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Deutschland. Nichts geht mehr.

Aus glücklichen Familien besteht das Wohl des Staates.
von

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Am Anfang war der Stock

Seit Urzeiten wird Deutschland aus dem Geheimen heraus regiert. Herzöge, Grafen, Könige, Kaiser, Führer, Kanzler... sie alle gaben sich nur mit dem Hauch der Macht ab, die die wahren Herrscher Deutschlands inne haben. Aber in keinen Geschichtsbüchern werden diese Männer und Frauen erwähnt, denn sie arbeiteten immer im Dunklen, im Verborgenen.

Auch heute, 2010, handeln wir nicht so frei, wie wir es uns vormachen. Wir sind Marionetten in den Händen der geheimen Herrscher.

Sie herrschen über unsere Geburt, unser Leben und unseren Tod. Hauptsächlich über unseren Tod.
 

Aber nicht über ihren eigenen.

Möge Gott mit dir sein

Es war laut. Viel zu laut, um erfolgreich arbeiten zu können. Bayern ließ ihren Blick unzufrieden über ihre Untergebenen schweifen und strich ihren langen Dirndlrock in ihrem Schoß zurecht. Die Luft war erfüllt von boshaftem Gezanke. Loreley und Nicole zickten sich an, Bernds Blatt stand in Flammen, während er Karol anschrie und Karol ihn nur eiskalt ignorierte, Maximilian beleidigte Lukas, der davon nichts mitbekam und versuchte, Zenzie irgendwie zu kränken. Kurz gesagt: vollkommenes Chaos, das so gar nicht zu der förmlichen Kleidung aller Anwesenden passte. Alle Herren trugen pechschwarze Anzüge mit ebensolchen Krawatten, alle Damen pechschwarze Kleider (abgesehen natürlich von Zenzie in ihrem edlen Seidendirndl).

Es war ein Wunder, dass ihre Familie noch die erfolgreichste auf deutschem Grund und Boden war. Zenzie erinnerte sich, wie sie das Amt der Madre von ihrer Großmutter erhalten hatte, und mit diesem Amt diese vollkommen inkompetenten Untergebenen, die ständig miteinander im Clinch lagen. Die „Familie“, unter Eingeweihten unter ihrem lateinischen, alten Namen „Dominus Tecum“ bekannt, beherrschte die komplette südliche Hälfte Deutschlands und streckte ihre Finger schon gierig in den Norden aus, wo die ebenso alteingesessene Familie „Schwertfisch“ seit Jahrhunderten regierte.
 

Sie musste ein Machtwort sprechen. Mit einem enervierten Blick schlug Zenzie die Fäuste auf den edlen Mahagonitisch auf, um sich Ruhe zu verschaffen. Tatsächlich erhielt sie einen Augenblick Aufmerksamkeit und alle Augen waren auf die Madre gerichtet. Streng blieb ihr Blick einen Moment lang auf jedem hängen und Zenzie schaffte es, die chaotische Truppe sich ein wenig schuldig fühlen zu lassen.
 

„Ruhe.“ Ihre Stimme war gefährlich ruhig. Nicole rutschte nervös in ihrem Stuhl herum und sah betreten auf ihre Fingerknöchel. „Wenn ihr euch nicht am Riemen reißt, werden die Fische uns verdrängen. Also Konzentration.“ Maximilian blickte demonstrativ in Richtung des Fensters. Zenzie ließ ihren Rechen auf den Tisch knallen und das Gebäude wurde von dem lauten Geräusch bis in den 20. Stock, in dem sie sich befanden, erschüttert. „Auch du, Baden.“ Sie sprachen sich gegenseitig mit ihren Herkungsbundesländern als Codenamen an. Schließlich wollte niemand seinen wahren Namen in Verbindung mit Drogen, Waffenschmuggel, Prostitution und allgemein organisierter Kriminalität sehen. Baden schnaubte auf.

Er hatte keine Lust mehr darauf, Befehle entgegen zu nehmen. Er war sich sicher, dass er selbst diese Mafia um einiges besser leiten würde als Bayern, wenn er erst an der Macht war. Dann würde Württemberg seine rechte Hand sein (aber natürlich untergeordnet) und gemeinsam würden sie nicht nur Süddeutschland, sondern auch Norddeutschland vollkommen unter ihre Kontrolle bringen. Und dann würde es niemanden mehr geben, der ihm Vorschriften machen würde. Daher riss er sich am Riemen. Bayern durfte nicht merken, dass er und sein Partner gegen die Bayerin intrigierten. Er winkte ab und lächelte sie schief an. Am liebsten würde er ihr an die Kehle springen. „Klar. Excusez-moi, Madame!“ Er war übertrieben freundlich. Zenzie rollte nur mit den Augen. Sie hätte ihn – und seinen kleinen Freund, denn Württemberg würde vermutlich nicht allein bei ihr bleiben – ja schon längst rausgeschmissen, wenn die beiden gemeinsam nicht die effizientesten und erfolgreichsten Attentäter des ganzen Landes, vielleicht sogar der ganzen Welt wären. Aber in ihren vertraulichen Konversationen wollte sie sie dennoch nicht dabei haben und speiste sie meist mit wenigen Informationen ab, gerade so viel, dass sie denken mussten, man vertraute ihnen.
 

Zenzie deutete auf den Flipchart hinter ihr. Ein kompliziert wirkendes Diagramm war aufgezeichnet. „Dies sind die Abrechnungen. Das Drogengeschäft läuft gut, ich bin zufrieden, Thüringen.“ Sie erntete ein missmutiges Lächeln, während Bernds Körpersprache allen mitteilte, dass er Karol abwehren wollte. „Nur die Mädchen...“ Zenzie schnaubte auf. Widerwärtig. Sie verdienten zwar alle Geld daran, aber das hieß nicht, dass sie Prostitution und die Mädchen, die sich daran beteiligten, goutierte. Eher im Gegenteil. „... du musst versuchen, bessere Beziehungen zu Fr. Jenisch aufzubauen.“ „Hamburg?“ fragte Bernd nach. Zenzie nickte. „Ohne ihr Wohlwollen funktioniert in dieser Branche nichts. Also streng dich an, Herrgott Sakrament.“ Bei diesem Wort verzog Bernd das Gesicht, Zenzie tat, als sähe sie es nicht. Der ehemalige Ostdeutsche hatte große Probleme damit, dass die ganze Organisation eindeutig katholisch ausgelegt war.
 

„Weiter. Hessen, was sagen die Zahlen zu den Waffen?“ Man konnte sehen, wie Nicole sich anspannte. Karol tippte etwas auf seinem Blackberry ein. Sein Gesicht war ausdruckslos, als er wie eine Maschine einige lange Ziffern runterrasselte. Zenzie nickte und wandte ihr Gesicht besorgt zu der jungen Nicole, die ihre Stelle erst vor Kurzem bekommen hatte, nachdem der Franzose, der sich davor darum gekümmert hatte, auf mysteriöse Weise verschwunden war. „Saarland.“ Sie seufzte enttäuscht und sagte nichts weiter. Nicole wurde rot und schaute sie verzweifelt an.

„Tut mir Leid, ich kann das, ich krieg das wieder gut hin, geben Sie mir noch eine Chance!“ Zenzie sah sie indifferent an. Sie konnte der Kleinen nichts abschlagen. Andererseits musste sie als Madre eine harte Hand führen. Dann nickte sie. „Gut, Saarland. Du solltest die Erträge mindestens verdoppeln.“ Mutig nickte das kleine Mädchen. „Ich habe mir da zuhause einen Plan gemacht!“ platzte es aus ihr heraus. Jeder sah sie gespannt an. Noch nie hatte sie selbst die Initiative ergriffen. Unter all der Aufmerksamkeit sackte sie ein wenig in sich zusammen, blieb aber standhaft sitzen und redete einfach schnell weiter. „Rheinland-Pfalz hat gemeint, dass Brandenburg derzeit einige private Probleme hätte.“ Zenzie blieb bewegungslos sitzen, das wusste sie natürlich schon, Rheinland-Pfalz war ihre inoffizielle rechte Hand. Brandenburg war derjenige bei den Schwertfischen, der gemeinsam mit Nordrhein-Westfalen für die Waffen zuständig war – und selbst diesen Waffen nicht ganz abgeneigt war. Verschwörerisch beugte sich Saarland über den Tisch und sah vor allem Baden-Württemberg in die Augen. „Das wäre die perfekte Gelegenheit, ihn aus dem Weg zu räumen. Ohne Brandenburg kommt der Waffenschmuggel der Fische ins Stocken. Er ist auch der Ansprechpartner für deren wichtigsten Informanten. Ohne Brandenburg werden sie nichts mehr hinkriegen.“ Stolz lehnte sie sich zurück. Zenzie sah aufmerksam zu dem südwestlichen Duo, das sich tuschelnd beriet. Badens Stimme erhob sich einige Male zu einem bösartigen, zornigen Wutschnauben, aber am Ende wurden sie sich einig und Württemberg sprach aus, zu welchem Entschluss sie gekommen waren. „Es ist sehr schwer, einen so hochrangigen Angehörigen der Fische zu töten. Aber Ma-“ Bevor er weiterreden konnte, wurde er unsanft in die Seite geboxt. „Eh? Ah, ja, richtig. Aber Baden meint, dass wir das auf jeden Fall hinkriegen, weil wir-“ Noch ein Ellbogen. Irritiert wandte sich Lukas um. „Nein Max, ich sage nicht, dass 'du' der Beste bist, wir arbeiten nämlich zusammen. Als Team, verstehst du? Ja, das verstehst du.“ Baden seufzte genervt auf, genauso wie Zenzie, sie allerdings um einiges leiser. So anstrengend. Württemberg drehte sich wieder zu dem Rest um. „Weil wir die Besten sind. Deswegen werden wir auch Brandenburg erwischen können.“ Zufrieden lehnte er sich zurück. Saarland warf ihm ein Lächeln zu.

Zenzie warf einen weiteren Blick in die Runde. Damit waren die Punkte für diese Woche erledigt. Thüringen loben, Saarland einen Rüffel erteilen, Baden-Württemberg irgendwie beschäftigen, damit sie nicht auf dumme Gedanken kamen... alles war perfekt gelaufen.

Fischers Fritze fischt frische Fische

Bei einer gewissen anderen Organisation lief alles nicht ganz so perfekt wie bei Bayern. Die angeraumte monatliche Besprechung fand zuerst einmal nicht in einer edlen Suite im 20. Stockwerk statt, sondern am Ufer eines Sees irgendwo in der Pampa von Mecklenburg-Vorpommern – ein Ort, an dem niemand, absolut niemand die Verbrechergruppe jemals finden würde. Dennoch saß man um einen Tisch herum, und alle waren anwesend, nur Sachsen-Anhalt waren nicht anwesend, denn sie hatten dringende Geschäfte zu erledigen und waren vom Vater, Schleswig-Holstein, freigestellt worden. Es war allerdings auch ohne ihr Fehlen eine unglaublich wichtige Konferenz, und man war um einiges stiller, friedfertiger und weniger temperamentvoll als im Süden. Leider bedeutete dieses fehlende Temperament auch, dass man für die restlichen Aufgaben, die im Alltag einer Mafia erledigt werden mussten, weniger Energie zur Verfügung hatte – und dieser Umstand könnte helfen, zu erklären, warum Dominus Tecum um so viel erfolgreicher war als ihr norddeutsches Pendant – Schwertfisch, bei der schon allein der Name andeutete, wie unterschiedlich die Auffassung von einer Mafiafamilie war. Auch an den Klamotten war ein deutlicher Unterschied zu sehen. Nur Brandenburg, ein relativ neues Mitglied, trug einen weißen Anzug, der Rest war in Alltagsklamotten erschienen.
 

Schleswig-Holstein ließ ein Diagramm herumgehen. Er strengte sich wirklich an, aber er konnte spüren, dass man unzufrieden mit ihm war. Glücklicherweise hatte sich noch niemand wirklich aufraffen können, sich gegen ihn zu verschwören, und langsam wurde es besser, langsam bekam er diese ganze Chef-einer-ganzen-Mafia-Sache in den Griff, obwohl er erst sechszehn Jahre alt war. Letztes Quartal, hatte er sich von seiner rechten Hand Mecklenburg-Vorpommern sagen lassen, waren die Bilanzen sogar wieder in den positiven Bereich gekommen! Das musste einfach etwas gutes sein.
 

Er räusperte sich und es wurde noch stiller als still. Nur in der Ferne zwitscherte ein kleines Vögelchen sein helles Lied. Jeder blickte den Chef gespannt an. Er holte tief Luft.

„Es gibt gute Neuigkeiten. Im letzten Quartal, äh, liefen die Geschäfte sehr gut.“ Auf ein paar Münder schlich sich ein Lächeln. Hans fummelte an einem Taschentuch herum, das er zwischen seinen Händen gepresst hielt. „Ich glaube, das liegt daran, dass-“ Er stockte und blickte Brandenburg neben ihm an, der fahl und ungesund wirkte. „B-Brandenburg...?“ Der Angesprochene schreckte auf und blickte alle in der Runde an. Jeder außer Fritz sah ihn neugierig an; Fritz betrachtete nachdenkliche die weite Seenlandschaft, die sich vor seinem Blickfeld erstreckte. So hübsch blau glitzernd, das könnte man ewig anstarren.

Albrecht versuchte sich an einem Lächeln, aber seine Mundwinkel waren nicht bereit, diese Aufgabe zu übernehmen, und so sah er die anderen nur ernst an. Er durfte sich nicht verraten. Die Beilschmidts, hohe Beamte im Bundeskriminalamt, zählten bei der Zerschlagung von Schwertfisch auf ihn, den besten Ermittler seines Jahrgangs. Bei Erfolg würden all die Verbrechen aufhören, die Verbrechen, durch die er seinen kleinen Sohn verloren hatte, und nie wieder würde jemand so leiden müssen wie er, als er den toten Körper von Nikolai in seinen Armen gehalten hatte. Tief in ihm brannte ein Feuer. Aber sollten sie merken, dass etwas mit ihm nicht stimmte, sollten er unfähig sich, sich perfekt anzupassen, dann würde er nicht nur seine Stelle, sondern sein Leben verlieren. Das Feuer würde auf ewig erlöschen. Er schüttelte den Kopf. „Mir geht es gut. Danke, Schleswig-Holstein.“ Etwas besorgt nickte Otto, dann wandte er sich wieder dem Rest seiner Familie zu. Egal, was kommen würde, er würde sie auf jeden Fall vor allem Bösen beschützen, und wenn er dafür einen aus den eigenen Reihen töten müsste!

Sachsen meldete sich zu Wort. „Dank Brandenburg läuft die Schutzgelderpressung um einiges besser als jemals zuvor. Das reicht, um-“ Er warf einen kurzen Blick auf einen altmodischen Notizzettel. „-die Prozentverluste im Waffengschäft wieder wettzumachen.“ Man murmelte aufgeregt, und Schleswig-Holstein nickte übertrieben ernsthaft. So hörte er gerne! Und jetzt... jetzt mussten einige Machtworte gesprochen werden. „Nordrhein-Westfalen, ich bin wirklich nicht so glücklich damit, wie sehr der Schmuggelgewinn in letzter Zeit abgenommen hat. Äh.... bitte mach das doch besser.“ Hans zuckte mit den Schultern. Er konnte ja nicht mehr geben als sein Bestes, und er gab schon sein Bestes. Wenn das nicht mehr gut genug war, dann war das bestimmt nicht seine Schuld. Georg neben ihm sah besorgt in die Runde. Würden sie nun auch auf das bei Weitem nicht mehr so gut florierende Drogengeschäft zu Sprechen kommen? Es war nicht seine Schuld, dass Niederlande nur noch selten an die Grenze kam zur Übergabe des Stoffs. Aber Otto überging ihn, und Georg runzelte in Gedanken die Stirn, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Hatte er die sinkenden Zahlen einfach vergessen? Sollte ihm Recht sein.

„Mit dem Rest bin ich zufrieden. Niedersachsen, du bist immer so stabil. Das finde ich toll! Und Mecklenburg-Vorpommerns Bordelle-“ Dabei wurde er ein wenig rot. „-laufen auch wie geschmiert. Nichts zu klagen, Jungs!“ Er strahlte fröhlich in die Runde. „Ihr seid entlassen!“ Zögernd machte man sich auf den Weg nach Hause; nur Brandenburg und Niedersachsen wurden gebeten, noch etwas zu verweilen.

Zuerst redete Schleswig-Holstein mit leiser Stimme zu Niedersachsen. „Sprich doch bitte einmal mit den Brüdern aus Bremen, wenn du die Gelegenheit hast, ja?“ Er versuchte, freundlich zu bleiben und nett. Wenn er einfach immer nett blieb, würden sie schon Erfolg haben, seine Jungs. Ganz, ganz sicher. „Die Drogen waren immer ein Hauptstandbein von uns.“ Georg sah ihn lange an und nickte dann indifferent, bevor er seiner Wege ging und der Chef sich Brandenburg näherte. Sie sahen sich in die Augen. Brandenburg versuchte wieder, zu lächeln, blieb jedoch ebenso erfolglos wie beim ersten Mal.

„Chef?“ fragte er mit relativ gefestigter Stimme. Schleswig-Holstein, der nur wenige Zentimeter kleiner war als er selbst, sah ihn mit stechendem Blick an. „Ich mache mir wirklich ein wenig Sorgen um dich. Komm schnell wieder auf die Beine. Wir brauchen dich hier!“ Er klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. Albrecht war fähig, ein wenig zu lächeln. „Nimm dir einen Tag frei und ruh' dich aus. Dann geht es dir gleich viel besser, du wirst sehen! Vielleicht machst du eine kleine Bootstour? Egal was, vergiss einfach mal all deine Probleme.“ Schwach nickte Brandenburg, und während der Chef zu seinem alten, unauffälligen Auto lief, beobachtete er ihn ungerührt.
 

Er würde seine Probleme nicht vergessen können.

Denn er würde nicht vergessen können, dass er sich in seinen geheimen Informanten verliebt hatte.

Der Teufel steckt im Detail

Nur spärlich war das Gässchen inmitten von Potsdam erleuchtet. Es war eine Winternacht, aber es war warm genug, dass man eingepackt in einen dicken Mantel noch würde spazieren gehen können. Von dieser Möglichkeit machte Albrecht allerdings keinen Gebrauch. Er saß auf seinem dünnen Bett in einer zugigen Wohnung, die nur spärlich möbiliert war, hauptsächlich mit Büchern, die jeden Gang halb blockierten, aber tadellos aufgeräumt waren. Ein eigenes Zimmer war einer eindrucksvollen Messersammlung gewidmet; der Schlüssel für dieses Zimmer hing sicher um Albrechts Hals. Der einzige Lichtschein in seinem Schlafzimmer kam von dem Handy, das er an sein Ohr gepresst hielt.

„Verstehe... vielen Dank. Und was die Angelegenheit mit dem Fabrikat- achso? Tatsächlich. Ja. Ja.“ Eine etwas längere Pause. „Morgen um 1300 am üblichen Ort. Ja. Schleswig-Holstein hat einen- was? Ich soll auf mich-?“ Albrecht konnte nicht verhindern, dass ein kleines Lächeln auf sein Gesicht schlich. „Natürlich. Mir wird nichts geschehen. Bis morgen, Berlin.“ Damit legte er auf.
 

Da sollte er allerdings nicht so sicher sein, wie er tat. In einem alten Mercedes Benz – Hessen weigerte sich, genug Geld zu bewilligen, um Dominus Tecum Neuwagen zu kaufen, und zumindest das Attentäterduo war damit einverstanden – fuhren Baden-Württemberg durch die Straßen von Potsdam und man konnte schon von Weitem hören, wie Baden sich bei offenem Fenster über „sell und jenes“, hauptsächlich im Zusammenhang mit Württemberg, beschwerte und kein Ende finden wollte. Als die beiden jedoch ausstiegen, nicht weit von der Gasse entfernt, in der Brandenburg seine Wohnung hatte, verstummte er augenblicklich und hatte den Blick ernst in Richtung der Gasse gerichtet. Sein Partner ging zu sich selbst nuschelnd noch einmal den Plan durch, und in dem Moment, in dem er geendet hatte, huschten die beiden los, und nicht einmal eine Katze hätte ihnen noch folgen können durch die enge, verwinkelte Altstadt – das perfekte Territorium zum Morden.

Albrecht machte gerade die Lampe aus. Es war schon spät, und morgen würde er gegen die Mittagszeit in Berlin ankommen müssen zum Treffen mit seinem Informanten. So Leid es ihm tat, er konnte nicht noch länger über die Pläne brüten, die ausgebreitet auf seinem Schreibtisch lagen, und dann schloss er, den Kopf gegen das Kissen gepresst, die Augen in Erwartung einer unruhigen Nacht.
 

Das Türschloss gab nach wenigen Momenten Bearbeitung auf und ließ Württemberg in die Wohnung eintreten. Sie hatten sich zuvor bei Berlin Informationen über den Bauplan der Wohnung besorgt. Es war praktisch, einen Doppelagenten bei den Fischen eingeschleust zu haben, wobei er natürlich kein offizielles Mitglied irgendwo war, sondern beiden Banden nur als Informant diente. Die Gänge waren von Büchern versperrt, und vorsichtig schloss der Assassine die Tür hinter sich, damit die Nachbarn nicht auf dumme Ideen kamen. Alles war dunkel, Brandenburg hatte kein Licht brennen lassen, nirgends. In Gedanken sah Württemberg den Bauplan der Wohnung vor sich liegen, und er schloss die Augen, um sich fortzubewegen, die Ohren gespitzt, aufmerksam auf jedes Geräusch achtend. Aber der einzige Laut war das gleichmäßige Ticken einer Küchenuhr.

Einmal stieß er fast gegen einen Stapel Bücher, aber im letzten Moment konnte er noch alle auffangen, balancierte sie auf beiden Armen und legte sie dann direkt auf die Stelle zurück, von der sie gekommen waren. Dünne weiße Handschuhen halfen, nicht die Spur einer genetischen Codes am Ort zurückzulassen. Am Fenster derweil hing Baden und er flüsterte durch das winzige Headset, durch das die beiden jederzeit Informationen austauschen konnten, dass das Opfer zu schlafen schien – das Licht war ausgeschaltet. Württemberg war im Wohnzimmer angekommen. Vorsichtig und fast unendlich langsam legten sich seine Finger auf den Türknauf der Tür, die zu Brandenburgs Schlafzimmer führte. Die Scharniere quietschten leise, aber Brandenburg schien davon nicht aufzuwachen. Alles war still, nur das regelmäßige Atmen zweier Leute durchbrach die erstickende Ruhe. Zuerst öffnete der Schwabe das Fenster für seinen Partner, dann standen sie zu zweit vor dem Bett mit dem selig schlafenden Menschen, und sie tauschten nur einen kurzen Blick aus, um zu bestimmen, dass sie nach Vorgehensweise 12-b handeln würden. In einer langwierig eingeübten Handlungsfolge, die ausschloss, dass einer der beiden verletzt werden konnte, sollte Brandenburg plötzlich aufwachen, näherten sie sich dem Bett.
 

Wie immer nahmen sie dem Opfer, nachdem sein Blut die Laken rot färbte, den kleinen Finger ab. Sorgfältig wurde geprüft, ob sein Puls noch schlug. Dann wandte man sich fast synchron angewidert ab. Es war kein schöner Beruf, und gäbe es eine andere Möglichkeit, schnell so viel Geld wie in der Mafia zu verdienen, hätten die beiden sich schon längst von ihrem blutigen Geschäft abgewandt. Baden stopfte den Finger in die Tasche seines Anzugs – noch immer trug man ordentlich Anzüge, die wie immer nicht einen einzigen Tropfen Blut abbekommen hatten – und kletterte wieder über das Fenster hinaus, gefolgt von Württemberg, der das Fenster hinter sich schloss.
 

Auf dem langen Weg nach Hause, zurück in die Zentrale von München, war der alte Kassettenspieler laut aufgedreht, und die Stimmung war wieder so gut, wie sie es nun einmal sein konnte, wenn eine der Personen die ganze Zeit Streit suchte und die andere sie einfach ignorierte. Gegen fünf Uhr morgens kamen sie in Bayern an und meldeten der Madre, dass alles ohne Komplikationen verlaufen war. Sie bekam unfreundlich den kleinen Finger entgegengeschleudert, worauf die resolute Frau nur die Nase rümpfte und das tote Stück Menschenfleisch von ihrem Tisch wischte. Sie stellte den beiden einen Scheck aus, in der üblichen Höhe, und beide waren unzufrieden damit, denn Berlin hatte sich für seine Informationen teuer bezahlen lassen und das Geld reichte kaum, um noch das Benzingeld zu bezahlen. Aber sie sagten nichts, sondern beschlossen nur, möglichst schnell ihren Plan fortzusetzen, Bayern aus ihrer Position zu entheben.

Drei gefährliche Dinge

Das Wasser plätscherte zufrieden vor sich her, und während Thüringen den Holzsteg entlangwanderte, blickte er sich unzufrieden im Wasser an. Wenigstens war Hessen nicht mitgekommen zu seinem Ausflug zu Hamburg, das hätte ihm gerade noch gefehlt! Mit einem ewig nörgelnden Hessen im Gepäck, der sich beschwerte, dass er ihn als Kind misshandelt hätte, damals, als Bernd dazu abkommandiert worden war, sich um das stille Kind zu kümmern... da hätte er sich ja gar nicht mehr konzentrieren können auf Geschäfte. Zumindest dachte Thüringen immer, er hätte einen zickenden Hessen im Nacken, die Realität jedoch zeugte von einem eisigen Schweigen von Karols Seite.

Frustriert fuhr er sich durch die erdbeerblonden Haare. Bayern hatte schon irgendwie Recht. Das Geschäft mit den Frauen lief nur noch schleppend, und Thüringen konnte sich schon vorstellen, warum. Der dösige Mecklenburg-Vorpommern war einzig und allein Schuld daran. Es war nicht Bernds eigenem Versagen zuzuschreiben, dass die Geschäfte hinkten. Das war einzig und allein diesem Schlitzohr von Mecklenburg-Vorpommern zu verdanken. Gerade im Gebiet von Angeboten für etwas speziellere Gäste schien sein Konkurrent geradezu einen magischen Riecher zu haben. Das kotzte Bernd ja so an. Und jetzt hatte er sich auf diesen ewig weiten Weg machen müssen von Erfurt bis an die Elbe. Hier hatte Hamburg ihr Hausboot.

Es fiel kaum auf zwischen vielen anderen Hausbooten, die an diesem Steg vertäut waren und ruhig im Wasser lagen. Nichts deutete darauf hin, dass hier eine der mächtigsten und reichsten Frauen Europas wohnte, nichts außer zwei unauffällige Männer auf dem Boot, die wachsam Ausschau hielten nach Fremden.
 

Bernd stellte sich als Thüringen vor, und einer der Männer begleitete ihn in das Innere. Das Hausboot war klein, zumindest in Anbetracht des Reichtums, über den sein Besitzer verfügte. Der Schrank neben Thüringen, der ihn noch schmächtiger als sonst wirken ließ und sich dadurch automatisch seine Wut zuzog, rief laut nach seiner Chefin, und wenige Momente später kam Jette mit unbewegtem Gesichtsausdruck aus dem Nebenzimmer heraus. Sie trug die tiefroten Haare unter einer Kappe versteckt und dazu einen hellblauen Hosenazug, der ihr Holzbein verdeckte, und der Teppichboden verschluckte alle Geräusche, die es machen könnte. Erst, als sie sprach, wurde Bernd wieder bewusst, dass es sich bei diesem Menschen um eine Frau handelte.

„Thüringen.“ sprach sie seinen Namen und kam mit – oh – mit hochhackigen, klappernden Schuhen näher. Sie überragte ihn, was Thüringen innerlich fluchen ließ. „Hamburg. Schön, Sie wieder zu sehen.“ Er konnte sich nicht zu einem Lächeln überreden. Hamburgs Lächeln war dagegen wie festgeklebt.
 

„Setz dich doch. Möchtest du etwas zu Trinken? Ich habe erst gestern einen exzellenten Champagner ersteigern können.“ Bernd schüttelte den Kopf. „Vielen Dank, nein.“ Er setzte sich auf den angebotenen Sessel, und Hamburg ließ sich ihm gegenüber auf einem Sofa nieder. Genauer betrachtet sah sie etwas derangiert aus, normalerweise hatte sie sich immer komplett unter Kontrolle, aber heute schien ihre Kleidung nicht ganz passend zu sein, ihr Lächeln nicht ganz so falsch wie sonst... Bernd hatte ein flaues Gefühl von Gefahr im Magen.

„Was gibt es denn, Thüringen?“ Auch ihre Stimme klang leicht dissonant und, wenn Thüringen den Finger darauf legen müsste... weiblicher und sorgenfreier als sonst. Er räusperte sich. Ganz ordentlich hatte er sich zurechtgelegt, was er zu ihr sagen würde.

„Es geht um die Geschäfte.“ Hamburg spannte sich unmerklich an. „Gibt es Probleme?“ fragte sie mit einer hochgezogenen Braue. Thüringen schüttelte einen Tick zu schnell den Kopf. „Alles läuft bestens. Da wäre nur eine kleine Sache...“

Als ob. Thüringen wäre nicht wegen einer kleinen Sache den langen Weg vom Süden bis zu ihr hin hochgefahren. Sie lehnte sich zurück und legte ihre Finger nachdenklich aneinander. Dann nahm sie ihre Mütze ab, legte sie auf den Glastisch vor sich und schüttelte ihre lockigen Haaren kurz auf. Sie hatte keine Lust, zwischen die Fronten zu geraten. Sie hatte hart arbeiten müssen bis an die Spitze, und sie würde sich diese Position nicht wieder wegnehmen lassen von diesen Kindern, die Mafia spielen wollten. Sie war die einzige, die versuchen konnte, die Lebensumstände für ihre Damen (und natürlich auch ihre Herren) auf einem gewissen Level zu halten, sie war sich sicher, dass weder Mecklenburg-Vorpommern noch Thüringen auch nur eine Sekunde daran dachten, dass ihre Ware menschlich war.
 

Bernd sprach weiter. „... nun, ich möchte mich um die Verkaufsrechte für Dresden, Leipzig und-“ Er holte kurz Luft. „-Magdeburg bewerben.“ Das war die einzige Lösung, die ihm eingefallen war: mit dem Kopf durch die Wand. Angriff ist die beste Verteidigung. Wenn Mecklenburg-Vorpommern versuchte, ihn zu verdrängen, dann würde er einfach in sein Territoritum einmarschieren und dort Geschäfte eröffnen lassen. Genug Frauen hatte er zur Verfügung, die zurzeit wenig zu tun hatten. Dadurch würde sich eine Zeit lang verhehlen lassen, dass Mecklenburg-Vorpommern den Nischenplatz besetzte, und bis dahin würde Thüringen endlich genug Geld gemacht haben, um zu verschwinden.

Hamburg blickte ihn lange an. Er erwiderte den Blick ebenso intensiv wie sein Gegenüber. Einen Moment lang dachte Bernd, dass sie ansetzte, etwas zu sagen, aber die Tür, aus der Hamburg vor Kurzem noch gekommen war, öffnete sich. Ein Summen kündigte schon an, wer heraustreten würde, bevor der Spalt sich vergrößerte.
 

Hamburg vergrub einen Moment lang das Gesicht in ihrer Hand. Sie wusste manchmal wirklich nicht, warum sie sich überhaupt mit dem Idioten abgab. Dann sah sie wieder hin, und Fritz hatte nur ein Handtuch um die Hüften geschlungen, während seine Haare und sein Oberkörper tropften, scheinbar hatte er gerade geduscht. „Jette...“ Er sah sie stumpf an. „... ich habe Hunger...“ teilte er ihr mit, ehe er bemerkte, dass Thüringen anwesend war. Träge lächelte er ihn an und hob kurz die Hand. „Oh, hallo, Thüringen... was für ein Zufall, dass du auch hier bist...“ In seinen Worten schien nichts Böses zu liegen.

Ein paar Momente war alles still, nur unterbrochen vom ewigen Flügelschlagen der kleinen Fliegen, die Mecklenburg-Vorpommern überallhin begleiteten.
 

Dann erhob Thüringen seine Stimme und deutete erst anklagend auf Mecklenburg-Vorpommern, dann auf Hamburg, mit ausgestrecktem, zitterndem Zeigefinger. Seine Stimme war geradezu schrill. „Was soll das hier?! Sag nicht, ihr habt's miteinander getrieben?!“ Mecklenburg-Vorpommern legte den Kopf schief und schien angestrengt über diese Frage nachzudenken. Hamburg machte wieder Anstalten, ihr Gesicht in ihren Hände zu vergraben, stand dann aber auf, und sofort sprang auch Bernd auf.

„Thüringen.“ Ihre Stimme war ernst, aber Bernd tat eine abwehrende Geste, mit der er ihre Worte von sich wegwischen wollte. „Nichts Thüringen! Klappe, du Schlampe!“ Ihr Gesicht verdunkelte sich merklich. „Du Miststück hast uns die ganze Zeit belogen und betrogen und MANN EY! Wie kannst du noch so--- arghhhh!!“ Etwas irritiert trat Fritz einen Schritt zurück und Hamburgs Mund verzog sich zu einem schrägen Strich, während sie sich so manövrierte, dass sie vor Thüringen stand. „Da fällt einem doch nichts mehr ein!!“ Seine Stimme war dröhnend laut, und besorgt blickte einer der Türsteher in den Raum. Hamburg winkte ihn unauffällig nach draußen. „WIR HABEN DIR VERTRAUT, ZUMINDEST BIS JETZT!! Aber keine Sorge, du wirst unsere Rache noch zu spüren bekommen, du und deine ganzen kleinen Huren-“
 

Hamburg hatte ihre Hand erhoben und diese war brutal auf Thüringens Wange gelandet. „Raus.“ Ihre Stimme war ruhig, bestimmt und unglaublich wütend, und in ihren Augen loderte ein Feuer, das nicht ausgelöscht werden konnte.

Aber auch Thüringen war niemand, der Frieden suchte. Sein Herzschlag ging heftig, während er versuchte, sich zu beruhigen. Als er sprach, war seine Stimme nurmehr ein Zischen. „Wir-“

„Raus.“ wiederholte Hamburg im gleichen Tonfall und ihr Blick schien Bernd aufzuspießen und ihm seine Kehle umzudrehen. Erneut legte sich Stille über den Raum, dann drehte sich Thüringen um und nahm den direkten Weg zur Tür.
 

Jette drehte den Kopf zu Mecklenburg-Vorpommern, der sie nur ansah, als hätte er nichts begriffen. In Wahrheit hatte er einiges begriffen, aber er fand, es machte mehr Sinn, einfach zu schweigen. Ihre Stimme war kalt. „Du kannst ihm gleich folgen, Fritz. Weißt du, was für eine Katastrophe du gerade angerichtet hast? Ich will dich nicht noch einmal sehen.“ Mit einem etwas traurigen Gesichstsausdruck, von dem Hamburg sich allerdings nicht erweichen ließ, zeigte sie ihm den Weg zur Tür, verschwand in ihrem Schlafgemach und atmete, gegen wachsende Hysterie ankämpfend, tief ein und aus.

Mecklenburg-Vorpommern machte sich auf den Weg nach Hause, und auf dem Weg nach draußen ließ er noch in einem seltenen Anflug von Geistesgegenwart einen Anzug mitgehen, bevor er sich auf sein Fahrrad schwang und losradelte.

Thüringen hatte sich schon in seinen Wagen gequetscht und fuhr auf direktem Wege nach Bremen. Wenn das genauso ein Disaster werden würde, würde er jemanden umbringen.

Geduld und Zeit

Bernds Zorn war nicht verraucht, als er endlich einen Fuß auf den Boden in Bremen setzte. Er hatte für die Strecke, die eigentlich innerhalb von eineinhalb Stunden abgefahren werden konnte, drei Stunden gebraucht. Verfluchte Leute, die es nicht hinkriegten, anständig zu fahren. Dann war da halt ein Baum auf der Fahrbahn, na und?! Kein Grund, ein großes Trara zu machen. Boah.

Aber er musste sich beruhigen. Die Drogen waren seine wichtigste Einnahmequelle. Ewig lange Plantagen tief im Herzen des Thüringer Waldes hatten ihm seinen bisherigen Reichtum und seine Zugehörigkeit zu Dominus Tecum gesichert. Aber er wollte mehr – er hatte sich noch im Bereich der Prostitution festgesetzt, und nun, nach dieser Situation – sein Puls stieg bei der Erinnerung daran – würde er sich abschminken können, jeweils wieder einen Fuß in ein deutsches Bordell setzen zu können, ob als Freier oder als Besitzer. Ohne Hamburgs Wohlwollen... er musste sich jetzt umso mehr auf Drogen konzentrieren!!

Schnell lief er den Weg hinab durch alte Straßen bis zu einem modern wirkenden Hochhaus. Er rannte durch die Lobby in den Glasfahrstuhl und drückte ein paar Mal brutal auf die Zahl Sieben, bis das dumme Ding endlich anfing, loszufahren. Schwer genervt seufzte Thüringen und schob noch schnell seine schwarze Krawatte zurecht, bis die Türen mit einem leisen Pling auffuhren und den Blick freigaben auf einen Konferenzraum. Zwei junge Männer mit hellen Haaren saßen an einem kleinen runden Tisch und ein etwas älterer Herr in Anzug deutete auf ein aufgeschlagenes Buch und erklärte scheinbar den Text.
 

Thüringen räusperte sich laut. Man sah auf und blickte ihn an. Etwas nervös blickte der jüngere der beiden Geschwister, Hein, zu seinem älteren Bruder, auf dessen Mund sich ein breites Lächeln ausbreitete, während er dem Assistenten Bescheid gab, dass er sich zurückziehen konnte. „Thüringen!! Wie cool, dass du da bist. Wie geht’s dir denn so?“

Bernd betrachtete die beiden. Sein kleiner Finger zuckte nervös. Er ließ sich unaufgefordert auf einen Stuhl sinken. Bremerhaven ließ ein kaum bemerkbares Hüsteln vernehmen. „Gu-Guten Tag, Thüringen...“ sagte er leise und schaute sofort wieder weg. Er überragte den Bruder, der neben ihm saß, um einiges, dennoch war er noch kleiner als Thüringen, und das erleichterte Bernd.

„Hallo. Es geht um die Ware von letztem Monat.“ Wenn er die beiden jetzt einfach ein wenig austrickste... man musste in dieser Branche einfach aufpassen, es würde nicht seine Schuld sein, wenn die Brüder auf ihn hereinfielen. „... sie war gestreckt. Ich bin nicht zufrieden. Ich verlange eine Entschädigung.“

Selbstbewusst überkreuzte er die Arme vor der Brust. Bremen und Bremerhaven tuschelten leise miteinander. Sie wussten nicht, was sie darauf sagen sollten. Also ließ Bremen kurzerhand eine Hand auf den Tisch gleiten, und bevor Bremerhaven ihn daran hindern konnte, erwiderte er Thüringen mit einem schnippischen „Das kann nicht wahr sein!“

Bernds altes Handy klingelte. Düdeldüdi, düdeldüdi. Er nahm ab und hörte einen verstimmt klingenden Hessen am anderen Ende der Leitung. „Thüringen. Bayern ist gerade höchst … mit den Nerven am Ende. Bitte sag mir, dass du Erfolg hattest bei Hamburg.“ Seine Stimme wurde leiser. „Sie fletscht schon die Zähne...“ Thüringen, an seine Niederlage erinnert, grummelte nur etwas Unverständliches, bevor er klare Worte aussprechen konnte. „Nein, die Kuh hat was mit MeckPom. Und jetzt ist das ganze Geschäft da am Ende.“

Stille. Dann ertönte Bayerns wütende, schimpfende Stimme am anderen Ende.

„DU!! Diringa, du saubleda Depp! Wia kannsdas dawagn, so a simpls Gschäft zua vahunzen?! Dei Schuid werds seign, wennma oisammd ins Armahaus kimma!!

Sakrelidn, dasda fei ersd wiadakimmsd, wennsd dan Stoiz daschlogn host und ankriachsd wia da valausde Sauhund dersd bisd! “

Thüringen hob sich das Telefon weit vom Ohr weg, er verstand sowieso nichts, wenn Bayern wütend war und in ihrer eigenen Sprache schimpfte, und als sie scheinbar geendet hatte, machte er sich bereit, lauter zu schreien und sie mit einer Schimpftirade zu überziehen, die die Welt noch nicht gesehen hatte, aber da war schon aufgelegt. Die neugierigen Blicke von Bremen und Bremerhaven taten ihr Übriges.
 

„Guckt mich nicht so dumm an, ihr Blödföne, ihr seid eh viel zu dumm für dieses Geschäft, boah, wisst ihr eigentlich, wie schrecklich dösig ihr seid?! Schlimmer als dieses transusige Mecklenburg-Vorpommern!! Ich meine-“ Eine ausladende Geste. Das Blatt auf seinem Kopf war kaum mehr vorhanden, nur noch ein Aschewölkchen brannte lichterloh auf seinem Kopf. „-ihr merkt's ja nicht einmal, dass ich euch hier über den Tisch ziehen will!! Seid ihr als Kinder zu oft auf den Kopf gefallen?! Hattet ihr überhaupt jemals Gehirnzellen?! Schrecklich!! Mit solchen Brummochsen wie euch hält man's echt nicht mehr aus!! Ich GEHE!“
 

Damit verschwand er aus dem Gebäude und hatte auch seine letzten beiden Partner ziemlich sicher vergrault. Allein die Gesichtsausdrücke der beiden – hauptsächlich der von Bremerhaven, Bremen hatte nur gedankenverloren in die Luft gestarrt – hatten Funken gesprüht und schienen ihm gesagt zu haben, dass er sich nie wieder blicken lassen sollte. Dann war Bernd in eine Seitengasse verschwunden, und als er wieder herauskam, hatte sein Magazin eine Kugel weniger und Bernd hatte sich ein wenig abreagiert. Laut fluchend stieg er zurück in sein Auto und fuhr los.
 

Er fuhr in Richtung Bayern. Mit einem einzigen Wunsch. Nie wieder würde er für diese Henne auch nur einen Finger krümmen – außer für ihren Tod.

Fünf Minuten vor der Zeit ist des Preußen Pünktlichkeit

Überpünktlich, um fünf vor Eins, kam Albrecht am vereinbarten Treffpunkt mit Berlin an, einer alten Eiche im Tierpark. Paul hingegen ließ sich Zeit und kam erst zwanzig Minuten später ruhig angeschlendert, während er in der rechten Hand einen Döner hielt und ihn gedankenverloren zerkaute. Man reichte sich die Hand, und Brandenburgs Herz fing bei der Berührung an, schneller zu schlagen.
 

Er wusste selbst, dass dies nicht sein durfte. Das war eine Katastophe. Berlin war ein äußerst kompetenter Informant, und Albrecht kannte ihn schon ewig, noch bevor er jemals in die Mafia eingestiegen war – freilich, ohne dass Berlin ihn gekannt hatte. Paul war der Deutschlehrer seines Sohns gewesen, und obwohl Albrecht niemals auf Elternabenden gewesen war, hatte er gewusst, dass sein Sohn bei „Herr Albrecht“ (er hatte schon damals ein wenig darüber schmunzeln müssen) gut aufgehoben war. Paul war persönlich vorbeigekommen, nachdem Nikolai gestorben war, und er war der einzige gewesen, der in dieser Zeit für Albrecht da gewesen war mit seiner unnachahmlichen, sorglosen Art. Glücklicherweise hatten sie nie über Brandenburgs Beruf gesprochen – erst, als er Mitglied geworden war bei den Schwertfischen, und damals hatte sich dann enthüllt, dass Berlin schon seit Jahren ein geheimer, unabhängiger Informant für beide Gruppen gewesen war. Und hier zeigte sich das Problem: Berlin lebte auf extrem gefährlichem Fuß. Es war ein lukrativer Job, aber zwischen den Fronten gefangen zu sein, hatte sein Leben schon mehr als einmal in große Gefahr gebracht. Albrecht hatte nicht vor, seinen besten Freund – von dieser Beziehung zwischen den beiden ahnten weder die Schwertfische noch Dominus Tecum etwas – in noch größere Gefahr zu bringen, indem er ihn auf eine Seite zog. Dominus Tecum wusste viel zu viel von ihm, und er wusste zu viel von Dominus Tecum, als dass sie ihn würden leben lassen können, sollte er sich für Brandenburg – und damit die Schwertfische – entscheiden.

„Auch 'n Bissen?“ fragte Berlin und hielt Brandenburg den angefressenen Döner hin. Brandenburg verneinte höflich, stattdessen holte er einen Umschlag aus seinem dünnen Mantel heraus und übergab ihn Berlin, der ihn kurz ansah und dann zerknüllte, damit er in seine Jackentasche passte. Trotzdem guckte am Ende ein braunes Zipfelchen heraus, aber das störte Berlin nicht.

Sie sahen sich lang schweigend an. Dann grinste Berlin. Er war froh, dass Brandenburg überlebt hatte. Er hatte sofort gewusst, was geschehen sollte, als Baden ihn nach Informationen bezüglich Brandenburgs Leben gefragt hatte. Bei jedem anderen hätte er die Informationen wohl weitergegeben, aber nicht bei Albrecht. Die Vorstellung eines toten Albrechts, der, noch schlimmer, durch seine Schuld umgekommen war, schnürte ihm die Kehle ab. Schon der Anblick damals, vor ein oder zwei Jahren, als er in die kleine Wohnung gekommen war, die Albrecht alleinerziehend mit seinem Sohn bewohnt hatte, als der Vater ohne Sohn ihn mit geröteten Augen angesehen hatte und ganz allein auf der Welt gewesen war, hatte ihm schon einen Schauer über den Rücken gejagt, und damals hatte der Lehrer sich selbst versprochen, an Albrechts Seite zu bleiben, bis er wieder würde lachen können. Aber bis heute hatte er dieses wertvolle Lachen nur ein oder zwei Mal sehen dürfen – seine Aufgabe war also noch nicht beendet, und im Gegensatz zu allen anderen Aufgaben nahm er diese hier ernst.
 

„Ich brauch deine Hilfe, Keule.“ teilte er Brandenburg mit. Sie hatten sich zwar auf Brandenburgs Initiative hin getroffen, schließlich musste er den Brief weitergeben, aber nach dieser Falschinformation, die er Dominus Tecum gegeben hatte, wusste er, dass er nicht mehr so weitermachen würde können wie bisher. Er blickte Albrecht uncharakteristisch ernst in die Augen. „Ich will ein Schwertfisch werden.“

Das kam unerwartet. Brandenburg schüttelte spontan den Kopf. „Das ist viel zu gefährlich.“ Was war in Berlin gefahren? Albrecht spürte, wie der Schweiß anfing, von seinem Nacken zu tröpfeln, obwohl es so kalt war, dass er die Arme vor der Brust verschränkt hatte. „Sie werden dich umbringen. Ganz sicher. DT ist gefährlich.“ Albrecht merkte nicht, dass er anfing, zu zittern.

Paul winkte ab, ließ achtlos das leere Dönerpapier fallen und steckte sich eine Zigarette an. Erst, als sie sicher in seinem Mund war, blickte er wieder Albrecht an. In seinen klaren blauen Augen zeigte sich nicht das kindische Verhalten, das ihn sonst ausmachte, sondern ein tiefes Verständnis der Lage. „Ich hab' ihnen falsche Informationen zugespielt. Sobald sie das rausfinden, bin ich tot. Wenn ich nicht euren Schutz kriege, kann ich bald die Radieschen von unten bewundern, oder die Typen werfen mich in die Spree. Zu den Bullen kann ich auch schlecht gehen.“ Er zwinkerte. „Außerdem will ich eh bei euch mitmachen, seitdem du auch dabei bist.“ Er blies Rauch aus, sodass seine Sicht etwas eingeschränkt wurde, ansonsten hätte er wohl gesehen, dass sich auf Brandenburgs Wangen eine Röte schlich.
 

Gegen diese Argumentation konnte er nichts sagen. Nur eine einzige Sache fiel ihm ein: er war selbst ein Bulle. Es würde nicht mehr lang dauern, bis er und seine Vorgesetzten diese Schwertfische aufgeräumt hatten. Und wenn Berlin dann auch noch dabei war, würde er sicherlich nie wieder das Tageslicht erblicken. Auf der anderen Seite hatte Paul Recht. Sie würden ihn töten. Je nachdem, zu welchen Folgen diese Falschinformation geführt hatte.

Alles führte schnurstracks in die Katastrophe. Albrecht wusste nicht, wie er die Situation retten konnte. Seine Handflächen klebten geradezu aneinander vor Nervösität, als er mit flimmerndem Blick Berlin ansah. „Ich-“ setzte er an, wurde aber von einem breit lächelnden Berlin unterbrochen, der ihm auf die Schulter klopfte. Brandenburg verspannte sich. „Danke, Alter! Du rettest mir echt das Leben damit, weißte das? Ok, wo kann ich mich einschreiben?“
 

Albrecht sollte inzwischen daran gewöhnt sein. Er nahm Berlins Hand und entfernte sie vorsichtig von seiner Schulter. „So einfach ist das n-“ „Albi, ich hab' dir dein Leben gerettet, jetzt bist du dran, mir meins zu retten!“

Pauls Lächeln war noch immer sorgenfrei, und man sah auf den ersten Blick, dass er diese Rechnung nicht ernst nahm, sondern nur irgendwie versuchte, Albrechts Schild zu durchbrechen. „Komm schon.“ Wieder fand seine Hand den Weg auf Albrechts Schulter.

Dieser seufzte auf.

„Ich spreche mit Schleswig-Holstein. Aber ich kann nichts-“ „Super!!“ wurde er von Berlin unterbrochen, der seine Hand nahm. Erst in diesem Moment bemerkte Albrecht, dass ihm kalt war, denn Pauls Hand war warm, und während sie die seinige umschloss, stieg eine angenehme Hitze in ihm auf. Dann fing der Berliner an, ihn mit sich zu ziehen. Albrecht stolperte nur hilflos hinter ihm her, bis die beiden bei einem kleinen Zweisitzer angekommen war, der in allen möglichen Farben des Regenbogens lackiert war. Berlin zerrte Brandenburg auf den Beifahrersitz und stieg selbst, noch immer eine Rauchfahne hinter sich herziehend, links ein.

Während er den Schlüssel umdrehte, rief er ein lautes „Auf nach Kiel!“ aus.

Der gute Stern auf allen Straßen

Nach einigen Stunden flatterte ein Bild, datiert auf 13 Uhr mittags, in den Posteingang von Bayerns schickem, blauweißem Laptop. Es zeigte einen quicklebendigen Brandenburg, der neben einer alten Eiche stand und in den Himmel starrrte und allgemein nicht sehr tot aussah. Außerdem hatte er noch all seine Finger.

Zenzie war nicht sehr erfreut. Er lebte also noch. Baden und Württemberg hatten versagt, und warum sollten sie versagen? Sie waren weltbekannt, nicht zu versagen. Sie hatten absichtlich versagt. Bayern hatte schon immer vermutet, dass irgendetwas nicht stimmte, aber dieses Bild von Brandenburg, der noch lebte; das Wissen darum, dass Baden-Württemberg sie angelogen hatten, das Wissen, dass man den beiden nicht vertrauen konnte, und die Vermutung, dass sie als nächstes Opfer Zenzie höchstselbst ausgesucht hatten... nun, gelinde ausgedrückt, war sie nicht sehr erfreut über all diese Informationen.
 

Angestrengt diskutierte sie diese neue Sachlage mit Hessen und Rheinland-Pfalz; Saarland war gerade zuhause und beschäftigte sich mit ihren Geschäften. Als dann auch Thüringen mitteilte, dass er versagt hatte, riss ihr Geduldsfaden vollständig und sie fing an, ihn durch das Telefon anzubrüllen. Nachdem Hessen freundlicherweise aufgelegt hatte, stützte sie die Arme auf dem edlen Tisch auf und vergrub ihre Gesicht frustriert in den Handflächen. Rheinland-Pfalz sagte etwas, aber Bayern hörte nicht zu. Alles ging den Bach hinunter. Aber sie hatte ihrer Großmutter versprochen, dass sie Dominus Tecum – ein Name so ironisch wie spöttisch – noch weiter bringen würde, als all ihre Vorfahren vor ihnen. Sie durfte sich nicht von diesen marginalen, kleinen Rückschlägen beirren lassen. Wenn man sie töten wollte, dann würde sie eben Baden-Württemberg zuvorkommen und eher die beiden töten. Und was Thüringen anging... der würde sich schon wieder einkriegen, der kriegte sich immer wieder ein. Thüringen explodierte ein einziges Mal, dann war eine Weile lang Ruhe.
 

Zenzie erläuterte ihren beiden Gefährten den Plan und rief Saarland aus ihrer Heimat zurück. Sie brauchte jetzt alle aus ihrem engeren Kreis, die ihr loyal waren. Niemand sollte jemals Menschen unterschätzen, die sich ihren Unterhalt damit verdienten, andere Menschen zu töten. Rheinland-Pfalz warf die Idee ein, dass man Brandenburg auf die beiden ansetzen könnte, und mit etwas Glück würden sie sich alle drei gegenseitig ausschalten. Bayern nickte. Hervorragend. Sie wählte Brandenburgs Nummer.
 

-
 

Eine Autobahnraststätte irgendwo in der Nähe von Nürnberg diente als Besprechungszentrale am frühen Abend. Eben noch waren Max und Lukas kurzzeitig nach Stuttgart zurückgekehrt (während Max in der Königsstraße einige Statuen getreten und wütend das Straßburger Emblem betrachtet hatte und Lukas einfach nur fröhlich pfeifend gewartet hatte, während sein Partner beschäftigt gewesen war) und sie hatten sich schon auf den Weg nach Sachsen gemacht, um dort einen anderen, nicht ganz so wichtigen Auftrag zu erledigen, da hatte sie ein ebenso unwichtiger Informant angerufen. Auch die beiden Attentäter waren also nicht ganz von der Außenwelt abgeschnitten, auch sie waren schon im Bilde, dass Brandenburg noch am Leben war – dass sie versagt hatten. Und im Gegensatz zu anderen versuchten sie nicht, die Schuld von sich zu schieben.
 

Es war der erste Misserfolg ihrer Profikarriere, und das schmeckte beiden nicht sehr gut. Als Kinder waren sie oftmals durch den Schwarzwald gestreift und hatten kleine Tiere, Eichhörnchen, Marder oder Mäuse – alles, was sie in die Finger bekommen hatten – gefangen, manchmal wieder freigelassen aber meistens getötet. Die Eltern der beiden, ein altes Ehepaar, das keine eigenen Kinder hatte bekommen können und die beiden separat adoptiert hatten, hatten sich nicht darum gekümmert, was die beiden taten, wenn sie auf ihren Abenteuern im Wald unterwegs waren. In dieser Zeit waren beide auf den Geschmack von Macht gekommen, die sie über die hilflosen Tiere gehabt hatten, und nachdem ihre Adoptiveltern gestorben waren, hatten die beiden getrennte Wege eingeschlagen. Maximilian war Mitglied einer Jugendgang geworden, die den Umsturz des bestehenden Systems gefordert hatte, und Lukas hatte eine Lehrstelle bei der Polizei erhalten. Beide waren also mit Gewalt und teils auch Tod in Berührung geblieben. Erst, als sie beide offiziell volljährig gewesen waren, war die jüngere Schwester ihrer Adoptivmutter auf sie zu gekommen – die Mutter Zenzies, und sie hatte den beiden eine lukrative Anstellung in der Firma ihrer Tochter versprochen. Seit damals mordeten die beiden für Zenzies Familie, auch, als Zenzies Mutter – Franziska – verstorben war, und seit damals hatte Max Probleme damit gehabt, Befehle zu befolgen.

Lukas hatte als Mittagessen für beide eine Portion Spätzle mit Gemüse besorgt und stellte die Teller vorsichtig auf den kleinen, dreckigen Tisch. Außerdem hatte er noch etwas Geld für ein kleines Schokocroissant ausgegeben, das friedlich in die Mitte gelegt wurde, damit sie es fair würden teilen können. Demotiviert stocherte Max in dem Fraß herum mit dem Plastikbesteck, das beilag, ehe er sich seufzend daran machte, es zu essen – lieber den Magen verrenken als dem Wirt was schenken.
 

„Ich wette, Bayern murkst uns ab, wenn wir zurückkommen.“ Seine Stimme war düster. Württemberg sah ihn nur mit einem naiven Lächeln an. „Warum sollte sie das tun?“ Baden rollte mit den Augen. Allein diese Stimme zu hören, machte ihn wütend, und er wusste bis heute nicht genau, warum er so heftig auf alles reagierte, was Lukas tat. „Alla Mensch, das muss doch aussehen, als hätten wir uns ihr widersetzt!“ Die Spätzle sahen ihn aus matschigen Augen traurig an. „Als hätten wir irgendwem den kleinen Finger abgeschnitten und ihn ihr gegeben, weil wir wollen, dass Brandenburg am Leben bleibt oder so! Das ist Verrat, Lukas, und...“ Er hob beide Augenbrauen, und als er weitersprach, sprach er mit vollem Mund. „... und das gefällt ihr ned. Die hat mich eh voll auf'm Kieker.“ Er rollte mit den Augen. „Berechtigt.“
 

Als Antwort erhielt er ein nachdenkliches Nicken. „Dann ist es jetzt Zeit für den Plan.“

Augenblicklich erhellte sich Max' Gesicht. „Ernsthaft? Saugeil!“ Der Plan besagte natürlich, dass sie Bayern töten würden und sich selbst als neue Paten installieren würden. Sollte sich irgendjemand beschweren – hauptsächlich ging die Gefahr von Rheinland-Pfalz und Saarland aus – dann würden diese eben auch ins Gras beißen müssen. Irgendwie musste es schließlich zum Vorteil sein, professioneller Attentäter zu sein. Ein Grinsen schlich sich auf sein Gesicht. Er hatte schon so lang darauf gewartet, dass Württemberg endlich auch zustimmen würde. Ohne ihn konnte er das einfach nicht durchführen. So sehr es auch schmerzte, das zuzugeben – ohne Württemberg war er verloren, in jeder möglichen Hinsicht.
 

Badens altes Handy klingelte, und als er abnahm, hörte er überraschenderweise Thüringens Stimme. Während er nicht hinsah, stibitzte Lukas ein paar Spätzle von seinem Teller. Jedes Wort aus dem Mund des Thüringers ließ das Grinsen auf seinem Gesicht breiter werden, und als er auflegte, sah er Württemberg aus manisch leuchtenden Augen an.

„Thüringen macht mit beim Plan. Ich hab's nicht genau verstanden, aber er hat genug von diesem 'katholischen Blödfön', wie er Bayern genannt hat.“ Lukas lächelte amüsiert. Blödfön... diese Ossis waren schon lustig, da waren sich beide einig. Ein Blick aus hellen blauen Augen traf auf dunkle blaue Augen. Wieder einmal war man sich einig, wieder einmal wusste Baden nicht, warum er das ständig negierte – wieder einmal wandte er hastig den Blick ab und fing an, die restlichen Spätzle auf seine Gabel zu stapeln.

„Es muss wie ein Unfall aussehen.“ teilte Lukas ihm mit; Max rollte mit den Augen und kramte in seinem schwarzen Anzug herum, ehe er ein zusammengerolltes Stück Papier fand und wieder mit vollem Mund sprach, nachdem er es unsanft in Richtung seines Gegenübers geworfen hatte. „Das haben wir doch schon seit Jahren geplant.“
 

„Ach richtig...“ Konzentriert studierte Württemberg den Plan, während Baden anfing, seine Intelligenz zu beleidigen, bis der andere fertig war. Er sah ihn optimistisch an. „Morgen um die Zeit ist Dominus Tecum dann schwäbisch.“

„Badisch!“ bekam er als gefauchte Antwort.

„Beides.“ Lukas lehnte sich zurück, und Max blickte die Fliesen der Raststätte an. Sein Nicken war kaum zu sehen, aber sein Partner sah es auch mit geschlossenen Augen.

Wenn die Deiche brechen

Frische Seeluft. Möwen kreischten laut und flogen über die Köpfe der beiden hinweg, während Brandenburg Berlin nicht ganz sicher über die Richtigkeit dieser Mission zu ihrem Hauptquartier geleitete.

Es war ein kleines Appartement mitten in der Innenstadt, direkt über einer N*rdsee gelegen, sodass immer der Geruch von angebranntem Fett im Hauptquartier verblieb. Brandenburg scheuchte Berlin die Treppen hinauf, der sich neugierig umsah – hier war er noch nie gewesen, so enge Kontakte er auch zu der Mafiafamilie hatte. Den Großteil der Wohnung nahm ein riesiger Tisch ein, der den gesamten Raum dominierte. Brandenburg wusste, dass rechts vom Gang eine Toilette war und links davon der Schlafraum von Schleswig-Holstein. Eine Küche gab es nicht, denn der Besitzer der Wohnung ging meistens im Fast Food-Restaurant unter ihm essen.
 

„Chef?“ fragte Brandenburg leise. Aus dem Schlafzimmer kommend konnte man laute Geräusche hören, die in etwa klangen, als wäre jemand ganz überraschend erwacht und hätte sich den Fuß an einem Bettpfosten angeschlagen. „Brandenburg??“ kam die Frage aus dem Raum. Berlin streckte schon die Hand aus nach der Türklinke, aber Brandenburg konnte ihn im letzten Moment daran hindern.
 

„Ja.“ Wenige Momente später erschien ein sehr derangiert wirkender Otto im Türrahmen und sah die beiden verschlafen an. „Was gibt’s? Gibt’s Probleme? Muss ich dich beschützen?“ Brandenburg schüttelte abwehrend und deutete auf Berlin. „Das ist Berlin. Er ist mein- also, unser Informant. Sie werden sicherlich-“

Schleswig-Holstein unterbrach ihn. „Natürlich, natürlich, Berlin, hallo, Berlin!“ Ein kleines Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht, dann runzelte er uncharakteristisch die Stirn. „Und, äh, warum ist er hier? Ist er nicht unabhängig? Er sollte sich lieber nicht bei uns blicken lassen!“

Albrecht atmete tief ein. Er machte sich bereit dazu, seinem Chef alles zu erklären und eine Abfuhr zu erhalten und Paul... Paul zu verlieren an die kalten Klauen des Todes. Aber mal wieder wurde er von Pauls Aktionismus überrumpelt. „Ich hab' mich entschieden, dass ich bei euch mitmache.“ Seine Zigarette erfüllte den Raum mit Rauchgestank, und er vermischte sich mit dem Fischgestank zu einer völlig neuen, atemberaubenden (im wahrsten Sinne des Wortes) Melange. Schleswig-Holstein sah ihn lange an. Brandenburg guckte nervös auf seine Füße. Oh Gott, ohjemine, das konnte niemals gut gehen.

„Warum denn?“ Ottos Augen waren groß und neugierig. Er konnte sich nicht vorstellen, dass jemand seiner Organisation beitreten wollte – andererseits schmeichelte es ihm auch. Das hieß schließlich, dass er seine Arbeit als Chef gut machte! Er war stolz auf sich. All die harte Arbeit hatte sich ausgezahlt. Das war der erste Mensch, der sich freiwillig in den letzten Jahren den Schwertfischen angeschlossen hatte, und das nur dank Ottos exzellenter Arbeit als Chef. Erwollte sich auf die Schulter klopfen.

„Na, ich will bei Brandenburg sein!“ Damit legte er nonchalant einen Arm um den anderen und Albrecht blickte weiterhin seine Schuhe an, als würde sich die gesamte Welt um die Existenz dieser beiden Schuhe drehen. Daher merkte er nicht, wie sein Chef beleidigt den Mund zu einem Schmollmund verzog. Berlin wollte also nicht Teil seiner Gang werden, weil er so gute Arbeit geleistet hatte, sondern weil er einfach nur ganz simpel Brandenburg mochte? Das verletzte Otto. Er sprach, ohne sich selbst zu hören.

„Nö. Wir haben genug. Werd' wieder Informant.“ Berlin runzelte die Stirn, und auch Albrecht sah hoch – vielleicht, um zu widersprechen – aber Otto drehte sich mit vor der Brust verschränkten Armen um und stolzierte zurück in sein Zimmer. „Bis dann, Berlin!!“ rief er ihm zu, bevor die Tür mit einem Knall zufiel.
 

Berlin und Brandenburg standen alleingelassen im Gang. Dann wandte Berlin den Kopf zu Brandenburg. „Das hat jetzt nicht so gut geklappt, oder?“

Ja. Das konnte man so ausdrücken. Brandenburg klopfte an die Tür. „Schlesw-“ Er wurde von einer lauten, uncharakteristisch herrischen Stimme unterbrochen. „Lass mich!!“ Unsicher zog Brandenburg die Hand wieder zurück und sah wieder zu Berlin, dessen Augen sich einen Moment lang panisch weiteten. Dann beschloss er scheinbar, dass die Situaiton doch nicht gefährlich war, und teilte Albrecht mit, dass er jetzt erst einmal Kohldampf hatte und was Essen gehen wollte, und dass Albrecht ihn einladen würde. Mit einem Schulterzucken bejahte Albrecht und kurz darauf saßen die beiden in einem kleinen Straßencafé. Albrecht hatte sich einen starken schwarzen Kaffee bestellt, während Paul vor einem Stück Erdbeerkuchen mit Schlagsahne und einem Milkshake saß und die beiden Speisen nur einen kurzen Moment lang gierig ansah, ehe er anfing, sie unordentlich zu essen, dass sein warmer Winterpullover an mehreren Stellen befleckt wurde. Albrecht nahm ein paar vorsichtige Schlücke des heißen Getränks und versuchte, seine Nerven zu beruhigen und seine Gedanken zu ordnen. Wenn er Berlin nicht in Schwertfisch hinein bekäme, dann würde er höchstwahrscheinlich bald sterben. Tief atmete er durch. „Was waren die Falschinformationen, die du überliefert hast? Also... irgendwie haben sie mir das Leben geretttet, ja?“

„Och,...“ setzte Berlin an, „die wollten dich umbringen, also hab' ich ihnen die falsche Hausnummer gesagt und jetzt ist da irgend so ein armer Typ tot.“ Albrecht spuckte den Kaffee geradewegs zurück in die Tasse. Bitte?! Er verschluckte sich dennoch an dem Restkaffee, der noch in seiner Kehle war, und als er sprach, hörte er sich eher wie ein röchelnder Verdurstender an. „T-tot?!“

Berlin zuckte mit den Schultern. „Ja, ich wollte halt nicht, dass sie dich erwischen. Und sie haben ganz schön Knete gegeben.“ Er zwinkerte und aß einen weiteren Bissen. Brandenburg blickte in ein paar Herzschläge lang an. Dann hüstelte er. Als harter Mafiahund war er natürlich daran gewohnt, dass Menschen starben. „Achso. Ja. Danke.“ Der Blick, den er von Berlin erhielt, war seltsam, fast ein wenig enttäuscht.
 

Synchron räusperten sie sich sich. Sofort winkte Albrecht ab, um Paul zu verstehen zu geben, dass er reden sollte, was dieser sich nicht zwei Mal sagen ließ. „Ja. Das war's eigentlich. Ich hoff' nur, die erwischen jetzt nicht mich deswegen.“ Albrecht schüttelte den Kopf. Niemand würde ihm Paul wegnehmen, als seinen einzigen, besten Freund, der so viel mehr sein sollte.

„Wir schaffen das.“ Seine Stimme war leise und er starrte in seinen trüben Kaffee ohne Milch und ohne Zucker. „Die kriegen dich nicht. Keiner von denen wird dich kriegen.“ Als er aufsah, war Berlins Mund von einem breiten Lächeln überzogen, das kleine Explosionen in Albrechts Innerem zu verursachen schien. Erneut räusperte er sich. „Solange ich da bin, stirbst du nicht. Eher sterben alle anderen.“

Zwischen zwei Welten

Etwa zwei Stunden waren vergangen, ehe Hamburg in den großen schwarzen Wagen, begleitet von ihren beiden Bodyguards auf Motorrädern stieg und sich ebenso wie Thüringen vor ihr auf den Weg nach Bremen machte. Zu ihrem Glück hatte sich der Stau, der Thüringen um den Verstand gebracht hatte, aber nahezu aufgelöst, und so kam sie nach eineinhalb Stunden in Bremen an. Es war sehr windig, und ihre Haare flatterten, während Möwen schrill und unangenehm laut kreischten. Sie musste mit den Bremer Brüdern reden, über … über Thüringen. Sie würde sich auf gar keinen Fall in die Geschäfte der beiden einmischen – schließlich waren sie, genauso wie Jette, die unangefochtenen Könige Deutschlands in ihrer Branche – aber sie musste wissen, was Thüringen in einem seiner legendären Wutanfälle zu den Brüdern gesagt hatte. Damals, als sie alle noch Kinder gewesen waren, hatte Hamburg lang in Bremerhaven gewohnt, wo die Brüder aufgewachsen waren, und ihre Mutter hatte sie abends oftmals den Eltern von Bremen und Bremerhaven übergeben, wenn sie mal wieder arbeiten hatte gehen müssen. Hein hatte sie niemals wirklich kennen gelernt – als er geboren worden war, war Jette alt genug gewesen, auf sich selbst aufzupassen – aber Roland sah sie auch heute noch als ihren Bruder an. Obwohl sie in verschiedenen Städten und auf verschiedenen Ebenen tätig waren, versuchte sie, den Kontakt aufrecht zu erhalten, auch wenn es schmerzte, an ihre Kindheit erinnert zu werden.
 

Vor dem Geschäftshaus der Brüder fiel ihr Blick auf eine seltsam wirkende Frau. Ein wenig fasziniert betrachtete sie sie. Lange, weder helle noch dunkle Haare fielen lockig über ihre Schultern, während sie an die Betonwand angelehnt saß. Sie wirkte unscharf, verschwommen. Als sich die Blicke der beiden trafen, meinte Hamburg, ein Glimmen in den Augen der anderen Frau zu sehen, dass ihr ein Schauer über den Rücken lief. Mit einem Winken blieben die beiden Herren, die sie ständig begleiteten, vor der Tür stehen, während Hamburg sich niederkniete zu der fremden Frau, die nicht einmal blinzelte. Sie trug warme Kleidung – verständlich, denn die Kälte zerrte an jedem der Anwesenden – und war über und über behängt mit Naturschmuck – getrocknete Blumen, Insekten in Bernstein eingeschlossen und ähnliches.

Die beiden blickten sich an, ehe die Fremde mit dem Kopf schüttelte. „Wenn du ihm jetzt nicht folgst, dann stirbt er einsam und vergessen.“ Hamburg verzog den Mund und lächelte nervös. Sie wusste genau, von wem die Fremde sprach, und tief in ihrem Inneren konnte sie spüren, dass sie Recht hatte und dass sie bei ihm sein sollte.
 

„Entschuldigen Sie. Das macht keinen Sinn, von wem sollten Sie denn sprechen? Tsk.“ Hamburg schüttelte den Kopf und warf der Frau einen weiteren tiefen Blick zu. „Sie sind hübsch. Möchten Sie nicht bei mir arbeiten? Das wäre doch besser, als bei dieser Kälte hier draußen zu erfrieren.“ Tatsächlich meinte Jette es nur gut, aber vehement schüttelte die Fremde den Kopf. „Ich verkaufe nicht meinen Körper. Ich verkaufe nur meine Seele...“ Sie blickte geistesabwesend auf den Boden.

Beide verharrten noch eine Weile, dann stand Hamburg auf und sah aus dem Augenwinkel, dass Bremen und sein kleiner Bruder aus dem Gebäude rannten. Bremen trug ein breites Grinsen und stoppte ein paar Zentimeter vor Hamburg. Sie lächelte ihn etwas gezwungen an.

„Roland. Es ist schön, dich zu sehen.“ Ihre Gedanken rasten. Noch einmal blickte sie zur Seite, aber die seltsame Frau war verschwunden. Aber sie war keine Einbildung gewesen. Oder? Nein. An der Stelle, an der sie gesessen hatte, lag eine einzelne, verwelkende Blüte. Hamburg fühlte, wie ihr Herz heftig gegen ihre Brust schlug. „Was gibt’s denn, Jette, was machst du hier?“ fragte Roland in seiner typisch fröhlichen Art und riss sie aus ihrer kurzzeitigen Apathie, und als sie ihn ansah, wusste sie, dass es andere Prioritäten gab.
 

„Ich- Entschuldigt mich. Ich muss wieder weg. Es geht mir nicht gut. Könnte ich euch um einen Gefallen bitten?“ Bremen nickte sofort. „Würdet ihr für ein paar Tage auf meine Geschäfte aufpassen? Es dauert wohl etwas länger.“ Bremen nickte erneut. Hamburg sah ihn dankbar an. „Ole!!“ rief sie einen ihrer Leibwächter und nach einer kurzen Umarmung, in die sie die beiden Jungs zog, die beide kleiner als sie selbst waren, ließ sie sich von ihm zurück zum Auto geleiten. Bremen winkte ihr freudig hinterher und Bremerhaven stand etwas betreten neben ihm. Als sich die schwarze Karosse entfernt hatte, hörte Bremen abrupt auf, zu winken, und sah seinen Bruder an. Dieser erwiderte den Blick, und als er sprach, war seine Stimme leise und unsicher.
 

„War das wirklich richtig, Bruder? Diese... diese Helgoland ist mir nicht ganz geheuer...“ Bremen schüttelte den Kopf. Er war vollkommen davon überzeugt, richtig gehandelt zu haben. „Ich weiß auch nicht, welche Ziele sie verfolgt, aber es hat funktioniert, oder? Außerdem war es dein Plan.“

Hein sah ihn mit einem leicht verzweifelten Ausdruck an. „Ja, aber...“ Bremen winkte ab. „Nichts Aber. Ich will nicht, dass sie noch länger diesen Geschäften nachgeht. Jette soll endlich ein bisschen Frieden finden, und wenn sie ständig an diese sogenannte 'Mutter' erinnert wird... ist besser so. Für alle. Das weißt du auch.“ Bremerhaven antwortete nichts, sondern fragte nur leise, ob sie wieder hineingehen könnten. Sie hatten jetzt schließlich einen gesamten neuen Zweig, um den sie sich kümmern mussten, und den Hamburg nicht wieder sehen würde.
 

Am Hafen der Stadt saß Helgoland auf einem Steg und blickte den Fluss hinab, der sich vor ihr erstreckte. Sie sah die Bilder klar und deutlich vor ihren Augen, sie wusste, was geschehen würde, und ein leises Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie hatte das nicht gern getan, bei jedem anderen Menschen hätte sie das Schicksal in Ruhe gelassen, aber nicht bei dieser Frau, die ihr gesamtes Leben zerstört hatte und nicht einmal etwas davon ahnte. Nicht bei dieser Frau, die ihr ihre gesamte Familie genommen hatte, die ihr alles genommen hatte.

Mit der nächsten Brise war Anna verschwunden.

Alle Katzen grau

Sie waren mitten auf einer Straße von Nürnberg nach München, als Maximilian plötzlich aufgeschreckt war und sofort danach seinen Blick zu Lukas hatte gleiten lassen. Sein Mund öffnete sich, aber der andere war so auf's Autofahren konzentriert, dass er nicht sofort verstand, was man versuchte, ihm zu sagen. Es war wohl etwas im Sinne von „Haidenai, wir haben einen Handschuh in dieser versifften Raststätte vergessen!“, aber er reagierte nur mit einem Brummen darauf, was ihm sogleich einen erbosten Blick und ein etwas lauteres „Das ist wichtig! Wir können unsere Sache nicht einfach überall liegen lassen, wir haben damit Leute abgemurkst!“ einbrachte. Einen kurzen Moment blickte er zu Baden hinüber, und das war ein Fehler. Es war immer eine schlechte Idee, Max das Gefühl zu geben, auch nur ein wenig gesehen zu werden, wenn er wütend war, denn dann wurde er bestätigt und seine ansonsten harmlosen, üblichen Beleidigungen, die sich für Württemberg inzwischen nur noch anhörten wie ein distanziertes Vogelgezwitscher, wandelten sich in Handgreiflichkeiten um, und das gefiel ihm gar nicht. Baden, müde, ignoriert zu werden, lehnte sich zu ihm hinüber und gab ihm eine kleine Ohrfeige. Mit einem nicht unbedingt freundlichen „Hör mir gefälligst zu!“ untermalte er diese Handlung, und so konnte Lukas sich wirklich nicht auf die Straße konzentrieren. Ohne sich noch weiter davon stören zu lassen, dass Max sich weiterhin vollkommen unverantwortlich zu ihm hinüber lehnte (aber wenigstens war er noch angeschnallt – es musste ein Wunder geschehen, dass sich Baden nicht an die Regeln hielt und sich nicht anschnallte) hielt er auf dem Seitenstreifen der Straße an und ließ die restlichen Autos mit ihren kurz aufblitzenden Scheinwerfern an ihnen vorüberziehen, während er die Tür öffnete und ausstieg. Augenblicklich tat Max es ihm gleich, sodass sie sich gegenüberstanden. Lukas verschränkte die Arme vor der Brust und sah seinen Partner leicht tadelnd an, während dieser ihn schon am Kragen des schönen Anzugs gepackt hatte.
 

„Nie hörst du mir zu, ist dir das aufgefallen?!“ Ein bisschen musste Lukas schmunzeln darüber, was für eine Klischeephrase Max benutzte. Das verbesserte die Situation natürlich nicht unbedingt. „Jetzt lach mich nicht aus!“ Es war erstaunlich, wie schnell dieser Badenser fähig war, von Null auf Hundertachtzig zu kommen, Lukas war immer erstaunt. Er hob eine Augenbraue und legte den Kopf etwas schief. Nur traurig, dass er nie ganz verstand, warum er immer so schnell wütend wurde. Wo war denn das Problem? Er kannte ihn schon seit sie sich zusammen ihre Knie aufgeschürft hatten, aber er hatte nie angefangen, ihn zu verstehen. Also legte er eine Hand an den Unterarm von Max. „Hör auf damit.“

„DU! DU HÖRST AUF, MIR DINGE ZU BEFEHLEN, ALTE LATSCHE!“ Lukas seufzte tief und versuchte weiterhin, Max von sich wegzuziehen. Er war nie auf des anderen Provokationen eingegangen. Es waren schließlich nicht wirklich Provokationen, sondern das war die Art vom Mäxle, ihm zu zeigen, dass er ihn mochte, da war er sich absolut sicher. Max zog seine Hände zu sich, taumelte zurück und zog mit einem Blick, der Schmerzen versprach, eine dünne Pistole aus seiner Anzugtasche. Sie konnten von Glück reden, dass es Winter war und die Dunkelheit schon hereingebrochen war, ansonsten hätten sie wohl etwas befremdete Blicke angezogen, aber das kümmerte beide nicht. Max' Griff zitterte ein wenig und Lukas sah ihn nur mit einem sanften Lächeln an.
 

Es wäre so einfach gewesen, wenn der Schwabe die Fähigkeit besessen hätte, Gedanken lesen zu können. Dann hätte er gewusst, dass Max tatsächlich einfach Aufmerksamkeit wollte. Gut, so simpel war das dann auch nicht wirklich. Er konnte sich noch ganz genau an den Tod seiner Eltern und ihrer Adoptiveltern erinnern. Für ihn war beides Mal eine Welt zusammengebrochen und er hatte sich, nachdem er auch die Adoptiveltern Alemania und Frank verloren hatte, geschworen, dass er nie wieder so abhängig von jemandem sein würde, damit seine Welt nie wieder zerspringen würde. Er hatte auch alle Seile zu Württemberg gekappt und hatte eine Zeit lang auf der Straße gelebt, bis er von Francis Bonnefois aufgegabelt worden war und sich buchstäblich durch das Leben geschlagen hatte. Erst, als Francis, der, wie Max und die damals noch viel kleinere Nicole, die auch Teil der Gruppe gewesen war, erfahren hatten, für eine organisierte kriminelle Vereinigung Waffen geschmuggelt hatte – von niemand Geringerem als dem auszubildenden Polizisten Lukas – hatte er wieder Kontakt aufnehmen müssen zu seinem früheren Leben, und er hatte gemerkt, dass Lukas für ihn nicht mehr nur der Adoptivbruder war, der er immer gewesen war. Aber Lukas schien nie bemerkt zu haben, dass Max plötzlich so viel mehr für ihn empfunden hatte, und außerdem hatte er den großartigen, wunderschönen Francis in die ewige Versenkung gescheucht, sodass Max eigentlich nichts anderes übrig geblieben war, als ihn zu hassen, wie er sich selbst sagte. Und auch heute noch ließ ihn jedes Zeichen, dass er nicht für voll genommen wurde von diesem Partner, von dem er inzwischen abhängiger war als von irgendjemandem jemals zuvor, in Sekundenschnelle ausrasten und zog seine Laune wie ein Magnet magisch hinunter. Das einzige, was er unterbewusst immer gewollt hatte, war, genauso geliebt zu werden, wie er es selbst tat, aber Max wusste, dass er sich das abschminken konnte, und so wich er auf die einzige andere Art aus, starke Gefühle zu zeigen, denn eine Zurückweisung würde er nicht ertragen können.
 

„Als ob.“ holte ihn eine Stimme mit schwäbischem Einschlag in die Realität zurück. Natürlich würde er niemals schießen, und Württemberg wusste das genauso gut wie Baden. Er hatte ihm schon so oft gedroht, ihn umzubringen, aber das war von Anfang an lächerlich gewesen. Sie würden niemals ohne einander leben können, nicht, nachdem sie so lange aufeinander vertraut hatten. Da war es gefährlicher, wenn Baden sich die Waffe selbst an den Kopf hielt, wie er es schon genau drei Mal zuvor getan hatte. Er würde, mit vor Wut hochrotem Gesicht und Verzweiflung in den Augen den Lauf an seine Schläfen halten, und er würde ihn anschreien und ihm vorwerfen, dass sein ganzes Leben in Scherben lag, weil er an ihn gekettet war, und dass er jetzt ein und für alle Mal mit dieser Gefangenschaft abschließen würde. Dann bestand die einzige Möglichkeit, in aufzuhalten, darin, ihn in die Arme zu nehmen und ihm beruhigend den Rücken zu tätscheln, und dann war er normalerweise immer ruhig und ließ sich auch ganz friedlich umarmen. Württemberg hätte sich wahrlich keinen seltsameren und gleichzeitig liebenswerteren Partner aussuchen können, wie ihm schon oft aufgefallen war.
 

Und tatsächlich ließ Max die Waffe sinken und steckte sie wieder umsichtig ein. Seine Atmung beruhigte sich wieder, nachdem sie eben fast hysterisch geworden war. Er sah Lukas nicht an, aber der andere war, nachdem er einen Schritt auf ihn zugemacht hatte, nah genug, um zu sehen, dass sein Gesicht feuerrot war. Vermutlich aus Wut. Er nahm die handschuhlose Hand von Max in seine eigene Hand und hob sein Kinn an, damit sie sich in die Augen sehen konnten. Als er sprach, war seine Stimme ruhig.

„Wir fahren jetzt zurück, suchen deinen Handschuh und dann töten wir Bayern, und dann werden wir alles haben, was wir uns immer gewünscht haben. Und wir werden nicht mehr töten müssen, und dann werden wir auch keine Blutflecken mehr auf der Kleidung haben, die ewig nicht rausgehen.“ Er nahm das vollkommen ernst. Blutflecken waren wirklich nur schwer aus Kleidung wieder herauszukriegen, das war immer sehr schrecklich.

Noch immer versuchte Max, seinem Blick auszuweichen, aber er hob die freie Hand und strich Lukas über die Wange, und als er bei seinen Mundwinkeln angekommen war, konnte er erahnen, dass sie sich zu einem Lächeln nach oben gezogen hatten. Mit einem lauten „Pah!“ versuchte er, wieder auf Distanz zu gehen, aber Lukas behielt ihn für einen kurzen Augenblick bei sich und ließ einen schmetterlingsartigen, leichten Kuss auf Max' Mund tänzeln. Das war schließlich normal. Max gehörte zu seiner Familie, nein, Max war seine Familie. Sie beide hatten niemanden sonst. Aber warum zitterte Baden dann so unter dieser harmlosen Berührung?

Seide zwischen den Händen des Lebens

Brandenburg und Berlin hatten sich darauf geeinigt, dass sie direkt mit Bayern reden würden. Albrecht hatte beschlossen, dass seine Mission, Schwertfisch zu zerschlagen, kurzfristig auf Eis gelegt sein würde. Es war wichtiger, Berlin am Leben zu erhalten, als sich für die Vergangenheit zu rächen. Es war auch wichtiger, Berlin zu behalten, als zu verhindern, dass sich Katastrophen wie der Tod von Nikolai für andere Menschen wiederholten. Es gab eigentlich nichts, was wichtiger war, als Berlin zu behalten, und der einzige Weg, den beide sahen, war die direkte Konfrontation mit Bayern. Aber Brandenburg rechnete den beiden keine großen Chancen aus.
 

Umso überraschter war er, als er einen Anruf von Bayern erhielt. Woher hatte sie überhaupt seine Nummer? Er bedeutete Paul, der die Autobahn Richtung München nahm, bitte etwas leiser zu fahren, aber Paul verstand ihn nicht, und so verstand Brandenburg nicht viel von dem, was Bayern ihm mitteilte.

Aber es ging scheinbar um Baden-Württemberg. Er kannte die beiden nicht persönlich, aber er wusste, dass sie es gewesen waren, die versucht hatten, ihn umzubringen – sie waren diejenigen, wegen denen Berlins Leben in höchster Gefahr schwebte. Diejenigen, wegen denen Brandenburgs gesamter, so perfekter Plan in Gefahr war, zu platzen. Aber warum sollte Bayern ihm all diese Informationen geben?

Sie antwortete auf seine nur gedachte Frage.

„Sie sind Verräter. Vogelfrei. Sie haben versucht, dich umzubringen, ohne dass ich es ihnen befohlen hätte. Du willst sie sicherlich im Grab sehen.“ Man konnte geradezu sehen, wie sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete.

Brandenburg nickte.

„Mal sehen...“ Sie schien ihn nicht gehört zu haben und redete weiter, und mit all den Informationen, die Albrecht über seine beiden 'Kollegen' erfahren hatte, wäre es ein leichtes, die beiden zu töten. Aber warum sollte er das tun? Er sah keinen Sinn darin. Es gab wichtigeres als den Tod von Fremden – zum Beispiel das Leben von Paul. Vielleicht... vielleicht verzichtete Bayern darauf, Berlin liquidieren zu lassen, wenn er sich um Baden-Württemberg kümmerte? Scheinbar schien sie noch nichts davon erfahren zu haben, dass Berlin mit all seinen wichtigen Informationen dem Feind in die Hände gefallen war – recht freiwillig – aber niemand konnte ahnen, wieviel diese Hexe wusste. Vielleicht konnten sie einen Deal machen. Sie ließ Berlin in Frieden, wenn er dafür Baden und Württemberg umbrachte. Aber wenn sie noch nicht ahnte, dass Berlin sich für eine Seite entschieden hatte, dann würde der Schuss nach hinten losgehen und Berlin würde erst Recht in Gefahr sein.

Brandenburg war kein Mensch, der das Risiko schätzte. Er legte mit einem höflichen Gruß auf und betrachtete die Straße, die sich unter ihnen ewig lang zu erstrecken schien, bis über die Grenzen des Horizonts.

Sie machten, ebenso wie ein gewisses anderes Duo auf dem Weg nach München, mehrere Stunden später Halt in der Nähe von Nürnberg. Inzwischen war die Nacht hereingebrochen, es war etwa zehn Uhr nachts. Aus der kleinen Küche der Raststätte drang ein dominanter Geruch nach Spätzle mit Soße, aber Brandenburg bestellte den beiden nur jeweils einen Salat („So 'n Karnickelfutter?!“) anstelle der Speisen der Region. Aber im großen Gegensatz zu den anderen beiden kamen Paul und Albrecht nicht dazu, tatsächlich mehr als ein paar Bissen ihrer Speise einzunehmen. Sie waren die einzigen Gäste an diesem späten Abend, und außer einer Köchin, die unzufrieden den Tresen wischte, war niemand in der Nähe.
 

Paul ergriff Albrechts Hände. Albrecht verspürte den spontanen Drang, von diesem Ort zu fliehen, blieb aber auf seinem Stuhl sitzen, als wäre er angeklebt. Etwas Schweiß trat auf seine Stirn. Es war gar nicht gut, wenn Berlin ihn einfach so berührte. Und dann auch noch an seinen Händen. Und dann auch noch mit einem Gesichtsausdruck, als wolle... als wolle... oh Gott. Ohjemine.

„Albi, ich weiß, das kommt jetzt echt komisch, aber-“ Albrecht hörte sein Herz schlagen. Er fühlte sich albern, in einer kleinen Raststätte, mit Paul, der seine Hände umschlossen hielt und ihm etwas sagen wollte. „-ja Mann, ich glaub, ich bin seit 'n paar Monaten voll in dich verliebt.“ Er zuckte mit den Schultern, als würde er gerade über das Wetter reden. „Ich dacht mal, jetzt, wo ich bald ins Gras beiße, solltest du's wissen.“ Breit lächelte er ihn an und Albrecht sah Sterne vor seinem Gesichtsfeld aufblitzen. Sein Herz würde in den nächsten paar Minute zweifellos aufgeben vor Überforderung und er war sich sicher, dass sein Kopf aussah wie eine Tomate.

Ruckartig zog er die Hände aus Pauls Griff und man sah ihn aus irritierten Augen an. Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn und stand wankend auf. Seine Knie wollten ihn nicht tragen, aber blitzschnell sprang Paul auf und war an seiner Seite. Albrechts Atem ging schnell und er fühlte sich, als würde ihn eine Panikattacke ereilen. Und das nur, weil Paul ihm- sein Verstand weigerte sich, darüber nachzudenken.

Dann wandte er den Blick hin zu Paul, der ihn aus besorgten Augen ansah.

Das konnte er nicht ertragen. Der Anblick von Paul, der nichts zu ahnen schien... der Anblick dieses Menschen, der in den wenigen Monaten der wichtigste Mensch seines Lebens geworden war, der ihm mehr bedeutete, als er sich jemals hätte träumen lassen, wie er ihn aus treudoofen blauen Augen ansah und ihm bläulichen Zigarettenrauch gegen den Hals blies, dass Albrechts gesamter Körper sich anspannte... der ihn hielt, der ihm gesagt hatte, dass er mehr für ihn war, als Albrecht es sich jemals hatte träumen lassen... nicht eine Sekunde länger.
 

„Ich bin ein Undercover-Polizist. Nikolai wurde von Schwertfisch ermordet. Der einzige Sinn meines Lebens besteht darin, sie ins Gefängnis zu bringen, dass sie nie wieder das Tageslicht erblicken.“

Albrecht würde gerne den Blick abwenden, aber er konnte nicht. Es war wie ein Autounfall, bei dem man nicht wegsehen konnte, und das schlimmste: Albrecht selbst war der Fahrer des Wagens. Er war selbst eingequetscht in dem Chaos, das er angerichtet hatte, und konnte sich nicht bewegen, während er hilflos mitanblickte, wie etwas in Paul zerbrach. Etwas, das Albrecht niemals würde nähen können. Man würde ihm nicht einmal die Gelegenheit dazu geben. Niemals wieder würde er einen Schritt in die Richtung dieses Herzens tun können – er selbst jedenfalls hätte sich, wenn er an Pauls Stelle stand, in diesem Moment sofort von ihm abgewandt und beschlossen, ihn nie wieder in sein Leben hineinzulassen.

Worte entflohen Pauls Mund, aber Albrecht verstand sie nicht, er hörte sie nicht einmal. Das einzige,was er aus Pauls Redefluss herausfiltern konnte, war ein „... nicht mehr.“ Er schluckte und sah diesen Menschen, der die Welt für ihn war, ihn schon zu einem glücklichen Lächeln bewegte, indem er einfach nur in seiner Nähe war, aus leeren Augen an.
 

Alles war kaputt.
 

Er war wieder ganz allein.
 

Und er konnte es Paul nicht einmal verübeln. Nachdem der andere geendet hatte, blickte er Albrecht forschend an, aber dieser wandte das Gesicht ab und vergrub es in seinen Handflächen. Noch ein Wort wurde gesprochen und dann verließ Paul den Raum.
 

Wieder ganz allein.

Kleine Kreise im Meer

Mecklenburg-Vorpommern indes war nicht, wie es zu erwarten gewesen, in seine Heimat geradelt, sondern war nach Norden gefahren, direkt in die Richtung von Kiel. Er musste zwar mehrmals nach dem Weg fragen, aber irgendwie schaffte er es dennoch, in der Hafenstadt anzukommen. Er war die rechte Hand von Schleswig-Holstein und er wusste, dass der Junge ihm uneingeschränkt vertraute.

Fritz konnte nicht gut Organisieren, aber er war ein geborener Spion – niemand beachtete ihn. Auch jetzt, als er auf der Landstraße Rad fuhr, nur noch wenige Kilometer entfernt von der Stadt, fuhren die Autos an ihm vorbei, ohne ihm einen Blick zuzuwerfen. Er wusste nicht, wie wertvoll er den Schwertfischen schon gewesen war, es interessierte ihn auch nicht wirklich. Hauptsache, er bekam immer genug Essen und man kümmerte sich um ihn und man gab ihm ein Rad und er konnte frei herumfahren, so viel er wollte. Dann war er ja schon glücklich.
 

Nun... das hatte ihn bis vor wenigen Monaten schon glücklich gemacht. Da hatte Schleswig-Holstein ihn gebeten, sich doch bitte mehr um den Zweig der Prostitution zu kümmern. Das war immer Mecklenburg-Vorpommerns Aufgabe gewesen, aber er hatte sich nie viel darum geschert – es war viel angenehmer gewesen, in der Sonne am Strand der Ostsee zu liegen, statt sich um so etwas Kompliziertes zu kümmern, mit Abrechnungen und so weiter. Und dann hatte man ihn nach Hamburg geschickt, und da war diese Frau mit den roten Haaren gewesen, und sie hatte mit ihm geredet, aber am ersten Tag hatte er kein einziges Wort verstanden, was sie geredet hatte, von der großen weiten Welt und von all ihren Mädchen, die sie beschützen musste und die sie in gute Hände geben musste. Und er hatte das Gefühl gehabt, dass es gut gewesen war, nichts zu sagen. Er hatte das Gefühl gehabt, dass ihr das Vertrauen gegeben hatte darin, dass er sich um ihre Mädchen würde kümmern können.

Zwei Wochen später hatte sie ihn dann besucht, an der Ostsee, in einem roten Badeanzug, und sie war der einzige farbige Fleck gewesen an dem Strand, der eine Melange dargestellt hatte aus beigen und hautfarbenen Tönen. Nicht nur ihre Haare und ihr Badeanzug waren rot gewesen, auch ihre Gesichtsfarbe, als sie sich fast schüchtern neben ihn gesetzt hatte und er bemerkt hatte, dass sie ein Holzbein trug. Er hatte sie gefragt, warum, aber sie hatte erst viele Wochen später geantwortet, auf einem weiten Feld, mit einem Picknickkorb unter dem Arm, hinter ihm auf einem Fahrrad, als sie unter einer großen Eiche angekommen waren und die weißrote Picknickdecke ausgebreitet hatten und im Schatten des Baumes saßen. Sie hatte ihm von allem erzählt, von ihrer Mutter, die selbst ihren Körper verkauft hatte, von ihren kleinen Brüdern aus Bremen, die sie vor ihren gewalttätigen, drogensüchtigen Eltern hatte beschützen müssen, davon, dass einer der Freier ihrer Mutter sie mit zwölf Jahren vergewaltigt hatte, wie sie ihn getötet hatte und wie sie währenddessen ihr Bein verloren hatte. Wie sie danach aus Bremerhaven geflüchtet war, zurück in ihre Heimatstadt, und es schaffte, bis an die Spitze zu kommen, um so viele Mädchen wie möglich beschützen zu können, beschützen, indem sie ihnen sichere Lebensumstände bot. Und Fritz hatte still zugehört, der Mann, der immer von allen ignoriert wurde, mit dem niemals jemand sprach außer Schleswig-Holstein, der von seinen Eltern wie ein Welpe am Anfang der Ferien irgendwann an einem See ausgesetzt worden war mit der Begründung, er sei zurückgeblieben und nicht würdig, den edlen Nachnamen ihres Geschlechts zu tragen. Und dann hatte Fritz, der ewig ignoriert worden war, Jette geküsst, und für einen Moment war ihrer beider Leben bergauf gegangen. Das erste Mal hatten sie beide einen Menschen gefunden, der richtig war, nicht mehr und nicht weniger.
 

Deswegen war er traurig gewesen, als Thüringen Hamburg so beleidigt hatte. Denn das hatte er zweifellos. Fritz verstand nicht viel von der Welt da draußen, die war ihm zu kompliziert, aber er verstand es, wenn jemand sauer wurde. Thüringen sollte so etwas nicht sagen, nicht zu seiner Jette! Und das war auch der Grund, warum er nun über die unebene Straße fuhr und ein paar Mal kleine Vögel am Straßenrand aus dem Weg klingelte, bis er in der Stadt angekommen war und so zielstrebig, wie es ihm möglich war, in die Stadtmitte fuhr. Wenn er einfach in Ruhe mit dem Boss darüber reden würde, dann würden sie eine Möglichkeit finden, dass Thüringen nie wieder solche Dinge sagen würde. Er lehnte sein Fahrrad an eine Hauswand, vergaß, es abzuschließen, und ging langsam die Treppen hoch zu dem Appartement über der Nordsee. Er klopfte.

Niemand öffnete. Dann bemerkte Fritz, dass an der Tür ein Zettel hing. „Bin bei Gladius. Mach ne kleine Tour. :-)“

Fritz legte den Kopf schief und machte sich auf den Weg zum Hafen. Er bemerkte nicht, dass sein Fahrrad nicht mehr da war. Als er angekommen war, sah er schon Schleswig-Holsteins Jacht von Weitem und betrat sie wenige Momente, bevor der Chef mit ein paar Matrosen sie fertig zum Auslaufen machte. Fröhlich wurde Fritz begrüßt, und als sie nach einer halben Stunde auf hoher See waren, hatten die beiden Gelegenheit, miteinander zu reden. Otto lehnte an der Reling mit einem Glas Bier in der Hand und Mecklenburg-Vorpommern stand vor ihm, während er redete.

Fritz fiel mit der Tür ins Haus, aber er sprach träge. Schleswig-Holstein war das schon lange gewöhnt und wartete geduldig ab, bis der ältere Mann geendet hatte.
 

„Es ist so... ich war heute bei Hamburg... und da war auch Thüringen...“ Er runzelte die Stirn. „... und... der hat... böse Dinge gesagt... können wir ihn nicht... ich will, dass er aufhört, das zu sagen... wir sollten mit ihm sprechen.“ beendete er seine Frage. Schleswig-Holstein trommelte mit den Fingern an das Material hinter sich, dann schüttelte er den Kopf.

„Tut mir Leid, Mecklenburg-Vorpommern, ich habe derzeit wirklich größere Probleme...“

„... Oh...“ sagte Fritz. Er ließ den Kopf sinken. Wie schade. Er hätte sich doch so gefreut, etwas für Hamburg tun zu können. Sie hatte ihm schließlich schon so sehr geholfen und er hatte nichts für sie getan. „Das ist... das ist sehr schade...“

Schleswig-Holstein runzelte die Stirn. Es war kein schöner Tag gewesen. Er hatte seinem besten Mann, Brandenburg, einen Wunsch abgeschlagen, weil er in seinem Stolz verletzt gewesen war. Das war nicht gut gewesen. Die Geschäfte gingen in einer Spirale gen Erdmittelpunkt. Und jetzt wollte Mecklenburg-Vorpommern einen hochrangigen Dominus Tecum liquidieren lassen, wenn er ihn richtig verstanden hatte? Was war denn in ihn gefahren? Und was sollte diese Sache mit Hamburg, war sie ihm so wichtig geworden, dass er alles für sie aufgeben wollte, was sie gemeinsam erarbeitet hatten?! Oder überinterpretierte Schleswig-Holstein die ganze Angelegenheit?

Egal. Er wunk ab. Hinter ihm im Meer schwamm ein kleiner Schwarm Kabeljau im Meer. Die beiden standen reglos da, dann trat Mecklenburg-Vorpommern einen Schritt vor. Das war Schleswig-Holstein nicht von ihm gewohnt, und er sah ihn misstrauisch an. Fritz kam Otto noch einen Schritt näher.
 

„Bitte...“ murmelte er leise. Sein Blick war so dösbaddelig, dass man den starken Drang verspürte, ihn auf den Kopf zu tätscheln. Aber Otto verspürte nur den Drang, zu fliehen – er wollte keine Probleme haben mit Mecklenburg-Vorpommern.

Der Kapitän des Schiffes war noch ein junger, kaum ausgebildeter Mann, und genau in diesem Moment, wie es das Schicksal will, musste er das Schiff drehen. Otto, der damit nicht gerechnet hatte, verlor den Halt an der glitschigen Reling, taumelte etwas und fiel dann den langen Weg nach unten in das Wasser der Ostsee. Mecklenburg-Vorpommern reagierte erst nicht, dann ging er langsam ein paar Schritte vorwärts und blickte nach unten, wo der junge Mann gerade trieb. „Kann mich jemand rausholen?“ schrie er nach oben. Fritz handelte nicht schnell, aber er wusste, was er tat, als er einen Rettungsring packte und ihn nach unten warf. Leider traf er Schleswig-Holstein an einer sehr ungünstigen Stelle.

Der Junge verlor kurzzeitig seinen Orientierungssinn und sein Bewusstsein. Zu lang, um in einem Meer zu überleben. Als eines der Crewmitglieder ihn wieder aus dem Wasser fischen konnte, war er ertrunken. Er war tot.
 

Schleswig-Holstein war tot und Mecklenburg-Vorpommern war Schuld daran.

Die Jacht kehrte in den Hafen zurück, und das einzige, woran Fritz denken konnte, war, dass er jetzt bestimmt mit Thüringen reden konnte.

Geschwindigkeitsbegrenzung

Ein dunkler Wagen hielt hinter dem Attentäter-Duo auf dem Seitenstreifen, und trotz aller vielfältigen, ablenkenden Emotionen, die in diesem Duo stritten, waren sie immer noch Profis und wandten sich sofort dem fremden Auto zu. Baden tastete nach seiner Schusswaffe, Württemberg spannte sich an, und wenn nicht lauter Wägen und, noch schlimmer, Büsse vorbeifahren würden, wäre es absolut still. Aber die Welt hatte nicht zuvor, der Situation eine ruhige Atmosphäre zu geben.
 

Aus dem schwarzen, kleinen und unscheinbaren Auto mit dem Kennzeichen SB-SL 5591 stieg eine sehr kleine Person mit einer umso größeren Waffe, die sie fest umklammert hatte. Sofort fiel ihr Blick auf Baden und Württemberg, und sie zitterte ängstlich, tappte aber ein paar Schritte auf die beiden zu, denn sie hatte sich vorgenommen, sich auf gar keinen Fall einschüchtern zu lassen. Die beiden hoben synchron die Augenbrauen und Nicole blieb stehen.

Niemand sagte etwas. Dann hob sie ihr Sturmgewehr, richtete es auf die beiden und nur dank ausgezeichneter Reflexe konnten sie ausweichen, sprangen in verschiedene Richtungen und ein paar Kugeln erwischten den eh schon verbeulten Mercedes. Niemand fragte, denn man wusste, warum man hier war. Einerseits gab es die beiden, die Bayern töten wollten, und Nicole wollte sie wohl schützen.
 

Aber Nicole war ein nicht einmal volljähriges Mädchen, und wenn es um Waffen ging, dann wusste sie zwar, wie man sie verkaufte und bediente, aber nicht, wie man sie einsetzte, um Leute zu töten. Innerhalb von Sekunden stand Lukas hinter ihr mit einer dünnen Nadel, die er ihr vor die jungen Augen hielt. Seine Stimme war tiefer als gewöhnlich und um einiges angsteinflößender, und Max, der hinter das Auto geflüchtet war, rollte mit den Augen. Warum sprach er überhaupt noch mit ihr? Fressen oder gefressen werden, sie konnten es sich nicht erlauben, einen Menschen, der ein höchstgradig gefährliches Sturmgewehr bei sich trug, auch nur eine Sekunde länger als benötigt leben zu lassen. „Wie hast du uns gefunden?“ Oh, okay, ja, das war eine berechtigte Frage. Maximilian sah auf und musste sich sofort ducken, als eine erneute Salve abgefeuert wurde und Lukas die Nadel im seltenen Zustand von Wut so tief in Nicoles Hals rammte, dass sie gerade noch sprechen konnte. „Also?“ zischte er kaum hörbar, und Saarland röchelte. Wenn man ihn noch einen Moment länger ohne Aufsicht ließ, würde er das Mädchen zweifellos umbringen. Niemand versuchte, Württemberg oder Baden zu töten und lebte, um die Geschichte zu erzählen. Plötzlich tauchte Baden an seiner Seite auf und nahm dem Mädchen die Waffe ab. Seine Hand fuhr gleichzeitig sanft wie auch distanziert und etwas angeekelt über den Arm von Lukas und hielt ihn dadurch davon ab, Nicole umzubringen.
 

Sie versuchte zu reden, aber konnte es nicht. Max sah zur Seite, ergriff Lukas' unbewegliche Hand und zog die Nadel vorsichtig wieder hinaus. Nicole fasste sich an die Einstichstelle und hustete jämmerlich, ehe sie auf den Boden sank und einen Augenblick später behende außerhalb der Reichweite der beiden sprang.
 

„Ihr Blödis habt nie bemerkt, dass wir einen Peilsender an euch installiert haben!“ Ein kurzer Blick wurde ausgetauscht, aber sie zog keine weitere Waffe hinaus, und man konnte ihr vertrauen. Baden verkreuzte die Arme vor der Brust, Württemberg war noch immer in einer höchst erzürnten Stellung eingefroren, er hatte nicht einmal den Arm gesenkt. Dann schien er wieder aufzuwachen und lächelte sein übliches, etwas dümmliches Lächeln, als sein Blick erst auf Baden fiel und dann auf die harmlos wirkende Nicole. Baden schnaubte. „Okay, deswegen hast du uns gefunden. Aber wir werden Bayern auf jeden Fall aus dem Weg räumen.“
 

„Achja? So, wie ihr damals Francis aus dem Weg geräumt habt?!“ Mit einem Sprung war er direkt vor ihr und gab ihr eine schallende Ohrfeige. Seine Pupillen vergrößerten sich, und als er sprach, zitterte seine Stimme. „Ich-“ fing er an zu fauchen „-habe da nichts gemacht! Das war allein dem seine Schuld!“ Dabei zeigte ein Finger vorwurfsvoll auf Lukas, der ihn nur verwirrt ansah. „Der hübsche, waffenschmuggelnde Franzose? Darüber haben wir doch-“ „Halt sofort deine Labb, Schwabe, das geht dich gar nichts an!“ „Natürlich geht-“ „LABB ZU, verfickte Scheiße!“ Lukas zuckte mit den Schultern und zog mit der freien Hand eine lange Handfeuerwaffe hinaus, und er beobachtete Saarland aufmerksam.
 

„Natürlich war das eure Schuld!“ Ihre Stimme war schon kurz davor, zu zerbrechen und in Tränen auszubrechen. Vielleicht hatte sich dieses Mädchen doch zu viel vorgenommen. Sie wollte eigenhändig die beiden Attentäter von Dominus Tecum umbringen. Aber sie hatte noch ein paar Ässer im Ärmel. Baden holte tief Luft. „Ich hatte damit gar nichts zu tun, hör mir doch mal zu, meinst du, ich hab' den Kerl weniger geliebt als du?“

„Er war mein Vater!! Und wegen euch ist er verschwunden!!“ Inzwischen waren die Dämme gebrochen und sie fing an, zu weinen. Das konnte Max' Herz nicht erweichen. Er sah sie mit kalten Augen an. „Er war wie ein Vater. Für uns alle. Er hat uns allen ein Zuhause gegeben, als wir eins suchten. Und dann kam dieser Spast von Schwabe und hat ihn verhaftet, und hat ihn mir genommen.“ Er verdrehte die Augen. „Denkst du, ich hasse ihn weniger als du?! Und ich muss auch noch mit ihm zusammenarbeiten!“ Jener Schwabe lächelte nur in die Gegend, blickte mit einem Auge aufmerksam auf Nicole und mit dem anderen noch aufmerksamer auf Max.

„Ja, und jetzt wollt ihr mir auch noch... auch noch... auch noch Zenzie wegnehmen!“ Blitzschnell holte sie eine kleine Waffe hervor, die kaum als Pistole qualifizieren konnte, aber bevor sie den Abzug ziehen konnte, hatte Max ihre Hand herumgerissen, sodass die Kugel durch ihren Mund schoss.
 

Einen Moment lang war es still, dann machte man sich daran, das Mädchen mit jahrelanger Übung, wie man in solchen Fällen ruhig blieb, aufzuheben. Die Kugel hatte ihren Kopf zerfetzt und das Gehirn war nach hinten gespritzt. Mit einer Hand öffnete Baden den Kofferraum, dann legten sie Saarland in die Mitte zwischen mehrere lange Feuer jeglicher Couleur. Württemberg sah sich aufmerksam um, aber niemand schien sie bemerkt zu haben, auch nicht, als die vielen Schüsse gefallen waren. Recht so, dachte er sich, Hauptsache, man ist auf die Aufgabe konzentriert, die man zu erledigen hat, da sollte man sich nicht ablenken lassen, und fing an, das Blut und die Gehirnmasse von dem Seitenstreifen aufzuräumen. Max war blitzschnell hinter das Steuer geschlüpft, aus Angst, Lukas könnte an der Stelle weitermachen, wo sie aufgehört hatten, und das ging gar nicht. Jedes Mal, wenn der Hohlkopf ihn küsste, jedes Mal, wenn seine Zunge Max' stur geschlossene Lippen berührte, jedes Mal, wenn seine Hand sein Hemd hochfuhr, schaltete sich sein ganzes Gehirn aus und gleichzeitig wurde er unglaublich wütend, weil er ganz genau wusste, dass Lukas einfach dachte, dass man das so unter Geschwistern tat, der Dummkopf. Zumindest meinte er, das zu wissen; aber diese unterstellte Dummheit war dann doch etwas zu viel. Lukas merkte gar nicht, dass sein Körper in solchen Momenten handelte, ohne, dass er ihm das befahl, und wenn sie nicht durch das Saarland eben gestört worden wären, dann hätte er weitergemacht, zweifellos. Der unbewusste Wunsch war dem regelkonformen Protestanten bis jetzt noch nicht ins Bewusstsein gekommen, und wenn nicht noch etwas Einschneidendes passierte, würde er wohl auch nicht merken, in welch einer Situation er sich befand. Aber nun glitt er auf den Beifahrersitz, schnallte sich zuverlässig an und dann war Max auch schon auf dem Weg zur nächsten Gelegenheit, umzukehren, so schnell wie möglich, aber auf gar keinen Fall das Tempolimit überschreitend.

Beichte, nicht Priester

Es war späte Nacht, als Mecklenburg-Vorpommern, per Anhalter, in Bayern ankam. Thüringen würde bestimmt bei Bayern sein, schließlich gehörte er zu ihrem Freundeskreis, nicht wahr? Fritz hatte die zahlreichen Anrufe, die sein Handy während seiner Fahrt erreicht hatten, ignoriert. Jetzt war er jedenfalls hier und wusste nicht, was er tun sollte. Er wusste nur, dass er mit Thüringen reden wollte. Er wollte ihm sagen, dass er nicht so mit Hamburg reden dürfte, und dann würde er am Besten noch sagen, dass er Schleswig-Holstein getötet hatte, denn er hatte Schleswig-Holstein getötet. Aber warum sollte das Thüringen interessieren? Hmm...Angestrengt dachte Mecklenburg-Vorpommern nach. Er stieg aus dem Wagen der kleinen Familie aus, die den trägen Mann mitgenommen hatte, und ging langsam in eine gewisse Raststätte in der Nähe von Nürnberg. Die Angestellte hatte in den letzten Stunden wohl schon mehr Mafiosi zu Gesicht bekommen als viele andere Menschen ihr Leben lang, und sie hatte es nicht realisiert. Auch diesmal schaute sie nur kurz desinteressiert auf und blickte dann wieder auf ihre Nägel.
 

Mecklenburg-Vorpommern gähnte und setzte sich an einen kleinen weißen Tisch, an dem schon Brandenburg saß. Interessant. Er sah aus, als hätte man ihn in der Zeit eingefroren. Er schien Fritz nicht zu bemerken, und so fing er an, Brandenburgs Salat zu essen, der halb verwelkt vor ihm auf einem Teller lag. Schleswig-Holstein war tot und es war seine Schuld. Das mindeste, was er tun konnte, war, mit Thüringen zu reden. Ja. Ja, er würde ganz sicher mit Thüringen reden. Und er würde ihn zur Vernunft bringen. Und er würde ihm alles erzählen. Und dann würde Otto sicherlich zurückkehren, ganz bestimmt, und dann würde er zu Jette gehen können und ihr sagen können, dass er Thüringen zur Rechenschaft gezogen hatte. Fritz lächelte müde.

Brandenburg derweil war vollkommen in einer anderen Welt, in einer Welt ohne Paul, in einer Welt, in der er allein war. Eine Welt ohne Farbe, ohne Geruch, ohne Geräusche. Die Wände waren ausnahmslos weiß und in schwarzen, großen Lettern wiederholte sich endlos ein einziger Satz. Er ist weg. Er ist weg. Er ist weg. Er ist weg. Er ist weg.

Er war weg. Er hatte ihn verlassen. So wie jeder Mensch, den er liebte, ihn verlassen hatte. Seine Freundin war kurz nach Nikolais Geburt geflüchtet. Nikolai war vor ihm weggerannt, bevor ihn eine U-Bahn erwischt hatte. Paul wollte ihn nicht mehr sehen. Es war sein Schicksal, allein zu bleiben. Er konnte es nicht bekämpfen. Er sollte es nicht bekämpfen.Vielleicht sollte er anfangen, es zu akzeptieren.

Aber dann sollten auch alle anderen Menschen allein sein. Er spürte kaltes Metall, das tief verborgen in seiner Manteltasche zu vibrieren schien.
 

Die Tür öffnete sich ein weiteres Mal. Weder Mecklenburg-Vorpommern noch Brandenburg konnten sich aus ihrer Welt befreien. Der eintretende Württemberg ließ den Blick fieberhaft durch den Raum gleiten. Sie – nein, er, denn es war natürlich einzig und allein seine Schuld – hatten in dieser Raststätte einen ihrer weißen Handschuhe vergessen, und das war gar nicht gut. Sie hatten zwar noch genug Ersatzhandschuhe, aber man sollte seine Sachen immer bei sich behalten, vor allem, wenn man diese Sachen benutzt hatte, um damit andere Menschen zu ermorden. Ein Moment blieb ihm, bevor er die beiden Schwertfische im Raum entdeckte, in dem er ein wenig lächeln konnte ob der Erinnerung daran, wie Baden sich hinter dem Lenkrad zurückgelehnt hatte und ihn mit einem ruppigen „Jetzt geh' halt, ich wart' im Wagen“ rausgescheucht hatte. Jenes Lächeln erstarb, als sein Blick auf Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern fiel.

Uh. Was machten denn diese beiden Schwertfische hier?

Unbeweglich blieb er stehen, dann versuchte er, möglichst unauffällig wieder aus der Tür hinaus zu gehen. Aber er musste ja noch einen Handschuh holen, oh! Ah, wo hatten sie den denn gleich gelassen? Ach richtig, auf dem Stuhl, wo... wo jetzt Brandenburg saß... da lag der Handschuh. Vorsichtig näherte er sich dem Schwertfisch, der irgendwie paralysiert und nicht wie von dieser Welt wirkte. Wenn er Glück hatte, würde das ganze leichter sein, als einem Kleinkind die Kehle aufzuschlitzen. Langsam näherten sich seine Finger dem Becken Brandenburgs... wenn er sie einfach nur... nur hinunter... und dann... nein. Nein, das hatte nicht geklappt. Eine fremde Hand packte grob sein Handgelenk und Brandenburg sah über ihn hinweg.
 

„Was soll das?“ fauchte er leise. Württemberg lächelte höflich. Er versuchte, seine Hand aus dem Griff zu befreien, aber es gelang ihm nicht, der andere hatte Finger aus Stahl. Mecklenburg-Vorpommern war wieder zu einem stillen Beobachter degradiert worden, als Baden durch die Tür stürmte und mit einem wütenden „Was treibsch denn so lan-“sah, dass Brandenburg auch anwesend war, und mit einer schnellen Bewegung hinter ihm war und ihm den Lauf einer Pistole in den Rücken drückte. Albrecht derweil hatte aus ihm unbekannten Gründen sein Messer in den Händen und hielt es an Württembergs Kehle.
 

Die Zeit tropfte langsam wie das Wachs einer Kerze.
 

Und dann bewegte sich die Welt wieder, denn gleichzeitig brachen Berlin und Thüringen hinein. Brandenburgs Augen wurden groß, dann wieder klein. Paul war da. Auch der Rest der Anwesenden war erstaunt über die plötzlichen Gäste. Mecklenburg-Vorpommern stand sogar auf und ging auf Thüringen zu. Er öffnete den Mund, um zu sprechen, aber kein Wort kam hinaus. Thüringen sah ihn nur irritiert an, dann wandte er sich dem Ort zu, wo die Action abging. Mecklenburg-Vorpommern sah traurig in die andere Richtung.

Paul war auf Brandenburg zugerannt, auf ihn zugesprungen und hatte nun seine Arme um ihn geschlungen und das Gesicht in der Halsbeuge des anderen vergraben. Das edle Messer fiel aus einer erschlaffenden Hand Albrechts, während er zögernd die Arme um Paul legte und ihn dann, als wolle er sein Zögern wieder wett machen, umso enger an sich drückte und eine Hand in seinen Nacken legte, die andere um seine Hüfte. Paul atmete merkbar ein und aus, und Albrecht konnte den Herzschlag des anderen gegen seinen eigenen fühlen.

„Ey, tut mir Leid, dass ich so fortgerannt bin. Ist mir voll egal, wer oder was du bist, von mir aus könntest du auch 'ne Currywurst sein.“ Das war ein seltsamer Vergleich, aber dies fiel Albrecht in seiner momentanen Lage nicht auf. Er wurde von einem Glücksgefühl durchströmt, das er niemals für möglich gehalten hatte.
 

Thüringen näherte sich Baden und Württemberg. Württemberg ergriff gerade den weißen Handschuh, der tatsächlich noch auf dem Stuhl gelegen hatte, und Baden hatte ganz demonstrativ den Blick von seinem Partner abgewandt. „Hey, ihr.“ Bernd hatte sich inzwischen beruhigt. Es war zu keinen Staus gekommen. Alles war bisher glatt gelaufen. „Wir hatten einen Deal.“

„Und wie hast du uns gefunden? Auch mit diesen blöden Peilsendern?!“ Baden hob misstrauisch eine Augenbraue. Thüringen sah die Wand an, vor der die Angestellte der Raststätte weiterhin stand und müde ihre Nägel betrachtete.

„Nun, diese Peilsender... macht euch keine Mühe, sie zu finden, die hat Hessen 'mal angebracht. Für Bayern.“ Sofort fing Baden an, leise zu grummeln, irgendetwas von wegen Bayern und dass sie eine blöde Pflunz wäre. Thüringen warf einen misstrauischen Blick auf Berlin und Brandenburg, die aneinandergeklettet schienen, als hätte man Sekundenkleber zwischen die beiden Körper verteilt. Widerlich. Sollten die sich doch einen Raum nehmen.
 

„Also, kommt ihr jetzt?“ Er sah Baden-Württemberg mit wachsener Ungeduld an. „Je eher wir zuschlagen, desto besser.“ Man tauschte kurz einen Blick aus. Badens Pistole verschwand wieder unauffällig in seinem Anzug und Württemberg streifte seinem Begleiter den Handschuh wieder über die Hand. Die drei verschwanden, dicht gefolgt von Mecklenburg-Vorpommern, aber niemand sah ihn. Er wartete noch immer auf die geeignete Chance, Thüringen zu erzählen, dass Schleswig-Holstein tot war. Und dass er nicht so mit Jette reden durfte. Wieder klingelte sein Handy, wieder hörte es niemand.
 

Berlin und Brandenburg verweilten allein in dem Pseudorestaurant. Die Fachkraft sah auf und rollte mit den Augen. Sollten sich die Schwuletten doch einen Raum nehmen. Aber das würde sie ihnen nicht sagen.
 

„Tschuldige, Paul...“ murmelte Albrecht gegen den Nacken des anderen. Paul schmunzelte leise. „Ist doch kein Problem, Mann. Ich sollte mich entschuldigen, wa, ich hab dich schließlich allein gelassen. Das war nicht okay.“ Brandenburg schüttelte nur leicht den Kopf. „Du bist wieder da. Jetzt... jetzt ist alles... Paul... ich will nicht... nicht...“ Er konnte es nicht sagen, aber Paul schien zu ahnen, was er ausdrücken wollte, und er hob seinen Kopf an, um ihre Lippen in einen nur kurzen, harmlosen aber nichtsdestotrotz warmen Kuss zu ziehen.

Albrechts Lippen prickelten. Sein Herz schlug schnell gegen seine Brust, aber es war eine angenehme Aufregung.

Er war glücklich, er fühlte sich glücklich, und erst lächelte er. „Lachste mich aus?“ fragte Paul halb im Scherz, und über diesen an und für sich nicht sehr lustigen Scherz fing Albrecht an, lauthals zu lachen. All die Anspannung seines Lebens, all seine Einsamkeit schien mit diesem Lachen aus ihm herauszufließen und nur noch Glück zu hinterlassen, reines, hell glänzendes Glück, das sich, genau wie Pauls zufriedenes Grinsen, in seinen Augen widerspiegelte.
 

Thüringen trat noch einmal ein. „Ihr kommt gefälligst mit!! Brandenburg, wir werden Bayern töten, da machst du mit, Punkt!“ Das Blatt auf seinem Kopf fing an, gefährlich zu rauchen. Paul ließ Albrecht los und blickte kurz, mit den Augen rollend, zu Thüringen. „Und wer bist du, kann mich nicht erinnern, dich zu kennen! Biste auch einer von diesen Mafiafuzzis von den Katholiken?“ Brandenburg flüsterte etwas in sein Ohr und Berlins Gesicht erhellte sich. „Ja klar kommen wir mit, mit Bayern haben wir eh noch ein Hühnchen zu rupfen!“

Spiegeltrick

Die Autofahrten verliefen teils glatt, teils weniger glatt. Mecklenburg-Vorpommern war zu Baden und Württemberg in den langen Mercedes geschlüpft, denn bei Brandenburg und Berlin war kein Platz mehr für ihn gewesen und er wollte nicht während einer Autofahrt mit Thüringen reden, denn dann würde dieser sich sicherlich nicht konzentrieren können, und Fritz wollte nicht noch jemanden umbringen. Außerdem störte er nicht, denn niemand hatte ihn bemerkt, wie immer. Seine drei Fliegen ruhten wie kleine Haustiere in seinen Haaren, es war schon sehr spät und die drei armen Kleinen waren müde.
 

Thüringen fing an, wütend zu hupen, weil die Straßen trotz der vorangeschrittenen Uhrzeit noch immer vielbefahren waren. Sie kamen in die Nähe eines Ballungsgebietes, er hätte damit rechnen können, aber es ärgerte ihn dennoch maßlos. Außerdem schien Baden sich zu weigern, auch nur einen Kilometer über dem Tempolimit zu fahren, etwas, was Bernd regelmäßig tat.

Berlin hinter dem Steuer konnte den Blick kaum auf der Straße lassen, denn noch immer zeigte sich auf Albrechts Mund ein zärtliches, glückliches Lächeln, das niemals wieder zu vergehen schien.

Baden konnte sich kaum auf die Fahrt konzentrieren, und das obwohl es dunkel und teils glatt war, denn seine Gedanken drehten sich wie sonst auch immer nur um die Person neben ihm, die wiederum aus dem Fenster in die dunklen Wälder am Straßenrand blickte.
 

Niemand wollte reden, keine der Personen. Bei Bernd wäre es lächerlich gewesen, aber auch diejenigen, die nicht allein in einem Wagen saßen, schwiegen ausnahmslos.
 

Zumindest bis Albrecht mit leiser Stimme fragte, ob es richtig war, diesen Weg einzuschlagen. Paul teilte ihm daraufhin mit, dass er ihm eine Kippe rausholen sollte und sie anzünden sollte, und der Brandenburger folgte dem Befehl, denn er wusste, dass ein Paul auf Entzug gar keine gute Idee war.

„Klar ist das richtig. Irgendwie werden wir's nämlich schaffen, aus dieser ganzen Mafiageschichte rauszukommen, dass niemand verletzt wird. Und dann gehen wir nach, Mensch, keine Ahnung, Australien oder so. Da ist immer gutes Wetter, da wirste vielleicht auch mal braun!“ Er warf ihm einen neckischen Blick zu. Albrechts Lächeln war noch nicht verschwunden. Er würde sich sehr gerne von Pauls Optimismus anstecken lassen. Aber seine Sorgen standen über ihm wie eine dunkle, fette Wolke.
 

„Hey, Blödidiot.“ Württemberg weigerte sich, auf diese Anrede einzugehen, und starrte noch zwei Sekunden weiter nach draußen auf den Wald, bis es zu anstrengend wurde, er nachgab und Baden mit einem leichten Lächeln auf den Lippen anblickte, das fragte, was denn los war. „Ich glaub', Brandenburg und Berlin sind total verschossen ineinander.“

„Kann gut sein.“ Nachdenklich nickte Lukas. Sie waren tatsächlich aneinandergehangen wie zwei Klammeräffchen, und so weit, wie er zugehört hatte, waren sie auch sehr zärtlich miteinander umgesprungen. Sein Blick glitt auf die dunkle Straße vor ihm, die in moderatem Tempo unter ihnen vorbeiflitzte. Als sein Partner wieder sprach, klang er auf eine seltsame Art und Weise enttäuscht. „Willste gar nichts dazu sagen? Irgendwas von wegen „Hauptsache sie räumen immer artig auf“ oder-“ Er wurde unterbrochen.
 

Als Brandenburg das nächste Mal redete, war seine Stimme leise. „Ich habe dir nie gesagt, dass du mich gerettet hast. Danke.“

„Hm?“ Berlins Blick war an dem schwarzen Auto vor ihm, aber er drehte den Kopf zu Albrecht. „Hä? Versteh' ich nicht.“

Albrechts Lächeln war verschwunden, aber innerlich war es noch da. „Als Nikolai... nicht mehr da war. Du warst da. Ohne dich wär' ich ganz allein gewesen.“ Sein Begleiter zuckte mit den Schultern.
 

„Nee, ist doch in Ordnung, wenn die sich lieben, oder hast du was dagegen?“ Württembergs Stimme war leise, ruhig und wie immer schien sie Knöpfe zu drücken bei Baden, die ihn sofort einer Explosion nahe zu bringen schienen.

„Als ob, du Hund! Aber sowas wie „Das sind doch zwei Männer, das geht doch nicht“ oder „Die werden in der Hölle schmoren“ oder „Na wenigstens sind sie nicht verwandt“-“ Er stockte, hüstelte und redete weiter. „Irgendeine leidenschaftliche Reaktion, hmm?“

Lukas schüttelte, noch immer lächelnd, den Kopf. „Wenn, dann solltest du ein Problem damit haben, denn du bist ja hier der Katholische. Ihr glaubt doch an alles, was euer Papst euch-“ „Sag mal hakt's?! Nur weil ich-“ „Ja, ist gut, ist gut... aber jedenfalls ist das okay, wenn die beiden glücklich werden.“ Er zwinkerte. „Und sie sind nicht verwandt, das wäre ja auch schrecklich. Stell dir mal vor, wir beide, so als Brüder...“

Aber eigentlich war das gar nicht so schrecklich, fügte er in Gedanken, irritiert von sich selbst, an.
 

„Das war doch nichts...“ Paul schien ein wenig pikiert, aber Menschen wie Paul waren selten pikiert. „Wer hätt' das nicht getan? Du warst so ein armer Hund ohne den Kleinen. Hätt' doch jedem das Herz gebrochen, dich da einsam und allein auf der Couch sitzen zu lassen mit 'ner Flasche Cognac in der einen Hand und in der anderen dein Lieblingsmesser. Ich hab' echt 'nen Moment lang gedacht, ich wär' zu spät und du hättest dir irgendwas rausgeschnitten, dein Herz oder sowas...“

Albrecht blinzelte ein paar Mal, ehe er Berlin wieder ansehen konnte. Das hätte nicht jeder getan. Nicht jeder Deutschlehrer, den man noch nie in seinem Leben getroffen hatte, hätte einen früh morgens, nur wenige Stunden nach dem Tod des eigenen Sohnes, besucht, mit nichts anderem als der eigenen Anwesenheit. Wenn er so darüber nachdachte, das kam ihm ein bisschen seltsam vor. „... warum warst du eigentlich so schnell da?“

Bevor Paul antworten konnte, musste er blitzschnell bremsen, denn Thüringen vor ihm ruckte einmal kurz nach vorne und blieb dann stehen, aber er krachte scheinbar nicht in das lange Auto von Baden-Württemberg hinein.
 

Badens Fuß fuhr ruckartig auf das linke Pedal, sodass das Auto eine Vollbremsung durchführte und man Bernds Gefluche hinter ihnen geradezu hören konnte. Zum Glück trugen alle Insassen ordnungsgemäß ihre Gurte, sodass nichts Schadhaftes geschehen konnte.

„Wir sind ja auch nicht verwandt, Hohlbirne!!! Mit DIR will niemand verwandt sein!“ Ach so. Einen Moment lang hatte Lukas tatsächlich gedacht, Max hatte das eingeworfen, um dieses Argument der familiären Bande zu entkräften, das gegen ein wenig Mehr zwischen ihnen sprechen würde. Er hatte es nicht gedacht, er hatte es gehofft, warum auch immer. Aber der andere wollte sich nur wieder von ihm abgrenzen.

Hinter ihnen ertönte ein nicht sehr melodisches Hupkonzert. Der rote Kopf, der auf Max' Schultern saß und einen Moment lang eingesunken war, schoss nach oben und er fuhr wieder an.

„Ich mach mal das Radio an...“ kommentierte Württemberg seine Aktion, als er an dem Gerät drehte und ihm einen genau passenden Stoß gab, sodass das alte Radio tatsächlich anfing, Musik zu spielen.
 

„Musik?“ fragte Paul in dem Versuch, seinen Freund abzulenken, nachdem sie wieder weiterfuhren. Er drückte einen Knopf an dem kleinen CD-Player und laut ertönte ein Lied mit 'chilligen Beats', wie es auf dem Plattencover zu lesen war. Brandenburg drehte sofort am Lautstärkeregler und sah dann Berlin wieder aus fragenden Augen an.

„Naja, äh...“ Paul warf einen Blick in den Rückspiegel, dann trat er wieder auf das Gaspedal. „Ich hab dich schon vorher gekannt. Nikolais Mutter war meine beste Freundin.“ Albrechts Gesicht verzog sich schmerzhaft bei der Erinnerung an Victoria, die Engländerin, die jahrelang in Berlin gelebt hatte und mit der er einen alkoholisierten Abend verbracht hatte. Und dann hatte er plötzlich einen kleinen Sohn in den Händen gehalten und sich sechs Jahre lang um ihn gekümmert, und trotz all der Schwierigkeiten, die es mit sich brachte, ein verklemmter, einsamer alleinerziehender Vater zu sein, hatte er ihn geliebt. Aber halt, was hatte Berlin da eben gesagt, er war Victorias bester Freund gewesen?

„Naja, und dann, als sie verschwunden ist, hat sie mir gesagt, ich soll 'n bisschen auf dich und Niki aufpassen, weil ihr's sonst nicht packt.“ Er nahm einen Zug aus der Zigarette, und der Geruch vermengte sich mit dem Geruch des Autos, welches selbst roch wie eine Tabakplantage. Er lächelte schief. „Ich hatte immer 'n Auge auf dich.“
 

Sie achteten beide nicht groß auf die Musik. Irgendeine weibliche Stimme jammerte darüber, dass Liebe ach so sehr schmerzte. Diese Neuigkeit. „Ja, wenn wir aber nicht verwandt sind, dann könnten wir ja...“ Lukas wusste selbst nicht, woher diese Worte kamen, aber sie waren da, und als er versuchte, Blickkontakt zu erhaschen, starrte sein Partner auf die Straße vor ihnen, die Hände um das Lenkrad verkrampft, und die Röte auf seinen Wangen war nicht verschwunden. Lukas hob die Hand und strich Max eine Strähne aus dem Gesicht, um ihn besser ansehen zu können. Seine Hand blieb in glatten, hellblonden Haaren hängen, und dann fing er an, gedankenverloren mit dem feuerroten Bändel zu spielen, das Max' lange Haare eher schlecht als recht zusammenhielt. Nicht, dass das der Gesichtsfarbe des anderen auf die Sprünge half, wieder in die Grenzen der Normalität zurück zu kehren.

Endlich fiel wieder ein Blick aus hellblauen Augen auf ihn, und der Schwabe fror in seinen Bewegungen ein. Max' Augen schienen zu glänzen, die Pupille verschwamm und löste ihre Grenzen zur Iris auf. „Hast du sie noch alle? So'nen Schwachsinn ziehst du ständig ab. Hier ein Küssle, da ein bisschen Gefummle, warum machst du das? Du merkst echt nicht, dass ich dich hasse, oder?“
 

Albrechts Hände verflochten sich ineinander. Das hatte er nicht gewusst. Paul hatte ihn schon jahrelang gekannt, bevor er ihn überhaupt zum ersten Mal gesehen hatte? Sechs Jahre lang hatte er ein Auge auf gehabt? Einerseits war das etwas unheimlich und besorgniserregend, andererseits... andererseits kroch eine bisher unbekannte Wärme tief in Albrechts Organen in ihm auf, während er Paul voller Zuneigung anblickte.

In Worten würde er niemals ausdrücken können, wieviel der andere ihm bedeutete. Er würde wohl nicht einmal sagen können, dass er ihn liebte, denn das würde nicht ausreichen, das wäre viel zu wenig. Die Gefühle in seinem Inneren waren einfach viel mehr, sie quollen geradezu über, aber Albrecht konnte sie nicht zeigen, sie mussten verschlossen bleiben. Albrecht hatte niemals gut Gefühle zeigen können, denn wenn man das tat, dann konnten andere viel zu leicht auf diese Gefühle treten und sie in der Luft zerfetzen.
 

„Als würdest du das tatsächlich tun.“ Lukas' Gesicht war ernst und sein Verstand schien klarer und geschliffener zu sein als eine Eisskulptur. Er war nicht durch Naivität und Freundlichkeit an die Spitze gekommen, er hatte auch andere Seiten, und auch wenn Max diese sonst kaum zu sehen bekam, so kannte er sie gut. „Das ist ein lächerliches Schauspiel, und das war's von Anfang an, seit ich dich aus dieser kleinen Zelle bei Bonnefois rausgekriegt habe. Erinnerst du dich, wie du geschrien hast?“ Niemand der Anwesenden bemerkte, wie Baden anfing, zu zittern, nicht einmal er selbst. „'Lass mich los', 'Ich will bei ihm bleiben', 'Ich liebe ihn'...“ Ein winziges Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht, aber es war nicht das übliche harmlose, sondern ein eher bizarres, fast schon groteskes. „Aber du bist mit mir mitgegangen. Weil ich dir schon immer das Wichtigste war. Ist das denn so schrecklich, dass du ständig sagen musst, dass du mich hasst? Verletzt dich das so sehr? Früher ging's doch auch. Früher waren wir doch ein Herz und eine Seele. Was ist denn jetzt so anders, hm? Warum willst du mich so unbedingt hassen?“
 

„Ich bin froh, dass du da bist.“ sagte er daher leise. Das war das einzige, was er herausbringen konnte. Er hatte Paul kaum jemals einmal gesagt, dass er ihn gern hatte oder mochte, oder dass es angenehm war, mit dem Berliner Wirbelwind zusammen zu sein, weil er all seine Sorgen für ein paar Momente fortwehte und ihn sich frei fühlen ließ. Und gerade in diesem Moment war er umso glücklicher über Pauls Anwesenheit. Er wollte ihn nicht allein lassen, er wollte ihn nie wieder allein lassen, wollte nie wieder auf seine Nähe verzichten müssen.

Paul verstand seine Worte zwar akustisch, aber ihm war anzumerken, dass er ihren Sinn nicht vollständig zu erfassen schien. Ein kurzer neugieriger Blick glitt zu Albrecht, ehe er sich wieder auf die Straße vor den beiden konzentrierte und darauf, Bernd folgen zu können. „Biste das, echt jetzt? Ich hab immer gedacht, du wärst genervt. Nicht, dass mich das stören würde oder so. Immerhin hast du nie was gesagt.“ Paul war daran gewöhnt, überall anzuecken und Leuten auf den Schlips zu treten, und es machte ihm absolut nichts aus – er merkte es nicht einmal, wenn man ihm nicht Bescheid sagte, dass er mal wieder entnervend war. Aber ihm hatte auch noch nie irgendwer gesagt, dass man seine Gegenwart schätzte, nicht einmal seine Familie. Die ganz und gar nicht. Von Anfang an hatte er nicht hineingepasst, und als er vierzehn Jahre alt gewesen war, war er von zuhause – einem gewöhnlichen Einfamilienhaus am Rand von Steglitz, das seine Eltern, seine beiden Schwestern und der Familienhund bewohnt hatten – abgehauen und hatte sich ein paar Ex-Hausbesetzern im ehemaligen Ostberlin angeschlossen. Er konnte sich nicht einmal mehr an die Namen seiner Familienangehörigen erinnern, aber das war nicht schlimm. In Albrecht hatte er seine Zukunft gefunden.
 

Man sah sich in die Augen, und mit einem kleinen Schrecken stellte Lukas fest, dass seinem Partner Tränen über die Wangen liefen, und sofort fühlte er sich schuldig. Aber sein Gesichtsausdruck ließ sich nicht erweichen. Trotz dieser Tränen war Max' Stimme aber überraschend fest und ruhig.

„Du wirst es nie verstehen können. Weißt du, was das für ein Gefühl ist? Sie haben mich alle immer verlassen.“ Er konnte selbst nicht glauben, dass er mit Württemberg über diese Gefühle sprach und, noch unglaublicher, sicher dem Verlauf der Straße folgen konnte. „Ich bin ein eigenständiger Mensch. Das hat Francis gesagt. Er fand toll, wie mir niemand was sagen konnte. Aber jedes Mal, wenn ich dich sehe, bin ich wieder dieser kleine Junge, der heulend rumhockt, während seine Eltern vor seinen Augen verbrennen. Und der Jugendliche, der an deiner Hand mitansieht, wie Frank einfach umfällt und wie Alemania ein paar Wochen später röchelnd verreckt. Und dann seh ich dich und du bist verantwortlich für alles, für meine Eltern genauso wie für unsere Eltern und dafür, dass ich Francis verloren hab. Und ich muss dich ständig sehen! Weißt du, was die Leute sagen, wenn sie von uns sprechen?“ Er wandte den Blick von der Straße ab zu seinem Partner, aber in seinem Blick war nicht die Wut, die in seinen Worten gelegen hatte, sondern pure Verzweiflung. „Sie sagen „Baden-Württemberg“. Wir sind keine Individuuen mehr. Das war das einzige, was ich immer gewollt hab! Und weißt du, was das Schlimmste ist, hm, hm? Weißt du's?!“ Die Lautstärke seiner Stimme war in obere Bereiche geklettert. „Das macht mir nichts aus! Mir gefällt's nämlich!! Weil du Ochse nämlich Recht hattest, weil du das Wichtigste für mich bist und ich nicht blick, warum ich so blöd bin, so einen unerträglichen Sack wie dich zu lieben!“
 

„Natürlich bin ich das. Ohne dich...“ Albrecht schüttelte den Kopf. Er drehte die Musikanlage wieder auf. „Egal.“ beendete er den Satz, ohne Paul anzusehen. Aber Paul meinte, ihn zu verstehen.

Beide lächelten zufrieden.
 

Das hatte Lukas nie hören wollen. Er hatte immer gewusst, dass sein Partner ihn nicht hasste, aber dass seine Gefühle so extrem in die andere Richtung ausschlugen... und das gefiel ihm zu gut.

Er lächelte ihn zärtlich an, und Max' verkrampfte Gesichtszüge lockerten sich, bis sich auch seine Mundwinkel ein wenig nach oben kräuselten.

Höhle des Panthers

Vor dem Gebäude, das das Hauptquartier von Dominus Tecum war, standen drei Autos, die unterschiedlicher nicht sein konnten, auf dem Mitarbeiterparkplatz. Ihre Besitzer standen ebenfalls dort, und so waren dort nun sechseinhalb Personen (denn Mecklenburg-Vorpommern war zwar physisch anwesend, aber da niemand ihn bemerkte, stellte sich die alte philosophische Frage: war etwas existent, wenn niemand da war, um es zu bemerken?) und berieten sich tuschelnd. Eben hatte man erst einmal alle Waffen überprüft. Egal, was passieren sollte, es war immer gut, eine geladene Pistole mit sich zu führen. Und nun konnte man endlich kurz durchgehen, was man zu tun gedachte.

Baden-Württemberg wollte Bayern umbringen. Thüringen stimmte zu. Berlin und Brandenburg distanzierten sich etwas davon, sie wollten die ganze Sache nur gütlich regeln und dann abhauen. Einen Moment lang wollte Lukas erwähnen, dass sie noch ein Leiche aus dem Saarland im Kofferraum liegen hatten, die langsam anfing, zu stinken, aber bevor er den Mund öffnen konnte, stand Max auf seinem Fuß und funkelte ihn bedrohlich an.

Nicht, dass das den Schwaben irgendwie aufhielt. Er überging die Meinung seines Partners geflissentlich. „Wir haben übrigens Saarland getötet und mitgebracht.“

Augenblick verstummte das Getuschel, nur von Berlin war noch ein ausgehender Halbsatz - „... und deswegen wollte ich dich schon immer mal-“ zu hören, bis Brandenburg ihn dezent („Paul, sei bitte ruhig...“) darauf hinwies, dass er allzu deutlich zu hören war.
 

Dann explodierte Thüringen. Welch Überraschung, dachte Brandenburg, der ihn jetzt noch nicht lange kannte, aber schon mitbekommen hatte, dass es nicht allzu schwer war, ihn wütend zu machen. „Und die nehmt ihr hierhin mit?! Bayern wird euch eigenhändig erwürgen!! Habt ihr sie noch alle?!! Okay, ich bin raus, ich geh' nach Australien oder so, sucht mich nicht, ich werd mich nicht mit einer wütenden Panthermutter anlegen!!“ Baden packte ihn am Handgelenk. Er sprach ausgesprochen ruhig. Es war schwer, ihn dazu zu bringen, auszurasten, wenn es nicht um Lukas ging. „Wir haben sie noch alle, du bist derjenige, der sie nicht mehr alle hat. Die blöde Kuh wollte uns umbringen.“ „Sie hätte fast Baden getötet. Sie musste sterben.“ Max nickte seinem Gefährten bestätigend zu. „Wir hatten keine Wahl.“

„Na und?! Ist doch voll egal, wer Schuld ist, die Pantherin hat trotzdem ihr Junges verloren, das wird ihr nicht gefallen. Das ist mir viel zu heiß!“ Badens Augen verengten sich minimal, und er behielt den anderen an der Hand gepackt. „Dann verschwinde eben, Feigling. Leute wie dich hätten sie früher wegen Verrat gevierteilt.“

„Wie hast du mich genannt?!“ Bernd hatte Max am Kragen gepackt und sah ihn mit funkelnden Augen an. Der blieb weiterhin überraschend ruhig. „Feigling. Hosensaicher. Warmduscher. Und jetzt komm' mal wieder runter.“ Bernd holte mit der linken Faust aus, aber bevor es zu einer Prügelei kommen konnte, hatte Württemberg Baden an der weißen Hand genommen und hatte ihn schnellstens ein paar Schritte zurück gezogen, ihn an sich gepresst, durch die Haare gestrichen und leise „Alles in Ordnung, Schätzle...“ gemurmelt. Dass das eher den gegenteiligen Effekt haben würde, als erwünscht, hätte man sich denken können, und man konnte förmlich sehen, wie Baden versuchte, zu explodieren, aber im festen Griff des anderen nicht fähig dazu war und zu einem Häufchen zusammensackte. Nervös blickte Maximilian zum Rest der Gemeinschaft, um zu überprüfen, ob irgendjemand den Worten Lukas' gelauscht hatte, aber Berlin und Brandenburg waren mit sich selbst beschäftigt und Thüringen hatte gerade den Kopf zu Mecklenburg-Vorpommern gedreht (wo kam der denn plötzlich her?), der ihn am Ärmel gezupft hatte. Also wandte Baden den Kopf sauer zu Württemberg. „Nenn mich nie wieder so! Nur, weil ich nun einmal Pech habe und- äh- ja- heißt das noch lange nicht, dass gleich jeder wissen muss, dass es so aussieht mit uns!“

„Wie sieht es denn mit uns aus?“ Halb war sein Tonfall neckend, halb liebevoll. Baden wiederum war halb entsetzt, halb genervt. „Dir muss man auch alles buchstabieren, oder?! Ich hab dir gesagt, dass ich- äh- dass du wichtig für mich bist.“ Er sprach langsam und bemüht ruhig, als würde er mit einem Kind reden. „Daraufhin hast du mich auf dieser blöden Straße geküsst. Und mich hat's halber in die Leitplanke gehauen, sehr vielen Dank auch noch einmal dafür. Also was bedeutet das wohl, hmm? Ist nicht so schwer!“

Lukas' Lächeln war nicht unterzukriegen.

„Dass wir jetzt so ein verliebtes Pärchen sind wie Berlin und Brandenburg?“ „Schwachkopf!“ Er war nicht wieder losgelassen worden, aber Baden wand eine Hand aus der Umarmung, um sie Württemberg gegen die Schläfe hauen zu können. „Auf so ein Level lassen wir uns nicht hinab. Tsk, du vielleicht, aber ich lass' das nicht zu. Die befummeln sich ja, als würden sie sterben, wenn sie loslassen. Nein, nein, Lukas. Bei UNS ist das was anderes.“

„Ahja, Mäxle?“ Bei dem Kosenamen schlich sich eine dezente Röte auf Max' Wangen. „Ist es das?“ Im Auto, nachdem ihm die erfreuliche Neuigkeit präsentiert worden war, hatte er nachgedacht und gegrübelt, und er war zu dem Entschluss gekommen, dass er seinem Partner zustimmen konnte, dass das, was er eigentlich immer für unschuldige Bruderliebe gehalten hatte, eigentlich so viel mehr war. Sein Herz hatte angefangen, wie wild gegen seine Brust zu pochen, und sein ganzes Inneres war in Flammen aufgegangen, aber keine schmerzhaften, vertilgenden Flammen, sondern angenehme, fast kitzelnde Flammen. Also hatte er beschlossen, ihm zu zeigen, wie sehr er ihn mochte, ohne Rücksicht auf Verluste.

„Was ganz anderes, Hohlkopf! So ein frisches Ehepaar wie die – das ist lächerlich!“ Seine letzten Worte waren leise. „Wir haben was viel tiefgehenderes...“ Anhänglich legte Lukas den Kopf auf Max' Schulter, und einen Moment verweilten sie, ehe sich der letztere lauthals zeternd befreite und zum Rest zurück stapfte, gefolgt von seinem Partner.
 

Thüringen hatte sich hinter Berlin versteckt, denn Mecklenburg-Vorpommern war ihm etwas unheimlich. Er war plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht und hatte etwas Unverständliches gemurmelt, und Bernd war geflüchtet, hatte ein Gespräch über irgendetwas – er wusste selbst nicht, was er sagte – angefangen, sodass Fritz vergessen stehen geblieben war. Im Gegensatz dazu, was Baden-Württemberg so verächtlich über Berlin und Brandenburg gesagt hatten, waren die beiden gar nicht so zusammengewachsen, wie man meinen könnte. Albrecht wollte nicht zu viel Kontakt eingehen, körperlich wie geistig. Es war ihm genug, dass Paul er selbst war, dass Paul für ihn da war, dass Paul Paul war und er sich auf seine Nähe verlassen konnte, darauf, nicht allein gelassen zu werden.
 

Und Paul, der den Kopf zu Bernd gedreht hatte und laut auf seine leisen Fragen antwortete, redete gerade auf ihn ein, doch mitzukommen. Als die beiden angekommen waren, überkreuzten Baden-Württemberg synchron die Arme und sahen den Rest an.
 

„Also?“ wurde in die Runde geworfen. Thüringen fühlte sich vielen unangenehmen Blicken ausgesetzt und zuckte mit den Schultern. „Gut, dann begleite ich euch eben auf der Suizidmission. Hab eh noch was zu erledigen.“

Paul hängte sich gleich an das Ende dieses Satzes an. „Klasse!!“ Er warf einen Arm um Albrecht. „Ich und der gute Brandenburg, wir kommen natürlich auch mit! Ich hab noch so einige Informationen, mit denen wir Bayern ordentlich zum Erröten bringen können – die muss uns einfach gehen lassen, wenn ich drohe, das Zeug weiter zu erzählen!“ Niemand sagte etwas gegen die fehlerhafte Logik – Bayern würde Berlin wohl erst recht verschwinden lassen, wenn er drohte, Geheimnisse auszuplaudern – denn Baden, Württemberg und Thüringen kümmerte es nicht, Mecklenburg-Vorpommern war eh nicht wirklich anwesend und Brandenburgs Verstand war verhangen von Liebe.

„Dann können wir ja gehen.“ Die Blicke aller Anwesender richteten sich auf den Eingang. Als niemand voraus gehen wollte, stapften gleichzeitig Berlin und Baden los, dicht gefolgt vom Rest.

Am Ende war das Maschinengewehr

Bayerns innerer Kreis war merklich geschrumpft. An ihren rechten Seite stand Rheinland-Pfalz, die eine elegante kleine Pistole in der Hand hielt und sie nachdenklich lud. Auch Hessen war natürlich anwesend, stand etwas entfernt von den Frauen an einer Wand gelehnt und erledigte mit seinem treuen Blackberry einige Geschäfte, obwohl seine Hände kaum merklich zitterten.

Zenzie war besorgt. Ohne, dass Nicole ein Wort gesagt hatte, war sie verschwunden. Die Chefin konnte nur mutmaßen, wohin sie verschwunden war, aber sie hatte ihr Sturmgewehr mit sich genommen. Die Kleine war wie eine Tochter für sie, und sie wusste zwar, dass sie zäh war und sich durchbeißen konnte, aber ihr Mutterinstinkt schrie, dass sie sie eigentlich beschützen sollte.

Die drei waren in einem Raum im ersten Stock, in dem es nichts gab außer einem großen Tisch in der Mitte. Noch nicht einmal Fenster oder gar Stühle. Sie hatten den besten Blick zum einzigen Eingang hin, eine große, schwere Tür, und standen ohne Ausnahme aufrecht. Hessen murmelte leise, dass sie kommen würden. Der Portier des Gebäudes hatte vermutlich Baden und Württemberg gesagt, wo sie zu finden waren.

Man sah angespannt zur Tür, die sich träge öffnete.
 

Hessen blickte die Neuankömmlinge verwirrt an. Thüringen?! Was machte Thüringen da?! Sag bloß nicht... oh Gott nein. Bernd fixierte Zenzie aus zusammengekniffenen Augen, die wohl bedrohlich aussehen sollten, aber eigentlich nur lächerlich wirkten. „So, Blödfön! Jetzt wirst-“ Jeder blickte ihn an und prustete ausnahmslos los. Thüringen warf den Kopf umher, wurde rot und sprach noch lauter. „Jetzt wirst du friedlich aufgeben, damit wir hier die Herrschaft übernehmen, sonst müssen wir dich töten!!“ Baden und Württemberg sahen Thüringen mit etwas irritierten Gesichtszügen an. Niemand sprach davon, ihm auch nur den Hauch von Macht zu übergeben.

Dann sprach Berlin. „Okay, okay, bevor ihr euch jetzt gegenseitig die Köpfe einschlagt...“ Er holte sich eine Zigarette heraus, steckte sie an und nahm einen tiefen, beruhigenden Zug, bevor er weiterredete. „... Bayern, du solltest wissen, dass ich auf der Seite der Schwertfische steh'. Aber die wollen mich nicht als vollwertiges Mitglied, von demher ist alles in Ordnung, wa?“ Lässig zuckte er mit den Schultern. „Ich mein, ich hab da noch einige schmutzige Wäsche von dir, die sollte nicht aufgehangen werd-“

Württemberg fiel ihm ins Wort. „Und Saarland ist tot.“ Baden seufzte entnervt auf. Es schien Lukas schwer fallen, irgendetwas richtig zu machen, gell?

Bayern lehnte sich, während sie sich auf ihren Frankenrechen lehnte, nach vorne und musterte alle Leute, die gerade zu ihr gesprochen hatten und den Rest. Dies war eine sehr seltsame Truppe. Nicole war tot. Eine seltsame Truppe Vor allem verwirrte sie, dass Mecklenburg-Vorpommern auch hier war. Er gehört nicht hierhin. Oh, und Saarland war tot. Zenzies Hand packte den Griff ihres Rechens so fest, dass ihre Fingerknöchel sich weiß abzeichneten. Mecklenburg-Vorpommern ging ein paar Schritte auf Thüringen zu und nahm ihn an der Hand. Hier würde er sich nicht verstecken können.

„Thüringen. Du darfst nicht so mit Hamburg reden. Außerdem habe ich Schleswig-Holstein getötet.“ Heftig entwand sich Bernd dem Griff des anderen und stolperte einen Schritt zurück. „Na und?!“ warf er Fritz entgegen und versuchte gleichzeitig, Bayern im Auge zu behalten. „Weißt du, wie egal mir das ist?!“ Fritz machte noch einen Schritt auf ihn zu. „Aber das ist deine Schuld. Gemeinsam mit mir. Wir sind beide Schuld...“ Sein Tonfall war traurig und Thüringen wollte sich lieber in einer Schießerei verwickelt wissen statt an die Wand gepresst zu sein und diesen merkwürdigen Mann vor sich sehen zu müssen. Hinter Fritz erschien Hessen, aber er half Thüringen nicht, sondern beobachtete die Szene, als wäre er ein interessierter Kinozuschauer.
 

Baden schüttelte den Kopf. „Jetzt reicht's, Bayern!“ Er sah sie unverwandt an. „Du wirst den Platz räumen müssen!“ Auf Zenzies Lippen zeigte sich ein schmales Lächeln. „Und wer bist du, dass du denkst, mir Befehle erteilen zu können, kleiner Mörder? Ich erteile Befehle. Niemand sonst.“ Ein Knurren enwich ihrer Kehle. Diese dreckigen, kleinen, räudigen Sauhunde hatte ihren kleine Nicole getötet, das verstörte Mädchen, das nach dem Tod ihres Vaters – eines entfernten Verwandten ihrer Mutter – den Weg in Zenzies mütterlichen Schoß gefunden hatte.

Sie würden sterben müssen. Alle beide. Egal, was der Preis war.

Dann räusperte sich Württemberg. „Gut, wenn du es nicht anders willst...“ Er hob eine Hand mit im dumpfen Licht der Neonlampen an der Decke aufblitzenden kleinen Nadeln. Aber bevor irgendjemand irgendetwas tun konnte, wurde die Tür erneut aufgerissen. Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Sachsen-Anhalt, alle mit ernsten, verspannten Gesichtern, traten ein und ließen ihre Blicke über die Situation wandern. Bayern war nicht erfreut.
 

Brandenburg rief erstaunt ein „Ihr? Wie-“ aus, ehe Niedersachsen ihm antwortete, dass er ihn mit einem Peilsender versehen hätte, seit vor einigen Tagen herausgefunden hatten, dass er eigentlich für die Beilschmidts arbeitete. Brandenburg schluckte. Sachsens Blick lag kalt auf ihm. Nordrhein-Westfalens Gesicht wurde von einem breiten Grinsen geziert, während er seine Waffe entsicherte, die ihm fast über den Kopf ragte.

Albrecht fing an, Kopfweh zu bekommen, aber er versuchte, die Situation in ihre Einzelteile zu zerlegen. Auf der einen Seite waren da Bayern und Rheinland-Pfalz, die ihre Position verteidigen wollten und außerdem beide ziemlich wütend erschienen, dass Saarland gestorben war. Dann waren da Baden-Württemberg, die Bayern angreifen wollten. Thüringen war auch irgendwie gegen Bayern, aber nicht komplett auf derselben Seite wie Baden-Württemberg, und Hessen war eher gegen Thüringen als gegen die anderen. Mecklenburg-Vorpommern schien den Verstand verloren zu haben; die restlichen Schwertfische schienen, nun, wenn sie schon anwesend waren, Brandenburg, Berlin und Bayerns Familie töten zu wollen. Schleswig-Holstein schien tot zu sein. Sie hatten keinen Chef mehr, das war eine Truppe von vielen fähigen Leuten ohne Plan und Ziel. Und er und Berlin wollten eigentlich nur heil aus der ganzen Sache herauskommen. Es sah eigentlich gar nicht so schlimm aus, versuchte er, sich zu sagen. Tief durchatmen.
 

„In Ordnung, Leute.“ Er hob beschwichtigend die Hände. „Wir haben jetzt zwei Möglichkeiten. Entweder wir bringen uns alle gegenseitig um, oder wir gehen friedlich auseinander. Ich meine, es ist nichts gewonnen, wenn wir alle sterben. Die Geschäfte würden an irgendwelche Kleinkriminellen fallen. Alles, was wir jemals erarbeitet haben, würde zerstört werden.“ Seine Stimme war so laut, dass man sie noch auf dem Flur hören konnte, aber gleichzeitig versucht ruhig. Rheinland-Pfalz, die Nordrhein-Westfalen im Auge behielt, ließ ihre schlanke Waffe langsam sinken, ebenso wie Hans. Bayern atmete laut hörbar aus und behielt die Schwertfische sowie Baden-Württemberg im Auge. Die Situation schien sich zu entspannen. Einen Moment lang war alles still.
 

Und dann wurde die Tür lauthals aufgerissen und Hamburg, die mit ihren Fünf-Zentimeter-Absätzen so gut wie alle Anwesenden überragte, stand in ihrem blau-roten Kleid auf der Schwelle und ließ einen strengen Blick über die Mafiosi gleiten. Kurz verengte sich ihr Blick, als sie Thüringen sah, aber in diesem Moment sah sie auch Mecklenburg-Vorpommern und ging mit selbstsicheren, fast schon arrogant wirkenden Schritten, so, als hätte sie eine viel höhere moralische Berechtigung, zu leben, als alle anderen in diesem Raum, zu Fritz hinüber und ergriff sanft seine Schulter.

„Fritz, ich denke, es ist Zeit, zu gehen.“

„Aber ich habe Schleswig-Holstein getötet. Und Thüringen hat sich noch nicht entschuldigt.“ Bernd hatte große Lust, einfach ein „Mann ey, tut mir ja echt Leid, kannst du jetzt aufhören, mir so auf die Pelle zu rücken?!“ zu rufen, aber etwas in ihm hinderte ihn daran. Jettes Gesicht verzog sich einen Moment lang. „Und genau deswegen musst du gehen. Komm mit.“ Ihre andere Hand ergriff die Hand von Fritz. In seinem üblichen benommenen Zustand ließ er sich von ihr mitziehen, bis sie wieder an der Türschwelle standen. „Danke, Fritz.“ Sie lächelte zärtlich und strich über die Hand in ihrer Hand, und auch Fritz fühlte das Verlangen, ein wenig zu lächeln. Irgendwie war alles nicht so schlimm.
 

Die Möglichkeit auf ein Ende ohne Blutvergießen bestand, aber dann drehte Hamburg noch einmal den Kopf herum. Ihr Blick funkelte alle an. Auf einem einsamen Felsen tief in der Nordsee fing Helgoland an, zu lächeln.

Hamburgs Stimme war nicht laut, aber authoritär. „Ihr seid Verbrecher. Allesamt. Der Welt wäre gedient, wenn ihr euch wirklich alle töten würdet.“

„Halt doch deine Klappe, als wärst du besser, Puffmutter!“ Der Choleriker der Gruppe war gar nicht erfreut darüber, dass man ihm den Tod wünschte. Hamburg blickte ihn abschätzig an. „Oh ja. Ich schlachte nicht sinnlos Menschen ab.“ Mecklenburg-Vorpommern sah Thüringen aus großen Augen an, dann wandte er sich aus Hamburgs Griff und ging ein paar sehr schnelle Schritte auf ihn zu. Seine Hände legten sich um den Hals von Thüringen. „Alter!!“ Thüringen versuchte, sich zu befreien, aber er war erfolglos. Hamburg ergriff Fritz an der Schulter und zog ihn weg. „Lass ihn los, Fritz.“ teilte sie ihm ruhig mit, und er erschlaffte unter der Berührung. Hamburg blickte sie beide streng an und schüttelte den Kopf, obwohl etwas in ihr gerührt war, dass Fritz so weit gehen würde, nur weil Thüringen sie ein wenig beleidigt hatte. „Oh doch, ihr seid allesamt schlimmer als ich.“
 

Thüringen rieb sich den Hals, und dann wurde er von Hessen am Kragen gepackt. „Hör ihr zu, Bernd, und mach dir nichts vor! Natürlich bist du schlimmer als sie! Sie verrät nämlich nicht ihre Familie!! Die Familie ist das Wichtigste, aber dass DU das nicht weißt, hätte mir klar sein sollen!!“ Thüringen versuchte, sich aus Hessens Griff zu befreien, woraufhin dieser zur Seite stolperte, gegen Nordrhein-Westfalen stieß und dessen Waffe einen Schuss abfeuerte, der kreuz und quer durch den Raum schlug, bis er sich tief in Fritz' Rückenmark bohrte und ein panisches Kreischen von Hamburg erschallen ließ.
 

Und das hieß Krieg. Innerhalb von Sekundenbruchteilen hatte jeder der Anwesenden eine oder mehrere Waffen herausgezogen. Bayerns erste Salve aus einem edel wirkenden Heckler & Koch-Maschinengewehr, das blitzschnell aus ihrem Dirndl gezogen wurde, tötete alle, die nicht schnell genug gewesen waren, sich zu ducken. Es ging allgemein sehr schnell – hier handelte es sich nicht um kleine Kinder, dies waren Menschen, die an der Seite von Verbrechen und Tod lebten. Sie nahmen keine Gefangenen. Sie töteten schnell, teils blutig und immer endgültig.

Wo Liebe warm im Herzen sitzt

Als in den ersten Morgenstunden Bremen und Bremerhaven ebenfalls in München ankamen, in dem imposanten Gebäude, das als Hauptquartier von Dominus Tecum diente, lag der Geruch von Tod und Verwesung schon in der Luft. Die Brüder waren mit einem flauen Gefühl im Magen hierhergekommen. Bremerhaven hatte es geschafft, seinen Bruder zu überreden, dass die Situation, in die Hamburg sich gebracht hatte, nachdem sie Mecklenburg-Vorpommern über sein Handy geortet hatte, doch etwas zu gefährlich war und wollten nun versuchen, sie zu retten. Am Portier vorbei öffneten sie die Tür.
 

Beim Eintreten standen sie knöcheltief im Blut. Die Brüder schlugen sich gleichzeitig die Hände vor ihre Münder, als sie den Raum betrachteten. Sachsen-Anhalt, Sachsen und Rheinland-Pfalz lagen zu viert in einer Blutlache direkt vor der Tür. Nordrhein-Westfalen, durchlöchert, lehnte direkt hinter der eben geöffneten Tür. Bayern war, ähnlich einer Kreuzigung, an einer Wand aufgespießt. Hessens Kehle war aufgeschlitzt, Thüringens Gesicht war verbrannt.

„Jette!“ schrie Roland entsetzt, als er sah, wie sie gekrümmt über der Leiche Mecklenburg-Vorpommerns kauerte und seinen Kopf in ihren Armen verborgen hielt. Als er sie an der Schulter berührte, wurde ihm klar, dass ein Schuss durch ihre Luftröhre gegangen war. Roland konnte Heins Hand an seiner Schulter fühlen, und er fing an, zu weinen.
 

Erst in diesem Moment merkten die Brüder, dass sie nicht die einzigen lebenden Personen in dem Raum waren. Unter dem Tisch kauerte Berlin, der sich hilflos vor und zurück wiegte und mit einem distanzierten Blick auf eine bleiche Hand unter einem nahegelegenen Stuhl schaute. Seine Atmung ging flach, aber fast rasselnd, und von seiner Schläfe ausgehend bahnte sich ein dünner Blutstreifen den Weg nach unten.

Mit zusammengepresstem Mund untersuchte Hein, wessen leblose Hand angestarrt wurde; es handelte sich um die von Brandenburg, der, alle Viere von sich gestreckt, auf dem Boden lag und mit starren Augen an die Ecke schaute, als würde er noch etwas sehen. Hein schloss die Augen. Im gleichen Moment war, nicht weit von Berlin, ebenfalls ein leises Schluchzen zu hören. Er stand wieder auf, warf einen aufmerksamen Blick auf seinen Bruder, der sich wieder zu fangen schien und angefangen hatte, seine Tränen mit seinem Handrücken wegzuwischen, und näherte sich der Quelle des Schluchzens.
 

Ein stockend atmender Württemberg lag mit dem Kopf auf Badens Schoß, dessen gesamte rechte Schulter aufgeschlitzt war und dessen rechte Hand dementsprechend schlaff herunterbaumelte. In einigem Abstand blieb Bremerhaven stehen und hörte trotzdem, wie Baden zwischen seinen Tränen einige Worter herauspressen konnte. „Du verdamter Arsch, was fällt dir, was fällt dir ein, zu sterben?!“ Von seinem Partner war nur ein leises Röcheln zu hören, und danach die äußerst leisen Worte „Niemand stirbt...“

„Labb zu, Nuss!“ wurde er angewiesen. Ein weiteres Röcheln war die Antwort. „Du... Schätzle... solltest doch froh... wolltest doch immer... weg... von...“ Bremerhaven kam sich wirklich fehl am Platze vor, aber etwas hinderte ihn daran, wegzusehen. Auf Badens Lippen zeigte sich ein krummes Lächeln, das Hein unwillkürlich zurückweichen ließ.

„Ich will deine blöde Stimme jetzt nicht hören...“ Noch immer erhellte ein kränkliches Neonlicht den Raum, und die Tränen, die unaufhörlich über Badens Wangen flossen und nach unten fielen, glitzerten in diesem Licht. Er strich mit der gesunden Hand über Lukas' Mund. Württemberg hob schwach einen Arm und berührte eine der Wangen über ihm, um die Tränen wegzuwischen. Er lächelte, und dann fiel seine Hand wieder hinab, und gleichzeitig mit Lukas starb alles in Max ab. Schon wieder wurde er verlassen. Von dem einzigen, an den er sein Herz gehängt hatte. Sein Mund schmeckte nach bitterer Leere, während er in dunkelblaue Augen blickte, deren Licht erloschen war.
 

Gleichzeitig wurde der Raum von zwei Schreien erschüttert, der eine aus dem Mund Badens, der andere aus Berlins Richtung kommend. Ruckartig drehte Hein sich um und sah, wie Berlin die Hand Brandenburgs ergriffen hatte. Seine Augen waren leer und glasig. Keiner der Brüder hatte Berlin vorher in Person gesehen, aber dieses tiefe Nichts in seinen Pupillen konnte bei keinem Menschen etwas Gutes bedeuten. Er wollte aufstehen, da hatte Bremen den anderen Menschen schon vorsichtig am Arm berührt. Berlin schien ihn nicht zu bemerken.
 

Berlin bemerkte gar nichts mehr; sein gesamter Körper war nur noch ein einziger Wirbel, und er fühlte sich, als müsste er sich gleich übergeben. Albrecht war tot. Paul war ein Mensch, der einzig und allein im Jetzt lebte, aber das Gesicht vom lachenden Albrecht hatte sich tief in seinen Verstand gefressen, und es drohte, ihn zu verschlingen. Denn das würde er niemals wieder sehen. Er hatte nicht einmal gehört, wie er aufgeschrieen hatte, und er bemerkte nicht, wie Bremen ihn berührte, ihn von unter dem Tisch hervorholte und ihn auf die Beine zog. Bremerhaven hatte derweil versucht, auch den anderen Überlebenden der Katastrophe zu retten, aber der wollte sich nicht von dem toten Körper unter ihm trennen. Der noch nicht einmal volljährige Mann war etwas verzweifelt und entschloss sich, einen Krankenwagen zu rufen.
 

Fünfzehn Minuten später traf der Krankenwagen ein. Vor dem Gebäude versammelte sich eine Schar Journalisten, die eifrig jede Leiche fotografierte, die sie vor die Linsen bekommen konnten. Bremen und Bremerhaven standen an der Seite und hatten schon dem Kommissar ein wenig Geld überreicht, um aus der ganzen Angelegenheit herausgehalten zu werden.
 

Sie beobachteten, wie sich ein Polizist bei dem Anblick, der sich ihm geboten hatte, übergeben hatte müssen, und wie die Polizisten alle Opfer dieses „tragischen Unfalls“ hinaustransportierten.

Sie beobachteten auch, wie Sanitäter versuchten, sich um Berlin und Baden zu kümmern, aber keinen Erfolg damit hatten, weil Berlin noch immer unter tiefem Schock stand und Baden alle anschoss, die sich ihm näherten, ohne, dass man ihm die Waffe aus der Hand hatte nehmen können.

Die letzte Kugel jagte er sich selbst durch den Kopf und damit starb Maximilian Reichenbach als letztes Opfer des, so würden die Zeitungen später titulieren, „Killer-Berliners“. Paul Albrecht ließ sich folgsam abführen, und später wurde er des Mordes an allen Anwesenden verurteilt, trotz dünner Beweislage. Mehrfach lebenslänglich. Er starb im Alter von 28 Jahren, nach drei Jahren in einer Stahlzelle, an einem Lungenkarzinom. Dominus Tecum und Schwertfisch existierten weiter, obwohl beider Führungsriegen an einem Abend ausgelöscht worden waren – es gab genug Leute, die nachgerückt waren. Aber sie büßten einen Großteil ihrer Macht ein. Nur Bremen und Bremerhaven waren weiterhin erfolgreich in ihrem Geschäft, bis sie nach einigen Jahren ihre Namen änderten und nach Australien ausgewandert waren, wovon so viele andere nur hatten träumen können.
 

Die Morgensonne färbte München rot. Wie immer weinte sie den verstorbenen Menschen keine Träne nach, sondern schickte ihre Strahlen auf die Stadt und tauchte sie in Blut.



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Kommentare zu dieser Fanfic (31)
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Von:  pokingmadness
2010-06-13T22:16:16+00:00 14.06.2010 00:16
O... okay... d...d....du... hattest Recht, das hier kannt ich wirklich noch nicht...
*zitter*
...
Das ist sooooooooooooooooooo süß <333
Und traurig wenn man das Ende schon kennt ;_________;
Von:  JJasper
2010-06-13T10:39:54+00:00 13.06.2010 12:39
Jetzt hat's wohl auch sein Ende gefunden, für mich hätt's endlos lang weitergehen können, so toll war's 8DD
Die letzten Kapitel haben mich ganz besonders erfreut, so d'aaaw. <3
Und dieses dramatische Ende. D| Alle sind tot... ;__; FFUU.
(BaWü, Berlin und Brandenburg... uuaaah D|)
Jedenfalls, hatte ich ganz viel Spaß, deine FF zulesen!! 8DD
Hoho.
Von:  Otakuplant
2010-06-13T09:40:27+00:00 13.06.2010 11:40
;A;
Von:  moi_seize_ans
2010-06-13T08:15:41+00:00 13.06.2010 10:15
So, das letzte Kapitel. Du wirst nicht glauben, wie ich geguckt habe als ich die grünen Buchstaben "abgeschlossen" gelesen habe. Der Schock. Oh man, was soll man denn ohne deine gigantisch coole Story machen?
Verdammt.
Die Story war in jedem Fall verdammt cool. Und vom vorhergegangenen Kapi hat man schon sehen können, wie das Ganze ausgeht. Für mich ging das Ganze viel zu schnell zu Ende. Aber viel zu schnell.
*puh*
Jetzt aber mal zum Ende:
;____;
Alle?
Alle?
Wie traurig: Berlin und Baden hatten es wirklich ganz schwer getroffen. Ich glaub ich hätte es genauso wie Max gemacht. Da hatte es Paul doch wesentlich schwieriger. 3 ganze Jahre musste er noch leiden. Der Ärmste. Wobei ich muss mir ja immer wieder in den Hinterkopf rufen, dass sie ja eigentlich Gangster sind und vorher haben sie es alle auch verdient.

Also, wie gesagt. Ich liebe deine Story, deinen Schreibstil, und den ganzen Plot. Das war mitreißend, spannend und überaus amüsant.
Ich war stets dabei, immer bei den Charakteren, und habe richtig mitgefühlt. Auch beim Ende. Es war ein gelungenes AU, das wie du wirklich gesagt hast: Am Rand der Gesellschaft spielt.
Ich mag düstere Themen.
Und du hast das wundervoll rübergebracht.
Und es wäre sicher sehr schade, wenn ich nun nichts mehr von dir zu Lesen bekommen. Wer weiß, vllt hast du ja noch eine ganz tolle Idee, die du mit uns teilen möchtest?! Ich jeden Fall würde mich sehr freuen.
:3

Danke für diese tolle, mitreißende Fanfic. Du Genie, du. <3
Von:  moi_seize_ans
2010-06-13T07:59:15+00:00 13.06.2010 09:59
Oh man, Phil. Ich hab wirklich für einen klitzekleinen Moment geglaubt, du würdest nicht das tun, was du dann doch getan hast.
Verdammt, die angespannte Situation war greifbar, man hat die Charaktere förmlich atmen hören.
Und ich Dussel dachte wirklich es könnte gut enden. ;____;
Oh man, und das Schlimme, ich hab auch das letzte Kapi schon gelesen, bevor ich dir nun diesen Kommi schreibe. Man, das ist echt gemein, wobei der Titel (der wiedermal EPIC ist) eigentlich alles aussagt, was es zu sagen gibt.
Und ja, ich stimme Helgoland auf dem Felsen zu, Im Grunde sind sie alle Verbrecher und haben es eigentlich nicht anders verdient.
Auch unsere beiden Lieblingspaare nicht: BaWü und B³.
Von:  JJasper
2010-06-12T22:26:12+00:00 13.06.2010 00:26
Omg, für Zenzie wird das wie 'ne Bombe einschlagen, wenn sie hört, dass Saarland tot ist. D|
Wird spannend >:3 Wie das wohl mit dem Mord klappen wird? D: Das brennt mir auf der Seele.
Und Lukas ist so niedlich (und seltsam verpeilt) - Haha <3
BaWü macht mich fertig, weil...awesome und so. (Bin auch total froh, dass es wieder was mit den beiden im Kapitel gab, uhoh. Ich kann nicht genug davon kriegen. ""8D)
Von:  moi_seize_ans
2010-06-12T21:15:36+00:00 12.06.2010 23:15
"[..]philosophische Frage: war etwas existent, wenn niemand da war, um es zu bemerken?"

Oh nein, wie herrlich xD
Du bringst seine tief philosophische Seite mit rein, ich danke, nein ich huldige dir. Oh Philli, du Genie du!
Das kapitel war richtig gut. Und oh man, ich möchte jetzt nicht Zenzie sein, bzw. in ihren Schuhen stecken. Das wird ja richtig fies. Und ich denke mal die Situation spitzt sich da noch zu. Auch der Name war herrlich: Pantherin! <3
So episch, ich kann mir auch richtig vorstellen, dass die Gute nicht grade erfreut sein wird die 6.5 Personen zu sehen, geschweigedenn zu erfahren dass Nici tot ist.
Aber, wie man ja weiß, ist sie höchstwahrscheinlich vorbereitet, von daher... ich bin gespannt!
Von:  moi_seize_ans
2010-06-12T17:32:56+00:00 12.06.2010 19:32
Oh man,
Du hast den Titel tatsächlich genommen? :3
Aber wie gesagt, das Kapitel ist *fangirl: KREISCH KREISCH* toll geworden. Dieser ständige Wechsel zwischen den Beiden "Päarchen" ist wirklich herrlich. Zumal das manchmal auch wirklich einwandfrei klappt, ach was, immer! Es ist so stimmig und fließend. Herrlich.
Diese Gegensätze. Die beschriebenen Gefühle. Man konnte alles bildlich miterleben. Es war wirklich wie im Film. Und ich als lesender Regisseur habe mir soagr schon verschiedene Kamerawinkel überlegt. So verdammt TOLL war/ ist dieses Kapitel.
Und auch so schön lang... <3
Von:  moi_seize_ans
2010-06-11T18:09:24+00:00 11.06.2010 20:09
PS: der Titel ist ja mal herrlich. (So wie der Titel der ganzen FF überhaupt, man warum habe ich dir das noch nicht mitgeteilt... tz tz)
Von:  moi_seize_ans
2010-06-11T18:08:44+00:00 11.06.2010 20:08
*.* Och, mein inneres Fangirl ist beruhigt! Paul und Albi gehören einfach zusammen. Aus. Punkt. Ende.
Aber man, ein tolles Kapitel, so viele Leute auf einem haufen, das kann ja eigentlich gar nicht gut gehen. :)
Und ich denke, ich weiß, wer da so eisern hat sturmgeklingelt. *g*

Ein Glück aber auch dass die Situation nicht hochgekocht ist und noch mehr unserer geliebten BL den Löffel abgeben mussten. Jedoch bleibt es spannend und ich freue mich schon auf die nächsten Kapitel. :3


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