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Reqium of Darkness & Quiet Symphony

Walker x Kanda
von

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Großangriff auf Ulan Ude

Der nächste Morgen spendete mir ein zurückhaltendes Stückchen Hoffnung, als ich nach wenigen durchgeschlafenen Stunden wieder zu mir kam und mich langsam aufsetzte.

Der Verband war es, den ich zuerst spürte, erst kurz darauf einen leichten, ziehenden Schmerz, der mich nicht übermütig werden ließ. Die Besserung war spürbar, die Entfernung zur völligen Heilung trotzdem noch weit aber der Anblick, der sich mir durch das Fenster bot, erlaubte mir den ersten, beinahe befreiten Atemzug.

Es war die gesamte Nacht, die hinter mir lag und als wüsste der Himmel von meiner kleinen, ganz persönlichen Finsternis, erstrahlte er in einem so gleißenden Licht, dass man sich fast keinen Schnee dazu denken konnte. Fast sah es aus, als wäre es warm… wohlig… dort, hinter dem Glas und ich vertiefte diese Betrachtung, schob mich unterdessen langsam aus dem Bett und kam auf die Beine.

Wenigstens sie… sie boten mir eine zufriedenstellende Kraft. Auch die Schritte zum Fenster waren so leicht und nur kurz stützte ich meine Rippen mit der Hand, während ich die schwarzen Finger zum Glas hob. Klackend erreichten die Fingernägel es zuerst und spätestens, als ich mit den Kuppen darüber hinweg glitt, spürte ich diese Kälte.

Es war kein Wetter, das dazu einlud, hinauszugehen. Auch meine Beine warnten mich vor dem Entschluss eines zu langen Spazierganges.

Ich würde mich in Geduld üben… ich musste es und stieß ein lautloses Seufzen aus, als ich dem Fenster den Rücken kehrte und Timcanpy auswich. Wenigstens einer in diesem Zimmer war fit genug, um sich nicht eingeschränkt zu sehen. Sein Flattern erhob sich am Fenster, als ich träge nach meinem Hemd griff und mit dem leicht schmerzenden Arm den Eingang in den Ärmel suchte.

Ich hatte es nicht eilig, dieses Zimmer zu verlassen. Der Eile würde ich heute so oder so nicht verfallen können. Ich ließ mir Zeit mit den Knöpfen, zupfte an einem Saum und tastete nach dem Reißverschluss eines Stiefels. Sie saßen da, wo sie auch gestern gesessen hatten.

Wie musste ich ins Bett gefallen sein.

Träge winkte ich dann Tim zu mir, ließ ihn durch den Spalt der Tür schlüpfen und folgte ihm langsam in das Treppenhaus. Selbst dort war es kalt aber meine Muße reichte nicht, um mich in das Zimmer zurückkehren zu lassen. Das Hemd hatte zu genügen und gähnend rieb ich mir den Steiß, bevor ich mich auf den Weg zum Speisesaal machte.

Zu meinem Frühstück und einfach an einen Ort, an dem sich immer etwas abspielte. An dem ich nicht alleine war und ebenso sicher vor einer fragwürdigen Stille.

Und natürlich war der Speisesaal auch wirklich gut besucht. Schon im Flur hatte ich die zahlreichen Geräusche gehört und kurz darauf bot sich mir das gewohnte Bild. Die Finder waren wie immer zahlreich. Überall scharten sich die beyschen Mäntel zu kleinen Gruppen und die Luft war erfüllt von den unterschiedlichsten Gesprächen. Hier und dort ein Lachen, das Klirren des Geschirrs und unweigerlich suchten meine Augen nach anderen Besuchern.

Bestimmte Hungrige, die mir weitaus vertrauter waren, als die zahllosen Finder. Sie waren ohnehin eine Gruppe für sich… und mich in einer von ihnen einzufügen, erschien mir in meinem Zustand als etwas zu anstrengend. Ich suchte nach Exorzisten, als ich durch die Reihen der Bänke trottete und geradewegs zur Theke.

Hier und dort versteckte sich der weiße Kittel eines Wissenschaftlers in der Menge… jedoch unbekannte, uninteressante Gesichter, die mich kaum aufmerksam werden ließen. Mein Interesse lag ausschließlich auf der Tatsache, dass ich mich unterhalten, in den Genuss einer vertrauten Gesellschaft kommen wollte. Ich nahm nicht jeden. Vielleicht später und je nachdem, wie sehr die Suche zur Verzweiflung geworden war. So wandte ich mich zu anderen Seite, kurz vor der Theke und endlich… auf einen der Besucher würde ich gerne zurückkommen. Dort, nahe an den Fenstern, wohl darauf bedacht, unauffällig zu sein. Die Suche endete also erfolgreich, ich war um einen Deut zufriedener und war es noch mehr, als Jerry dann vor mir stand und sich problemlos zu einem Plausch verleiten ließ.

Meistens war ich es, der kaum Zeit dafür hatte. Heute war dem nicht so und ich hoffte, dass er dafür nicht meine Rolle einnahm.

„Einen wunderschönen guten Morgen wünsche ich dir!“ Seine Freude war jeden Tag dieselbe. Gerade heute schien er einen besonderen Tag erwischt zu haben und ich hoffte, dass er mir etwas davon abgab. Seufzend ließ er sich auf den Tresen sinken, stemmte das Kinn in die Hand und schmunzelte über meinen Gruß. „Wie geht es dir?“, seufzte er dann und die Tatsache, wie ergriffen er war, ließ mich das Schlimmste ahnen.

Misstrauisch verzog ich die Brauen.

„Ähm… gut.“

„Ich habe schon davon gehört. Und du siehst wirklich etwas blass aus!“ Vor mir wurde mit den Händen gewedelt und es war wirklich schwierig, nicht sofort die Augen zu verleiern. Ich neigte sehr dazu, riss mich aber zusammen. „Die freie Zeit wird dir bestimmt gut tun.“

Die freie Zeit?

Wovon redete er?

Hatte mir so etwas jemals gut getan?

Irgendwie nahm meine Stimmung hier und jetzt einen weiteren Abstieg. Ich war wohl auffällig schweigsam, wohl auch so auffällig verstimmt, dass Jerry seine Chance natürlich sofort beim Schopf ergriff.

„Keine Sorge“, ächzte er. „Ich werde mich um dich kümmern, so gut ich kann! Ich werde dir die besten Gerichte zaubern und dafür sorgen, dass zumindest deine Geschmacksnerven frohlocken!“

Er war wirklich Feuer und Flamme und jetzt passierte es. Ich sank unter einem dumpfen Stöhnen vornüber und landete auf dem Tresen.

Jetzt hatte er mich daran erinnert… an wirklich alles, was ich lieber vergessen hätte.

Untätigkeit, Freizeit… zwei quälende Störenfriede.

Mein Kopf wurde getätschelt.

„Du armer Junge.“ Jerry klang, als wäre er den Tränen nahe. „Wenn ich irgendetwas für dich tun kann…“

„Du könntest mir Frühstück machen“, murrte ich endlich zurück und kämpfte mich etwas in die Höhe. „Bring mir Süßes in Hülle und Fülle!“ Finster starrte ich zur Seite. „Ich werde mich so vollfressen, dass ich nichts mehr merke!“

„Wenn es deinem Frust hilft, Schätzchen!“ Sofort setzte sich Jerry in Bewegung, eilte zur Küche zurück, als hinge wirklich sein Leben davon ab. Dabei war es nur meines. „Gedulde dich kurz, für dich bin ich ein geölter Blitz!“

Träge winkte ich ihm.

Kurz darauf kehrte ich der Theke den Rücken, um zu überprüfen, dass mein potenzieller Gesprächspartner noch da war. Wenn ich über den kommenden Tag nachdachte, kam ich bisher nur auf den Gedanken, dass ich ihn in Gesellschaft verbringen wollte.

Gespräche, Bewegung… mehr als das brauchte ich nicht. Ebenso wenig wie ich mein dunkles Zimmer brauchte. Ich würde mich unter Leute mischen, vielleicht auch irgendwo mit anpacken.

Jerry gab sich alle Mühe und auf den beiden Tabletts, die er mir brachte, hätten ebenso gut fünf Kilo Zucker lagern können. Es wäre dasselbe gewesen aber genau das wollte ich jetzt, benötigte ich jetzt… und fand die nächste Ernüchterung schon in den Moment, als ich die beiden Tabletts hochstemmte. Mit dem einen Arm ging es, nur der rechte fühlte sich an, als wäre selbst er geprellt. Irgendwie hatten sich die Schmerzen ausgebreitet.

Ich schaffte es mit zusammengebissenen Zähnen, trug das Gewicht und leistete, wie geplant, einer Frau Gesellschaft, die neben einem Brötchen nur in einem kargen Joghurt rührte.

Miranda…

Erst, als ich auf der anderen Seite des Tisches auftauchte, blickte sie auf und ihr Gesicht brachte mir sofort die Befürchtung, dass ich hier und jetzt keine Aufheiterung erleben würde.

Gute Güte… ich hatte sie schon lange nicht mehr so bleich und müde erlebt. Sie sah aus, als wäre sie gerade erst von einer Mission gekommen und als würde sie in diesem Moment nur noch an ihr Bett denken.

„Morgen“, grüßte ich sie so befreit, wie ich es mit dem Tablett auf dem Arm nur sein konnte. Sofort wurde ich dieses los, auch das andere und stieg über die hölzerne Bank.

„Oh…“, ihr Lächeln misslang ordentlich, „… ist es schon Morgen…?“

Trübe wanderten ihre müden Augen zu den hoch liegenden Fenstern.

„Tatsache.“ Seufzend rührte sie weiter in dem Joghurt und ich musterte sie Stirnrunzelnd. „Ich glaube, ich habe jedes Zeitgefühl verloren.“

„Anstrengende Mission gehabt?“ Ich versuchte es trotzdem, während ich die Schälchen und Teller von meinem Tablett hob, mir an diesem Platz eine gewisse Ordnung schaffte.

„Erinnere mich nicht daran… oh Gott.“ Fast leblos sackte ihr Oberkörper hinab und die Ringe unter ihren Augen schienen mit jeder Sekunde dunkler zu werden. Ein gedrungenes Schluchzen drang an meine Ohren. „Ich dachte, Hinlegen wäre eine gute Idee aber dann lag ich in diesem herrlichen, wundervollen Bett… und mein Magen grummelte. Ich hab solange nichts mehr gegessen und jetzt bin ich fast zu müde dafür. Was soll ich nur tun?!“

Unentschlossen griff ich nach dem Glas Mangosaft und wurde dabei das ungute Gefühl nicht los, das das einzige, was hier auf mich einwirken würde, eine finstere, depressive Wolke war. Sie gehörte Miranda, war aber bestimmt groß genug, um über die ganze Bank bis zu mir zu reichen.

„Warum trinkst du keinen Kaffee?“

„Ich…“, langsam richtete sich Miranda auf, starrte mich fast entrüstet an. „Ich… weiß nicht!“

Oje…

„Ich weiß gar nichts mehr!“ Beirrt starrte sie zu dem Teller. „Nur, dass dieses Brötchen so lecker aussieht!“ Schwankend starrte sie in beide Richtungen. „Was soll ich machen? Ich könnte es mitnehmen…“

„Könntest du“, stimmte ich zu und griff nach den Croissants.

„Könnte ich?“ Sie presste die Lippen zusammen, die Entscheidung schien ihr sehr schwer zu fallen aber dann griff sie doch nach dem Brötchen, ließ den Löffel im Joghurt untergehen und quälte sich auf die Beine.

„Ich muss jetzt gehen!“, verabschiedete sie sich aufgeregt von mir. „Hoffentlich schaffe ich es bis in mein Zimmer!“

„Bestimmt.“ Bestärkend nickte ich ihr zu, sah, wie sie sich die Bank entlang schob und leicht straucheln in den Ganz zwischen den Tischen einbog.

„Oh Gott, oh Gott…“, hörte ich sie noch jammern, bevor sie die Tür erreichte und durch sie verschwand.

Tja…

Resigniert kaute ich weiter.

Da saß ich nun wieder. Ohne Gesprächspartner und auch ohne sonderlich gute Laune.

Was für ein mieser Zufall, dass außer mir keiner hier zu sein schien. Jedenfalls keiner, der mir irgendwie eine Hilfe sein könnte. Also musste ich das Frühstück doch alleine und schweigend genießen, während sich die Finder um mich herum den Mund fusslig quatschten und sich augenscheinlich auch über keine Verstimmtheit beschweren konnten.
 

Nach dem Frühstück landete ich bei den Wissenschaftlern. An meinem Zimmer war ich achtlos vorbeigezogen.

Wirkliche Lust, jemandem eine Hilfe zu sein, hatte ich nicht und irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass man es mir nicht einmal erlaubt hätte. Meine Verletzung war frisch, machte fleißig auf sich aufmerksam und hielt mich von dem Drang, irgendetwas zu machen, fern. Hier bei den Wissenschaftlern suchte ich mir nur etwas Gesellschaft, einfach Menschen, die auch den Mund aufbekamen, wenn sie müde waren, bei denen etwas los war. Jedenfalls genug, um mich etwas abzulenken, denn meine Stimmung war nach wie vor gedämpft.

Den gestrigen Schlag hatte ich noch immer nicht überwunden und damit meinte ich nicht die Verletzung. Das, was darauf gefolgt war, war viel schmerzhafter gewesen und der mangelhafte Schlaf trug auch noch etwas dazu bei.

Seit Japan schlief ich nicht besonders gut. Zu kurz, zu unruhig, um richtig erholt zu sein, wenn ich die Augen wieder öffnete. Irgendwie spielten sich alle Zufälle gegenseitig zu und mich in die Hände von unerfreulichen Situationen.

Kaum hatte ich die Abteilung betreten und mir einen bequemen Platz gesucht, erhielt ich die erste Aufmerksamkeit unangenehmer Art. Jonny war es, der mit einem Stapel aus Akten an mich herantrat und mich ausgiebig musterte.

„Wie geht’s?“, wollte er entspannt wissen und wurde den Stapel auf dem Schreibtisch los, auf dem ich saß. Ich antwortete nicht sofort… natürlich tat ich es nicht, denn es war nicht nötig, dass man auch noch mit Fragen auf meiner derzeitigen Problematik herumritt. „Du bist immer noch etwas blass, kann das sein?“

„Es geht mir gut“, antwortete ich daraufhin nur und zwang mich zu einem Lächeln, auf das ich im Grunde gar keine Lust hatte. Die Hauptaufgabe bestand immer darin, weiteren Fragen vorzubeugen.

„Jonny!“ Von der anderen Seite des Raumes wurde er gerufen und ich weinte ihm nicht wirklich nach, als er sofort davoneilte.

Unter einem leisen Seufzen zog ich die nackten Füße auf die Arbeitsfläche, setzte mich in den Schneidersitz und regte die Schultern in dem weißen Hemd, bei dem ich es heute belassen hatte. Meinen Haaren fehlte heute jede Ordnung und in den nächsten Minuten war ich nur damit beschäftigt, an den Strähnen zu zupfen und irgendwie mit den Händen durchzufahren. Eigentlich genügte es mir, einfach nur hier zu sein. Man musste nicht einmal zwingend und viel mit mir sprechen, damit ich in den Genuss von Ablenkung kam. Außerdem war Tim noch bei mir. Nachdem er mich ein paar Mal umflattert hatte, bekam ich seinen Schweif zu fassen, zog ihn zu mir und bewegte den runden, knolligen Körper zwischen meinen Händen.

Tim war toll… überall konnte man drücken und ziehen, nur irgendwann schnappte er nach meinem Daumen und behielt die Oberhand in diesem Kampf, weil ich bald wieder abgelenkt wurde. Mit der für ihn typischen Kaffeetasse war Komui aus seinem Büro getreten.

Er schien nicht wirklich etwas auf dem Herzen zu haben, sah sich nur kurz zwischen den arbeitenden Wissenschaftlern um und kam dann zu mir geschlürft.

Also ließ ich Tim einfach knabbern und blickte auf.

Wenigstens war ich jetzt nicht der einzige, der blass war. Komuis Gesicht verriet, dass er die Nacht mit allem möglichen gefüllt hatte, außer mit Schlaf. Ja, eine gewisse Müdigkeit schien es zu geben aber das hielt ihn nicht davon ab, überaus gesprächig zu sein. Seufzend lehnte er sich neben mir an die Tischkante, nahm noch einen Schluck und sorgte dafür, dass Jonnys Aktenstapel nicht zu Boden ging. Er rettete ihn gerade noch mit der Hand, bevor er sich an mich wandte.

„Grüß dich, Allen. Bekommen wir uns auch mal wieder zu Gesicht“, freute er sich und wieder wurde ich von Kopf bis Fuß gemustert. „Meine Güte, du sollst gestern gar nicht gut ausgesehen haben. Geht es dir heute schon besser?“

Ja, danke… schon wieder.

Ich versuchte mich wieder in einem Lächeln aber irgendwie wurde es ziemlich schräg.

„Der Arzt meinte, du bräuchtest drei bis vier Tage Ruhe.“

Vier Tage…!

Zermürbt lugte ich zu Komui, doch dieser schien den Ernst der Sache im Gegensatz zu mir überhaupt nicht zu sehen. Er lachte, erwischte meine Schulter mit der Hand und schenkte auch meinem Seufzen herzlich wenig Beachtung.

„Das heißt, wir können in den nächsten Tagen etwas Spaß haben! Nicht wahr? Du warst in letzter Zeit so selten hier.“

Das stimmte aber es traf auch auf jeden anderen zu. In letzter Zeit erreichten uns die Missionen in Hülle und Fülle. Auch ein Grund, weshalb ich die vier Tage nicht akzeptieren konnte.

„Vier Tage brauche ich niemals, um mich auszukurieren“, fand ich endlich zur Sprache zurück und wieder nippte Komui an der Tasse. „Ich werde mit dem Arzt reden und du kannst schon früher mit mir rechnen.“

„Überlassen wir die Entscheidung den Ärzten, ja?“ Ein herzlicher Blick traf mich. „Mach dir einfach eine schöne Zeit.“ Er spähte zur Uhr. „Lavi kommt in zwei Stunden. Da kannst du dich also nicht beklagen.“

Lavi…

Ich verzog die Brauen, verfolgte nachdenklich, wie Tim immer noch an meinem schwarzen Daumen kaute.

War das so gut?

Ich kannte Lavi und vermutlich hatte ich mich auf so einiges einzurichten.

„Hey!“ Plötzlich schien Komui etwas einzufallen und mit strahlendem Gesicht wandte er sich mir zu. „Wie war es bei Tiedoll? Ich erfahre immer viel zu wenig. Hat sich Kanda gefreut? Wie geht es Chaoji?“

„Eh…“, etwas unentschlossen hob ich den linken Arm und ließ Tim baumeln. „Chaoji hat sich auf jeden Fall gefreut… Tiedoll geht es auch gut und…“

Der letzte Punkt war so eine Sache.

Sofort kam mir das nächtliche Gespräch zwischen Tiedoll und Kanda ins Gedächtnis. So auch die Tatsache, dass sich Kanda auf jeden Fall gefreut hatte. Irgendwo… tief in seinem Inneren aber dieses Erlebnis war zu wichtig, um es auszusprechen. Außerdem war dieses Gespräch wohl genauso wenig für Komuis Ohren geeignet, wie für meine.

„Na ja“, sagte ich also, „… Kanda war wie immer.“

„Tja.“ Unter einem amüsierten Kopfschütteln starrte Komui in seine Tasse. „Das kann ich mir gut vorstellen.“

„Komui?“ Etwas zerzaust lehnte sich River aus seinem Stuhl, fuchtelte mit wenigen Unterlagen. „Können Sie sich das kurz anschauen?“

„Also dann.“ Komui schenkte mir ein letztes Lächeln, tätschelte meine Schulter und machte sich auf den Weg. Von ihm spähte ich zu Tim zurück, schüttelte träge die Hand, in die er sich verbissen hatte und wurde ihn doch nicht los.

„Allen?“ Plötzlich stand Jonny wieder vor mir. Mitgebracht hatte er diesmal nichts aber irgendwie schien er plötzlich überaus erfreut. „Hast du kurz Zeit?“

„Wofür?“, erkundigte ich mich plötzlich und der junge Wissenschaftler legte fast triumphierend den Kopf schief.

„Deine Winteruniform“, verkündete er stolz. „Sie ist fertig!“
 

„Du musst sie anziehen.“ Er war immer noch Feuer und Flamme, als ich ihm kurz darauf durch die Gänge folgte. „Jerry ist auch stolz auf dieses Werk! Ich muss sehen, wie sie an dir aussieht und ob alles stimmt.“

Das war eine Sache, über die ich mich schon freute. Die nächste Mission, wann immer ich sie bekam, würde um einiges angenehmer sein. Das Wetter machte den Anschein, als würde es in den nächsten Wochen noch kälter werden, also kam mir diese Uniform wirklich sehr gelegen.

Ich folgte Jonny in einen Raum, in dem ebenso große Geschäftigkeit herrschte.

Überall wurde genäht, Material gesäubert und repariert. Die meisten Leute waren mit den Mänteln der Finder beschäftigt, in einer Ecke wurden die tragbaren Telefone überprüft und Jonny zog mich in einen kleinen Nebenraum.

Dieser war voll mit Wandschränken, nur an einer Wand und an mehreren Haken, da hingen so einige Uniformen. Schwarzrote, die wohl für uns bestimmt waren. Sofort machte sich Jonny daran, nach der Richtigen zu suchen. Es waren nicht wirklich viele und er wurde auch gleich fündig. Sofort zog er eine der Uniformen samt Bügel vom Haken und während er sie auf einen nahen Tisch warf und von den kleinen Zettelchen befreite, wurde ich auf eine andere Uniform aufmerksam, die noch auf ihren Besitzer wartete.

Und auf wen genau, das war nicht schwer zu erraten.

Von der Größe und vom Schnitt her, konnte sie nur Kanda gehören.

Säuberlich schimmerte das stolze Wappen auf dem schwarzen, robusten Stoff. Deutlich hoben sich auch die dünnen Ketten von den roten Säumen ab und wieder einmal schien die Uniform bis knapp unter die Knie zu reichen. Aber was mich am allermeisten interessierte, war ein schwarzer Schal, der mit am Bügel hing. Ein schönes Stück mit roter Kordel.

Kanda hatte sich einen Schal bestellt… während es hinter mir raschelte, runzelte ich die Stirn.

Wieso war ich nicht auf diese Idee gekommen?

Mit einem Schal machte man in diesen Monaten nichts falsch.

„So.“ Jonny schien fertig, also schenkte ich meine Aufmerksamkeit der eigenen Uniform und betrachtete sie mir. Feierlich wurde sie zur Schau gestellt. „Sie ist überall leicht gefüttert und aus einem Stoff, der die Körperwärme nicht nach außen lässt.“ Er zupfte an einem Ärmel. „Der Stoff ist robust und fast so Feuerresistent wie Wasserfest.“

Ja, das war schon praktisch.

Ich war ziemlich zufrieden mit dem, was ich vor mir sah.

„Du kriegst auch wärmere Stiefel.“

Während ich an der Uniform zu zupfen und zu tasten begann, eilte Jonny schon zu einem nahen Regal.

„Natürlich wasserdicht und ebenso gefüttert.“

Nicht schlecht… aber ich nahm mir zuviel Zeit, denn schon begann Jonny zu drängeln.

Anprobieren… sofort, also löste ich all die Schnallen und Knöpfe und schlüpfte hinein. Unter Jonnys begeisterten Augen regte ich dann die Schultern, streckte die Arme.

Maßgeschneiderte Arbeiten waren doch ganz gut. Sie passte wie angegossen, ebenso die Stiefel und Jonny freute sich mindestens doppelt so sehr, wie ich.

„Gefällt sie dir?“, musste er am Ende der Anprobe noch wissen und lächelnd tastete ich wieder nach den Schnallen.

„Sehr.“

„Das höre ich gern.“ Als wäre ihm ein schwerer Stein vom Herzen gefallen. „Ich werde auch Jerry sagen, wie zufrieden du bist.“

„Mach das.“ Somit schlüpfte ich wieder aus der Uniform, stieg auch aus den Stiefeln und versenkte die Füße in den weitaus bequemern Hausschuhen.

War das also auch abgehakt. Mein nächster Weg führte mich vorerst zurück in mein Zimmer, wo ich die Uniform auf den nächsten Stuhl warf und die Stiefel unter den Tisch schob. Viel länger musste ich nicht bleiben. Ich sah keinen Grund, das stille Zimmer der stets amüsanten Gesellschaft der Wissenschaftler vorzuziehen und so saß ich keine fünf Minuten später auf einem Stuhl inmitten des alten Chaos’.

Zumindest hatte ich eine Aufgabe gefunden. Ich schrieb den Missionsbericht von Japan, wenn auch viel zu langsam und etwas lustlos.

Crowley hatte wohl keine Zeit dafür gehabt, Kanda war unterwegs. Natürlich blieb diese Sache also an mir hängen und inmitten des Trubels starrte ich dann auf das weiße Blatt. Zwei Sätze standen schon da aber bevor mir noch etwas einfiel, begann ich erst einmal den Kuli mit den Zähnen zu bearbeiten.

Diese Mission war so kurz und erfolgreich gewesen, dass es eigentlich gar nicht viel zu schreiben gab.

Wirklich begabt war ich mit der Schrift auch nicht. Während Miranda ihr Herz in ihren Missionsberichten ausschüttete und Crowley seine Schriften mit Wortgewandtheit verzierte, beließ ich es meistens dabei, sachlich zu bleiben. Vermutlich waren meine Berichte eine nicht sehr spannende Lektüre.

Ja, Japan… Okinawa.

Ich knabberte noch immer auf dem Kuli, blickte kurz auf. Um mich herum herrschte der Normalzustand. Die Wissenschaftler konnten sich gerade heute kaum zwischen Pause und Arbeit entscheiden und während River mit feuriger Glut zugange war, lag Jonny wieder auf seinem Tisch und schlief. Rokujugo schwebte an den Regalen entlang und sortierte.

Vermutlich würden danach wieder einige Sachen wie vom Erdboden verschwunden sein.

Unter einem tiefen Atemzug spähte ich wieder zu meinem Blatt zurück und verfolgte stoisch, wie Timcanpy an einer der Ecken knabberte.

Nur kurz, bevor ich den Kuli an seinen Körper setzte und ihn zurückschob. Er ließ von dem Blatt ab, knabberte jetzt lieber an dem Kuli aber da war jetzt dieses Eselsohr. Ging das so?

Seufzend ließ ich Tim knabbern, fischte mir einen anderen Kuli aus einer Box und wandte mich wieder der Arbeit zu.

Anderthalb Tage, länger hatte es nicht gedauert und so sah ich den Bericht nach weiteren vier Sätzen als beendet an.

Geschafft…

Seufzend ließ ich mich im Stuhl tiefer rutschen, warf den Kuli auf die Arbeitsfläche und faltete die Hände auf dem Bauch. Ich mochte dieses Geschreibe ganz und gar nicht. Das war nichts Ganzes und nichts Halbes und in jeder anderen Lage wäre es sogar auch Zeitverschwendung gewesen. Jetzt nicht… ich hatte ja nichts zu tun.

Ich blieb noch ein paar Minuten sitzen, bevor ich träge nach dem Blatt griff und Komui einen Besuch abstattete. Das Eselsohr wurde entschuldigt, Berichte von dieser immensen Länge schien er auch von mir gewohnt zu sein und so war er ganz zufrieden, als ich wieder aus seinem Büro trottete.

Sobald diese Aufgabe erledigt war, saß ich wieder dort und drehte Däumchen. Ich hatte noch einen kurzen Abstecher zu Jerry unternommen und so leistete mir jetzt eine ganze Kanne Mangosaft Gesellschaft. Das Glas rollte ich den Händen, lehnte es an meine Wange und verfolgte für einige Zeit nur den langsamen Zeiger der Uhr, der Runde um Runde drehte.

Es war so langweilig. Gerade heute waren die Wissenschaftler so in ihre Arbeit vertieft, dass ich niemanden für ein Gespräch gewinnen könnte. Jonny wachte irgendwann auf aber dann war auch er am hektischen Herumrennen.

Ich wurde nicht wirklich unterhalten aber trotzdem war es hier in der lauten Abteilung immer noch besser, als irgendwo anders und bald verfolgte ich das Treiben mit auf dem Tisch gekreuzten Armen. Mein Kinn hatte es auf den Unterarmen gemütlich und der Zeiger drehte weitere Runden, bevor ich irgendwie die Augen schloss und etwas vor mich hin döste.

Die Müdigkeit musste mich einholen, denn für eine Weile lag ich wirklich da und schlief. Irgendeiner schlief hier immer und diesmal übernahm ich es eben.

Auch Tim, der bald auf meinem Kopf saß und nach meinen Strähnen schnappte, schaffte es nicht, mich zu wecken. Auch die Stimmen der Wissenschaftler drangen nicht mehr zu mir durch und erst, als eine Hand meine Schulter erreichte und leicht an mir rüttelte, kam ich wieder zu mir.

Verschlafen blinzelte ich, setzte sofort zu einem Gähnen an und ließ Tim abstürzen, als ich das Gesicht abrupt zur Seite wandte.

„Halloho!“ Grinsend neigte sich mir ein Rotschopf entgegen und noch immer verschlafen lugte ich von ihm zu Uhr. Ich hatte wirklich mehr als eine Stunde geschlafen und jetzt war Lavi da. Er bemerkte meine anhaltende Benommenheit, verfolgte auch das nächste Gähnen und richtete sich tadelnd auf. „Mensch, Allen, das ist nun wirklich kein Platz zum schlafen!“

Aber es schien ihn zu amüsieren. Ungeschickt rieb ich mir die Augen.

Oh doch, schlafen konnte man überall.

Ein leises Lachen erhob sich neben mir und als sich Lavi neben mir auf die Arbeitsfläche schob und bequem sitzen blieb, lugte ich zu ihm.

Er hatte seine Winteruniform auch schon… wie gesagt, er war wohl gerade erst gekommen und das, was hinter ihm lag, schien längst nicht schwer genug gewesen zu sein, um seine Gesprächigkeit einzudämmen.

Irgendwie freute ich mich ja, ihn wiederzusehen…

„Mm.“ Endlich schaffte ich es, mich vollständig aufzurappeln und gegen die Rückenlehne des Stuhles zu sinken. „Hi.“

„Du machst Sachen, Allen.“ Seufzend verschränkte er die Arme und erneut wurde ich gemustert. Diesmal nur eindringlicher. „Ich hab schon davon gehört und so richtig gut siehst du wirklich nicht aus.“

Das nächste Gähnen unterdrücke ich, kratzte mir eher den Bauch und den festen Verband.

Das war es.

Genau das, was ich befürchtet hatte.

„Und du?“, erwiderte ich. „Wie war deine Mission?“

Und sofort erhellte sich Lavis Gesicht. Seine Aufmerksamkeit wurde umgepolt und kurz darauf lachte er.

Bei Lavi ging es einfach…

Gerade ihm gegenüber war ich wohl geübt darin, Fragen nicht zu beantworten. Nur war und blieb es bei ihm anstrengend, weil es so viele Fragen waren, bei denen es hieß, ihnen aus dem Weg zu gehen.

Seine Aufmerksamkeit, sowie seine Neugierde waren eigentlich das Letzte, das ich hier und jetzt brauchte.

„Die war ziemlich in Ordnung“, begann er da auch schon zu erzählen und ich nutzte die Gelegenheit, um richtig wach zu werden. „Ich hab nur drei Tage gebraucht, obwohl eine ganze Woche vorgesehen wurde. Ja ja, es gibt sie noch.“ Verspielt nahm er mich in Augenschein. „Die glücklichen Zufälle.“

Ehrlich?

Wo waren dann meine…?

Wirklich darüber lachen konnte ich nicht, also tat ich es auch nicht.

„Ich hab Miranda getroffen“, verriet er mir weiter, „… in Paris. Ist sie schon wieder da?“

„Ja.“ Träge streckte ich die Beine unter den Tisch, schlüpfte aus den bequemen Schuhen und juckte mich mit den Zehen an der Wade. „Scheint ziemlich erschöpft zu sein.“

„Glaube ich.“ Somit pustete sich Lavi eine Strähne aus dem Gesicht. „Und du? Wie ist das mit dir passiert? Du warst doch mit Kanda unterwegs, oder?“

Stirnrunzelnd spähte ich zu ihm.

Ich war nicht nur müde, ich war auch viel zu schweigsam und kurz angebunden, ohne dass es mir auffiel.

Die letzte Zeit war so ernüchternd gewesen und auch die Alpträume verfolgten mich bis in den wachen Zustand. Ich war nicht sehr gesprächig, wenn es um mich ging. Heute noch weniger, als sonst.

„Hast du dir die Schulter angeschlagen?“

Wenn er es so sehen wollte. Ich nutzte diese Frage. Man konnte sie ohne Worte beantworten, also nickte ich einfach und hoffte, Lavi wäre damit zufrieden.

„Oh je… hey, wollen wir Mittag essen?“ Umständlich drehte er sich auf der Arbeitsfläche, spähte genau wie ich erneut zur Uhr. „Schon um zwei, meine Güte.“

Flink rutschte er vom Tisch, begann sich von der dicken Uniform zu befreien. Die Schnallen klimperten, der Reißverschluss kratzte und schon streifte er sie ab und warf sie sich über die Schulter.

Mittag essen…

War es schon so weit?

Hatte ich Hunger?

„Komm schon“, versuchte er mich zu animieren. „Ich hab nur zwei Stunden, bevor ich wieder los muss. Lass uns die Zeit nutzen und ein bisschen quatschen.“

Eine seltsame Lage.

Mir stand nicht wirklich der Sinn danach, jetzt essen zu gehen aber wie, fragte ich mich, würde es auf Lavi wirken, wenn ich von Appetitlosigkeit und Unlust sprach?

Was für ein Sturm aus weiteren Fragen würde dieses Verhalten heraufbeschwören?

Ich würde mich mehr zu verteidigen haben, als ohnehin ihm gegenüber. Es geschah nicht oft, dass ich so konzentriert den Anschein zu wahren… mich vor allem Lavi gegenüber zu verbiegen hatte.

Ich zögerte nicht lange, bevor ich einfach zustimmte und vom Stuhl rutschte.

Zwei Stunden also. Höchstens.

Länger hatte ich wohl nicht einen Menschen zu mimen, der mit sich und dem Rest der Welt zufrieden war.
 

Nach dem kurzen Weg betraten wir beide den Speisesaal.

Er war immer noch gut besucht und sofort mischte sich Lavis Stimme unter das allgemeine Gemurmel.

„Du weißt schon, schwarze Haare aber ich glaube, sie war keine Franzosin.“ Er lachte und ich hörte kaum zu. „Du hättest sie sehen müssen, diese braunen Augen. Und sie hat mich angelächelt. Ist es nicht toll, wenn verschiedene Sprachen keine Hürden sind?“

Seufzend trödelte er neben mir zum Tresen und kurz strich meine Hand über den festen Verband hinweg.

„Ja“, murmelte ich dann beiläufig aber das schien ein richtiges Wort zu sein, denn Lavi meinte immer noch, man würde ihm zuhören. Sogar, als wir dann dort standen und auf Jerry warteten, erhob sich seine Stimme fortwährend aber ich war irgendwie ganz woanders mit den Gedanken.

Erst als Jerry uns freudig Gesellschaft leistete und liebevoll unseren Bestellungen lauschte, kehrte ich wieder etwas in die Realität zurück.
 

„Ich weiß nicht, Allen.“ Als wir unsere Tabletts auf einem freien Tisch abstellten, runzelte Lavi die Stirn. „Du verhältst dich irgendwie komisch.“

„Was?“ Das überraschte Gesicht musste wirklich glaubhaft wirken, als ich zu ihm aufspähte und seufzend ließ er sich auf die Bank sinken, tastete nach dem Besteck.

„Du hast doch irgendwie schlechte Laune, kann das sein?“

„Ich?“ Das Lächeln kostete mich etwas Kraft aber auch das schien er mir abzukaufen. „Unsinn, ich denke nur nach.“

„Ja, worüber?“

Das meinte ich…

Lavi gegenüber hatte ich mich permanent zu rechtfertigen. Neugierde war keine schlechte Angewohnheit. Nur mir gegenüber war sie mehr als schlecht und das dauernde Spiel, das ich hier an den Tag legte, auf Dauer etwas zu anstrengend.

„Über dies und das“, antwortete ich dann nur und zuckte mit den Schultern. Dann begann ich mir einen Überblick über meine Bestellung zu verschaffen, rückte an den Schälchen und Tellern, auf deren Inhalt ich nicht wirklich Lust hatte.

„Du denkst doch nicht etwa immer noch über die Besprechung nach, oder?“

„Besprechung?“

Was meinte er denn damit…

In den ersten Sekunden konnte ich wirklich nichts damit anfangen und mir gegenüber wurde mit der Gabel gestikuliert.

„Die, vor fünf Tagen?“

Ach so…

Nein, über die grübelte ich schon lange nicht mehr.

„Oder, warte…“, plötzlich hielt Lavi inne. Mit großen Augen starrte er mich an. „War unser Yu wieder eklig?“

„Nicht mehr, als sonst.“

Kopfschüttelnd begann Lavi zu essen. Aber er grinste und ließ mich kurz in Ruhe.

Jetzt, wo er es so sagte. Es war wirklich Kanda, an den ich dachte.

Es war mir urplötzlich in den Sinn gekommen und jetzt beherrschten mich diese Grübeleien.

Wieder war es mit einer seltsamen Einsicht zu vergleichen. Eine Einsicht, die mich trotzdem sofort überzeugte und mich deshalb umso überraschender traf.

So blickte ich auf und betrachtete mir Lavi und sein Mund, der auch während des Kauens kaum reglos blieb.

Gerade zu diesen Zeitpunkten und in den Momenten, in denen es mir im Grunde nicht gut ging, hätte ich Kanda lieber um mich, als ihn.

Das Desinteresse des Japaners war soviel angenehmer, als Lavis unerschöpflicher Wissensdurst.

Ja, Kanda fragte nicht, handelte nicht anders… passte sich nicht an.

Das einzige, was er tat, war, mich in Ruhe zu lassen, mir eine Distanzierung zu bieten, die angenehm war. Fast glaubte ich dadurch, dass Kanda die Menschen sogar besser verstand, als mein rothaariger Kollege. Vermutlich versteckte er diese Tatsache nur.

Sofort erinnerte ich mich an seine Stimme. Die Stimme, die sich an Tiedoll richtete.

Sein Handeln auf jenem Friedhof…

Mit ihm war es wohl weitaus interessanter, als es den Anschein machte.

„Glaubst du das auch?“, wandte sich Lavi plötzlich an mich.

Er riss mich völlig aus den Gedanken und ich musste mir eingestehen, dass ich keine Ahnung hatte, wovon er sprach. Die wenigen Sekunden, in denen ich ihn anstarrte, stellten sich als Fehler heraus.

„Also, wirklich“, ächzte er und rammte sie Gabel in seinen Braten. „Du hörst mir ja gar nicht zu. Was ist nur los mit dir? Da macht man sich ja schon fast Sorgen.“

„Du machst dir immer zuviel Sorgen“, meinte ich dazu nur. „Auch um Linali.“

„Ah ja, wo ist Linali? Ist sie da?“ Hungrig kaute er, sah sich um, während er nach seinem Saft griff.

„Ich hab sie noch nicht gesehen.“ Etwas lustlos versenkte ich den Löffel im Joghurt, ließ ihn auch dort und begann in einem Eintopf zu rühren. „Ist wahrscheinlich unterwegs.“

„Ach Mensch.“ Jetzt seufzte und ächzte Lavi. „Dann sehe ich sie und die anderen wohl erst später. Unser Yu ist auch weg?“

„In Russland.“

Genau da, wo ich auch gerne wäre!

Ich durfte nicht daran denken. Gerade hier und jetzt nicht, wo es sofort bemerkt werden würde, wenn meine Gesichtsmuskulatur tiefer sackte.

„Was soll’s.“ Schulterzuckend wurde Lavi das Glas wieder los. „Ich muss dann eh nach Amerika. Soll mich mit dem Panda treffen.“

Ja, jeder ging auf Mission.

Wie schön.

„Mm.“ Tief durchatmend rang ich mich durch und begann wieder zu essen.
 

Die beiden Stunden, in denen mir Lavi anstrengende Gesellschaft leistete, waren schnell vorbei. Eigentlich hatten wir nichts getan, außer zu essen und dann eine Runde durch das Hauptquartier zu machen. Anstrengend war es bis zum letzten Augenblick gewesen. Die gesamte Zeit über hatte ich ihn abzulenken und mich selbst auch.

Der eigenen depressiven Stimmung wurde man sich erst richtig bewusst, wenn man von Leuten umgeben war, die eine solche Heiterkeit versprühten.

Als er ging, war ich insgeheim erleichtert und ermüdet durch diese permanente Gesprächigkeit verbrachte ich die zwei Stunden bis zum Abend in meinem Zimmer. Ich warf mich einfach auf das Bett, spürte das Pulsieren unter dem Verband und ruhte mich etwas aus. In den Schlaf fand ich nicht, nicht einmal zur Ruhe und letzten Endes glaubte ich nicht, dass mir diese beiden Stunden etwas gebracht hatten.

Der Tag neigte sich seinem Ende entgegen und das einzige, was ich tat, war wieder zu den Wissenschaftlern zurückzukehren. Im Gegensatz zum Morgen waren sie jetzt bestimmt bereit, mich irgendwie helfen zu lassen und mir damit die richtige Ablenkung zu verschaffen. Und wirklich. Die Aufgabe, die ich bekam, war fraglich aber ich begann sie einfach, ohne nachzudenken.
 

Irgendwann sahen diese Ziffern alle gleich aus und spätestens, als ich zu dem Stapel lugte, den ich noch vor mir hatte, bereute ich sofort, meine Hilfe angeboten zu haben. Die gesamte Wissenschaftsabteilung bestand so gesehen aus einem gewissen Chaos und ich sah schon die nächste Aufgabe vor mir, wenn ich mit dieser hier fertig wurde.

Fertig…

Ich rümpfte die Nase, starrte finster auf die winzigen Häuflein, die von meiner langsamen, lustlosen Arbeit zeugten und kurz darauf unauffällig zu den Wissenschaftlern. Die waren auch am Räumen. Überall raschelten Blätter, quietschten Stühle und mittendrin schüttete sich River den Kaffee in den Hals, als wäre sein Leben davon abhängig. Träge tastete ich nach dem nächsten Blatt aber als ich es mir so betrachtete, entschloss ich mich, schon fertig zu sein. Es reichte mir und so warf ich die Blätter auf den Stapel zurück und ließ mich ächzend im Stuhl tiefer rutschen. Neben mir tickte eine kleine Wanduhr und führte mir vor Augen, dass ich schon seit zwei Stunden hier saß und in dieser Zeit erstaunlich wenig vollbracht hatte.

Von nun an überließ ich die Aufgaben wieder denen, die dafür zuständig waren und inmitten des hektischen Stimmengewirrs und Geächze streckte ich die Arme in die Höhe, gähnte herzlich und rieb mir die Augen.

„Hat jemand die Akte Nr. 7 gesehen?“, wandte sich River lautstark an die gesamte Abteilung und erhielt ein wirsches, unwissendes Raunen als Antwort. „Mein Gott…!“

„Rokujugo hat doch gestern aufgeräumt.“ Angestrengt kämpfte sich Jonny in die Höhe. Gerade hatte er noch halb auf seinem Schreibtisch gelegen und sofort traf Rokujugo eine gebündelte Aufmerksamkeit. Sofort hielt er inne, starrte zurück.

„Wenn ich diese Akte aufgeräumt hätte, dann wäre sie jetzt da, wo sie hingehört“, brachte er berechtigte Zweifel an und wieder folgte daraufhin nur das Stöhnen und Murren. Ganz unauffällig mischte sich das Läuten eines Telefons in diese Geräuschkulisse.

Es war eine kurze, spannende Abwechslung, dem Geräusch mit den Augen zu folgen und den Störenfried auf Rivers Schreibtisch zu finden.

Das musste es sein… was war ich müde.

„Könntest du noch mal genau nachschauen?“ River war immer noch mit dieser Akte beschäftigt und ergeben schwebte Rokujugo zu einem breiten Regal. „Immerhin muss sie ja irgendwo sein!“

Das Läuten erhob sich immer noch und endlich machte River Anstalten, nach dem Hörer zu greifen. Er fluchte noch, während er ihn abhob und meldete sich recht beiläufig, nebenbei schon nach einem Kuli Ausschau haltend.

„Wenham“, ächzte er und wurde nicht fündig.

Dieser Tag…

Träge sank mein Kinn auf die gekreuzten Arme und während Tim ziemlich unruhig auf meiner Schulter war, blies ich mir eine Strähne aus dem Gesicht. Währenddessen verfolgte ich das rege Treiben um mich herum und war einer der ersten, die Rivers Arm in die Höhe fahren sahen.

„Leute, Ruhe!!“ Abrupt erhob sich seine Stimme. Laut und fahrig und nur das Rascheln eines zu Boden sinkenden Blattes war zu vernehmen, als River in die Höhe fuhr. Sofort hatte auch ich den Kopf gehoben und sah ihn sich an den Hörer klammern. „Wie bitte?! Sprechen Sie langsamer… was?!“

Ein entsetztes Zucken durchfuhr sein Gesicht und wurde erstarrt aus allen Richtungen gemustert. Eine plötzliche Totenstille war in dem großen Raum eingetreten und River lauschte nicht lange in den Hörer, bevor er nach dem Telefon grabschte. „Ich stelle Sie durch! Einen Moment!“

Hastig drückte er einen Knopf, geräuschvoll landete der Hörer auf der Gabel und kaum, dass er dort seinen Platz gefunden hatte, eilte River um den Schreibtisch herum und direkt zur Tür des Abteilungsleiters.

„Was ist los?!“ Stockend erwachte Jonny zum Leben und River antwortete, ohne sich umzudrehen. Er war schon fast an der Tür, vergaß das Klopfen und riss sie auf.

„Auf Ulan Ude wird ein Großangriff verübt!“

Was…?

Mit einem Mal kehrte das hektische Leben in den Raum zurück. Akten wurden zurück auf die Schreibtische geworfen, alles stehen und liegen gelassen. Hörer wurden von den Telefonen gerissen, jeder rannte sich in die Quere und in dieser plötzlich sehr lauten Geräuschkulisse fuhr auch ich in die Höhe. Weit war die Tür zu Komuis Büro offen gelassen worden und River folgten nun auch andere, drängten sich in den dahinterliegenden Raum.

Ulan Ude…?

Tim rutschte von meiner Schulter, als ich auf die Beine kam. Nur stockend und in den ersten Augenblicken zu ungläubig.

Eine Stadt in Russland!

Mein Ellbogen streifte den großen Stapel aus Papieren, als sich meine Schritte verschnellerten und ich den Wissenschaftlern zu Komuis Büro folgte. Raschelnd ging er hinter mir zu Boden und mit wenigen Schritten hatte auch ich die Tür erreicht.

Komui sah recht bleich aus, während er in den Hörer lauschte. Seine Hand hielt einen Kuli fest umschlossen und so wie er aussah, schien er seinen Ohren keinen Glauben schenken zu wollen. Nahe an seinem Schreibtisch standen die Wissenschaftler und gnadenlos bahnte ich mir einen Weg zwischen ihren Körpern, drängte zur Seite und mich in die erste Reihe durch.

„Wie bitte?!“ Aufgewühlt starrte Komui zu River, klackernd wurde der Kuli auf den Tisch geworfen. „Nur Kanda ist da?!“

„Bringt die Missionsmappen!“, wandte sich River sofort an die Wissenschaftler und schon stoben diese auseinander. Eine fahrige Handbewegung Komuis trieb sie zu weiterer Eile an und ich bemerkte erst jetzt, dass mein Mund offen stand.

Ein Großangriff…

Tobend gingen mir diese Gedanken durch den Kopf, die Schulter eines vorbeieilenden Wissenschaftlers streifte mich und ließ mich zur Seite straucheln.

Und die einzige Verteidigung… Kanda?!

Ich schnappte nach Luft, nahm das immense Gewirr um mich herum kurz nicht mehr wahr.

Dumpf wurden vereinzelte Mappen auf das Sofa hinter mir geworfen. Wissenschaftler rissen sie auf und begannen wie wild zu blättern.

„Irgendjemand muss doch in der Nähe sein!“, hörte ich River angespannt fauchen. Nur nebenbei, denn ich hatte immer noch mit meinen Gedanken zu ringen.

Ulan Ude lag auf dem Weg nach Irkutsk, wenn ich mich nicht irrte…

Das konnte nur bedeuten, dass er Prioritäten gesetzt und sich zur Verteidigung der Stadt abkommandiert hatte.

„Wie viele?!“, keuchte Komui vor mir entsetzt in den Hörer und hinter mir sprang River auf.

„Jonny!“ Er brüllte durch den halben Raum. „Versuch Marie zu erreichen! Er ist in der Mongolei! Er könnte es noch schaffen!“

Sofort wurden die anderen Telefone in Beschlag genommen und Komui konnte sich nur schwer auf seinem Stuhl halten. Seine Hand ging auf die Armlehne nieder und seine Finger umklammerten diese verkrampft.

„Unterstützt ihn mit allen Mitteln!“, befahl er und hinter mir wurde weiter geblättert. „Ihr müsst ihm Rückendeckung geben, verstanden?!“

Und das Leben kehrte in mich zurück… erst spät aber plötzlich. Meine Lippen regten sich, mein Körper erhielt ebenso die alte Beweglichkeit und kaum versah ich mich, da gingen meine Hände auf den Schreibtisch des Abteilungsleiters nieder.

„Komui!“ Aufgebracht beugte ich mich über die Arbeitsfläche. „Schick mich!!“

Es war nur ein hektischer, abweisender Wink, mit dem er mir antwortete. Viel eher klammerte er sich noch an diesen Hörer und zuckend ballte ich die Hände zu Fäusten.

„Komui!!“

Was trieb mich an…

Es war soviel!

So viele Emotionen, die mich überkamen und so handeln ließen.

Schuldgefühle, die mich zernagten, durch die ich mich abgrundtief verdammte und auch meine Verletzungen, die von bloßer Unachtsamkeit herrührten!

Ich wäre bei ihm, hätte ich nur besser aufgepasst!

Ich stünde an seiner Seite und wäre ihm eine weitaus bessere Hilfe, als alle Finder zusammen!!

Und Sorgen… sie packten mich nicht weniger stark, als jeden der Wissenschaftler und Komui selbst!

Was für ein Selbstmord, sich einem Meer aus Akuma alleine entgegenzustellen!!

Das sah ihm so ähnlich!

„Komui!!“ Wieder erhob sich meine Stimme und abrupt löste er den Hörer vom Ohr und traf auf meinen bohrenden Blick. „Ich gehe!!“

„Allen, hör auf!“ Er wirkte völlig verkrampft und aufgebracht. „Vor morgen Abend wärst du nicht da!“

„Ich beeile mich!!“, keuchte ich.

Ohne, dass ich es bemerkte, verfiel ich diesem Flehen und der Ansicht, dass meine Eile etwas an meinem Weg ändern würde!

Es wäre sinnlos… aber in diesen Momenten war ich weit davon entfernt, das einzusehen. Im selben Augenblick verlor ich auch Komuis Aufmerksamkeit. Hastig lehnte er sich zur Seite und starrte an mir vorbei.

„Linali!“, rief er River zu und sofort sprang dieser auf die Beine. „Sie dürfte noch in Kirensk sein!“

„In Ordnung!“ Sofort eilte River zu einem freien Telefon und erst jetzt schaffte ich es, die Augen von Komui zu lösen… und zu kapitulieren.

Es hatte keinen Sinn… die Enttäuschung mir gegenüber war bodenlos und als mich noch ein Wissenschaftler anrempelte, wandte ich mich nur noch um und starrte auf die kopflose Hektik. Hinter mir lauschte Komui wieder in den Hörer.

„In Ulan Ude!“, ächzte Jonny fahrig in einen anderen Hörer. Unruhig hielten seine Hände ihn umklammert und langsam blinzelte ich zu ihm. „Höchste Priorität, Marie! Du musst Kanda unterstützen, er kämpft alleine dort!“

Daraufhin schienen nur wenige, weitere Worte zu folgen, denn Jonny rammte den Hörer bereits zurück und rieb sich nervös das Gesicht.

„Er wird es erst in den frühen Morgenstunden schaffen…!“, hörte ich ihn jammern und auf der anderen Seite schnappte River nach Luft.

„Du bist schon auf dem Rückweg…?!“

Er schien Linali erreicht zu haben, doch alles, was ich hier hörte, machte die Sache nicht einfacher.

„Ja, ja… genau, sofort umkehren!! Wann kannst du da sein?!“

Ein zitternder Atemzug kam über meine Lippen und dem nächsten Wissenschaftler wich ich vorsorglich aus. Mein Steiß erreichte den Schreibtisch und diesen brauchte ich wirklich als Stütze, als River die Antwort bekam.

„Morgen früh…? Oh Gott… ja, trotzdem… bitte, sofort!“

„Macht eine Durchsage!“, meldete sich da Komui hinter mir zu Wort und ließ die Wissenschaftler ausblicken. „An jeden, der unterwegs ist! Vielleicht ist doch noch jemand in der Nähe!“

„Aber laut Missionsakten…“, warf Rokujugo unruhig ein, doch diese Zweifel wurden mit einer schnellen Handbewegung weggewischt.

„Wir müssen alles tun, was in unserer Macht steht, also los!!“

„Tiedoll!“ Mit einem Mal fuhr ich in die Höhe und in derselben Bewegung zu Komui herum. Was für ein Hoffnungsschimmer und auch Komui schien bis jetzt nicht daran gedacht zu haben, denn seine Miene entgleiste ihm und die Hand schnellte sofort zum Telefon. „Er ist vielleicht noch in China!“, keuchte ich, als er schon flink wählte. „Er und Chaoji…!“

Endlich… vielleicht war ich zumindest eine winzige Hilfe gewesen und das Herz schlug spürbar in meiner Brust, als Komui angespannt in den Hörer lauschte.

Lange, viel zu lange…!

Kanda hatte für diese Reise mehr als einen Tag benötigt, doch die verzweifelte Hoffnung keimte in mir, dass Tiedoll und Chaojis Weg sie vielleicht näher an den Ort des Geschehens herangeführt haben könnte. Ein Zufall… alles, was wir brauchten, war ein Zufall!

Ich hielt fast den Atem an und erst recht, als der Anruf entgegengenommen zu werden schien.

„Tiedoll, wo befinden Sie sich gerade?“ Komui kam sofort zum Wesentlichen und ich presste die Lippen aufeinander. „Später, ich bitte Sie! Sind Sie in der Nähe des Baikalsees?!“

Er lauschte, wieder erstarrte mein Atem und ich wollte meinen Augen nicht trauen, als Komui unter einem kapitulierenden Ächzen in sich zusammensank. „Nordkorea…“, flüsterte er und unter einem Zischen stemmte ich mich in die Höhe und die Hände in die Hüften.

Das konnte doch nicht wahr sein…!

Tiedoll und Chaoji mussten kurz nach unserem zweiten Abschied aufgebrochen sein.

„Nein, nein…“, unruhig kratzte sich Komui im Schopf.

Das war ein Reinfall, denn jetzt war er fast genötigt, Kandas auch ohnehin stets besorgtem Marshall von den besten Neuigkeiten zu berichten. Aber er versuchte noch drum herum zu kommen.

„Es ist alles bei bester Ordnung“, nuschelte er, während er sich das Gesicht rieb aber richtig klug waren diese Worte auch nicht und Tiedoll schien ihn recht aufsässig in der Leitung zu halten. „Machen Sie sich bitte keine Sorgen…“

Wie witzig, ich betrachtete ihn mir von der Seite.

Genau das Gegenteil von dem, was hier gerade los war.

Wir hatten in ein Wespenest gestochen!

„Okay, in Ordnung…“, es dauerte gar nicht lange, da gab er es doch auf und rieb sich die Stirn. „Auf Ulan Ude wurde vor etwa zwei Stunden ein Großangriff verübt… und Kanda ist der einzige vor Ort.“

Ich meinte, Tiedoll’s Stimme bis zu mir zu hören und Komui löste den Hörer auch sofort vom Ohr und schnitt eine müde Grimasse.

Unterdessen waren auch alle andere Telefone in Benutzung geraten. Überall wurde gewählt und getippt und bald darauf lehnte ich nur wieder an dem Schreibtisch. Die alte Unruhe und Aufgebrachtheit hatte mich schnell wieder gehabt. Nach diesem kurzen Hoffen und dem sofortigen Fehlschlag fiel mein Atem fast wieder in der alten Deutlichkeit.

Die Wissenschaftler machten sich immer noch alle Hoffnungen. Erwarteten in ihrer Überstürztheit, dass ein Exorzist von seinen vorgegebenen Wegen abgekommen war und nun zur Verfügung stand…?

Es war wohl möglich… einen kleinen Deut mehr, als unmöglich.

Meine Finger schlossen sich um die Schreibtischkante. Ich spürte, wie sich mein Gesicht zusehends verzerrte und bald starrte ich nur noch zu Boden, war der einzige, reglose Punkt in diesem Raum. Auch Komui telefonierte sofort wieder.

Miranda… ich presste die Lippen aufeinander.

Sie schien immer noch zu schlafen und würde es auch nicht viel eher schaffen, als ich.

Und Lavi, er war schon vor einer ganzen Weile gegangen. Mit Bookman nach Amerika.

Crowley war sogar seit Tagen fort, trieb sich irgendwo in Griechenland herum.

Und Sokaro und Cloud waren scheinbar so weit entfernt, dass man nicht einmal versuchte, an sie heranzukommen.

Wen versuchten sie zu also erreichten…!

Es war die erste wirklich missliche Lage, in die ich seit einiger Zeit geriet. Im Allgemeinen wusste ich mich vor solchen Vorfällen zu schützen… war eigentlich immer bereit… war nützlich.

Und das einzige, was ich diesmal tat, war eine Stunde später auf der Armlehne des Sofas zu sitzen und die Füße auf dem Polster nicht stillhalten zu können. Ich saß zusammengesunken, genauso finster wie vor einer Stunde und immer noch inmitten der Aufregung.

Es war an nichts anderes zu denken. Ich konnte und wollte hier nicht fort, legte es darauf an, nahe an der Quelle zu sein, um jede Nachricht als einer der ersten zu hören.

Tim steckte seit einiger Zeit zwischen meinen Waden fest. Er konnte sich regen wie er wollte, meine Aufmerksamkeit gehört jeder Stimme, die sich um mich herum erhob… allem, was geschah.

Seit einiger Zeit bekam ich auch die Hand nicht mehr vom Mund los. Permanent waren meine Zähne an den Fingernägeln zugange. Ein unbewusstes Treiben, von dem ich erst abließ, wenn der Nagel bis ins Nagelbett riss. Dann nahm ich den nächsten Finger.

Jetzt waren sie damit beschäftigt, jeden Finder nach Russland zu schicken. Alle, die irgendwie in der Nähe waren.

Es waren viele aber es könnten Hunderte sein.

Sie konnten mich nicht ersetzen!

Tausende wären Kanda nicht eine solche Hilfe, die ich ihm sofort wäre!

Ja, die alten Gedanken waren auch die Aktuellen.

Keine Sekunde hatte ich ausgelassen, um meine Verletzung und alles an mir zu verdammen und auch jetzt wagte es niemand, mich anzusprechen. Mein Gesicht sprach Bände und nur Komuis Blick war es, der sich hin und wieder für kurze Zeit zu mir durchkämpfte.

Ich hasste die Tatsachen… hasste den Fakt, dass es bei Marie und Linali blieb und somit auch dabei, dass Kanda die ganze verdammte Nacht durchzuhalten hatte!

Bis zum Morgengrauen… als einziges Ziel einer ganzen Schar!

Ich schloss die Augen, sank unter einem zischenden Atemzug weiter in mir zusammen.

Und es war seine dritte Mission hintereinander weg und mir blieb nichts anderes übrig, als zu beten, dass seine Kräfte trotzdem noch genügten, um es irgendwie durchzustehen.

Dumpf traf meine Stirn auf meine Knie. Tim kam in diesem Augenblick frei und umflatterte meinen Kopf. Mit geschlossenen Augen verharrte ich kurz so, wendete das Gesicht von einer Seite zur anderen und kam letztlich nicht um ein trockenes, gequältes Grinsen.

Dieser Vollidiot!

Dieser verdammte…

Gerade er… gerade derjenige traf auf diesen Ort, der sich blind in jedes Gefecht warf, der einfach und rigoros eingriff und sich weniger um Rückendeckung und Verstärkung scherte!

Ich hatte es schon so oft erlebt… er war immer darauf aus, die Sachen in die eigene Hand zu nehmen und Mitstreiter akzeptierte er doch nur an seiner Seite, wenn sie ihm nicht in die Quere kamen.

Wie schön… all das hatte er jetzt.

„Allen.“

Es war Komuis Stimme, die mich inmitten des ausklingenden Trubels halbwegs ruhig erreichte. Ich hörte sie aber reagieren wollte ich eigentlich weniger.

Die Erlaubnis würde nicht kommen, also konnte er die Worte auch für sich behalten und mich meinem finsteren Gram überlassen. Ich ließ ihn kurz warten, bevor ich mich aufrichtete und zermürbt die Ellbogen auf die Knie stemmte.

Nur kurz lugte ich zu ihm, sah ein Lächeln, das kläglich in der Funktion, mich aufzubauen, scheiterte. Komui schien selbst nicht wirklich sicher zu sein.

„Kanda schafft das.“

Natürlich… resigniert starrte ich auf meine Knie zurück, wusste dazu wirklich nichts zu sagen.

„Wenn es wirklich zu brenzlig wird, wird er sich schon in Sicherheit bringen. Vertrau ihm.“

Vertrauen… diesem Sturkopf?

Natürlich.

Ich nickte aber meinte es nicht so. Tat es viel eher, um Komui von weiteren Worten abzuhalten.

In Kandas Stärke hatte ich immer vertraut. So, wie er sich entwickelt hatte, hatten es auch seine Fähigkeiten getan. Sie waren immens…

Ich rümpfte die Nase.

Genau wie sein Selbstvertrauen.

Ich blieb sitzen… lange Zeit. Lange Zeit ebbte auch der Trubel um mich herum nicht ab und selbst, wenn es still und reglos um mich herum wäre, ich blieb in der Nähe des Telefons.

Jeder kommende Anruf könnte fatal sein und so schmerzhaft diese Konfrontation auch wäre, ich wollte sie mir antun. Vielleicht fügte ich mir all das auch bewusst zu. Um mich zu strafen, mir die Folgen meiner Verletzung vor Augen zu führen, um mich von nun an weitaus vorsichtiger zu verhalten.

Ich wusste es nicht…

Aber irgendwann ließ ich von meinen Fingern ab, rutschte von der Armlehne auf das Sitzpolster und zupfte gedankenverloren an den Nähten meiner Hose.

Knapp einhundert Finder hatte man aufgetrieben, wie ich eine weitere Stunde später erfuhr.

Keine Nachrichten, die mich beruhigten…

Was Tim machte, bemerkte ich schon lange nicht mehr. Für eine Weile verschwand auch Komui hinter seinem Schreibtisch und insgesamt hatte ich während dieser Wartezeit genug Möglichkeiten, um zu grübeln.

Ich wollte die schlimmsten Ausgänge dieses Vorfalles nicht in Betracht ziehen, nicht daran denken, dass die Möglichkeit bestand, einen überaus wichtigen Mitstreiter zu verlieren.

Und nicht nur das… wie höhnisch und widerlich wäre das Schicksal, alles in den Moment enden zu lassen, in welchem ich Kanda gerade erst richtig kennenzulernen glaubte. Nach mehr als einem Jahr.

Ich hatte nicht all diese neuen, interessanten Seiten an ihm erlebt, um sie zu den Erinnerungen zu legen. Sie waren so wichtig, so heilig, dass sie weiterhin existieren mussten.

Genau wie er.

Irgendwann machte ein Wissenschaftler mit einem Tablett die Runde und so leistete mir kurz darauf ein Glas Limonade Gesellschaft. Durst hatte ich nicht wirklich, eher nutzte ich die Gelegenheit, an dem Glas zu piepeln und zu drehen.

Wozu hatte ich den Entschluss getroffen, ihm gegenüber aufmerksamer zu sein?

Weshalb sonst hatte ich dieses außergewöhnliche Interesse an ihm zugelassen?

Irgendwann nippte ich doch an dem Getränk.

Hoffentlich, kam es mir dabei in den Sinn, war unsere Rivalität groß genug, damit er sich schon davor scheute, vor mir ins Gras zu beißen.

Wie würde das nur seinen Stolz verletzen.

Hoffentlich dachte er daran.

Wie jämmerlich wäre das… wie überaus…

Ich schöpfte tiefen Atem, fuhr mit dem Handrücken über meine Lippen und hielt das Glas neben mir auf dem Polster.

„Marie hat den Zug noch bekommen“, hörte ich River in meinem Rücken murmeln. Schon kehrte auch Komui mit einem Kaffee zu seinem Schreibtisch zurück. „Er schätzt, den Ort des Geschehens gegen drei Uhr morgens zu erreichen.“

Wie toll… resigniert starrte ich zu einer Uhr.

Nur noch sieben Stunden…

Was für ein Fortschritt.

Auch Komui schien etwas Besseres erwartet zu haben. Wenigstens hatte er sich körperlich etwas beruhigt aber seine Augen kreisten, als wäre in seinem Kopf noch so einiges los. Erschöpft nippte er an der Tasse.

„Und Linali“, dass River einen tiefen Atemzug dazwischen legte, war nicht sehr aufbauend und ließ nichts Gutes vermuten. „So, wie es aussieht, schafft sie es nicht vor vier Uhr.“

Wieso hörte ich eigentlich noch zu…

Alle Worte, die fielen, machten mir es nur noch schwerer.

Stoisch wandte ich mich meinem Glas zu.
 

Es wurde spät… Stunden vergingen und das einzige, was uns nun noch erreichte, waren wenige, hastige Anrufe der Finder. Oft hatten sie nicht Gelegenheit dazu, sich zu melden und wenn sie es taten, dann schien im Hintergrund das Chaos zu toben. Sie hielten sich auch kurz, während Mauern neben ihnen zerbersteten und überall geschrieen wurde.

Irgendwann war es tiefe Nacht und ich war und blieb einer der wenigen, die Komui noch Gesellschaft leisteten. Zwei Telefone waren immer noch besetzt. Die Wissenschaftler versuchten zu erreichen, was eben noch zu erreichen war und ich hatte das Sofa nur verlassen, um mir die Füße etwas zu vertreten. Die Tür des Büros hatte ich nicht mehr durchschritten und während Komui, jetzt deutlich entkräftet, an dem wer weiß wievielten Kaffee nippte, ging ich im Meer der Blätter spazieren, trat müde nach vereinzelten Eselsohren und lauschte dem Rascheln, das jeden meiner Schritte begleitete.

Die Hände in den Hosentaschen, hielt ich das Gesicht unten, blickte nur auf, wenn sich eines der Telefone lautstark meldete.

Die letzte Nachricht hatten wir vor eineinhalb Stunden erhalten und wirklich aufbauend war nichts an ihr gewesen.

Kanda war vor den Augen der Finder verschwunden, hatte sich zu einem anderen Teil der Stadt durchgekämpft. Das einzig Beruhigende daran war nur, dass die Zeichen noch deutlich auf den anhaltenden Kampf hinwiesen.

Explosionen… irgendwie schien es die meisten Akuma auch in genau diese gewisse Richtung zu ziehen.

Kanda war noch zugange… es musste ihm noch gut gehen…

Ich spürte einmal mehr, wie es meine Gesichtsmuskeln hinab zog und abrupt raufte ich mir die Haare.

Diese Hilflosigkeit…!

Ich war keiner von denen, die zurückblieben und hofften!

Ich gehörte zu jenen, die eingriffen und den Verlauf entscheidend beeinflussten!

Als ich irgendwann wieder auf dem Sofa saß und Komuis Schreibtisch verlassen vor mir stand, wagte ich einen erneuten Blick zur Uhr.

Dreiundzwanzig Uhr… nur noch vier Stunden und hoffentlich wurde Marie nicht aufgehalten!

Vier Stunden… ächzend ließ ich mich tiefer rutschen und lagerte die Waden auf der Armlehne.

Meine Augen gaben sich damit zufrieden, sich die hohe Decke des Raumes zu betrachten, doch bald lenkten sie sich auf den durchaus zerzausten Schopf Jonnys, der sich über das Sofa neigte. Kurz musterte er mich schweigend, genauso schweigend starrte ich zurück und dann seufzte er.

„Willst du dich nicht etwas hinlegen? Oder zumindest nicht etwas essen gehen?“, erkundigte er sich und tat sich schwer damit, ein Gähnen zu unterdrücken. Ungewollt übernahm ich das für ihn. „Ich verspreche, ich sage dir sofort Bescheid, wenn Neuigkeiten kommen.“

War ich müde?

Hatte ich Hunger?

Nein.

Also schüttelte ich nur den Kopf.

Aber damit gab sich Jonny nicht zufrieden.

„Dann geh doch wenigstens etwas frische Luft schnappen. Du siehst furchtbar aus.“

Natürlich tat ich das… aber längst nicht so furchtbar wie diese Situation.

Zugegeben, ich war müde und nach einer Zeit der Langeweile und der Ruhe setzte mir dieser Zustand auch recht schwer zu.

„Du…“, Jonny stemmte sich auf die Lehne, legte den Kopf schief, „… Allen, du kannst nichts daran ändern. Alles, was in Russland passiert, würde auch passieren, wenn du hier liegen bleibst.“

Wie aufbauend.

„Eigentlich finde ich es hier ganz bequem“, murmelte ich letzten Endes nur und über mir rang sich Jonny zu einem Lächeln durch.

„Du glaubst doch nicht etwa, dass Kanda sich durch so etwas fertig machen lassen würde.“

„Mm.“ Träge schob ich den Arm unter den Kopf, platzierte die andere Hand auf dem Bauch. Das stimmte schon… irgendwie.

„Und stell dir vor…“, somit ging Jonny in die Knie und bettete das Kinn auf der Rückenlehne, „… wenn er wüsste, dass wir uns solche Sorgen um ihn machen, würde er sich doch sofort beleidigt fühlen und uns die Leviten lesen.“

Jetzt kam ich nicht um ein mattes Grinsen.

Da war etwas dran.

„Wir bekommen bestimmt etwas zu hören, wenn er später davon erfährt.“

Er sprach, als wäre Kanda so gut wie hier. Als wäre seine Rückkehr eines der sichersten Dinge, die es geben könnte.

Leider war es nicht so… aber wenn ich Jonny so zuhörte, dann würde ich mir liebend gern jede Beleidigung anhören, jede üble Verwünschung… einfach alles, was aus Kandas Mund kam, wenn er von unseren Gedanken erfuhr. Ich würde mich ungespitzt in den Boden rammen lassen, wenn er es nur übernahm und die nötige Kraft mit Nachhause brachte.

Schon wieder ein Gedanke, bei dem ich schmunzeln musste.

Irgendwie wirklich aufbauend und nach wenigen weiteren Minuten begann ich mich wirklich zu regen.

Erst einmal Aufstehen. Wie es dann weiterging, das würde ich sehen. Meine Muskeln waren völlig verspannt aber nach einem ausgiebigen Strecken ging es wieder recht gut und letzten Endes befolgte ich Jonnys Worte.

Ich konnte es mir einreden, wie ich wollte. Für den Verlauf in Russland war es völlig egal, wo ich mich befand. Der Anblick des Büros war von nun an voll mit üblen Assoziationen und so rang ich mich wirklich durch, diesen Ort erst einmal zu verlassen. Bewegung, vielleicht auch etwas Ablenkung und so schlenderte ich durch den Türrahmen, durch die Wissenschaftsabteilung und in ebenso trägen Schritten einfach in den steinernen Flur hinaus.
 

~*tbc*~



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von: abgemeldet
2010-07-25T10:04:12+00:00 25.07.2010 12:04
sehr spannend.
ich bin voll am mitzittern!!
Von: abgemeldet
2010-07-04T10:50:17+00:00 04.07.2010 12:50
Das hast du ja mal wieder praktisch in die Wege geleitet. Ich für meinen Teil steh total auf solche Heldensachen. Du stellst sehr gut vor, wie stark die Beiden sind. Man darf ja auch nicht vergessen, dass Allen immerhin kritisch ist. Ich glaube, das hattest du irgendwie schon in der Fanfic erwähnt, oder?
Von: abgemeldet
2010-07-03T10:38:26+00:00 03.07.2010 12:38
oijoijoi. Es wird ernst. Bin gespannt wie kanda das händeln will.
Von: abgemeldet
2010-06-30T15:46:23+00:00 30.06.2010 17:46
So ein angriff ist bloß Kanda ist da!! Ich hoffe ja er schafft das! Oo


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