meter entfernt stand und das auch noch vollkommen entblößt. Wer waren diese Männer und was die schwarzen Engel von denen sie sprachen. Jeder Gedanke, den er darauf verwendete, verwirrte ihn nur noch mehr.

Die Kreatur hob den Arm und stützte das Schwert auf der Schulter ab, ehe sich wie ein Donnern aus den Tiefen der Welt seine Stimme erhob. „Der Richterspruch wird hiermit vollstreckt, ob geschehen oder ungeschehen Gleiches wird mit Gleichem vergolten“, sprach der finstere Engel und seine Stimme schien von überall her widerzuhallen.

Der kalte Stahl blitzte auf, etwas tropfte an der Klinge herunter und die Kreatur stand mit gesenktem Arm vor vier leblosen Körpern. Es war alles viel zu schnell geschehen und es dauerte einen Moment, ehe Yoshiko realisierte, was gerade passiert war. Ihm wurde schwindelig, kurze Zeit schwarz vor Augen, aber irgendetwas bewahrte ihn davor das Bewusstsein zu verlieren und ehe er es sich versah stand die Kreatur vor ihm.

„Hab‘ keine Angst, die Gefahr ist gebannt, du und deine Familie sind sicher“, sagte das Wesen nun mit einer ruhigen, warmen, beinahe freundlichen Stimme, jedoch war dies nicht das Überraschendste. Yoshiko hatte bisher nur den Rücken der Kreatur mit den großen, schwarzen Flügen gesehen und nach dem Massaker an den Männern eine bizarre Fratze mit Reißzähnen erwartet.

Doch vor ihm stand ein Mann, der äußerlich nicht viel älter sein konnte als er, mit dunklem Haar und einem markanten Gesicht. Der Nebel löste sich vollends auf und gab den Blick auf die strahlend grünen Augen der Person frei, der letzte Rest von panischer Angst fiel von Yoshiko ab, er verstand nicht warum, aber auf eine merkwürdige Weise vertraute er dem jungen Mann, der doch eben noch vier Männer kaltblütig niedergemetzelt hatte. Und was meinte er damit, dass seine Familie nun sicher sei? Seine Gedanken drehten sich immer schneller.

„Du wirst deine Fragen beantwortet bekommen, doch nicht von mir, jedenfalls nicht heute“, setzte der Fremde fort und strich seinen im Mondlicht blutrot schimmernden, weit geschnittenen Kimono zurecht.

Yoshiko schrak aus seinem Bett hoch und war vollkommen nass geschwitzt, sein Herz raste und er blickte sich panisch um. „Es war nur ein Traum?“, murmelte er zu sich selbst, als er begriff, dass er sich noch immer in seinem Zimmer befand. Er konnte nicht begreifen, was eben geschehen war, er war noch, wie am Abend als er sich zu Bett begeben hatte, in seinem Zimmer, in seinem Sicheren zu Hause und doch hatte alles so echt gewirkt, wie es kein Traum jemals könnte. Erschöpft ließ er sich zurücksinken und starrte fragend an die Zimmerdecke, bis er irgendwann wenige Stunden vor Morgengrauen wieder einschlief.

„Großer Bruder! Großer Bruder wach auf!“, weckte ihn am nächsten Morgen die Stimme seines kleinen Bruders Takaido, „los wach auf jemand will dich sprechen!“Yoshiko öffnete müde die Augen und speiste seinen aufgeregten Bruder mit einer abwinkenden Geste und einem Murren ab, bevor er sich den letzten Schlaf aus den Augen rieb, sich ankleidete und hinaus in die Wohnstube trat. „Was ist los?“, fragte er und sah verwirrt in die ernsten Minen seiner Mutter und seiner beiden kleinen Brüder. Er sah zur Tür und bemerkte nun selbst, was los war. Sein Vater stand dort in Begleitung von fünf Stadtwachen. Sie trugen schwarze Rüstungen mit dem Emblem des Präfekten von Jinjuko, der Hauptstadt des Landesteils in dem Yoshikos Heimatdorf lag, darauf und waren mit Schwertern und Dolchen bewaffnet.

„Ihr wolltet mich sprechen?“, fragte Yoshiko ängstlich und mit pochendem Herzen, viel ihm doch sein grausiger Traum ein. War es doch keiner gewesen? „In der Tat folge uns bitte auf die Wachstation. Der Kommandant persönlich möchte mit dir sprechen“, antwortete einer der Wachen mit grimmiger Miene und drohendem Tonfall. Yoshikos Vater sah nicht freundlicher als er drein und wendete den Blick von seinem Sohn ab und verschwand in einem Nebenraum. Mit gesenktem Haupt und flankiert von den Männern der Stadtwache verließ Yoshiko das Haus und trat ins helle Licht der aufgegangenen Sonne hinaus. Die Straße war bereits wieder zu großen Teilen getrocknet, nur einige Hundert Meter entfernt war ein dunkler Fleck zu erkennen, der stümperhaft mit trockenem Sand abgedeckt worden war. Yoshiko wusste genau, was es mit diesem Fleck auf sich hatte und der Gedanke daran ließ ihm einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Wieder dachte er an diesen schwarzen Engel und wieder keimte etwas in ihm auf, dass ihn erschütterte und das er schnellstens wieder abzuschütteln versuchte.

Es kostete ihn einige Überwindung, doch schließlich sprach er die Wachen an. „Was wünscht der Kommandant, von mir zu erfahren? Ich habe die ganze Nacht in meinem Zimmer geschlafen“, begann er und ohrfeigte sich in Gedanken sofort dafür, dass er sich durch diese ungefragte Rechtfertigung vielleicht verdächtig gemacht hatte.

„Das weißt du selbst am Besten“, antwortete einer der Männer ernst und sah ihn herablassend an. Es brachte nichts weitere Fragen zu stellen deswegen und aus Angst davor die Lage durch weitere unbedachte Worte nur noch schlimmer zu machen schwieg Yoshiko den Rest des Weges und versank in trüben Gedanken, während die Menschen auf der Straße ihn mit einer Mischung aus Erschrecken und Verachtung anblickten, in ihren Augen schien das Urteil schon gefällt zu sein. Die Wachstation von Nanju, Yoshikos Heimatdorf, war eines der wenigen steinernen Gebäude und das Einzige, das mehrere Stockwerke besaß. Der Naturstein, aus dem es gebaut war, war nur grob behauen und verlieh ihm ein finsteres, einschüchterndes Aussehen, welches der schwarz angestrichene Holzturm, der vor wenigen Jahren erst nachträglich angebaut worden war, nur noch bestätigte. Sämtliche Fensternischen waren mit massiven Stahlstangen vergittert und selbst die Eingangstür war mit schweren Eisenplatten beschlagen. Die Sechs betraten die Wachstation, wo sie bereits vom Kommandanten der Stadtwachen erwartet wurden, der genau wie seine Untergebenen gekleidet war, bis auf seinen Helm, auf dem das Abbild einer goldenen Lotusblüte zu erkennen war. Er bedeutete Yoshiko sich zu setzen und ergriff das Wort: „Nun du bist wohl Yoshiko Tatsunae, Sohn des Reisbauern Hisagi“, begann er. Es dauerte einen Moment, ehe Yoshiko begriff, dass dies eine Frage war, er war einfach viel zu nervös, um noch irgendeinen klaren Gedanken fassen zu können. „Ja Herr“, antwortete er schließlich und hielt den Kopf unterwürfig gesenkt. „Dir wird zur Last gelegt, vier Männer kaltblütig ermordet zu haben. Es wird davon ausgegangen, dass du diese Morde nicht alleine getätigt haben kannst, woher sollte ein Bauernjunge auch ein Schwert nehmen …“, setzte der Kommandant herablassend fort, „… deshalb nenne uns die Namen deiner Mittäter und du wirst vielleicht der Todesstrafe entgehen.“ Yoshiko riss die Augen auf. Todesstrafe? Mittäter? Er, ein Mörder? Er begann zu zittern und war vor Verzweiflung den Tränen nahe.

„Ich habe nichts damit zu tun Herr! Es war dieser Mann, dieser schwarze Engel mit dem sonderbaren Schwert! Er hat die Männer niedergemetzelt!“, sprudelte es aus ihm heraus.

„Ich dachte du hättest die ganze Nacht in deinem Zimmer geschlafen?“, mischte sich eine der Wachen ein und sah ihn hasserfüllt an.

„So, so nun du verstrickst dich in Widersprüchen“, sagte der Kommandant nun auf eine merkwürdige Weise und ein Lächeln schien sich auf seinem Gesicht abzuzeichnen, dass aber sofort wieder von einer eiskalten Miene vertrieben wurde.

„Ich-ich, nein ihr versteht das falsch!“, versuchte Yoshiko sich verzweifelt zu verteidigen, doch es nützte alles nichts. Er erfuhr, dass die Stadtwachen angeblich Fußspuren im Boden vor seinem Fenster gefunden hatten, die bis zum Fundort der Leichen führten. „Außerdem haben wir das hier“, sagte einer der Wachen und hielt ein silbernes Amulett an einer goldenen Kette hoch, „im lehmigen, blutgetränkten Boden gefunden. Es gehört doch dir, nicht wahr?“ Erschrocken blickte Yoshiko auf das Amulett seines Großvaters, dass er ihm vor seinem Tode übergeben hatte. Er hatte es stets geheim gehalten, denn sein Vater wäre alles andere als einverstanden gewesen, dass sein Sohn etwas von Wert besitzt, und hätte es sicher verscherbelt, um sich weitere Wochen dem Alkohol hinzugeben.

„Ich werte deinen entsetzten Blick als Zugeständnis“, höhnte der Kommandant und schüttelte dann mit dem Kopf. „Entfernt ihn aus meinem Blickfeld. Er hat in der Zelle genug Zeit, um seine Aussage noch einmal zu überdenken.“ Die Wachen ergriffen den Jungen unsanft an beiden Armen und führten ihn eine Treppe hinunter in den Keller. Der große Raum ohne Fenster wurde vom trüben flackernden Schein mehrerer Fackeln an den Wänden erhellt und die Luft roch modrig und verbraucht. Die Zellen waren sahen provisorisch aus; der Raum wurde von mehreren Reihen stählerner Gitterstangen geteilt, so entstanden 10 kleine Zellen, von denen im Moment allerdings keine besetzt war, Straftaten geschahen selten in dem kleinen Dorf. „Gewöhne dich daran, du wirst vielleicht eine ganze Zeit lang hier bleiben, soweit ich über deine Taten informiert bin“, sagte ein dicklicher Wachmann, der sich beim Erscheinen von Yoshiko und seinen 2 Begleitern von seinem Stuhl erhoben hatte und seinen neuen Häftling skeptisch beäugte. Er öffnete eine der Zellentüren, wobei die Scharniere markerschütternd quietschten, und stieß den Jungen mit einem harten Schlag in den Rücken hinein. Der kalte, feuchte Steinboden schien Yoshiko die Wärme seines Körpers zu entziehen, doch er blieb einfach so, wie er hineingefallen war, liegen. Er verstand überhaupt nichts mehr, zuerst dieser merkwürdige Traum, der doch kein Traum zu sein schien und nun war er in den Augen aller ein Mörder, auf den der Galgen wartete. Ein Chaos aus Gedanken und Gefühlen wütete in seinem Inneren, doch er fand keinen Ausweg …

Die Stunden vergingen unendlich langsam, welches wahrscheinlich sowohl daran lag, dass Yoshiko hier unten in dem ewig trüben Licht keinen Zeitverlauf erkennen konnte, als auch daran, dass die Zeit einfach nicht zu vergehen scheint, wenn man hilflos auf etwas zu warten gezwungen ist und nichts dagegen tun kann. Der Wärter wechselte kein Wort mit ihm und das war dem Jungen auch ganz Recht, mittlerweile wollte er nichts sehen, nichts hören und nichts fühlen; er hatte sich seinem Schicksal ergeben. Mit angezogenen Knien an die Wand gelehnt, starrte er aus leeren Augen an die Decke seiner Zelle und aus dem Chaos in seinem Inneren war eine nüchterne Kälte geworden. In einem ewig gleichen, beinahe hypnotisierenden Takt tropfte es von der Decke seiner Zelle und es machte ihn schläfrig. Nur wie aus weiter Ferne bemerkte er beiläufig, dass sein Bewacher den modrigen Keller verließ und hinauf ins Erdgeschoss ging, anscheinend war es Zeit für den Wachwechsel, doch es kümmerte ihn eigentlich wenig und so schenkte er dem Geschehen keine weitere Beachtung und schloss zum Nachdenken die Augen. Kurze Zeit driftete er in einen Halbschlaf, ein tiefes düsteres Loch, das ihn zu verzehren drohte, doch die Stimme seines neuen Bewachers holte ihn je wieder in die Wirklichkeit zurück und Yoshikos Herz, begann bei ihrem Klang zu rasen.

„Verzeih, ich hatte vergessen mich dir vorzustellen, Yoshiko Tatsunae“, hörte er die ruhige Stimme des jungen Mannes sagen, „mein Name ist Noriashi Kazuo, Oberbefehlshaber über das Heer der gefallenen oder schwarzen Engel, wie viele uns nennen, auch wenn es uns sehr missfällt.“ Es war tatsächlich er, der schwarze Engel aus jener verruchten Nacht, der vier Männer vor seinen Augen abgeschlachtet hatte und dessen Vergehen nun ihm, Yoshiko Tatsunae, dem ältesten Sohn des Reisbauern Hisagi, vorgeworfen wurde. Allerdings sah er etwas verändert aus, die Flügel auf seinem Rücken schienen, wie die eines Vogels, eng an den Rücken angelegt zu sein und wurden von einem weiten, schwarzen Mantel verdeckt. Die Kälte begann aus Yoshikos Körper zu weichen, stattdessen breitete sich ein ungewohntes Feuer in seinem Innern aus und wieder dieses seltsame Gefühl, dass ihn jedes Mal überkommen hatte, wenn er auch nur an diese bizarre Person denken musste. Seine Gedanken und Gefühle waren zurückgekehrt und kreisten nun umso schneller, doch ein Gedanke überwog.

„Wachen! Hier unten ist der wahre Mörder! Er ist gekommen, um mich zu töten! Helft mir!“, brüllte er aus Leibeskräften und schlug wie ein Wahnsinniger gegen die Gitterstangen. Kazuo schüttelte den Kopf, trat langsam auf sein Gegenüber zu und hob besänftigend die Hand. Wie von einer fremden Macht kontrolliert versagte Yoshikos Stimme und seine Arme erschlafften. Er stand da wie angewurzelt und starrte den schwarzen Engel an.

„So ist es besser“, setzte dieser ruhig fort und lächelte. „Ich muss mich bei dir entschuldigen, es war nicht meine Absicht, dich in jene Geschehnisse zu verwickeln und deinem Leben eine so drastische Wendung zu geben, doch es lässt sich leider nicht immer vermeiden, die Urteile unbehelligt von den Schuldlosen zu vollstrecken.“ Diese Worte verwirrten Yoshiko nur noch mehr und Kazuo schien es zu merken denn er begann scheinbar über sich selbst zu lachen, schüttelte dann ein weiteres Mal den Kopf und zog einen Schlüssel aus seinem Kimono hervor.

„Folge mir, die Zeit, läuft uns davon und die Antworten auf deine Fragen sind nicht leicht zu beantworten“, sagte er und schloss die Zellentür auf.

„Nein! Ich kann und will es nicht! Wenn ich das tue, werden sie mir überhaupt keinen Glauben mehr schenken! Sie werden mich verfolgen und ohne weitere Kompromisse aufknüpfen“, widerstrebte Yoshiko mit zurückgekehrter Energie. Jedoch bedurfte es nicht einmal der Worte Kazuos, damit der Junge begriff, wie unsinnig seine Hoffnung war, dass man ihm doch noch glauben und alles wieder so werden könnte wie zuvor. Kurze Zeit ließ er den Kopf hängen, ehe er mit einem ernsten Gesichtsausdruck wieder zu Kazuo blickte.

„Ich komme mit dir, ich verstehe nicht, warum ich dir vertraue, ich verstehe nicht, was geschehen ist und ich verstehe auch nicht, womit ich solch ein Los verdient habe, aber wenn du mir Antworten darauf geben und mich außer Reichweite der Kommandantur von Jinjuko bringen kannst, werde ich mit dir gehen“, sagte er schließlich energisch, wobei ihn die Kraft in seiner Stimme beinahe selbst erschreckte; es war als würde jemand anders mit seiner Stimme sprechen.

„Antworten wirst du bekommen, doch nun lass uns von hier verschwinden lange wird es nicht anhalten“, antwortete Kazuo und die Frage, was nicht mehr lange anhalten würde, beantwortete sich von selbst, als die beiden über die knarzenden Holzstufen ins Erdgeschoss hinaufgingen.

„Es ist nur ein Schlafmittel, sei unbesorgt sie werden bald wieder wohlbehalten aufwachen“, würgte Kazuo Yoshikos erschrockenes Stottern ab, als dieser die bewusstlosen Männer erblickte. Tatsächlich, bei näherer Betrachtung bestätigte sich, dass die Männer vollkommen unversehrt waren und das ruhige, rhythmische Heben und Senken ihrer Brustkörbe bewies vollends, dass sie noch am Leben waren. Beruhigt durch diese Erkenntnis folgte Yoshiko dem gefallenen Engel hinaus. Der Mond war von grauen Wolken verdeckt und die Straße war wie in jener Nacht, als er Kazuo zum ersten Mal begegnete, von dichtem Nebel umhüllt, der ihnen genügend Deckung gab, um sich ungesehen fortbewegen zu können. Sie liefen schnellen Schrittes zum Rand des Dorfes, wo die ausgedehnten Reisfelder begannen, als Yoshiko stehen blieb und sich umdrehte. „Lebt wohl“, murmelte er andächtig und dachte wehmütig an seine Familie, „hoffentlich sehen wir uns eines Tages wieder, wenn die Zeit reif dazu ist.“ Er versuchte optimistisch zu denken, aber es gelang ihm nicht, er hatte das sichere Gefühl sie niemals wieder zu sehen. Kazuo wartete einige Meter voraus und sah mit einem Funken Mitleid in den Augen zu dem Jungen herüber, bis sich dieser schweren Herzens von seiner Heimat und seiner Familie losriss. Kazuo beschleunigte nochmals das Tempo und so eilten die beiden durch die raschelnden Reishalme, die sie umgaben. Yoshiko wollte seine Fragen schon im Gehen beantwortet wissen, doch Kazuo bat ihn zu warten, bis sie an einem sichereren Ort seien und so liefen sie schweigend weiter, bis der dichte Zedernwald, in dem Yoshiko früher gern gespielt hatte, stumm und finster vor ihnen aufragte. Ihre Kimonos hatten sich in den überfluteten Reisfeldern voll Wasser gesogen und Yoshiko begann elend zu frieren, noch bevor sie den Saum des Waldes endlich erreichten und wieder trockenen Boden unter den Füßen hatten.

„Jetzt dulde ich aber keinen Aufschub mehr!“, begann Yoshiko ungeduldig und immer noch zitternd vor Kälte, als die beiden sich ein Stück weit abseits des Waldsaumes niedergelassen hatten und Kazuo ein Feuer in Gang gebracht hatte.

„Nun gut beginnen wir damit, wer oder besser gesagt was ich bin. Wie ich schon erwähnte, ist mein Name Noriashi Kazuo, Oberbefehlshaber der gefallenen Engel. Jeder von uns ist ein unsterbliches Wesen, weder den Gesetzen der Menschen noch den Gesetzen der Götter untergeordnet. Einst waren viele von uns jenseits der weltlichen Gefilde in den Diensten der Herren von Téngoku. Wir taten, was uns befohlen wurde, ohne jemals nur einen Gedanken daran zu verschwenden, ob es richtig oder falsch war, bis schließlich dem Stärksten von uns, einem der Söhne der hohen Mächte persönlich, der geheime Auftrag erteilt wurde, einen der Unseren, der sich weigerte den Willen der hohen Mächte zu befolgen, zu ermorden. Er nahm den Auftrag an, doch erfüllte er nicht, was von ihm verlangt wurde, stattdessen schloss er sich dem in Ungnade Gefallenen an und viele taten es ihm gleich.

Die hohen Mächte bemerkten dies natürlich und schickten ihre heiligen Todeshäscher nach uns aus. Viele starben auf beiden Seiten, denn zwar sind wir unsterblich, aber dennoch nicht unverwundbar, jedenfalls beendeten wir diesen Krieg, indem wir unsere Gefilde jenseits der Welt aufgaben und hierher, in die Welt der Menschen flohen.“ Er hielt einen Moment inne und gedachte traurig seiner getöteten Freunde.

„Und wieso in aller Welt kommt ihr hierher um Zuflucht zu finden und tötet dann unschuldige Menschen ohne jeden Grund?“, entgegnete Yoshiko wütend, der zwar alles interessiert angehört, aber im Grunde nur die Hälfte verstanden hatte, zu außergewöhnlich war Kazuos Geschichte, doch darüber konnte er sich im Moment keine Gedanken machen.

„Das tun wir nicht, es wird dir schwerfallen mir zu glauben, aber diese Männer wären nicht lange unschuldig geblieben“, antwortete Kazuo ruhig und sah ihn aus seinen tiefgründigen, grünen Augen durchdringend an.

„Sie hatten den Auftrag dich und deine Familie auszulöschen, denn es gibt andere Mächte als uns in dieser Welt, die jemanden wie dich lieber tot als in Begleitung eines gefallenen Engels zu sehen“, setzte er fort.

„Was soll das heißen? Welche anderen Mächte? Woher weißt du das? Und was habe ich mit euren Angelegenheiten zu tun?“, fragte Yoshiko nun noch mehr verwirrt und er begann zu zweifeln, ob er überhaupt weitere Antworten von diesem Kazuo hören wollte, wenn sie ihm doch nicht weiterhalfen, sondern nur noch mehr Fragen aufwarfen.

„Es ist ein wenig kompliziert“, gab Kazuo zu, „aber etwas steckt in dir, das für manche von großem Interesse ist, was das ist, kann ich dir jetzt so schnell nicht erklären, so gern ich es täte, aber du wirst auch darauf noch eine Antwort erhalten. Jedenfalls wussten diese Leute, dass einer von uns dich aufsuchen wird und um dies zu verhindern, hatten sie den Auftrag erhalten, dich zu töten.“



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